Achtsamkeit. Befreiung zur Gegenwart - Michael Huppertz - E-Book

Achtsamkeit. Befreiung zur Gegenwart E-Book

Michael Huppertz

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Beschreibung

Achtsamkeit spielt eine wichtige Rolle in der Spiritualität und zunehmend auch in der Psychotherapie und der Lebensgestaltung. In jedem dieser Kontexte hat sie eine andere Bedeutung. Zudem ist es hilfreich, Formen der Achtsamkeit zu unterscheiden. Auf diese Weise lassen sich einige häufig gestellte Fragen beantworten. In diesem Buch wird die These vertreten, dass sowohl Achtsamkeit als auch achtsamkeitsorientierte Spiritualität rational sein können. Sie beinhaltet ein pragmatisches Verständnis von Vernunft. Außerdem müssen verbreitete, aber schwer begründbare Annahmen über achtsamkeitsorientierte Spiritualität über Bord geworfen werden. Der spirituelle Weg führt nicht zu einem reinen, unveränderlichen Bewusstsein oder einer unmittelbaren oder absoluten Wahrheit. Ziel jeder Achtsamkeitspraxis ist eine veränderte Lebenshaltung. An einer Haltung zu arbeiten und sie einzuüben, kann eine wesentliche Bereicherung der Psychotherapie werden. Das Comeback der Achtsamkeit in der Psychotherapie wird dargestellt und diskutiert.

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Titel

Michael Huppertz

Achtsamkeit. Befreiung zur Gegenwart

Achtsamkeit, Spiritualität und Vernunft in Psychotherapie und Lebenskunst

Copyright © Junfermannsche Verlagsbuchhandlung, Paderborn 2009 Coverillustration: © Renate Seefuß Coverentwurf/Reihengestaltung: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2011

Satz und Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-87387-727-6 ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-854-9

Für Mania, Arkadi, Alina und Sharon

Einleitung

„Unser Leben war auf diesen einen überragenden Moment hingesteuert – eine mehr als fünftausend Jahre alte heilige Stätte, unsere Liebe füreinander, das Licht, die große Erdspalte vor uns –, und dennoch waren wir außerstande, ihn festzuhalten, vermochten ihn nicht in uns aufzunehmen.Wir konnten uns nicht zur Gegenwart befreien.“– Ian McEwan1

Anfang der 60er Jahre war ich ein katholischer Junge. Ich ging morgens vor der Schule in die Kirche, um in der Messe zu dienen, und verbrachte viel Zeit im Garten des Klosters, dem unsere Pfarrei angegliedert war. In der Abgeschiedenheit der Kirchen, beim Gesang der Mönche und der Gemeinde und beim Anblick des „ewigen Lichts“ erlebte ich einige der glücklichsten Momente meines Lebens. Geborgenheit, Liebe – ich müsste lügen, wenn ich diese Gefühle nüchterner beschreiben wollte. Die Schattenseite dieser Erlebnisse waren Ängste und Albträume. Ende des Jahrzehnts rebellierte mein frisch erwachter Verstand erfolgreich gegen die Thesen, die der Katholizismus ihm zumutete. Aber es blieb eine Lücke. Ich beschäftigte mich mit „Siddharta“ und dem Buddhismus – viel versprechend, aber irgendwie auch fremd und politisch suspekt. Mitte der 70er Jahre lernte ich in Berlin Aikido, bei Lehrern, denen der „Spirit“ wichtig war – ohne dass sie viel darüber sprachen. Für mich war es eine Offenbarung. Aikido zu sehen und zu üben hieß, die Welt mit anderen Augen zu sehen: Erkenntnis in und durch Bewegung. Ich gehe in diesem Buch im Abschnitt 6.5 näher darauf ein. Etwa zu dieser Zeit lernte ich auch die Gestalttherapie kennen. Gestalttherapeuten konnten wie gute Aikidokämpfer in einer Situation etwas hervortreten lassen, zum Ausdruck und wieder zur Ruhe kommen lassen. Sie taten eigentlich nicht viel, sie ahnten, dass etwas ans Tageslicht drängte, und halfen nach. Es zählte nur, was hier und jetzt geschah und erlebbar war. Die Gefühle legten die Spur. Sie wurden sichtbar und lösten sich auf, andere Gefühle und Wünsche erschienen und lösten sich ebenfalls wieder auf. Es wirkte ein wenig zauberhaft. Oft legte sich nach einer therapeutischen Arbeit Heiterkeit über die Gruppe. Im Aikido wie in der Gestalttherapie erlebte ich die alten Glücksgefühle wieder. Es ging um Sport und um Therapie, aber auch die Lebenseinstellung schien zum Einsatz zu gehören.

Und überall spukte der Zen-Buddhismus herum. Das Lieblingsbuch eines meiner Aikidolehrer war das „Buch von der smaragdenen Felswand“ – ein von der Entstehungsgeschichte bis zur Übersetzung faszinierendes Buch.2 Ich meditierte, las Bücher über Zen. Ich hatte das Gefühl zu verstehen, was die Zen-Meister mitteilen wollen. Aber mich störte, dass sie so ein Geheimnis um ihre Erkenntnisse machten, dass sie nicht wie alle anderen diskutierten und argumentierten. Ich empfand diese Haltung als elitär und resignativ. Wenn man seine Erkenntnisse nicht in Aussagen fassen kann, o.k., das machen Künstler auch nicht. Aber auch darüber kann man reden. Die Geheimnistuerei passte nicht zu meinem Studium der Philosophie und Soziologie. Bis heute scheint es mir falsch und verdächtig, wenn jemand es für eine Auszeichnung einer Erkenntnis hält, dass man sie nicht mitteilen kann.

Die Zen-Tradition schien sich auch nicht zwischen Drill und Anarchie entscheiden zu können. Die Anarchie war mir deutlich sympathischer. Als ich an Zen-Sesshins teilnahm, genoss ich zwar die Stille, das Schweigen und die schlichte Schönheit des Ambiente, fand aber die Organisation künstlich und von verdecktem und ungedecktem Pathos. Noch zweifelhafter aber war die Erfahrung, dass diese Art der Meditation meinem Körper nicht guttat. Mein Geist genoss die Ruhe und Leere, mein Körper litt. Hatte ich in Aikido und Gestalttherapie nicht die Weisheit des Körpers kennen gelernt? Warum sollte ich ihn nun so malträtieren? Warum zurückfallen in die Leib- und Lustfeindlichkeit meiner Kindheit, der ich einigermaßen entronnen war? Zudem waren die Ansprachen, die ich zu hören bekam, deutlich schwächer als das, was jeder einigermaßen gebildete Philosoph mir hätte sagen können. Und es handelte sich um die gleichen Themen! Und kritische Fragen waren unerwünscht! Ich erinnere mich, dass wir einmal laut einen Text rezitieren sollten, in dem sich das „große Ungeborene“, der „innerste Geist“, die „uranfängliche Leere“, die „freundliche Unendlichkeit“, die „unbegrenzte Freiheit“, die „Bewusstheit, die alles wahrnimmt“, „das wahre Selbst“ und „der reine Geist“ aneinanderreihten.3 Das hatte für mich nicht nur wenig mit dem zu tun, was ich über Zen gelesen hatte, ich wollte überhaupt meinen Verstand nicht weiter solchen intellektuellen Grausamkeiten und meinen Körper nicht weiter solcher Missachtung aussetzen.

Anfang dieses Jahrzehnts nahm ich noch einmal an ritualisierten Gruppenmeditationen teil – im Rahmen des „Tantra“, besser des Neotantra, also dem, was im Westen aus dem ursprünglichen vorbuddhistischen und buddhistischen Tantra entwickelt wurde. Die Meditationsformen in diesen Gruppen waren bunt, sinnlich, körper- und lustfreundlich und schlossen zwischenmenschlichen Kontakt ein. Ich empfand und empfinde sie als große Bereicherung der Meditationspraxis. Die Atmosphäre dieser Seminare war offen und liberal, Diskussionen waren möglich, die Weisheit des Körpers und das Erleben der Teilnehmer wurden gewürdigt. Aber was war „Tantra“? Es ist schwierig, etwas über die Ideenwelt und die Praktiken des insgesamt sehr alten Tantra in Erfahrung zu bringen, das sich in seiner Geschichte meist als Geheimlehre verstanden hat. Wenn westliche Tantralehrer ihre Erfahrungen interpretieren oder über ihre Erkenntnisse schreiben, so greifen sie in die Kisten des Hinduismus, des Buddhismus, des Schamanismus, der westlichen Esoterik, der Psychotherapie und des Biologismus. Das Ergebnis ist eine Mischung, die durch ein Desinteresse an Wissenschaft und Philosophie, aber auch am gesunden Menschenverstand zusammengehalten wird. Da viele Teilnehmer ohnehin wenig von diesem „linkshirnigen“ Treiben halten, stört das kaum jemanden, und die, die es stören würde, gehen nicht in solche Seminare.

