Achtsamkeitsübungen - Michael Huppertz - E-Book

Achtsamkeitsübungen E-Book

Michael Huppertz

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Beschreibung

In dieser Sammlung werden 99 Achtsamkeitsübungen mit zahlreichen Varianten vorgestellt. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf sinnliche Eindrücke und Atmosphären, Körper und Bewegung, Gedanken und Gefühle sowie unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zur nichtmenschlichen Umwelt. Allzu Selbstverständliches wird beachtet, der Hintergrund wird zum Vordergrund, die Gegenwart zum Experiment. Die Übungen ermutigen, die gegenwärtige Situation und unsere Resonanz differenziert und absichtslos wahrzunehmen und dabie Distanz, Akzeptanz und Gelassenheit zu entwickeln. Dieses Buch entfaltet eine umfassend und alltagnahe Haltung der Achtsamkeit, die die Lebensweise und das Lebensgefühl verändern kann. Für diese Neuauflage wurde das Buch um 14 neue Übungen, Varianten, Kommentare und ein ausführliches Nachwort zu aktuellen Themen des Konzepts und der Praxis der Achtsamkeit ergänzt.

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Seitenzahl: 350

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Michael HuppertzAchtsamkeitsübungen

Über dieses Buch

In dieser Sammlung werden 99 Achtsamkeitsübungen mit zahlreichen Varianten vorgestellt. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf sinnliche Eindrücke und Atmosphären, Körper und Bewegung, Gedanken und Gefühle sowie unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zur nichtmenschlichen Umwelt. Allzu Selbstverständliches wird beachtet, der Hintergrund wird zum Vordergrund, die Gegenwart zum Experiment. Die Übungen ermutigen, die gegenwärtige Situation und unsere Resonanz differenziert und absichtslos wahrzunehmen und dabei Distanz, Akzeptanz und Gelassenheit zu entwickeln. Dieses Buch entfaltet eine umfassende und alltagsnahe Haltung der Achtsamkeit, die die Lebensweise und das Lebensgefühl verändern kann. 

Für diese Neuauflage wurde das Buch um 14 neue Übungen, Varianten, Kommentare und ein ausführliches Nachwort zu aktuellen Themen des Konzepts und der Praxis der Achtsamkeit ergänzt. 

»Als Einführung und Begleiter sind die Achtsamkeitsübungen im Alltag unbedingt empfehlenswert.« – Psychologie Heute

Michael Huppertz, Dr. phil., Dipl.-Soz., Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Veröffentlichungen zum Thema Achtsamkeit und zu philosophischen Aspekten der Psychiatrie und Psychotherapie.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2011 2., überarbeitete Auflage 2015

Coverillustration: © Renate Seefuß

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2015

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-405-5

ISBN dieses E-Books: 978-3-87387-816-7 (EPUB), 978-3-95571-086-6 (MOBI), 978-3-95571-087-3 (PDF).

Übungsverzeichnis

1. Objekte beschreiben
2. Objekte wahrnehmen
3. Mit einem inneren Bild wahrnehmen
4. Die Ohren verschließen und öffnen
5. Musik wahrnehmen
6. Schmecken
7. Räucherstäbchen (P)
8. Tastkasten
9. Fotografieren (P)
10. Verklingen (P)
11. Lückenübung
12. Stille wahrnehmen (N)
13. Bewerten – Nichtbewerten
14. 3-2-1-Übung
15. Fließbandübung
16. Schütteln
17. Vietnamesisch
18. Forcierte Achtsamkeit
19. Fokussierte Achtsamkeit kontrollieren (N, P)
20. Äußere Achtsamkeit
21. Die Augen bedecken
22. Den Horizont eröffnen
23. Flieger
24. Sich atmen lassen
25. Den Atem spüren
26. Atem und Armbewegungen (N)
27. Den Atem beobachten (N)
28. Atmen und Denken (N)
29. Augenrollen
30. Sitzen
31. Stehen
32. Nasser Sack
33. Mit dem Gleichgewicht spielen
34. Mit dem Gehen spielen
35. Absichtsloses Gehen (N)
36. Vielfältiger Kontakt mit dem Boden (N)
37. Achtsamkeit auf mentale Ereignisse
38. Innere Achtsamkeit
39. Innen – außen – weit (N, P)
40. Im Konjunktiv denken
41. Verbundenheitsübung
42. Verbundenheitsdiagramm (N)
43. Atmosphären wahrnehmen
44. Weite Achtsamkeit
45. Objekte auf einer Decke (P)
46. Kunstkartenspiel (P)
47. Bewertendes und nichtbewertendes Erzählen
48. Erfolg-Misserfolg-Übung
49. Hochhausübung
50. Ein Gefühl wahrnehmen
51. Kinhin (Langsames Gehen)
52. Sufi-Drehen
53. Freie Bewegung
54. Die Hände bewegen sich
55. Einen Ort finden
56. Sich Raum nehmen (N)
57. Liegen (N)
58. Körperreisen (N)
59. Kerzenübung
60. Summen auf Klangschalen
61. Tönen (P)
62. Eine Hand berührt die andere
63. Selbstmassage
64. In den Himmel schauen
65. Stilles Sitzen
66. Wellenreiten
67. Sich öffnen – sich verschließen (Gesten) (P)
68. Führen und Geführtwerden (N, P)
69. Nähe-Distanz-Übungen (N, P)
70. Rücken an Rücken (P)
71. Sich anschauen (P)
72. Allein und synchron atmen
73. Gemeinsame Bewegungen (N, P)
74. Miteinander atmen (P)
75. Sinnlichkeitsübung (P)
76. Sollen – Wollen (N, P)
77. Dialogisches Malen (N, P)
78. Stopps im Gespräch (N, P)
79. Flieger zu dritt (N, P)
80. Passiv – aktiv (N, P)
81. Chakren-Meditation
82. Kundalini-Meditation
83. Nadabrahma-Meditation
84. Heart-Chakra-Meditation
85. Mandala-Meditation
86. Gourishankar-Meditation
87. Meditation der Himmelsrichtungen
88. Fünf Rhythmen
89. Aktive Meditationen als freie Kombinationen (N)
90. „Quantum Light Breath“-Meditationen
91. Werden und Vergehen bewusst erleben
92. Hände-Verlust-Meditation
93. Verlust-Meditation
94. Vergänglichkeits-Meditation (N)
95. Skelett-Meditation
96. Abschieds-Meditation
97. Meditation über den Tod
98. Kontemplationen
99. Vier Formen der Achtsamkeit

