ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen - Cordula Neuhaus - E-Book

ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen E-Book

Cordula Neuhaus

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Beschreibung

On the basis of many years= experience in therapeutic work with patients of all ages, the author clearly describes the symptoms, well-founded neurobiological findings and evidence-based ways of diagnosing and treating ADHD. She sets out practical strategies for everyday life and explains how the lives of those with the typical course of the syndrome can be made easier in order to avoid secondary damage. This sixth edition of the guide also explains the interdisciplinary, evidence-based and consensus-based ?Level 3= guideline and current options for drug and non-drug treatments. In addition, the difficulties faced by the affected children and adolescents in the current educational system are addressed.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1 Einleitung

ADHS – ein Spiegelbild heutiger Lebensbedingungen für Kinder?

Verwirrende Begrifflichkeit im Laufe der Zeit

Hauptsymptom motorische Unruhe?

Hypothesen und Theorien

Einige kritische Worte

2 An wen richtet sich dieser Ratgeber?

3 Der lange Weg zur Diagnose

Die S3-Leitlinie

Kurzfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten S3-Leitlinie »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-‍, Jugend- und Erwachsenenalter«

4 Was ist ADHS?

Diagnostische Kriterien

Zur Vertiefung – Diagnostische Kriterien des DSM-5

Zur Vertiefung – Diagnostische Kriterien des ICD-10

Wie häufig kommt ADHS vor?

ADHS wird ererbt

»Typische« Besonderheiten außerhalb der Kriterienkataloge DSM-5 und ICD-10 bei ADHS

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – Typ »Träumerchen«

Ist Früherkennung von ADHS ohne Hyperaktivität (»Träumerchen«) möglich?

Alles nur angeboren und nicht zu ändern?

5 Was ist Aufmerksamkeit?

Erregungssteuerung und Impulskontrolle gehören dazu

6 Was funktioniert anders bei ADHS?

Betroffene mit ADHS nehmen »anders« wahr

Betroffene mit ADHS werden »anders« wahrgenommen

Die Auswirkungen der Symptomatik – nicht nur furchtbar?

ADHS – das Syndrom der Extreme

Unerwartet ist »irgendwann später« plötzlich »jetzt«

Zusammenfassung

7 Die leider etwas »andere« Entwicklung im Lebensverlauf

Säuglingsalter

Kleinkindalter

Vorschulalter

Wirklich nicht nur ungezogen?

Selbstkontrolldefizite der Körperfunktionen bei ADHS

Und trotzdem ungewöhnlich positiv

Grundschulalter

Die typische Lerngeschichte

Pubertät

Das kindliche Weltbild

Erwachsenenalter

Alles irgendwie anders?

8 Was ist ADHS nicht?

9 ADHS und weitere Störungen

ADHS und Angst

ADHS und Depression

ADHS und Zwang

ADHS und »Ticks« bzw. »Ticstörungen«

ADHS und Lern- und Teilleistungsstörungen

ADHS und Einnässen

ADHS und Einkoten

ADHS und Schlafstörungen

ADHS und oppositionelles Trotzverhalten

ADHS und schwere Störung des Sozialverhaltens (Dissozialität)

ADHS und Sucht

ADHS und Unfallrisiko

ADHS und (Asperger-)‌Autismus

10 Wogegen ist »Vorbeugung« möglich?

11 Wie und durch wen wird die Diagnose gestellt?

»Chronic fatigue Syndrome (CFS)«

12 Die Diagnose ist gestellt – Und dann? Aufklärung und Erklärung!

13 Möglichkeiten der Selbsthilfe

14 Möglichkeiten der Behandlung

Wann ist eine Behandlung nötig?

Was hilft?

Was hilft nicht und was hilft tatsächlich?

15 Die medikamentöse Therapie

Wann wird die Medikation eingesetzt?

Wie wirkt Methylphenidat?

Wie wirkt Lisdexamfetamin und Dexamfetamin?

Nebenwirkungen von Methylphenidat/Lisdexamfetamin

Dosierungen von Methylphenidat

Weitere Substanzen

Eine abschließende Anmerkung

16 Alternative Medizin und Homöopathie

17 Wer trägt die Kosten der Behandlung?

18 Weiterführende Informationen

Selbsthilfegruppen

Rat + Hilfe

Fundiertes Wissen für Betroffene, Eltern und Angehörige –Medizinische und psychologische Ratgeber bei Kohlhammer

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Ratgeber aus unserem Programm finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/rat+hilfe

Die Autorin

Cordula Neuhaus, geb. 1951, Diplom-Heilpädagogin, Diplom-Psychologin, Verhaltenstherapeutin, in freier Praxis seit 1979. Vorher klinische Tätigkeit in der Kinderklinik Esslingen, Abteilung Neuropädiatrie, sowie an der neurologischen Universitätsklinik Tübingen. Seit 01. 01. 1999 doppelapprobiert als Psychologische Psychotherapeutin und Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Spezialisiert seit 38 Jahren auf Kinder und Jugendliche (später auch Erwachsene) mit ADHS mit/ohne Komorbiditäten. Internationale Referententätigkeit zum Thema ADHS, ebenso in der Lehrerfortbildung mit Gründung der »Mini-Notschule ADHS« (9/2000 – 8/2010), 2009 Gründung des KollegDAT e.V. Im Jahr 2012 Initiatorin des patentierten Ausbildungsgangs »Kompetenztrainer ADHS« (eigenentwickelte Fortbildungsbausteine für Fachpersonal).