Immer wieder zwischen den Stühlen zu sitzen ist unangenehm, man kann sich nie fallen lassen. Angenehm und nützlich ist es, einer Gruppe zuzugehören. Aber nach meiner Erfahrung ist es unmöglich, einer der neueren spirituellen Gemeinschaft anzugehören und gleichzeitig der „scientific community“. Das geht schon eher im Bereich der traditionellen Religionen, die über eine vielfältige Tradition der Diskussion um Glauben und Wissen verfügen. Ich werde mich manchmal in diesem Buch der Religionsphilosophie bedienen, aber ich interessiere mich im Wesentlichen nicht für religiöse Inhalte und Traditionen. Ich möchte von derPraxis der Achtsamkeitausgehen. Sie ist der Kern des Zen, des Aikido, des Neotantra und vieler anderer tendenziell spiritueller Praktiken, von denen ich etwas (Judo, Karate, Yoga) oder gar nichts verstehe (andere „Budo“-Künste wie Kyudo/Bogenschießen, „Kendo“/Stockkampf, Teezeremonie, aber auch Tai Chi und viele andere).

Ende der 90er Jahre erfuhr ich von einem Psychotherapieverfahren, das sich auf den Zen-Buddhismus bezieht und mit „Mindfulness“, übersetzt als „Achtsamkeit“, arbeitet: die „Dialektisch-behaviorale Therapie“ (DBT), ein Verfahren speziell für Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Ich arbeitete inzwischen als Psychiater und Psychotherapeut in einer Praxisgemeinschaft. Wir begannen in einem Team das Verfahren zu lernen und einzusetzen.4 Es war in der Lage, eine wichtige praktische Lücke zu schließen, war vielseitig, kreativ und machte die Arbeit mit schwierigen Patientinnen wesentlich leichter. Die DBT hat mit Dialektik wenig, aber mit Zen-Buddhismus tatsächlich viel zu tun.5 Genau das faszinierte mich. Ich kannte die früheren Versuche im Rahmen der Psychoanalyse und der Gestalttherapie, Psychotherapie mit Zen in Verbindung zu bringen. Aber dieser neue Versuch war konkreter und zielgerichteter. Es ist in der DBT zwar wenig von Zen die Rede, aber das tut der Sache eher gut. Die DBT fühlt sich für die schwierigsten Patienten zuständig und macht ihnen Achtsamkeit zugänglich. Sie ist am Alltag, an Fertigkeiten und der konkreten Lebensgestaltung orientiert. Und sie ist egalitär, d.h. sie sieht in Patienten und Therapeuten gleichermaßen Übende.

Aber für mich warf das Konzept der Achtsamkeit auch viele Fragen auf, Fragen der Theorie und der Praxis. Nachdem ich auch die anderen „achtsamkeitsbasierten Therapien“ („Mindfulness based Therapies“) kennen gelernt hatte, wurde alles noch unklarer. Und nachdem ich jetzt viele Diskussionen über diese Themen geführt und sehr viel dazu gelesen habe, komme ich zu dem Schluss, dass reichlich Verwirrung herrscht.

Es finden sich unterschiedliche Definitionen und Darstellungen der Achtsamkeit, die ganz verschiedene Schwerpunkte setzen. Manchmal wird Achtsamkeit beispielsweise nur als Achtsamkeit auf mentale Prozesse („innere Achtsamkeit“) verstanden, manchmal bezieht sie sich auch auf äußere Vorgänge, manchmal wird sie eng, manchmal weit verstanden, manchmal als Einladung, Gefühle zuzulassen, mal als Versuch, sich von ihnen zu distanzieren. Bisweilen gilt auch alles zusammen. Selbst elementare Begriffe wie das „Nicht-Bewerten“ oder das „reine Wahrnehmen“ sind problematisch und unklar. In Therapiegruppen, Supervisionen und Workshops, die ich zu diesem Thema durchgeführt habe, wurden immer wieder interessante und schwierige Fragen zu diesen Problemen gestellt. Ich freue mich, dass ich hier endlich die Gelegenheit habe, sie ausführlich zu beantworten.

Ich bin überzeugt, dass die Idee der Achtsamkeit eine wirklich neue Perspektive für die Psychotherapie eröffnet. Bei allen Unterschieden gibt es einige feste Elemente des Konzepts, die von allen, die es vertreten, geteilt werden. Dazu gehört, dass es bei der Übung der Achtsamkeit um den Erwerb einer Haltung, nicht um die Veränderung seelischer Inhalte geht. Es geht nicht um das Verstehen oder das Verändern psychischer Prozesse, sondern um den Umgang mit ihnen. Die Haltung der Achtsamkeit hat zwar Folgen für die Gefühle, Gedanken, Handlungen, aber die therapeutische Arbeit mit Achtsamkeit setzt nicht an diesen seelischen Prozessen selbst an. Eine zweite gemeinsame Annahme ist: Achtsamkeit kann geübt und gelernt werden, und zwar in vielen verschiedenen Situationen. Das Üben findet vorwiegend außerhalb eines therapeutischen Settings statt und nicht vorrangig in Situationen, in denen die Probleme und Symptome aktualisiert werden.

Sich nicht primär für Änderungen des Verhaltens und des Denkens zu engagieren ist für Verhaltenstherapeuten revolutionärer als für psychoanalytisch oder humanistisch geschulte Psychotherapeuten. Dieses neue Interesse an der Erfahrung und an dem Umgang mit der Erfahrung wird daher häufig als „Dritte Welle der Verhaltenstherapie“ bezeichnet. (In früheren Phasen galt das Interesse der Verhaltenstherapie konzeptuell vorrangig der Veränderung des Verhaltens und der Denkmuster.) Für die psychoanalytischen und humanistischen Therapeuten ist dies nicht der Punkt. Für sie ist es aber revolutionär, dass Psychotherapie im Wesentlichen durch Übung im Alltag stattfindet. Für alle Psychotherapeuten ist es eine neue Idee, dass Achtsamkeit eine eigenständige und spezifische Wirkung entfalten soll, die nicht davon abhängig ist, dass sie zu einem besseren Selbstverständnis, zu Verhaltensänderungen, Beziehungs- oder Wachstumsprozessen führt. All dies sind psychotherapeutisch sehr erwünschte Umsetzungen. Aber das neue Achtsamkeits-Paradigma in der Psychotherapie besteht darin, dass der Erwerb einer neuen Haltung gegenüber Ereignissen verschiedenster Art – soweit er für therapeutische Zwecke notwendig ist – entscheidend ist. Andere Aspekte von Psychotherapie werden deshalb nicht überflüssig, aber das ist neu. Es erinnerte mich an Aikido, die Gestalttherapie und die anthropologische Psychiatrie, der ich mich inzwischen verbunden fühlte. Mir schien und scheint es klar, dass es bei schwerwiegenderen psychischen Problemen immer auch um die Lebenseinstellung geht, um die Art und Weise, wie wir die Welt und uns selbst sehen, dass die Lebenseinstellung in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Arbeit eben zum Einsatz gehört, vielleicht nur ein wenig, aber immerhin.