Mit Dank an Fariedeh

Ich höre, wie der Regen auf das Dach über mir prasselt, an den Wänden links und rechts von mir hinabtröpfelt, aus der Regenrinne über dem Boden links neben mir rauscht, während es noch weiter links heller platscht, dort, wo der Regen fast unhörbar auf einen großen belaubten Strauch fällt. Rechts trommelt er mit einem tieferen gleichmäßigen Klang auf den Rasen. Ich kann sogar die Konturen des Rasens ausmachen, der rechts in einem kleinen Hügel ansteigt. Der Regen klingt dort anders und modelliert mir die Krümmung des Bodens. Noch weiter rechts höre ich, wie der Regen auf den Zaun klopft, der unser Grundstück von dem unserer Nachbarn trennt. Vor mir zeichnet er die Ränder des Wegs und die Treppenstufen hinunter zum Gartentor nach. Hier trifft der Regen auf den Stein auf, da spritzt er in die flachen Pfützen, die sich bereits gesammelt haben. Wo er von einer Stufe zur nächsten tropft, entsteht hier und da ein kleiner Wasserfall. Auf dem Weg erklingt der Regen ganz anders als rechts, wo er auf den Rasen trommelt, und noch anders wiederum klingt er auf dem großen Busch links, der sich anhört, als wäre er mit einer Decke bedeckt, schwer und aufgequollen. Weiter entfernt sind die Klänge nicht mehr so gut unterscheidbar. Ich höre, wie der Regen auf die Straße niedergeht, und das Zischen der Autos, die in beiden Richtungen vorüberfahren. Ich höre, wie das Wasser an der Straßenecke in dem überfluteten Rinnstein gurgelt. Die ganze Szenerie ist noch viel differenzierter, als ich es beschreiben kann, denn überall ist die Regelmäßigkeit ein wenig gestört, gibt es Verzögerungen, Verschiebungen, wenn eine kurze Unterbrechung oder ein anderer Rhythmus oder ein anderes Echo die ganze Szene noch um eine zusätzliche Einzelheit oder eine andere Dimension ergänzen. Über das Ganze ergießt sich, wie Licht, das über eine Landschaft fällt, als sanfter Hintergrund ein Geplätscher, das sich zu einem stetig regnenden Murmeln verdichtet. Ich glaube, dass dieses Erlebnis, bei Regen eine Tür zu einem Garten zu öffnen, mit dem vergleichbar sein muss, was ein Sehender empfindet, wenn er die Vorhänge aufzieht und die Welt draußen sieht.

(John M. Hull, 1992, S. 46 / 47)

Prolog: Zwei Traditionen der Achtsamkeit

In diesem Buch wird es hauptsächlich um die Praxis der Achtsamkeit gehen. Diese Praxis hat eine jahrtausendealte Geschichte, und man würde ihre Spuren vielleicht, wenn man sorgfältig sucht, als Besinnung, Gelassenheit oder Weisheit in allen Kulturen finden. Aber als eigener Übungsweg hat sie sich über die Jahrtausende hinweg vor allem in Indien, China, Japan und anderen Ländern Ostasiens im Rahmen der spirituellen Traditionen dieser Länder entwickelt. Die Geschichte der Achtsamkeit als Übungsweg im Westen ist demgegenüber kurz. Vereinzelte Kenner und Anhänger des Buddhismus findet man in Europa im 18. und vor allem 19. Jahrhundert, aber sie verfolgten meist religionswissenschaftliche, ethnologische oder philosophische Interessen, manchmal auch spirituelle. Die breitere kulturelle Wirkungsgeschichte der Achtsamkeitspraxis beginnt im Westen vor etwa 100 Jahren. Dabei haben die asiatischen Traditionen zwar eine Rolle gespielt, aber sie haben eher im Hintergrund gewirkt, während im Vordergrund aktuelle Themen der Zeit behandelt wurden. Bis heute umfasst diese Wirkungsgeschichte nicht nur die spirituelle Suche, sondern auch die Suche nach dem richtigen und dem gesunden Leben. Dadurch wurde die Achtsamkeitspraxis selbst experimenteller und vielfältiger.

Wenn man sich auf die Entwicklung der Achtsamkeitspraxis und ihren Einfluss auf Lebenskunst und Psychotherapie konzentriert – und das ist mein Anliegen –, so findet man heute zwei wesentliche Traditionen, die selten aufeinander Bezug nehmen. Die ältere Tradition lässt sich zurückverfolgen bis zu der Lebensreformbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts. Dieser Ursprung ist so interessant, dass ich mich ihm etwas ausführlicher widmen möchte.

Wesentliche Teile der kulturellen und intellektuellen Welt befanden sich damals in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem industriellen Zeitalter, dessen Gefahren spätestens durch den Ersten Weltkrieg überdeutlich wurden. Die Kritik der vor allem mittelständigen Lebensreformer richtete sich aber bereits vorher gegen Umweltzerstörung, Vermassung und Anonymisierung, gegen die Sinnentleerung der Arbeit und den Raubbau an Körper und Seele durch entfremdete Arbeit, falsche Ernährung, Alkoholismus, Hektik und Angst. Es entwickelte sich eine Reformszene voller Aufbruchstimmung und Kreativität, in der es um nicht weniger als die Vision einer neuen Harmonie zwischen Mensch, Natur und Gesellschaft ging (Krabbe 2001, Buchholz 2001a, 2001b, Graeff 2005).1 In dieser Zeit wurden viele Themen verhandelt, die in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wurden und teilweise unverändert und wortgleich noch heute in den alternativen Szenen eine Rolle spielen. Aber auch dem Nationalsozialismus wurden Vorlagen geliefert, die er rabiat umsetzte. Dabei schluckte er gleich wesentliche Teile der Bewegung, die ihn teilweise herbeigesehnt hatte. Diese komplexe und widersprüchliche Wirkungsgeschichte hat damit zu tun, dass sich in der bunten Welt der Lebensreform unterschiedlichste Aspekte mischten: einerseits Individualismus, Modernität und Kampf gegen Zwänge, Rollenmuster und Traditionen, andererseits der sehnsüchtige Blick zurück in vorindustrielle Zeiten, Irrationalismus, Rigidität, Biologismus und Rassismus. Kreative Experimente, individueller Ausdruck und Mut zur Hässlichkeit fanden sich neben zwanghaften Essensritualen, Runengymnastik und der Verklärung des arischen Körpers.

Zwei Elemente dieser Bewegung sind für unser Thema interessant: die Rolle der Spiritualität und die Körpermythologie. Die Lebensreform war stark von exotischer Spiritualität geprägt. Das Interesse galt hauptsächlich Hinduismus, Buddhismus und zoroastrischer Religion (die sogenannte Mazdaznan-Bewegung2, vgl. Baumann 1998, Linse 1991). Sehr populär war das Yoga, und dem Atem wurde eine zentrale Bedeutung für die psychophysische Entwicklung zugeschrieben. Ein Grund für die Popularität dieser Praktiken und Religionsformen war, dass sie den Einflüssen der westlichen Zivilisation entrückt schienen. Sie schienen ursprünglicher, reiner, unverdorben, so wie der „edle Wilde“, das Kind oder ein Mensch in psychotischer Verfassung. Ein weiterer Grund war, dass mit ihnen individuelle Entwicklung, Ganzheitlichkeit und umfassende diesseitige Harmonie möglich erschienen. In diesen Religionen musste man sich zudem nicht in die Abhängigkeit von höheren Wesen begeben, es genügte die eigene alltägliche Praxis (vegetarische Ernährung, Atemübungen, Meditation, eventuell auch Askese), also die Veränderung der individuellen Lebensweise ohne Umweg über Dogmen und Institutionen. In einer eigenen Aneignung des Buddhismus konnte sich das bürgerliche Programm der Selbstdisziplin und Selbstverwirklichung wiederfinden und fortsetzen.