Cordula Neuhaus

ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

Symptome, Ursachen, Diagnoseund Behandlung

6. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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6. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043574-2

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-043575-9epub:ISBN 978-3-17-043576-6

Vorwort

Frei nach dem Philosophen Schopenhauer wurde die inzwischen gut belegbare Wahrheit lange nur belächelt, dass es tatsächlich viele Menschen geben soll, die von ADHS (der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) betroffen sind.

Leider wird diese Tatsache noch immer teilweise regelrecht bekämpft. Spätestens seit dem 5. Weltkongress über ADHS im Mai 2015 sollte die in den Medien nach wie vor anhaltende »kritische Hinterfragung« (bis hin zur schlichten Antipropaganda v. a. bezüglich der medikamentösen Therapie) eigentlich aufhören, auch seitens einer nach wie vor großen Gruppe von Fachleuten aus den unterschiedlichsten Bereichen der Pädagogik, der Psychologie und der Medizin (die Versorgungslage z. B. für Erwachsene mit ADHS in Deutschland mit wirklich zielführenden Behandlungsansätzen ist leider schlecht!).

Nach über 50 Jahren positiver Erfahrung von Patienten und Therapeuten mit der Wirksamkeit der medikamentösen Therapie (so sie nach sorgfältiger Diagnose, guter Aufklärung und mit spezifischen Begleitmaßnahmen eingesetzt wird), sollten ADHS und der Nutzen einer effektiven Therapie endlich allgemein akzeptiert werden.

Unkenntnis, Abwehr, Ignoranz und Bagatellisierung der typischen ADHS-Symptomatik oder der nach wie vor übliche Versuch, die auftretenden Schwierigkeiten durch vorgeburtliche physische oder psychische Probleme, Misshandlungen, Bindungs- und Beziehungsstörungen, Traumatisierungen, Vernachlässigungen oder die unterschiedlichsten »Elternfehler« erklären zu wollen, bringen für Betroffene und ihre Familien nichts als Unsicherheit, Irritation, Angst, Wut, Verzweiflung und sich vergrößerndes Leid. Manche Entwicklungen der letzten Jahre muten indes merkwürdig an: So erklärte die Gruppe der Wissenschaftler, die den Kriterienkatalog psychischer Erkrankungen der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft »Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen – DSM-IV« überarbeiteten (mit Vorliegen des neuen Katalogs DSM-5 seit Juni 2013), dass die »emotionale Labilität« aus dem Symptomkatalog bezüglich ADHS gestrichen wurde, da es sonst zu einem enormen Anstieg an Diagnosen kommen würde, was »nicht gewollt« sei. 2017 wurde auf dem 6. Weltkongress über ADHS in Vancouver/Kanada von einem Vertreter dieser Gruppe eingeräumt, dass die emotionale Labilität und Impulsivität Betroffene im Alltag am meisten beeinträchtigen. Sich sofort angegriffen zu fühlen, alles sofort persönlich zu nehmen, sich ständig irgendwie beobachtet zu fühlen, sich zu vergleichen (und verglichen zu werden) macht das Leben schwer (vor allem, wenn man nicht weiß, warum das so ist!).

Auf dem 4. Weltkongress über ADHS, in Mailand 2013, wurde berichtet, dass ADHS die teuerste Erkrankung überhaupt ist (so eine amerikanische Untersuchung) – die Regressjuristen der Deutschen Unfallversicherung wissen, wie hoch das Unfallrisiko von Betroffenen mit ADHS ist (persönliche Mitteilung während einer Veranstaltung in Leipzig, 2009).

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung kann auch als »Politikum« betrachtet werden. In den Medien wird begrüßt, dass die Verschreibung von Stimulanzientherapie seit einiger Zeit »zurückgeht«, tatsächlich werden die Odysseen der kleinen und großen Patienten aber nicht kürzer oder anders, als schon vor Jahren beschrieben.

Eine 36-Jährige, die sich in einem Buch über Erwachsene mit ADHS wiedererkannte, beschrieb:»Die Erzieherin im Kindergarten sagte, dass es mit mir keine Schwierigkeiten gegeben habe, solange alles so gelaufen sei, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ansonsten hätte ich dann urplötzlich ganz schön sauer und wütend sein können. Eigentlich sei ich lieb und nett gewesen, mit vielen Streichen im Kopf, nicht böse gemeint. Wie meine Nichte sei ich noch lange ein richtiges Spielkind gewesen – daran kann ich mich aber nicht mehr so richtig erinnern, sehr genau aber an die ›Einschulung‹.Ich habe nie verstanden, wieso ich jetzt auf einmal statt in den schönen Kindergarten in diese blöde Schule gehen sollte. Schule war schrecklich, laut, langweilig. Ich hatte keine Lust zu lernen, für was auch? Stundenlang saß ich an den Hausaufgaben und schaute auf den Kirchturm, der vor meinem Fenster stand. Meine Eltern schimpften, straften mit Hausarrest, aber es wurde nicht besser. Die Noten wurden in der Grundschule so schlecht, dass in der dritten Klasse überlegt wurde, ob ich in die Sonderschule gehen soll.«