Achtsamkeit ist nach meiner Erfahrung weder altbekannt noch selbstverständlich. Viele Menschen berichten immer wieder, wie grundlegend und manchmal sogar rasch sich ihre Sicht auf ihre Probleme geändert hat, wenn sie eines der wesentlichen Prinzipien der Achtsamkeit verstanden haben. Sie erleben dies oft als Befreiung. Dieses Erlebnis der Befreiung kann auf leisen Sohlen kommen oder dramatisch auftreten. Letzteres ist seltener, aber natürlich eindrucksvoller. Menschen befreien sich von Erwartungen, die nicht mehr erfüllbar sind, von Bewertungen und Emotionen, die ihnen den Blick auf die Wirklichkeit und sich selbst verstellen, von Plänen und Verpflichtungen, die sie fesseln, von Bindungen, die sie nicht brauchen, von unproduktiven Gedanken. Sie finden heraus, dass alle ihre Gefühle und Wünsche ungefährlich und in Ordnung sind, einfach weil sie keine Handlungen sind, sondern eben Gefühle und Wünsche. Sie erleben, dass sich die Vergangenheit von der Gegenwart trennen lässt und die Zukunft nicht so wichtig ist, wie sie glauben. Sie fühlen, dass es oft genügt, einfach da zu sein. Sie entdecken, dass jede gegenwärtige Situation neue und unerwartete Aspekte hat und dass sie dann, wenn diese Aspekte belastend und schrecklich sind, darauf vertrauen können, dass sie sich auch verändern, wenn sie nicht eingreifen. Sie sehen, dass sie sich und anderen das Leben unnötig schwer machen und dass sie dann erschöpft sind, wenn es darauf ankommt, Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Das Erlebnis, freier zu sein, geht mit dem Erlebnis einher, in der Gegenwart angekommen zu sein und dort bleiben zu können – etwas länger, etwas leichter wenigstens, jedenfalls lange und leicht genug, um ein anderes Lebensgefühl zu spüren.

Im 1. Kapitel werde ich verschiedene Formen der Achtsamkeit darstellen und diskutieren. Die Differenzierung verschiedener Formen der Achtsamkeit ist aus meiner Sicht notwendig, um den Nutzen der Achtsamkeit in der Lebenskunst (Kap. 6) und der achtsamkeitsorientierten Psychotherapie (Kap. 7) diskutieren zu können. Die Achtsamkeit in der Psychotherapie hat ein großes praktisches Potenzial, das gerade, vor allem in den USA, mit Energie und Kreativität ausgelotet wird. Es entstehen ständig neue Anwendungen und Programme. Ich werde die wesentlichen Entwicklungen vorstellen, zeigen, welche Probleme sich aktuell stellen, und eigene Überlegungen zum Potenzial der Idee vortragen.

In Kapitel 6 möchte ich untersuchen, welche Rolle Achtsamkeit und achtsamkeitsorientierte Spiritualität in der Lebenskunst spielen können. So wie sich mit Achtsamkeit alleine keine Therapie gestalten lässt, so genügt sie auch nicht für ein selbstverantwortliches, glückliches oder moralisch gelungenes Leben. Die Befreiung zur Gegenwart ist auch eine Befreiung zu Abhängigkeiten. Achtsamkeit ist rezeptiv und akzeptierend. Sie akzeptiert auch die Zufälligkeiten und Bedingungen der menschlichen Existenz – ihre kontingente und pathische Seite –, die wir am stärksten in unseren Gefühlen, unserem Körper, unserer Endlichkeit und unserer Begegnung mit anderen Menschen erfahren. Damit akzeptiert sie aber auch die Notwendigkeit zu handeln, sich zu schützen, vorzusorgen, aus der Vergangenheit zu lernen und Verpflichtungen einzugehen. Diese nicht minder wichtigen Lebensformen folgen eigenen Prinzipien. Ich möchte zeigen, wie die Haltung der Achtsamkeit z. B. die Suche nach dem Glück, Handlungsweisen, Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen beeinflussen kann. Auf diesem Weg nimmt sie als Teil der Psychotherapie und der Prävention wiederum Einfluss auf die seelische Gesundheit.

In diesem Buch sind Praxis und Theorie eng miteinander verbunden. Im Falle der achtsamkeitsbasierten Psychotherapien ist es sinnvoll, sich ausreichend mit den spirituellen Hintergründen des Konzepts zu beschäftigen, wenn man es bearbeiten und verbessern will. Ich möchte mich in diesem Buch mit diesen spirituellen Hintergründen auseinandersetzen, aber gleichzeitig die Auseinandersetzung mit anderen Positionen auf das Notwendigste beschränken. Im Wesentlichen werde ich sie auf den folgenden Seiten dieser Einleitung und in einigen Passagen des ersten und vierten Kapitels führen und ansonsten eigene Lösungen für die Probleme vorschlagen, die aus meiner Sicht im Raum stehen.

Wie fast alle Kollegen, mit denen ich arbeite, bewege ich mich im Rahmen der wissenschaftlichen Psychotherapie. Damit legen wir uns auf bestimmte Standards fest, die wir zwar bei Weitem nicht erreichen, um die wir uns aber immer wieder bemühen. Wissenschaftlichkeit in der Psychotherapie ist vor allem eine Selbstverpflichtung zur Berücksichtigung der Forschung und zu einer kritischen Grundhaltung gegenüber der eigenen Arbeit. Die Beschäftigung mit der achtsamkeitsorientierten Spiritualität als Hintergrund oder Bestandteil von Psychotherapie führt daher zu der Frage: Ist es möglich, spirituelle Erkenntnisse in einen wissenschaftlichen und philosophischen Diskurs einzuschließen?

Diese Frage stellt sich praktisch wie theoretisch. Praktisch stellt sie sich, weil es immer wieder Bestrebungen gibt, Spiritualität in die psychotherapeutische Arbeit einzubeziehen. Das Thema „Spiritualität und Psychotherapie“ ist besonders schwierig, weil nicht nur zu diskutieren ist, was die Spiritualität der Gesundheit nutzt oder schadet und wie sie in der Psychotherapie eingesetzt werden kann, sondern auch, ob dieses Unternehmen überhaupt mit den ethischen Prinzipien der psychotherapeutischen Profession vereinbar ist. Ein Teil des Kapitels 7 ist diesen Themen gewidmet.

Theoretisch lässt sich die Frage so formulieren: Kann man spirituelle Erfahrungen und Auslegungen überhaupt mit rationalen Standards konfrontieren? Diese Fragestellung ist inzwischen durch die postmoderne Vernunftkritik noch komplexer geworden: Warum sollten sie überhaupt mit Vernunft vereinbar sein? Welche Berechtigung hat Vernunft und welche Grenzen? Ist eine Verbindung von Spiritualität und Vernünftigkeit überhaupt notwendig oder auch nur sinnvoll?

Spiritualität wird oft mit der Idee verbunden, man müsse wenigstens vorübergehend seine wissenschaftlich oder philosophisch geprägte Skepsis gegenüber einer Art Glaube, einem andersartigen Wissen zurücknehmen, weil sich diese Einstellungen nicht miteinander vertragen oder weil sonst bestimmte spirituelle Erfahrungen gar nicht zu machen seien. Es wird eine Alternative zwischen Rationalität und Spiritualität aufgebaut. Spirituelle Lehrer und Autoren übersehen in der Regel dabei nicht die Bedeutung der Rationalität für das alltägliche Leben, aber sie halten sie für ein Hindernis auf dem spirituellen Weg – oft allerdings ohne deutlich zu machen, was sie eigentlich unter Rationalität oder Vernunft verstehen. Versucht man Spiritualität und Vernunft miteinander zu verbinden, so steht man vor der Aufgabe, Vernunft, die – philosophisch gesprochen – heute vorwiegend „nicht-essentialistisch“ verstanden wird, mit Spiritualität zu verbinden, die immer noch vorwiegend „essentialistisch“ interpretiert wird. Mit „essentialistisch“ ist der Glaube an so etwas wie ein verborgenes Wesen der Welt oder des menschlichen Daseins gemeint: ein wahres Sein, ein wahres Selbst, ein Geheimnis, eine Energie, ein Entwicklungsgesetz, eine Essenz – die Varianten sind zahlreich, aber es sind nur Varianten desselben Denkmusters. Das Essentielle ist immer etwas, das man aufdecken, finden oder wenigstens suchen kann, irgendetwas Erreichbares oder unerreichbar Wesentliches – eine „natürliche Harmonie und Ordnung“6 oder ein übernatürlicher nichtdualer „GEIST“ (eine Ganzheit, die Materie, Körper, Seele, Geist umfasst).7 Essentialistische Spiritualität beruht auf der Logik der Eigentlichkeit und einer bestimmten Form spekulativen Denkens. Die Wahrheit und meist auch „das Gute“ werden einer Welt der Phänomene gegenübergestellt, die illusionär ist. So steht dem illusionären Ego ein eigentliches wahres Selbst, dem offensichtlich egoistischen Verhalten der Menschen das eigentliche Mitgefühl, der Stabilität die eigentliche Prozesshaftigkeit der Welt, der Vielfalt die Einheit gegenüber. Die eigentliche Struktur (sei es „Bewusstsein“, „Kosmos“ oder „Urgrund“) wird in der Regel ganzheitlich – „holistisch“ – verstanden: Das Wahre und Gute ist das Ganze, Trennungen, Differenzen und Widersprüche sind nur scheinbar oder prinzipiell auflösbar.