Eine zweite Schlüsselstellung in der Lebensreformbewegung nahm der Körper ein. Er hatte bereits im 19. Jahrhundert eine massive Aufwertung erfahren – einerseits als Objekt von Forschung, Disziplinierung, Pflege, Hygiene (Lorenz 2000, Sarasin 2001), andererseits als Autorität und Hoffnungsträger. Diese Aufwertung erfolgte zum einen durch die Naturwissenschaften. Die Evolutionstheorie verlagerte die göttliche Schöpferkraft in die Natur, die Körperlichkeit, die Sexualität (Riedel 2001). Zum anderen rückte der Körper durch die Entwicklung der Philosophie (Schopenhauer, Nietzsche und die „Lebensphilosophie“) ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Schließlich spielten sicher auch die sichtbaren Erfolge der Bemühungen um Hygiene und Volksgesundheit eine Rolle. Der Körper, das Unbewusste und die Sexualität waren dadurch bereits im 19. Jahrhundert große Themen geworden. In der Lebensreformbewegung aber wurde der Körper nun zunehmend vom Objekt zum Subjekt. Dem objektivierenden Blick der Hygienebewegung wurde die Einfühlung in den Körper hinzugefügt und oft entgegengesetzt. Das führte zu einer „Körperkultur“, in der Spontaneität und Natürlichkeit dominierten (eine ausführliche Darstellung findet sich in Wedemeyer-Kolwe 2004, für eine anschauliche Illustration empfehle ich den UFA-Film von 1925 Wege zu Kraft und Schönheit3): statt festgelegter Bewegungs- oder Tanzformen Ausdruckstanz, statt Habitus und Mode Nacktheit, statt kanonisierter Kunstformen die Orientierung an Jugendlichkeit und natürlichen Formen. Diese Körperkultur führte zu einer Art Körpermythos: Der Körper wurde zum überlegenen Gegenspieler des diskreditierten Verstandes. Er wurde als Vermittler einer anderen Form von Weisheit gesehen. Viele Teilnehmer der Bewegung übersahen die historisch-soziale Dimension des realen wie des idealen Körpers. Dieser Naturalismus sollte verheerende Folgen haben.

Die Verbindung von Körpermythologie und asiatischer Spiritualität, wie sie damals rezipiert wurde, führte darüber hinaus häufig zu einer regelrechten Körpermystik: Der Körper sollte nicht nur den Weg zu mehr Gesundheit und einer gesunden Gesellschaft weisen, er wurde auch als Ausdruck einer umfassenden kosmischen Wahrheit angesehen: Wende dich dem Körper zu, und du findest Zugang zu universellen Wahrheiten.

Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden vor allem in den USA, Frankreich und Deutschland zahlreiche Bewegungs-, Atem-, Tanz- und Gymnastikschulen, die sich wechselseitig beeinflussten, sich organisierten und eine Wirkung weit über die eigentliche Lebensreformbewegung hinaus entfalteten. Gymnastik etablierte sich neben Turnen und Sport.

Eine der zahlreichen Gymnastiklehrerinnen dieser Zeit war Elsa Gindler, die 1913 in Berlin ein „Institut für harmonische Gymnastik“ gründete. Ihre besondere Relevanz für die Geschichte der psychosozialen Bewegungen, der Achtsamkeit und der Psychotherapie4 erklärt sich daraus, dass sie gemeinsam mit Heinrich Jacoby die Körperkultur im Rahmen der Lebensreformbewegung auf moderne und fruchtbare Weise weiterentwickelte.5

Gindler / Jacoby betrachteten den Körper als einen sozialen Organismus, der sich an konkrete gesellschaftliche Verhältnisse adaptieren muss: „Wir vergessen nämlich immer wieder, dass wir im Menschen ein Ganzes, das selbst wieder nur ein Teil eines sozialen Organismus ist, vor uns haben, das man nicht plötzlich als ‚Nur-Körper‘ und ‚Nur-Individuum‘ ansprechen kann.“ (E. Gindler in Ludwig 2002, S. 100) Für sie und Jacoby war der Körper vor allem ein individueller und gesellschaftlicher, kein „natürlicher“ und schon gar kein „arischer“. Umgekehrt muss die Gesellschaft so gestaltet werden, dass sie dem Körper gerecht wird. Gindler / Jacoby kritisierten die Lebensbedingungen der Mehrheit ihrer Mitbürger heftig. Deshalb kam es ihnen auf das Verhalten im Alltag an: „… der Tummelplatz für die Übung ist nicht die Stunde.“ (E. Gindler in Ludwig 2002, S. 86) Die Entwicklung des einzelnen Menschen ist nicht absehbar, weil sie von seinen Spielräumen und von ihm selbst abhängt. Jeder einzelne Schüler ist die letzte Instanz für diese Frage. Elsa Gindler kritisierte daher den Leistungssport ebenso wie die gerade populäre Säuglingsgymnastik. Ihr war es wichtig, „dass jeder Schüler in seiner Weise übt“ (in Ludwig 2002, S. 86) und sein individuelles Potenzial im Zusammenspiel mit seiner Umwelt realisiert. Gindler / Jacoby ging es um eine „persönliche Entwicklungsarbeit ohne primär pädagogische oder therapeutische Zielsetzung“ (Klinkenberg 2007, S. 92).

Neben der Orientierung an der Gesellschaft und dem Einzelnen war aber vor allem Folgendes zukunftsweisend: Gindler / Jacoby betonten die Bedeutung einer ganz bestimmten Haltung in der Arbeit mit dem einzelnen Menschen. Ihren einzigen veröffentlichten Vortrag „Die Gymnastik des Berufsmenschen“ (!) von 1926 beginnt Elsa Gindler mit den Worten: „Es ist für mich schwer, über Gymnastik zu sprechen, weil das Ziel meiner Arbeit nicht in der Erlernung bestimmter Bewegungen liegt, sondern in der Erreichung von Konzentration.“ (In Ludwig 2002, S. 83) Was ist in diesem Zitat mit „Konzentration“ gemeint? In vielen Formulierungen wird diese Haltung von Gindler und Jacoby näher bestimmt: Es geht darum, ganz bei einem Verhalten oder einer Tätigkeit zu sein, denkend und fühlend, mit einem Bewusstsein, „das immer in der Mitte steht, auf die Umwelt reagiert und denken und fühlen kann“, oder mit einem „Geist, der mit und bei der Sache ist“ (Gindler in Ludwig 2002, S. 84). Gindler spricht von „Gelassenheit“ und „Entspannung“: „Entspannung ist für uns ein Zustand der höchsten Reagierfähigkeit, eine Stille in uns, eine Bereitwilligkeit, auf jeden Reiz richtig zu antworten.“ (In Ludwig 2002, S. 91) Dafür ist es notwendig, die Selbstwahrnehmung, das Spüren („Unmittelbare Körperwahrnehmung: Propriozeptivität. Der 6. Sinn“, Kursnotizen in Ludwig 2002, S. 136) zu verbessern. Jacoby spricht von „Antennigsein“, „Hingabe – ein Wort, das leider etwas belastet ist“, „Aufgeschlossenheit“, „gelassener Empfangsbereitschaft“, „Erlauben“, „Auf-sich-wirken-Lassen“, „Offenheit“, „Bereitschaft“ (Jacoby 2004, S. 51, 36, 54, 33, 32). Damit sind zentrale Elemente der Haltung beschrieben, die wir heute „Mindfulness“ oder „Achtsamkeit“ nennen.