In dieser essentialistischen Denkweise sind sich die meisten in Deutschland bekannten spirituellen Lehrer einig, auch wenn sie verschiedene Traditionen und Praktiken vertreten: beispielsweise D. T. Suzuki, Osho, J. Kornfield, C. Trungpa8, W. Jäger, K. Wilber, Almaas. Sie ist aber auch in der sogenannten Transpersonalen Psychologie vertreten. Im Grunde wird hier die altindische Metaphysik, die sich aus den frühindischen Schriften, den Veden (daher „Vedanta“) ableitet, fortgeführt. Manchmal wird diese Denkweise als „Philosophia perennis“ (meist übersetzt als „ewige Philosophie“)9 bezeichnet. Diese Tradition beruft sich auf zahlreiche philosophische, spirituelle und religiöse Lehrer und Autoren, denen eine gemeinsame elementare Einsicht zugeschrieben wird.

Es gibt auch Autoren, die sich mit Achtsamkeit beschäftigen und sie nicht essentialistisch auslegen, weil sie entweder gar keinen spirituellen Hintergrund beanspruchen wie E. Langer (1989) oder eine solche Auslegung des buddhistischen Hintergrundes explizit ablehnen wie M. Epstein (1998) oder C. K. Germer (2005). Aber die essentialistische Denkweise ist weit verbreitet und hat eine erhebliche Bedeutung für die Praxis und das Verständnis der Achtsamkeit und der achtsamkeitsorientierten Spiritualität. Da sie die empirische Welt als unüberschaubar, ungeordnet und schwer kontrollierbar ansieht, sucht sie den Zugang zu dereigentlichenWahrheit nicht über die – ansonsten durchaus gewürdigte – fortschreitende Erforschung der Realität oder die philosophische Reflexion. Es gibt „eine natürliche Harmonie und Ordnung in dieser Welt“, die man „nicht wissenschaftlich untersuchen oder mathematisch erfassen“ kann, sondern erst auf dem spirituellen Weg „entdecken“ und „fühlen“ muss (C. Trungpa10). Die Erkenntnis der eigentlichen Beschaffenheit der Welt und die spirituelle Erfahrung fallen aus essentialistischer Sicht zusammen. Dies ist aber nur dann erreichbar, wenn spirituelle Erfahrungen nicht als fortschreitende Auseinandersetzung in und mit der Welt, sondern als eine Erforschung und eine Veränderung des menschlichen Bewusstseins verstanden werden.11

Diese Vorstellung zwei grundsätzlich verschiedener Erkenntniswege, von denen der tiefgründigere nach innen führt, folgt der vorbuddhistischen indischen Spiritualität. Wer aber heute auf die Geschichte der Achtsamkeit eingeht, bezieht sich in der Regel auf die buddhistische Tradition. Die Rede von „dem Buddhismus“ ist aber fast so problematisch wie die Rede von „dem Hinduismus“. Letztere wird allgemein als eine Verlegenheitslösung angesehen. Der „Hinduismus“ umfasst alles an indischer Spiritualität, was dem Buddhismus vorausgegangen ist und ihm später nicht gefolgt ist. Aber auch der „Buddhismus“ schillert in allen Farben. Dies ist einerseits eine Folge der Tatsache, dass kaum zu rekonstruieren ist, was Buddha selbst gesagt hat. Zwischen seinem Tod und der von ihm abgelehnten Verschriftlichung seiner Lehre – er bestand auf einer mündlichen Überlieferung in den verschiedenen Dialekten – liegen etwa 300 Jahre. Zum anderen ist es eine Eigenart der Wirkungsgeschichte dieser Lehre, dass sie sich in grundverschiedenen Kulturkreisen entfaltete. Die Vipassana-Meditation ist z. B. eine indische, der Zen-Buddhismus im Wesentlichen eine chinesische Kulturleistung. Die indische Kultur neigte eher der Introspektion12, Spekulation und der Metaphysik zu, die chinesisch(-koreanisch-japanische) eher einer extrovertierten, pragmatischen Lebenseinstellung. Diese komplexe Geschichte macht es möglich, sowohl eine rein introspektive als auch eine pluralistische – und dabei auch extrovertierte – Auffassung von Achtsamkeit als „buddhistisch“ zu bezeichnen. In der heutigen Achtsamkeitsliteratur, sei sie spirituell oder therapeutisch, dominiert der Mahayana-Buddhismus, der etwa 400 Jahre nach Buddhas Tod entstanden ist und bei uns vor allem in der Form des tibetischen und des Zen-Buddhismus vertreten ist. In ihm haben sich unter dem Einfluss der traditionellen indischen und wahrscheinlich auch der hellenistischen Ideenwelt wieder essentialistische Denkweisen durchgesetzt. Diese Rückkehr des Mahayana-Buddhismus zu einem spekulativen Essentialismus, von dem sich Buddha möglicherweise abwenden wollte, macht es möglich, dass sich z. B. Autoren der „transpersonalen Psychologie“ gleichermaßen an buddhistischen wie hinduistischen Lehrern orientieren.13 Der Zen-Buddhismus wiederum ist eine vielgestaltige Bewegung. Essentialistische Interpretationen sind häufig, aber vielen Texten des Zen kann man auch eine pragmatisch-skeptische Haltung entnehmen. Zen-Meister betonen häufig das Können gegenüber dem Wissen, die Praxis gegenüber der Selbstreflexion, die Unsicherheit des Nichts gegenüber der Sicherheit des Seins und sie halten „muddy water“14 und nicht destilliertes Wasser für ein Lebenselixier.

In der essentialistischen Tradition wird die Existenz eines begrenzten, in die Welt verwickelten, eines sozusagen weltlichen Bewusstseins ohne Weiteres zugestanden. Es wird ihm aber noch eine andere Bewusstseinform zur Seite gestellt. Dieses andere Bewusstsein ist unveränderlich, frei, rein, unschuldig, eventuell sogar unsterblich. Es ist ein Bewusstsein, das aber immer schon vorhanden ist und in der Meditation freigelegt wird. Dieses Bewusstsein ist nicht nur rein, es ist auch ethisch wertvoll, nämlich überindividuell und mitfühlend. Es stellt mit anderen Menschen eine unmittelbare empathische Verbindung her. Da es nicht der Trennung von Subjekt und Objekt unterliegt, kann es sogar die Wirklichkeit unmittelbar – ohne Handlungen – beeinflussen, entwickelt geradezu magische Fähigkeiten. Bewusstseinsveränderung ist bei manchen Autoren schon Weltveränderung, und dies nicht mittelbar, sondern unmittelbar. Dadurch wird die Möglichkeit zur Spiritualität gleichsam in der Wirklichkeit verwurzelt, die Möglichkeit wird zu einer latenten Wirklichkeit erklärt. Der Mensch hatimmer schonein reines, freies Bewusstsein, so wie ereigentlichmitfühlend ist.15 Er muss nur wahrnehmen, dass es so ist. Auch wenn in der Regel geschildert wird, dass die gesellschaftliche Entwicklung in eine ganz andere Richtung läuft und die Menschen sich eher in Richtung Egozentrik, Konkurrenzdenken, Verhaftung und Konsumismus entwickeln, wird daran festgehalten, dass sie eigentlich zu etwas anderem bestimmt sind, zur Realisierung ihrer „Buddha-Natur“. Dies führt zu einer Weichzeichnung des Menschenbildes16, macht die Praxis der Achtsamkeit durch die Beimischung suggestiver Techniken unklar und verschleiert den Blick auf berechtigte andere Lebenswelten und Rationalitäten.

Ich versuche in diesem Buch, die Achtsamkeit von essentialistischen Denkweisen abzulösen, gleich, ob sie im Kontext der „Vipassana-Meditation“, des „Buddhismus“, des „Zen“ oder der „Transpersonalen Psychologie“ gepflegt werden. Ich denke, man kann zeigen, dass achtsamkeitsorientierte Spiritualität in erster Linie aus konkreten körperlichen und sozialen Praktiken, aus Emotionen, aus Erlebnissen von Zeit und Raum und nicht zuletzt aus historischen, soziokulturellen und individuellen Interpretationen besteht. Das Bewusstsein ist Teil unserer Persönlichkeit und unserer Lebenssituation. Es ist in unsere praktischen, emotionalen sowie körperlichen und mentalen Prozesse einbezogen. Es entwickelt sich mit seinen Aufgaben und Inhalten, durch Kommunikation und Praxis unter mehr oder weniger geeigneten Bedingungen, nicht dadurch, dass ein „reines Bewusstsein“ zu sich selbst findet. Wir müssen Möglichkeiten auch nicht ihres Möglichkeitscharakters berauben und sie zu einer latenten Wirklichkeit uminterpretieren. Empathie muss z. B. gelernt werden, und das gelingt – wie wir dank empirischer Forschung wissen – je nach Sozialisationsbedingungen unterschiedlich gut und manchmal gar nicht.

Es ist leicht zu sehen, dass die Idee, wir könnten die Wahrheit und das Gute in uns finden, etwas Faszinierendes und Erhebendes hat. Sie eröffnet uns die Chance, uns von Abhängigkeiten und äußeren Einflussnahmen zu befreien, indem wir sie in ein umfassendes Bewusstsein integrieren. Diese Sichtweise wird unterstützt, wenn Achtsamkeit nach dem Modell der Beobachtung konzipiert wird. Der innere Beobachter, manchmal auch „Zeuge“ genannt, kann in eine neutrale, überirdische, gottähnliche Position gehoben werden. In dieser Faszination trifft sich die Tradition des Wegs nach innen mit dem Zeitgeist, der dem subjektiven Erleben sehr viel moralische und praktische Autorität anvertraut. So hält sich der Traum von einem übermenschlichen („holistischen“, „supramentalen“, „transrationalen“) Bewusstsein, einer „außergewöhnlichen Reise vom Staub zur Gottheit“.17 Was dieser Interpretation entgeht, ist dasunauflöslichTragische des menschlichen Lebens. Die unauflösliche Begrenztheit des Handelns, Bewusstseins, des Denkens, der Sprache und die Tragik der menschlichen Existenz sind aber gerade wesentliche Elemente moderner Philosophie. Die meisten Philosophen gehen heute davon aus, dass der „GEIST“ für den Menschen etwas zu groß ist und dass die „Philosophia perennis“ nun doch in die Jahre gekommen ist. Die Philosophie hat heutzutage weitgehend akzeptiert, dass unser Denken in vielerlei situativen, praktischen und sozialen Abhängigkeiten steht und dass erst die Vielfalt der Perspektiven und Herangehensweisen einen sinnvollen Begriff von Wahrheit ermöglicht. Es ist nicht möglich, zwischen Perspektiven und Rationalitäten eine Hierarchie zu bilden. Man kann sie nicht einmal widerspruchsfrei gestalten. Deshalb ist die spirituelle Metaphorik von Höhe und Tiefe, von Pyramiden und Aufstiegen, von Eigentlichkeit und Ganzheitlichkeit und die Idee, etwas über „das Ganze“ auszusagen, nicht mit der Polypragmatik und der skeptischen Bescheidenheit zu vereinbaren, die uns im Alltag, in der Wissenschaft und auch in der Psychotherapie geboten erscheinen.18

Das Verständnis von Vernunft und Rationalität, das ich vertrete, ist multiperspektivisch. Es ist außerdem prozessorientiert, d. h. es orientiert sich an Vorgehensweisen und hält alle Ergebnisse für vorläufig und begrenzt. Es ist kontextuell, weil es die Umsetzbarkeit ihrer Ansprüche auf die jeweiligen Bedingungen begrenzt, unter denen Menschen arbeiten, kooperieren und sprechen, und es ist skeptisch gegenüber allen Annahmen, auch gegenüber den Ansprüchen und Möglichkeiten der Vernunft selbst. All dies sind Eigenschaften, die Vernunft und Achtsamkeit miteinander teilen. Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen Vernunft und Achtsamkeit, aber sie ergänzen und unterstützen sich auch.

Ich versuche in diesem Buch zwar, die Entwicklung der Geistes- und Humanwissenschaften zu berücksichtigen, aber es geht mir nicht um das Verhältnis von Spiritualität und Wissenschaft.19 „Wissenschaft“ wird heute im Zusammenhang mit Spiritualität meist als Naturwissenschaft, Psychophysiologie oder Neurobiologie verstanden, und auch „westliche Psychologie“ wird methodisch oft sehr eng ausgelegt. Es klingt manchmal so, als hätte sich die „westliche“ Psychologie nie für das subjektive Erleben interessiert und als brauche man dafür eine „buddhistische Psychologie“. Hermeneutische und phänomenologische Methoden in der Psychoanalyse und Philosophie, qualitative Forschung in der Psychologie oder den Sozialwissenschaften werden kaum gewürdigt. Aber naturwissenschaftliche bzw. quantitativ-empirische Forschung ist nur eine Form wissenschaftlicher Rationalität und wissenschaftliche Rationalität überhaupt nur eine Form von Rationalität. Ich möchte zeigen, dass es auch für Achtsamkeit in spirituellem Kontext gilt, angemessene rationale Kriterien zu formulieren. Die Verbindung von Spiritualität und Vernunft wäre unmöglich, würde man sie auf der Ebene von Aussagen über die Welt, das Leben oder dergleichen suchen. Nicht selten trifft man auf die Darstellung, Vernunft solle sich nicht über Religion erheben, weil sie doch selbst auf Glauben beruhe. Sie setze Unbewiesenes voraus, und auch der Atheismus sei ja ein unbeweisbarer Glaube.20 Das mag sein, aber das Argument taugt allenfalls dazu, den Unterschied und die Gemeinsamkeiten zwischen Vernunft und Spiritualität zu verwischen. Begreifen lassen sie sich aus meiner Sicht nicht auf der Ebene von Aussagen, sondern auf der Ebene der Praxis.

Dem philosophisch Gebildeten wird die Vorstellung, man könne von der Achtsamkeitspraxis selbst ausgehen, als phänomenologische Naivität erscheinen. Gibt es eine Praxis, die nicht bereits kulturell praktiziert und interpretiert wird?21 Ich denke, diese Frage ist nur am jeweiligen Thema zu klären, stellt sich aber allerorts. Die Menschen essen, gehen, lieben, trauern auf kulturell und individuell ganz verschiedene Weise, aber in jeder Kultur und jeder Subkultur stellen sich die Probleme der Nahrungsaufnahme, der Fortbewegung, der Sexualität und des Umgangs mit dem Verlust Angehöriger. Was ist gemeinsam, was ist unterschiedlich? Die Praxis der Achtsamkeit legt bestimmte Erfahrungen und Schlüsse nahe – so wie die Nahrungsaufnahme Sättigung und Vorratshaltung nahelegt, auch wenn dies in vielen Formen geschehen kann. Aber nicht in allen. In keiner Kultur stehen unpräparierte Igel auf der Speisekarte. Die Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten können genauso interessant sein wie die Unterschiede – es kommt auf die Fragestellung an.