In dieser Haltung kommt (wie durchaus häufiger in der Lebensreformbewegung) ein moderner Zug zum Tragen: das forschende Betrachten und Analysieren, „das Studium dieser Verhaltensweisen und der ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten“ (Gindler 1931 in Ludwig 2002, S. 98), das Interesse an den „funktionellen Zusammenhängen“, der „gesetzmäßige(n) Bedingtheit von Strukturen“ (Jacoby 2004, S. 30). Auch wenn vor allem Elsa Gindler der Psychoanalyse kritisch gegenüberüberstand6, so gibt es hier doch eine Nähe zur Position Freuds, der die Bedeutung des Körpers und der Sexualität auch ganz lebensreformerisch sehr hoch einschätzte, aber diesem „Es“ gegenüber gleichzeitig nüchtern und skeptisch blieb (Sabin 2001). Tatsächlich war bereits zu Lebzeiten, vor allem aber wirkungsgeschichtlich die Arbeit von Gindler / Jacoby für die Psychoanalyse anschlussfähig. Dabei spielt auch eine Rolle, dass für Gindler / Jacoby wie für Freud (in der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“) die achtsame Haltung nur dann wirkungsvoll werden konnte, wenn sie gleichzeitig dazu führte, andere Entwicklungsprozesse zu fördern (das leibliche Potenzial bzw. das Verstehen). Erst ca. 50 Jahre später – in der neueren Achtsamkeitstradition – ist die Achtsamkeitsarbeit hier einen Schritt weitergegangen und hat die Achtsamkeit aus dieser dienenden Rolle befreit. Neben vielen anderen Gründen – z. B. der Solidarität mit ihren jüdischen Schülern und Heinrich Jacoby, der als Jude 1937 in die Schweiz emigrieren musste – hat sicher auch diese aufklärerische Grundhaltung Elsa Gindler davor bewahrt, allzu sehr bei irrationalen, körpermythischen Elementen zu verweilen und die bereits in der Lebensreform anklingende und dann von den Nationalsozialisten durchgesetzte normative Verengung des Körpermythos auf den arischen Körper mitzumachen. Elsa Gindler blieb in Berlin und setzte sich für rassisch und politisch Verfolgte ein. Sie starb 1961. 1962 wurde ihr zu Ehren ein Hain in Israel gepflanzt.

Für die internationale Wirkungsgeschichte von Gindler / Jacoby war ihre Schülerin Charlotte Selver von entscheidender Bedeutung, die 1938 in die USA emigrierte und dort die Übungen Elsa Gindlers in dem „Sensory Awareness Training“ weiterentwickelte (Brooks 1979). Sie entdeckte 1953 auch die große Ähnlichkeit zwischen ihrer Arbeit und dem Zen-Buddhismus – der im Westen erst relativ spät bekannt geworden war –, die sie dann in der Zusammenarbeit mit Alan Watts (einem Zen-Pionier) vertiefte (zu dieser und anderen Querverbindungen zu wichtigen Persönlichkeiten der psychoanalytischen und humanistischen Bewegung s. die Literaturhinweise in Anm. 4). Die Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby hat wesentlich die Konzentrative Bewegungstherapie, die Gestalttherapie, die Bioenergetik, die Atemtherapie, die Feldenkrais-Arbeit, die Tanztherapie und andere nach wie vor aktuelle Arbeitsweisen beeinflusst. Diese Arbeitsweisen lassen sich oft nicht wirklich in Form von Übungen darstellen, denn die Möglichkeiten, auf diese Weise mit dem Körper zu arbeiten, sind unendlich. Es braucht vor allem Improvisation und Einfühlungsvermögen in den einzelnen Menschen, in die Beziehung zwischen Therapeut (oder Trainer) und Klient sowie in die Situation. Dennoch sind aus dieser Tradition schon bei Gindler / Jacoby und vor allem später viele Übungsanleitungen entstanden, von denen ich einige in diesem Buch aufgreife (z. B. Stevens 1996 [1971], Brooks 1979, L. Lidell 1988, Klinkenberg 2007, Rytz 2010).

Menschen, die schon lange mit einem dieser Verfahren arbeiten, reiben sich heute oft die Augen, wenn ihnen vorgetragen wird, dass „Achtsamkeit“ ein neues Konzept in Lebenskunst und Psychotherapie sein soll. Tatsächlich ist das Rad in den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts teilweise wieder neu erfunden worden, und es ist ein wenig ärgerlich, wenn manche Autoren heute die Idee der Achtsamkeit auf den Schild der Psychotherapie heben, ohne auf die lange Vorgeschichte und die bereits vorliegenden Übungen und Erfahrungen Bezug zu nehmen, obwohl sie sie gerne verwenden.

Dies gilt vor allem für die zweite Tradition der Achtsamkeit im psychosozialen Bereich der westlichen Kulturen, die in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden ist und mit Namen wie J. Kabat-Zinn, S. Hayes oder M. Linehan verbunden ist. J. Kabat-Zinn, ein Molekularbiologe, hatte die Idee, seine Erfahrungen in Vipassana und Zen für Menschen, die unter Stress und psychosomatischen Beschwerden leiden, nutzbar zu machen. In einer Klinik in den USA konnte er seine Vorstellungen erfolgreich umsetzen. Diese zweite Entwicklungslinie der Achtsamkeit hat ihre Wurzeln viel unmittelbarer als die frühere Achtsamkeitstradition in der asiatischen Spiritualität. Die Grenzen der spirituellen Traditionen bestimmen in dieser Tradition das Spektrum der Übungen deutlicher mit als in der Lebensreform-Tradition der Achtsamkeit.