Spirituelle Praktiken sind mit Ritualen, Erfahrungen und Gefühlen – eben doch mit einer Art religiöser Musikalität – verbunden. Sie sind kreativ und schaffen ihre eigene Form von Erkenntnissen. Die meisten spirituellen und religionswissenschaftlichen Autoren sind sich einig, dass Spiritualität nicht nur mit Erlebnissen, sondern auch mit Erkenntnissen verbunden ist. Warum sollte man beten, meditieren, glauben, wenn man doch nur zu der Art von Erkenntnissen kommt, die man viel leichter, besser und zuverlässiger durch Handeln, Forschen, Diskutieren gewinnen kann? Gleich, was man sich unter spirituellen Erfahrungen oder Erkenntnissen vorstellt, sie müssen von anderer Art sein als wissenschaftliche oder alltagspraktische Erkenntnisse, sonst würde sich der ganze Aufwand spiritueller Übungen nicht lohnen. Mit Blick auf die Wand kann man nicht herausfinden, was die Welt im Innersten zusammenhält, aber vielleicht etwas anderes. Spirituelle Erfahrungen beruhen auf einer veränderten Daseinsweise, nicht auf einer Vermehrung von Wissen.

Wir können auf Achtsamkeit nicht einfach zurückgreifen. Sie ist in bestimmten Varianten einfach, in anderen schwierig. Um sie zu üben, brauchen wir günstige Bedingungen. Spirituell Suchende schaffen sich Bedingungen, die für diese Suche günstig sind, oder sie nutzen sie dort, wo sie einfach vorhanden sind. Sie verhalten sich nicht anders als Wissenschaftler, Techniker und wir alle, wenn wir unsere Umgebung so gestalten, dass wir Ziele verfolgen und (weiter-)entwickeln können. Als ich vor vielen Jahren Zen-Klöster in Japan besichtigte, war ich von der Schönheit der Anlagen überwältigt. Eine stille und unaufdringliche Pracht der Bauten und Gärten trat mir entgegen, keine asketische Umgebung. Künstliche, aber traumhaft schöne Paradiese, die mit viel Aufwand und Geld gepflegt wurden. Unter den Bäumen hockten Gartenarbeiter und zupften in endloser Geduld jedes kleinste Unkraut aus dem Moos. Alle Übungsräume, die ich je betreten habe, hatten eine spezielle, gestaltete Atmosphäre. Übungen pflegen Rituale, die aus speziellen Abgrenzungen, Zeitstrukturen und Interaktionsmustern bestehen. Achtsamkeit scheint mir generell so wenig selbstverständlich wie Wissenschaft, Jazz oder ein Sinn für Ironie. Sie ist eine kulturelle Leistung. Wenn man sie zu einer gewissen Kunst entfalten will, muss man sie kultivieren und je nach Talent mehr oder weniger üben. Spiritualität spielt sich nicht in uns ab, sondern sie ist praktisch, experimentell und konstruktiv.

Die Frage, ob eine rationale Spiritualität möglich ist, behandle ich im 4. Kapitel, die philosophischen Hintergründe im 3. Kapitel. Spezielle philosophische Vorkenntnisse sind zwar nicht notwendig, um diese Kapitel zu verstehen, aber dennoch sind sie etwas schwerer zu lesen als die übrigen. Ich habe mir viel Mühe gegeben, so verständlich wie möglich zu schreiben, und hoffe, dass die verbliebenen Schwierigkeiten in der Sache und nicht in meiner Darstellungsweise liegen. Für die Argumentation des ganzen Buches sind diese Kapitel wichtig, weil sie eine Art Röntgenblick auf die methodischen Grundlagen dieses Textes ermöglichen. Die gute Nachricht für die Leser, die sich vor allem für die Anwendung des Achtsamkeitskonzepts interessieren, ist, dass man diese Kapitel überspringen kann. Zum Glück ist es so, dass man auf vielen Wegen nach Rom kommt und dass deshalb die praktischen Überlegungen dieses Buches auch hilfreich sein können, wenn man nicht weiß, wie jemand auf sie gekommen ist, oder wenn man die methodischen Grundlagen nicht akzeptiert. Ich würde mich freuen, wenn dieses Buch Lesern mit unterschiedlichen Interessen und Fragen nützlich ist.

1. Achtsamkeit

(zurück zur Einleitung)

„Aufs Ganze gesehen findet die Aufmerksamkeit ihren Platz nicht im geistigen oder seelischen Innenraum eines Bewusstseins, sondern in einem unabschließbaren Prozess des Bewusstwerdens ... Der aufmerkende Geist registriert nicht lediglich, was in ihm vorgeht, sondern er entdeckt sich selbst inmitten einer Welt der Erfahrung ...“

„Wer einen Blick erwidert, antwortet auf das, wovon er getroffen ist, ohne dass dieses Wovon sich in das Was einer eigenen Antwort verwandeln lässt ... Eine Erfahrung, die nicht aus dem Pathos kommt, durchläuft nur Wissensschleifen.“– Bernhard Waldenfels22

„Achtsamkeit“ wird als Übersetzung von „mindfulness“ verwendet und ist als solche eher ein Kunstwort. Es greift zwar die traditionelle sprachliche Bedeutung von „Achtsamkeit“ auf, erweitert sie aber doch in Richtung einer Lebenshaltung und lädt sie mit Bedeutungen wie Bewusstheit und Einsicht auf. „Achtsamkeit“ hat daher wie „mindfulness“ die Bedeutung einer Haltung, die wir uns, anderen Menschen und unserer nichtmenschlichen Umwelt gegenüber einnehmen können und die erhebliche Konsequenzen für unser Leben haben kann. „Achtsamkeit“ klingt gutartig und viel versprechend, aber auch ein wenig betulich und verschwommen. Die ursprüngliche einfache Bedeutung bleibt in diesem inzwischen spirituell klingenden Wort durchaus erhalten. Ein wenig altmodisch wirkt der Begriff: „Achte auf deine Kleider, die Tischdecke, deine kleine Schwester, die rote Ampel, auf das, was die Lehrer sagen!“ Sei behutsam und respektvoll, aber auch: „Achte auf deine Finger beim Schnitzen, das heranziehende Gewitter, den Gegenspieler!“ Man musste und muss das nicht mögen, auf das man achtet, aber man gibt ihm eine Bedeutung. Achtsam sein heißt Aufmerksamkeit schenken und Bedeutung zumessen. Das Gegenteil sind die Späne, die fallen, wenn man hobelt, der grobe Umgang mit den Dingen, der entsteht, wenn man zu viel Kraft hat, Dösen und Tagträumen, impulsiv, zerstreut und nachlässig sein.

Aber ist nicht auch der zerstreute Professor achtsam, nur eben auf das Problem, das er lösen muss? Heißt achtsam sein nicht auch, auswählen und ausblenden? Oder ist man nur achtsam, wenn man alles beachtet und würdigt, was der Wahrnehmung zugänglich ist? Heißt achtsam sein, alles mit Abstand zu betrachten? Ist also achtsam, wer es schafft, sich Elend und Freude vom Leib zu halten, indem er seine Reaktionen nur sachte registriert? Oder ist der achtsam, der Menschen und Dinge auf sich wirken lässt und auch diese Wirkung wahrnimmt, ohne sie zu mildern? Gilt die Achtsamkeit nur Bewusstseinsprozessen oder gilt sie auch der Umwelt und der Beziehung, die wir zu ihr haben? Oder sind diese Unterscheidungen sinnlos?

Ich möchte eine umfassende Definition von Achtsamkeit vorschlagen, die Antworten auf diese Fragen ermöglichen soll:

1.1 Definition

Achtsamkeit ist eine möglichst bewusste, absichtslose, nicht bewertende Haltung zum gegenwärtigen Geschehen.

Sie hat drei Dimensionen:

fokussiert – weit

innen – relational – außen

beobachtend – begleitend

1. fokussiert – weit:Sie kann sich auf einzelne (fokussierte Achtsamkeit) oder alle erfahrbaren Aspekte der Situation beziehen (weite Achtsamkeit).

2. innen – relational – außen:Achtsamkeit kann mentalen Ereignissen und den subjektiven Aspekten des Erlebens gelten sowie den Aspekten, die „von außen“ auf uns einwirken („Wirklichkeit“), und schließlich den Prozessen, die sich zwischen uns und der Umgebung entwickeln.

3. beobachtend – begleitend:Achtsamkeit kann zu einer distanzierten Selbstbeobachtung entwickelt werden, aber auch darin bestehen, dass wir an dem, was wir tun, fühlen und denken, bewusst teilnehmen.

Diese Dimensionen bilden jeweils ein Kontinuum, auf dem wir uns hin und her bewegen können.

Versuche, die negativen Formulierungen „nicht bewertend“ und „absichtslos“ durch positive wie „akzeptierend“, „annehmend“ oder „rezeptiv“ zu ersetzen, kann ich gut nachvollziehen, weil es in einer Begriffsbestimmung sinnvoll ist, positiv zu formulieren. Ich folge ihnen dennoch nicht. Zum einen deswegen nicht, weil „absichtslos“ und „nicht bewertend“ gut das beschreiben, was in der Praxis der Achtsamkeit geschieht: Wir lassen Gewohnheiten los. Und zum Zweiten bergen erfahrungsgemäß alle diese positiven Formulierungen die Gefahr, als „Gutheißen“ missverstanden zu werden. Ohne dieses Missverständnis sind sie allerdings hilfreich, und ich werde sie auch verwenden.

1.2 Bewusstheit

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(zurück zu Abschnitt 7.1.2: Achtsamkeitsbasierte Psychotherapien)

Die meisten Menschen, die sich mit Achtsamkeit beschäftigen, werden sagen, dass sie ihnen nicht in den Schoß fällt. Achtsamkeit ist ein Bemühen, das mehr oder weniger gut, oft und lange gelingt. Dieses Bemühen kann spielerisch, leicht, freundlich und humorvoll sein, aber es braucht „Bewusstheit“.23 Dies unterscheidet Achtsamkeit z. B. von Trance und Achtsamkeitsübungen von Entspannungsübungen wie dem Autogenen Training, bei denen die Bewusstseinshelligkeit ohne Weiteres eingeschränkt sein kann. Eine klare Definition von „Bewusstsein“ ist schwierig und Gegenstand komplexer Diskussionen. Für unsere Zwecke genügt der Minimalkonsens, dass „Bewusstheit“ eine Qualität des Handelns, Wahrnehmens, Verhaltens beschreibt. Sie besteht darin, dass wir diese Prozesse oder etwas an diesen Prozessen (z. B. die Zielorientierung des Handelns) uns selbst in irgendeiner Weise zuschreiben. Etwas von diesen Prozessen ist für uns spürbar, erinnerbar und unter Umständen beeinflussbar. Außerdem beinhaltet Bewusstheit Wachheit. Beides ist graduell, wir können mehr oder weniger bewusst und wach sein. In Bezug auf die Achtsamkeit bedeutet dies auch, dass wir uns in jedem Moment für oder gegen Achtsamkeit entscheiden können, dass wir also stets die Verantwortung für diese Haltung übernehmen können.

„Bewusstheit“ drückt stärker als Bewusstsein eine Haltung zu etwas aus. „Bewusstsein“ ist gebräuchlicher, kann aber zu der Idee einer unabhängigen Instanz verführen. Bewusstsein existiert aber nicht unabhängig von Wahrnehmungen, Handlungen etc., es ist immer Bewusstsein von etwas, es ist eine Art und Weise, etwas zu erfahren, es als meine Erfahrung transparent zu machen. Dadurch ermöglicht Bewusstsein die Möglichkeit zur „Defusion“. Ich übernehme diesen Begriff aus der „Acceptance and Commitment Therapy“24:„Defusion“ ist die Erkenntnis, dass eine Erfahrung immer auch eine Konstruktion ist.25 Für diesen Vorgang gibt es in der amerikanischen Literatur zahlreiche andere Bezeichnungen (wie „detachment“, „decentering“, „meta-awareness“), aber „Defusion“ ist gebräuchlich und scheint mir geeigneter als andere Vorschläge. Der Begriff erfasst gut, dass wir normalerweise unsere Wahrnehmungs- und Deutungsmuster nicht als solche wahrnehmen und Achtsamkeit hier eine Differenz schafft. Wir gewinnen so die Freiheit, bei diesen Mustern zu bleiben, sie durch ein anderes Muster zu ersetzen oder auch zu versuchen, sie nicht zu ersetzen. Der Begriff der „Defusion“ beinhaltet für mich nicht, dass alles nur subjektiv ist oder dass der Begriff einer objektiven Wahrheit sinnlos ist. Er lässt Raum für den Einfluss nicht subjektiver Prozesse und intersubjektiver Verständigung.

Achtsamkeit erfordert also immer auch ein Selbsterleben und verträgt sich auch nicht mit mystischen Erfahrungen, falls darunter so etwas wie „Aufgabe des Selbst“, „Verschmelzung“ usw. verstanden wird. „Mystik“ ist ein vieldeutiger Begriff. In einem ganz weiten Sinne wird darunter manchmal eine unaussprechliche spirituelle Erfahrung verstanden, manchmal einfach nur Spiritualität, meist aber das spezifische Erlebnis einer sogenannten unio mystica, d. h. einer Vereinigung mit Gott oder einem großen Ganzen. Dies ist die engere und häufigste Interpretation von „Mystik“. Die „unio mystica“ lässt sich manchmal als eine missverständliche Interpretation der Erfahrung der Verbundenheit verstehen. Missverständlich, weil Verbundenheit nicht Aufhebung von Differenz und Vereinigung bedeutet, sondern die Verbindung von Verschiedenem. Oft handelt es sich bei der „unio mystica“ um eine Form von Trance.26 Dafür sprechen viele Schilderungen von Mystikern. Meditationen und spirituelle Rituale arbeiten mit vielen Tranceelementen: Beleuchtung, Wiederholungen, Atmungsregulation und andere. Manche mystischen Erfahrungen werden durch extrem lange und intensive Tranceinduktionen durch Isolation, Reizentzug, endlose Wiederholungen von Handlungen und Formeln, aber auch durch asketische und masochistische Praktiken, sexuelle Entbehrung, Hunger, Übernächtigung usw. erzeugt.27 Dies alles führt zu eingeschränkter Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung. Die Wahrnehmung der Subjekt-Objekt- oder Subjekt-Subjekt-Differenz wird eingeschränkt, im Extremfall aufgehoben. „Mystische“ Erfahrungen in diesem Sinne passen nicht zu Achtsamkeit. Achtsamkeit ist in keiner Weise an veränderten oder besonderen Bewusstseinszuständen interessiert. Daher ist auch der Gebrauch von Drogen störend. Ganz normale Bewusstheit genügt.

1.3 Absichtslosigkeit

(zurück zu Abschnitt 5.4: Elemente achtsamkeitsorientierter Spiritualität)

Eine längere Achtsamkeitsübung, und schon beginnt für viele Menschen der Kampf mit der Müdigkeit. Wir kennen vor allem zwei Zustände: Aktivität/Wachheit und Passivität/Müdigkeit. Wachheit setzen wir mit Aktivität gleich. Solange wir wach sind, nutzen wir die Zeit, um zu arbeiten, etwas zu erledigen oder die Freizeit zu gestalten. Auch die Freizeit soll unterhaltsam, erholsam, lehrreich, gesund, jedenfalls irgendwie angenehm oder sinnvoll verbracht werden. Wenn wir die Aktivitäten einstellen, werden wir müde und schlafen ein. Achtsamkeit kann in einen dritten Zustand führen: bewusstes, waches, absichtsloses Dasein.

Die „Absichtslosigkeit“ der Achtsamkeit führt regelmäßig zu Diskussionen. Schließlich ist Achtsamkeit ein absichtsvolles Bemühen. Wie kann man dann gleichzeitig absichtslos sein? Das Problem lässt sich relativ leicht lösen, wenn man sich klarmacht, dass man unterschiedliche Perspektiven in einer Situation einnehmen kann. Wenn man sich entscheidet, spazieren zu gehen, und dies anschließend umsetzt, so muss man während des Spaziergangs nicht unentwegt absichtsvoll sein. Wir führen die Absicht nicht in unserer Jackentasche mit uns, sondern wir wechseln ggf. in diese Perspektive und entscheiden uns erneut für oder gegen die Fortsetzung unseres Weges. Nur aus gegebenem Anlass erneuern wir unsere Absicht oder eben nicht. Dennoch gehen wir natürlich absichtlich spazieren, weil wir uns einmal dazu entschieden haben. „Absichtlich spazieren gehen“ besteht nicht aus zwei parallelen Vorgängen, sondern „absichtlich“ ist eine Qualität des Spazierengehens, die wir ihm zuschreiben, weil wir uns zuvor dazu entschlossen haben und diese Entscheidung weder geändert haben noch die Handlung beendet ist.