Gleichzeitig fühlt sich diese neuere Tradition der Achtsamkeitspraxis stärker der therapeutischen Praxis und Forschung verpflichtet. Eins ihrer Probleme ist daher auch, diese beiden ungleichen Partner zusammenzubringen. Es entstanden und entstehen zahlreiche psychotherapeutische Konzepte, die sich als achtsamkeitsbasiert verstanden und auf verschiedene Krankheitsbilder abzielten. Diese „Mindfulness Based Therapies“ finden derzeit viel Beachtung und breiten sich stetig aus. Sie wenden sich immer neuen Krankheitsbildern zu und bemühen sich um Effektivität und wissenschaftliche Evaluation. Während die erste Tradition der Achtsamkeit erst im späteren Verlauf sozusagen von der Psychotherapie adoptiert wurde, ist es hier genau umgekehrt. Hier entwickeln sich viele Konzepte im klinischen Kontext, und inzwischen werden sie auch auf nichtmedizinische Probleme angewandt: Paarberatung, gewalttätige Männer, Prävention an Arbeitsplätzen, in Schulen, Gefängnissen usw. Ein großer Vorteil dieser Projekte ist die Klarheit und Überprüfbarkeit ihrer praktischen Konzepte und die für die Psychotherapie relativ neue Arbeitsweise als Fertigkeitentraining (Skillstraining): Die Therapien finden in zeitlich auf wenige Monate begrenzten seminarartigen Übungsgruppen statt und nehmen die Patienten in die Pflicht, selbst in ihrem Alltag relativ streng festgelegte Übungen durchzuführen. In dieser Tradition treffen wissenschaftliche Forschung und fernöstliche Spiritualität hart aufeinander. Die gemeinsame Vorliebe für klare Strukturen, Disziplin und Wiederholbarkeit führt zu einer gewissen praktischen Harmonie, und auch theoretisch gibt es Gemeinsamkeiten, insbesondere in der Idee, dass das Denken das Handeln und Fühlen dominiert und deshalb auch die führende Rolle bei der angestrebten Vereinigung von Körper und Seele einnehmen sollte. Daher fühlten sich vor allem kognitive Verhaltenstherapeuten von diesen spirituellen Anregungen angesprochen. Methodisch jedoch wirkt diese Verbindung östlicher und westlicher Traditionen wie ein Gemisch aus Öl und Wasser. Wissenschaftliche Skepsis und empirische Forschung lassen sich schwer mit Traditionsgläubigkeit und Spekulation verbinden. Während die Lebensreformbewegung die Philosophie ihrer Zeit rezipierte und sogar stark von ihr geprägt war, ist die zweite Tradition der Achtsamkeit an der Philosophie (aber auch an Religionswissenschaft und vergleichender Kulturwissenschaft) ausgesprochen desinteressiert. Sie orientiert sich eher an der Neurobiologie. Das ist erstaunlich und bedauerlich, weil „Achtsamkeit“ eigentlich eine Überschrift für zahlreiche Themen ist, die von Philosophen, Psychologen unterschiedlichster Orientierung und Religionswissenschaftlern ausführlich bearbeitet wurden. Stattdessen wird Buddha zu einem Wissenschaftler, Arzt oder Psychologen vor der Zeit erklärt und die buddhistische Lehre zu „einer Art ursprünglicher Universalgrammatik …, einem angeborenen Satz empirisch überprüfbarer Regeln“ (Kabat-Zinn 2004, S. 108), oder es wird gar eine „buddhistische Psychologie“ ins Leben gerufen (s. dazu das Nachwort zu dieser Auflage).

Aber trotz all dieser Probleme ist die zweigleisige Geschichte der Achtsamkeit im Westen ein Gewinn. Die neuere Tradition hat der Idee zu einer Aktualisierung in Form handlicher, praktikabler Settings verholfen und sie damit populär gemacht. Vor allem aber schreibt sie der Achtsamkeit eine größere, unmittelbare Wirksamkeit zu (Huppertz 2009, Kap. 7.1.1, sowie den Epilog dieses Buches). Dass beide Achtsamkeitstraditionen einander ignorieren, ist aber nicht nur aus Gründen der Fairness, sondern auch im Interesse der weiteren Entwicklung zu bedauern. Die Praxis der Achtsamkeit unterscheidet sich nämlich in beiden Traditionen auf fruchtbare Weise in einem zentralen Punkt:

Die erste, nennen wir sie die „humanistische“ Tradition, betont die „Weisheit des Körpers“. Achtsamkeitsübungen sollen angenehm und leicht sein. Treten unangenehme Empfindungen oder gar Schmerzen auf, sollen die Übungen verändert oder beendet werden. Die Übungen sind entsprechend relativ frei gestaltet. Die individuelle Ausgestaltung dominiert über feste Vorgaben, sie gehen sozusagen von unten nach oben – „bottom up“ – vor. Übungen sind nur Vorschläge für Experimente, das Spüren ist der Dreh- und Angelpunkt.

In den aktuellen achtsamkeitsbasierten Programmen wird eher mit festen und dabei oft anspruchsvollen Vorgaben gearbeitet, sie sind eher von oben nach unten – „top down“ – gestaltet. Treten unangenehme Empfindungen auf, sollen sie in die Achtsamkeit integriert, also angenommen werden. Die Übung wird fortgeführt, jedenfalls solange sie nicht schädlich ist. Die Weisheit wird weniger im Körper als im Geist vermutet, der zwar einen Einklang mit dem Körper sucht, sich aber nicht allzu sehr von ihm leiten lässt. Der Ausgangspunkt ist der Intellekt, der Körper wird in dieser Tradition eher kontrolliert oder still gestellt. Der Umgang mit dem Körper entspricht den meditativen Techniken, die am stärksten rezipiert und gewürdigt werden: Vipassana-Meditation und Zazen, also letztlich der Tradition des ursprünglichen Yoga.

Die Leiblichkeit wird in den beiden Traditionen der Achtsamkeit also geradezu entgegengesetzt gewichtet und verstanden, und das hat einen großen Einfluss auf die jeweilige Übungspraxis. Es ist durchaus nicht dasselbe, ob man dem Körper ablauscht, wie er sich selbst möglichst reibungslos, effektiv, lustvoll und angenehm bewegen möchte, oder ob man auch unangenehme Erfahrungen achtsam akzeptiert und vielleicht gerade darin einen besonderen therapeutischen Wert sieht. Nicht zufällig stammen die lebendigeren, bunteren, lustvolleren und kreativeren Achtsamkeitsübungen aus der humanistischen, die härteren, asketischeren Übungen eher aus der neueren Tradition; die Hinzunahme von Techniken aus der Hypnotherapie, der positiven Psychologie und der Körpertherapie sorgt hier erst für einen gewissen Ausgleich. Mir ist es ein Anliegen, die lebendigeren Achtsamkeitsübungen in diese Darstellung einzubeziehen. Aber auch die konsequente Ausdehnung der Achtsamkeit auf Schmerzen und andere unangenehme Erfahrungen und Gefühle ist zutiefst realistisch, in therapeutischer Hinsicht wertvoll und in spiritueller Hinsicht unentbehrlich. Ich werde also versuchen, in der folgenden Zusammenstellung von Übungen und in den Kommentaren beide Traditionen der Achtsamkeit zu verbinden.

1. Einleitung

Ziel dieses Buches ist eine umfassende Zusammenstellung von Achtsamkeitsübungen, die ohne besonderen technischen Aufwand einzeln oder in Gruppen durchgeführt werden können.

Die in diesem Buch vorgestellten Übungen sollen durch ihre Unterschiedlichkeit für eine gewisse Vollständigkeit sorgen. Ich werde also nur Übungen darstellen, die jeweils eine wirkliche Bereicherung darstellen. Ob man vorschlägt, Mandarinen, Rosinen oder Walnüsse genauer wahrzunehmen, macht keinen Unterschied. Formen von Übungen, die nichts wirklich Neues beitragen, auf die man aber doch nicht so leicht kommt, habe ich als „Varianten“ oder „Erweiterungen“ aufgeführt.