Noch leichter einsehbar wird die Vereinbarkeit von Absichtlichkeit und Absichtslosigkeit der Achtsamkeit, wenn wir den negativen Begriff der Absichtslosigkeit durch den der „Rezeptivität“ ersetzen. Rezeptivität können wir viel besser erläutern: „Nimm das, was dir begegnet oder was du tust, so an, wie es auf dich wirkt. Nimm es wahr, nimm es zur Kenntnis. Spanne dich nicht unnötig an, versuche einen ,weichen Blick‘, starre nicht, beobachte nicht, lass die Dinge auf dich zukommen, nimm sie zur Kenntnis. Was immer du anschließend tust, es gibt im Augenblick nichts zu beeinflussen, nichts zu verändern, nichts abzuwehren.“

Rezeptivität ist allerdings auch ein Tun. Man sieht, dass unser gewohntes Begriffspaar „aktiv – passiv“ hier in die Irre führt. Sich zu öffnen und wahrzunehmen ist durchaus eine Aktivität, aber keine solche, die etwas sichtbar verändert. In einem grundsätzlichen Sinne gibt es im organischen Leben gar keine Passivität.28 Will man an dem Begriffspaar festhalten, muss man es auf die Ebene der Handlungen begrenzen. Da wir gewohnt sind, die Dinge zu beeinflussen und zu verändern, müssen wir in der Regel erst einmal unsere Gewohnheiten erkennen und uns entscheiden, sie diesmal nicht beizubehalten. Solche Gewohnheiten können mentaler Art sein wie „Warum“-Fragen stellen, Zusammenhänge finden, phantasieren usw. oder praktischer Art wie die Situation verändern, etwas abwenden, herbeiführen etc. Wer sich in Rezeptivität versucht, wird merken, dass es nicht leicht ist, Aktivitätsimpulse vorbeiziehen zu lassen und sie nicht umzusetzen.

1.4 Nicht-Bewerten

(zurück zu Abschnitt 7.1.10: Beobachtende Achtsamkeit)

Unsere alltägliche Handlungsorientierung führt dazu, dass wir rasch eine bewertende Haltung einnehmen. Bewerten ist unvermeidlich, wenn wir Entscheidungen treffen und zielgerichtet handeln wollen. Ohne Bewertung würden wir morgens gar nicht erst aufstehen. Selbst oder gerade achtsamkeitsorientierte Meditationen folgen strengen Vorschriften. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist eher, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der ständig bewertet wird: Menschen, Gegenstände, Geselligkeiten, das Wetter. Viele Menschen bewerten sich selbst ständig, fühlen sich verpflichtet, ihre Selbstdarstellung oder ihre Persönlichkeit zu verbessern. Die Inflation an Bewertungen ist wohl unvermeidlich, wenn alle möglichen Abläufe optimiert und stets die Lebensqualität maximiert werden sollen. Nach meiner Erfahrung bewerten Menschen mit psychischen Problemen noch mehr als andere.29 Diese Gewohnheit ist anstrengend, und die Betroffenen machen sich das Leben damit schwer.

Aber Bewertungen geben auch Orientierung und suggerieren Kontrolle. Wenn ich etwas bewerte, so bin ich zumindest mental in einer überlegenen Position. Selbst dann, wenn ich es nicht ändern kann oder will. Der Wunsch nach Orientierung und Kontrolle ist ausgesprochen mächtig, viele andere Wünsche werden ihnen geopfert. Aus den Bewertungen werden oft keine Konsequenzen gezogen. Viele Bewertungen (vor allem Selbstentwertungen) rauben gerade die Kraft, dies zu tun. Oft stehen sie sich alleine schon durch ihre Vielzahl im Weg. Für viele Menschen ist es eine erhellende Erfahrung, wie viel, wie stark und wie unnötig sie bewerten und wie erleichternd es ist, es zu lassen.

Leider ist es nicht ganz leicht zu erklären, was denn überhaupt eine Bewertung ist. In Workshops und Gruppentherapien machen wir bisweilen folgende Übung: Wir hören uns gemeinsam fünf verschiedene Musikstücke von jeweils vier Minuten Länge an. Die Teilnehmer stehen, und es wird ihnen nahegelegt, sich auf die Musik zu bewegen. Die Vorgabe ist, achtsam zuzuhören, also die Musik auf sich wirken zu lassen und die eigene Resonanz zu spüren. Die Übung ist angelehnt an die bekannte „5-Rhythmen“-Tanzmeditation von Gabrielle Roth. Die Musikauswahl besteht aus emotional sehr unterschiedlich wirkenden Musikstücken, z. B. einem lauten chaotischen Stück von Miles Davis und einem sehr melodischen Klavierstück von Didier Squiban. Es ist generell erstaunlich, wie schnell Musikstücke eine emotionale und auch bewertende Reaktion hervorrufen und wie unterschiedlich diese Reaktionen sind. Von daher eignet sich die Arbeit mit Musik sehr gut für das Thema „Umgang mit Gefühlen“.30 In der „Sharing“-Runde, also im Austausch über das eigene Erleben, sagte eine Teilnehmerin: „Es ist mir doch sehr schwergefallen, neutral zu bleiben.“ Sie wirkte erschöpft und enttäuscht. Damit brachte sie das klassische Problem des Nicht-Bewertens auf den Punkt.

Nicht-Bewerten wird oft so verstanden, als müssten wir die Wirklichkeit oder unsere Erlebnisse auf emotional bedeutungslose Daten reduzieren, auf physikalische oder irgendwie sonst „objektive“ Fakten. Dazu wird empfohlen, die eigene Reaktion auf diese „Fakten“ gesondert wahrzunehmen und diese wiederum „neutral“ zu beobachten, also etwa: „Diese Musik ist schnell, laut, dissonant, hat kein erkennbares Thema, wechselt ständig den Rhythmus, und das wirkt auf mich so, dass ich unruhig und angespannt werde, sie nicht mag und sie am liebsten abstellen würde.“ Viele Psychotherapeuten erläutern „Nicht-Bewerten“ gerne so, denn es entspricht der klassischen Verhaltenstheorie, in der unser Erleben in die Reihenfolge Reiz – Interpretation – Reaktion gebracht wird. Der entscheidende Punkt ist nicht, dass eine solche Zerlegung nicht möglich ist, sondern dass sie reduktiv ist und entscheidende Aspekte unseres Erlebens übergeht. Die Reduktion der Wirklichkeit auf physikalische Daten (raumzeitliche Koordinaten etc.) ist ein Kunstgriff, der in bestimmten Versuchsanordnungen und zu bestimmten Zwecken seine Berechtigung hat, aber sich von unserem subjektiven Erleben entfernt.

Wir erleben nämlich durchaus keine „objektiven“ (besser: physikalisch formulierbaren) Fakten, sondern Dinge, Menschen und Ereignisse, die etwas für uns bedeuten, die einen Ausdruck haben, eine Anmutung.31 Ein Mensch hat auf uns eine Ausstrahlung, eine Situation eine Atmosphäre. Etwas kann „gemütlich“, „bedrohlich“ oder „langweilig“ wirken, ein Mensch kann anziehend sein oder auch nicht. Wir nehmen dies an den Menschen und Situationen wahr, nicht an uns, wir erleben Orgelmusik als mächtig, nicht uns, das Meer selbst als beruhigend oder bedrohlich, einen Schmerz als stechend. „Angenehm“, „freundlich“, „verführerisch“, „finster“, „abschreckend“, „hässlich“ oder „elegant“, „bezaubernd“ usw. – all diese Wörter beinhalten durchaus Bewertungen. Wenn wir etwas als „zu kalt“ oder „zu heiß“ wahrnehmen – und das geht in Bruchteilen einer Sekunde–, so bewerten wir die Erfahrung als schädlich oder unangenehm. Das Gleiche gilt für „hässlich“ oder „grausam“.32 Auch ästhetische oder moralische Urteile sind spontane emotionale Resonanzen, die oft auf langfristigen Orientierungen beruhen.33 Sie helfen, Situationen zu differenzieren, zu strukturieren und uns ihnen gegenüber zu positionieren.