Die Übungen in diesem Buch sind vor allem eines: einfach. Man muss sie – technisch betrachtet – gar nicht üben. Dadurch kann die ganze Energie in den Erwerb der Haltung der Achtsamkeit gehen. Ich habe keine Übungen aufgenommen, die ein ganzes System von Kenntnissen und Fähigkeiten voraussetzen oder nur in einem Gesamtkonzept wirklich zur Geltung kommen, also z. B. keine Übungen aus Yoga, Tai-Chi, den Kampfkünsten oder dem Initiatischen Gebärdenspiel, auch wenn alle diese Praxisformen sehr geeignet sind, Achtsamkeit zu entwickeln. Wenige Ausnahmen habe ich gemacht, wenn sich einzelne einfache Bewegungen aus diesen Systemen herauslösen ließen.

Ich habe auch keine Geschicklichkeitsübungen dargestellt (wie ein Ei aufstellen, Mikado) oder Spiele, bei denen man schnell reagieren muss (z. B. „Halli Galli“), weil solche Übungen nicht wirklich zur Absichtslosigkeit passen, die in der Haltung der Achtsamkeit so wichtig ist.

Schließlich habe ich auf Übungen verzichtet, die eine besondere Vertrautheit in einer Gruppe oder zwischen Übungspartnern voraussetzen oder herstellen sollen – wie z. B. Massageübungen. Sie brauchen eine besondere Motivation, eine vertrauensvolle Beziehung und einen speziellen Rahmen. Viele gute Anleitungen zu solchen Übungen, die auch Achtsamkeit vermitteln, finden sich z. B. bei J. O. Stevens (1996 [1971]), H. Gudjons (1990) oder M. Anand (2000).

Da die zeitlichen und räumlichen Bedingungen (Körperpositionen) die entscheidenden praktischen Vorgaben sind, gebe ich diese gleich zu Beginn jeder Übung an. Darüber hinaus schien es mir wichtig, darzustellen, welche Aspekte von Achtsamkeit die jeweiligen Übungen besonders betonen, und auf die Fragen einzugehen, die sie vielleicht aufwerfen. Nach der Beschreibung der Übung folgt daher ein meist kurzer Kommentar. Wiederholungen im Übungsteil erklären sich daraus, dass er eher zum Nachschlagen als zum Durchlesen gedacht ist.

In den Kommentaren gehe ich auch auf die Quellen der Übungen ein. Die Ursprünge sind manchmal klar, häufig aber nicht. Viele Übungen werden einfach weitergereicht, man begegnet ihnen hier und dort. Nach Möglichkeit gebe ich an, woher ich eine Übung habe bzw. welche andere Übung ihr zugrunde liegt. Manchmal habe ich bekannte Übungen oder Meditationen abgewandelt. Das ist viel einfacher, als man denkt, und ich möchte ausdrücklich dazu ermutigen. Und natürlich: Erfinden Sie Übungen!

„Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.“ Auch wenn Achtsamkeit in allererster Linie eine Praxis ist, ist meines Erachtens eine möglichst klare Vorstellung des Konzepts wichtig. Den theoretischen Grundlagen und Auseinandersetzungen galt mein erstes Buch zu diesem Thema (Huppertz 2009). Auf dieses Buch werde ich daher ziemlich oft verweisen. Eine Definition von Achtsamkeit und eine kurze Darstellung ihrer Formen möchte ich aber an dieser Stelle wiederholen.

Als Definition schlage ich inzwischen vor: Achtsamkeit ist eine bewusste, absichtslose, offene und akzeptierende Haltung zum gegenwärtigen Geschehen. Sie kann verschiedene Formen annehmen:

fokussierte – weite Achtsamkeit

äußere – relationale – innere Achtsamkeit

beobachtende – begleitende Achtsamkeit

Fokussierte Achtsamkeit bezieht sich auf ein bestimmtes Objekt (Dinge, Gedanken, Empfindungen usw.), weite Achtsamkeit tendenziell auf alles, was zu einer gegenwärtigen Situation gehört. Diese beiden Formen schließen einander nicht aus. Wir können etwas fokussieren und vieles andere gleichzeitig im Hintergrund mehr oder weniger genau wahrnehmen. Wir können auch mehr als einen Fokus bilden. Bei weiter Achtsamkeit kommt es selbstverständlich nicht auf Vollständigkeit an. Die Haltung bleibt rezeptiv (empfangsbereit). Äußere Achtsamkeit bezieht sich auf die Umwelt, innere Achtsamkeit auf mentale Ereignisse oder Körperempfindungen, relationale Achtsamkeit auf die Interaktionen zwischen uns und der Um- und Mitwelt. Beobachtende Achtsamkeit versucht, möglichst viel Distanz zu der eigenen Erfahrung herzustellen, begleitende Achtsamkeit bleibt dicht an der Erfahrung und intensiviert sie. Die meisten Übungen liegen irgendwo zwischen diesen Polen und kombinieren verschiedene Formen.

In therapeutischen Settings kann man sich grob daran orientieren, dass die links stehenden Formen der Achtsamkeit für alle Patientinnen geeignet sind, während die rechts stehenden Formen für sehr instabile Patientinnen eher ungeeignet sind. Mit einer fokussierten äußeren beobachtenden Achtsamkeit ist man also immer auf der sicheren Seite (wenn der Fokus nicht unpassend ist), sie eignet sich daher auch besonders für den Einstieg, eine weite innere begleitende Achtsamkeit eher nicht.

Zum Problem des Nichtbewertens und zu der Frage, was überhaupt Bewertungen sind, habe ich in dem Nachwort zu dieser überarbeiteten Auflage ausführlich Stellung genommen. Im Ergebnis denke ich, es ist sinnvoll, das Bewerten zu erkennen und dann zu schauen, ob die Bewertung einen differenzierten Kontakt behindert oder nicht. Vielleicht kommt man dann zu einer differenzierteren Betrachtung und im Anschluss auch zu einer neuen und möglicherweise angemesseneren Bewertung. Bewerten ist ein wesentlicher und unvermeidlicher Bestandteil unserer Wahrnehmung, und das Nichtbewerten beraubt die Achtsamkeit ihres ethischen Potenzials, wenn es zu einer grundsätzlichen Empfehlung wird.

Diesen Achtsamkeitsbegriff lege ich den folgenden Übungen zugrunde. Er ist einerseits weit und pluralistisch, weil er diese verschiedenen Formen der Achtsamkeit berücksichtigt, andererseits eng, weil er die Praxis der Achtsamkeit klar von Entspannungsübungen und Suggestion, aber auch von Selbsterfahrung, Selbstfürsorge und Selbstverwirklichung abgrenzt. Entscheidend bei der Auswahl der Übungen war, dass die Haltung der Achtsamkeit im Vordergrund steht. Es handelt sich bei diesen Übungen um Experimente mit offenem Ausgang. Während man übt, sollte man keine Absicht verfolgen, sondern sich „nur“ auf das Experiment einlassen und schauen, hören, spüren, was geschieht. Das ist nicht so ungewöhnlich. Es ist wie beim Essen: Wir haben dabei die Absicht, satt zu werden, aber während des Essens müssen wir nicht ständig an dieses Ziel denken, sondern können einfach schmecken, kauen usw. Es ist von zentraler Bedeutung für das Konzept, dieses absichtliche Üben von Absichtslosigkeit zu verstehen (s. ausführlicher dazu Huppertz 2009, Kap. 1.3). Die Experimente legen verschiedene Erfahrungen nahe, aber das ist auch schon alles. Es werden keine bestimmten Inhalte außer der Haltung selbst vermittelt, es wird kein Wohlbefinden angestrebt, keine Entspannung, keine Selbsterkenntnis, keine Integration von abgespaltenen, unterentwickelten Anteilen der Persönlichkeit oder dergleichen. All das kann man hinzufügen, ist aber für das Erlernen der Achtsamkeit unnötig und oft irreführend.

Sofern sich all diese wünschenswerten Prozesse nebenbei abspielen und das Erlernen der Achtsamkeit nicht stören, warum nicht? Selbsterfahrung erlangen wir bei jedem bewussten Erlebnis, und Entspannung ist eine regelmäßige Begleiterscheinung von Achtsamkeitsübungen, was einfach an der Erlaubnis liegt, „passiv“ sein zu dürfen. Achtsamkeit ist, genauer betrachtet, in das Begriffsschema „aktiv – passiv“ nicht einzuordnen. Die Haltung der Achtsamkeit ist ebenso aktiv wie passiv. Ihre Aktivität besteht

in der bewussten Einnahme und der häufigen Rückkehr in diese Haltung;

in der Aufmerksamkeitslenkung;

in der Differenzierung der Wahrnehmung;

in kleinen Experimenten.

Wenn man allerdings nur ein Tun, das zielgerichtet verändert, als „aktiv“ bezeichnen will, dann kann man auch von der Passivität der Achtsamkeit sprechen.

Da die Achtsamkeit die Gegenwart in den Vordergrund rückt, bekommen sinnliche Erfahrungen eine größere Bedeutung als in unserem Alltag, der stark auf Handlungen ausgerichtet ist. Wenn wir die Gegenwart verlassen, geschieht das auf irgendeine symbolische Weise – durch bildliche Vorstellungen (von etwas), Erinnerungen (an etwas), Entwürfe (Pläne, Ziele, Träume etc.). Gegenwärtigkeit ist daher leichter über sinnliche Erfahrungen herzustellen, was aber nicht heißt, dass das Denken grundsätzlich hinderlich ist. Denken kann auch Erfahrungen verstärken und differenzieren.

Ein besonderes Problem ist die Suggestion, die ja alltäglich und unvermeidlich ist. Achtsamkeitsübungen bewegen sich oft in einer besonderen Nähe zu suggestiven Techniken, weil es in der Fokussierung der Aufmerksamkeit eine Überschneidung gibt und weil sie oft mit Imaginationen oder Fantasiereisen verbunden werden, was in der Regel ausgesprochen verwirrend ist. Ziel von Achtsamkeitsübungen ist Bewusstseinsklarkeit und Bewusstseinserweiterung, nicht Bewusstseinsverengung und Trance. Bei der Anleitung von Achtsamkeitsübungen ist es gut, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht darum geht, in eine Trance zu verfallen.

Viele Darstellungen von Achtsamkeitsübungen sind unbefriedigend, weil sie entweder einen zu engen oder einen zu weiten Achtsamkeitsbegriff verwenden. Im ersten Fall beschränken sie sich auf wenige oder sehr ähnliche Übungen. Im zweiten Fall schließen sie in erheblichem Umfang andere Vorgehensweisen ein. Sehr häufig werden Achtsamkeitsübungen mit inhaltlichen – vorzugsweise positiven oder spirituellen – Botschaften gemischt. Sie sind dann oft von hypnotherapeutischen Übungen kaum noch zu unterscheiden (z. B. bei Burkhard 2007, Brantley 2009, Dewulf 2009, Tepperwein 2010, Morgan, Morgan 2010, Iding 2012, Lohmann, Annies 2013). Ein bekanntes Beispiel dafür sind Imaginationen eines Berges oder eines Sees (Kabat-Zinn 2010, S. 122 ff.), Fantasiereisen oder die Meditationen des Mitgefühls, die in der Tradition des tibetischen Buddhismus eine große Rolle spielen. Nicht selten werden Achtsamkeitsübungen auch als Mittel zur Selbsterkenntnis und Selbstveränderung (z. B. bei Hofmann 2004, Weiss, Harrer, Dietz 2010) oder der Selbstfürsorge (z. B. bei Potreck-Rose, Jacob 2003, Burkhard 2007, Rytz 2010) verwendet. Auch dabei wird oft der Begriff der „Achtsamkeit“ sehr weit ausgedehnt. Ich habe zu diesen Ausdehnungen des Begriffs in dem Nachwort zu dieser Ausgabe ausführlich Stellung genommen. Die Verbindung mit diesen anderen Vorgehensweisen ist relativ unproblematisch, wenn zunächst die Unterschiede zwischen ihnen und der Übung der Haltung der Achtsamkeit deutlich gemacht werden.

Warum sollte man eigentlich mehr als eine Achtsamkeitsübung kennen und wenigstens vorübergehend praktizieren? Es gibt meines Erachtens mehrere Gründe:

Abwechslung tut uns gut. Sie hält uns wach und motiviert uns. Auch wenn es in Achtsamkeitsübungen nicht um Spaß oder Wohlbefinden geht, so motivieren uns solche Aspekte doch zum Üben und erleichtern es.

Jeder Mensch kann auf seine Weise Zugang zu der Haltung der Achtsamkeit finden. Manche Menschen bewegen sich gerne auf Musik, andere finden genau das unangenehm. Manche achten gerne auf ihre Körperempfindungen, andere werden gerade dadurch verunsichert. Manche mögen Stille, manche Klangschalen, manche mögen lange, manche kurze Übungen. Und diese Vorlieben ändern sich noch dazu im Laufe der Zeit. Die Vielfalt ermöglicht Individualität und Unabhängigkeit.

Die Vielfalt der Achtsamkeit kann man nur durch verschiedene Übungen erfahren.

Es ist gut, die Haltung der Achtsamkeit auszudehnen, also zu schauen, ob und wie sie sich in verschiedenen Situationen bewährt.

Es ist in der Regel sehr angenehm, achtsam zu sein – jedenfalls, wenn man sich nicht mehr allzu sehr anstrengt, und wie immer geht die Anstrengung, wenn die Kunstfertigkeit kommt. Die oben angeführten aktiven Aspekte der Achtsamkeit werden von manchen Menschen als anstrengend erlebt. Mag sein, aber wenn, dann strenge man sich bitte nur in diesen Formen an. Die „Und-Techniken“ nehmen allerdings auch hier viel Druck heraus. Aber jede andere Anstrengung ist kontraproduktiv, denn sie bedeutet, dass man während der Übung irgendetwas erreichen will und damit die Absichtslosigkeit der Achtsamkeit aufgegeben hat. Es gibt vier „natürliche Feinde“ der Achtsamkeitspraxis:

ein unzureichendes Verständnis von Achtsamkeit

fehlende Motivation

Anstrengung

Ungeduld

Achtsamkeit ist natürlich umso angenehmer, je attraktiver die Situation ist, in der wir uns befinden. Die Meditationszentren, die ich kenne, sind wunderbare Orte, und was gibt es Schöneres, als achtsam im Wald zu sitzen oder achtsam liebevolle Berührungen wahrzunehmen? Solche Erfahrungen haben natürlich ihren Wert in sich, aber sie motivieren auch, den Weg der Achtsamkeit weiterzugehen. Deshalb sind viele der hier vorgestellten Übungen sehr angenehm. Sie beziehen Musik, Bewegung, schöne oder wenigstens interessante Dinge ein, lassen dem Körper Raum, sich zu entfalten, und bringen Entspannung und Leichtigkeit mit sich. Warum aber darüber hinaus die Zeit damit verschwenden, achtsam mit unangenehmen Erfahrungen umzugehen? Nehmen sie in unserer Kultur nicht ohnehin schon viel zu breiten Raum ein? Ich habe in diesem Buch einige Übungen angegeben, die in der Regel nicht angenehm sind. Sie thematisieren Verlust und Abschied, Vergänglichkeit und Tod, unangenehme Gefühle. Die Gründe sind folgende:

Erstens hat sich die buddhistische Unterscheidung zwischen unvermeidlichem Leid und Leid, das dadurch entsteht, dass wir gegen unvermeidliches Leid ankämpfen, bewährt. Ablehnung ist eine Form, sich mit etwas zu beschäftigen. Kämpfen wir gegen Leid an, so ist es für diesen Kampf notwendig, unsere Aufmerksamkeit auf dieses Leid zu lenken und an unserer negativen Bewertung der Erfahrung festzuhalten und sie eventuell sogar zu betonen. „Schmerz“, „Trauer“, „Liebeskummer“ etc. sind zudem Konzepte, mit denen wir unsere Erfahrung ordnen, und diese Konzepte prägen wiederum unsere Erfahrung und drängen uns zu den Handlungskonsequenzen, die unsere Kultur und unsere Persönlichkeit für diesen Fall vorsehen. Das kann das Festhalten und Kämpfen verstärken. Wir sollten unveränderbares Leid auch nicht umdeuten und überhaupt nicht irgendwie durch praktischen oder mentalen Aktivismus zu beseitigen versuchen. Chronischer Schmerz bessert sich eher, wenn man ihn zulässt und wahrnimmt, wenn man nicht gegen ihn ankämpft, sondern sich entspannt und die Wahrnehmung wieder erweitert. Das bedeutet nicht Ablenkung, sondern im Gegenteil, der Ablenkung entgegenzuwirken, zu der der Schmerz verleitet. Chronischer Schmerz führt wie jedes Leid leicht zu einer Problemtrance, also einer Fixierung auf den Schmerz und zu einer Ablenkung von der Fülle der Gegenwart. Achtsamkeit führt aus dieser Trance zurück in die bewusste Wahrnehmung dieser Fülle, ohne den Schmerz aus ihr auszuschließen. Achtsamkeit lässt die unangenehmen Erfahrungen also zu und kehrt auch unvermeidlich, wenn sie stärker sind, immer wieder zu ihnen zurück. Aber sie schaut auch, was außerdem noch geschieht – auf den Atem, den Körper, andere Gedanken, die Lücken zwischen den Gedanken, die Verbundenheit mit dem Boden, auf andere Menschen im Raum. Selbst wenn ich Angst habe oder traurig bin, so besteht doch die Gegenwart nicht nur aus diesem Gefühl. Achtsamkeit tendiert zur Weite und zur Gegenwart und betrachtet, wie sich eine Situation von selbst verändert. Ich lasse die Eindrücke – auch die Traurigkeit und die Angst – kommen und gehen und halte sie nicht fest. Meine einzige Aktivität besteht darin, immer wieder in die Haltung der Achtsamkeit zurückzukehren, falls ich sie verliere, und weite Achtsamkeit herzustellen, wenn ich dies für ratsam halte. Weite Achtsamkeit bedeutet immer Loslassen, also Erfahrungen kommen und gehen zu lassen, gleichgültig, ob sie angenehm oder unangenehm sind. Achtsamkeit ist keine Entweder-oder-Haltung, sondern eine additive Haltung: „O. k., so ist es und so auch noch.“

Ein weiterer Grund: Wenn wir Gefühle und Erlebnisse vermeiden, die zu unserer Lebenssituation gehören, wird unser Leben immer komplizierter. Dieses Vermeiden hat eine inflationäre Tendenz. Wer nicht an den Tod denken will, muss Krankenhäuser und Beerdigungen ebenso meiden wie bestimmte Filme, Todesanzeigen, Gespräche über Verstorbene. Das Vermeiden ist quasi ansteckend. Das ist anstrengend und kostet uns Energie, die wir besser anderweitig gebrauchen können.

Drittens macht Vermeidung überempfindlich. Wenn man z. B. gewohnt ist, Menschenansammlungen zu vermeiden, wird man empfindlicher reagieren, wenn es einmal nicht gelingt. Genauso ist es mit Lärm, Aufregung usw. Es ist, wie wenn man sich eine Weile in einem abgedunkelten Raum aufhält. Wenn man dann nach draußen ans Licht geht, ist man geblendet, auch wenn es nicht besonders hell ist.

Schließlich bleiben wir durch Vermeidung auf unseren Konzepten und Bewertungen sitzen. Da wir uns nicht mit der inneren oder äußeren Wirklichkeit konfrontieren, können wir auch keine korrigierenden Erfahrungen machen. Wir vermeiden das Risiko einer Begegnung, eines genauen Hinsehens und Beschreibens und können nicht dazulernen. Womit nicht behauptet ist, dass genaueres Hinsehen immer die Bewertung ändert, aber es ist immerhin möglich.

Diese Bereitschaft, sich unangenehmen oder beängstigenden Erfahrungen achtsam zu widmen, unterscheidet Achtsamkeit von Ablenkung. Viele Menschen, die Achtsamkeit kennenlernen, denken zunächst, dass dies etwas mit Ablenkung zu tun hat. Ganz und gar nicht. Ablenkung erfordert, dass ich einen neuen Fokus der Aufmerksamkeit bilde und diesen real oder mental so stark mache, dass ich meine Aufmerksamkeit von den unangenehmen oder bedrohlichen Prozessen abziehen kann. Oft muss man für die Ablenkung einen solchen Fokus erst herstellen, also Musik auflegen, den Fernseher anschalten, joggen gehen, zum Telefonhörer greifen oder ins Internet gehen. Man ist also in diesem Moment von solchen Alternativen abhängig. Geht man wiederholt so vor, muss man unter Umständen die Intensität der Ablenkungen steigern bzw. für Abwechslung sorgen. Kurzum, Ablenkung mag kurzfristig eine Erleichterung bringen, langfristig tritt man mit ihr bestenfalls auf der Stelle.

Mit der Achtsamkeit ist es eher umgekehrt. Sie ist in schwierigen Situationen nicht so einfach, man muss sie erst einmal bei einfachen Herausforderungen lernen. Es ist nicht sinnvoll, die Übung der Achtsamkeit mit unangenehmen Erfahrungen zu beginnen, sondern nur, sie früher oder später einzubeziehen. Beim Lernen der Achtsamkeit gilt das Prinzip: Schwimmen lernen wir nicht bei hohem Wellengang.