Skeptisch bezüglich eines neuerlichen Hilfsangebots berichtete diese Patientin, dass sie schon mehrere, für sie in keiner Form hilfreiche, Psychotherapien absolviert habe. Sie sei nicht ernst genommen worden mit ihrem Hauptproblem, sich nichts über längere Zeit merken zu können. Und diese für sie sehr beeinträchtigende Tatsache sei im Beruf als Diätassistentin nach ihrem Schulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg von Nachteil. Sie müsse ständig nachlesen und wiederholen. Sie überlege immer wieder, wie man ein Wort schreibe oder was ein Verkehrszeichen wirklich bedeute. Beim Lesen falle ihr plötzlich etwas anderes ein – und sie müsse von vorn beginnen. Sie habe schon abklären lassen, ob sie an einem frühen Stadium von Alzheimer-Demenz erkrankt sei. Es sei aber nichts gefunden worden. Und überraschend sei für sie, dass sie sich immer gut konzentrieren könne, wenn sie etwas begeistere. Das verstehe sie gar nicht, ihr Umfeld auch nicht. Es wirke oft so, als wolle sie nicht. Sie sei so schusselig. Vor Kurzem sei sie schon wieder, trotz aller Anstrengung, vorsichtig und umsichtig Auto zu fahren, beim Rückwärtsfahren mit dem neuen Auto an eine kleine Mauer gestoßen.

Für ihre Schwierigkeiten schämt sich die junge Frau so, dass sie sich bei Bestätigung ihrer Verdachtsdiagnose nicht traut, dies ihrem Ehemann mitzuteilen. Und da ADHS vererbbar ist, will sie keine Kinder bekommen!

Früher hat man es nicht besser gewusst – aber muss es heute noch einen solchen Verlauf geben, wie im folgenden Beispiel?

Der jetzt 15½-jährige Jugendliche will selbst dringlich Hilfe, nachdem er erstmals im Alter von zehn Jahren vorgestellt wurde, als es zwischen ihm und seiner Mutter zu vielen akuten Zuspitzungen gekommen war. Bei klassischster und ausgeprägtester Symptomatik von ADHS wurde er sogar für einige Wochen in eine Pflegefamilie gegeben. Er konnte nicht stillsitzen und still sein, hatte eine katastrophale Heftführung, war sehr vergesslich und desorganisiert, hatte immer eine Ausrede und bekam Wutausbrüche.Wegen widersprüchlichen Auffassungen im »Helfernetz« kam es jedoch trotz der sehr dramatischen Entwicklung zwischen ihm und seiner alleinerziehenden Mutter nicht zu einer zielführenden Behandlung, auch nicht zum empfohlenen Internatsbesuch oder zumindest zu einem medikamentösen Behandlungsversuch.Im langwierigen Hin und Her der Einschätzungs- und Beratungsansätze hatte die Mutter (die selbst von ADHS in erwachsener Residualform betroffen ist) bei den heftigen Konflikten innerlich bereits einen Beziehungsabbruch zu ihrem Sohn vorgenommen.Der Junge kam dann doch in ein Internat, aus dem er mit elf Jahren wegen massiven Alkoholgenusses nach einem halben Jahr verwiesen wurde. Über das Jugendamt wurde er in einem Heim untergebracht, da es zu Hause nicht mehr funktionierte. Aber auch dort war es sehr schwierig für ihn, die nur wenigen, freiwillig einzuhaltenden Regeln zu akzeptieren. Er versuchte, seinen Alltag selbst zu gestalten, was während der heftigen pubertären Entwicklung zu vermehrter Opposition führte. Nachdem er unter anderem sein Zimmer verwüstet hatte, wurde er über sechs Wochen vollstationär in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie mit stark beruhigenden Medikamenten behandelt.Die Mutter hatte sich ihrerseits während des Heimaufenthalts ihres Sohnes kontraproduktiv verhalten. So wollte sie beispielsweise Vorschriften machen, wie man mit ihm umzugehen hat.Der Junge wurde während der Heimbetreuung in einer Sonderschule für Erziehungshilfe unterrichtet, was bei seiner bekannten überdurchschnittlichen Intelligenz eine Unterforderung darstellte und die Situation zusätzlich erschwerte.Der Vater des Jungen, selbst in der Beziehung mit einer alleinerziehenden Mutter lebend, die einen Jungen mit ADHS im gleichen Alter hat, bot an, den Jungen zu sich zu nehmen. Nachdem der Junge über die Hintergründe seiner Schwierigkeiten aufgeklärt wurde, war er bereit, eine ambulante Verhaltenstherapie zu machen.Nach Jahren schwierigster Entwicklung und Leidens ist es für den Jungen heute nicht mehr verständlich, warum er jetzt erst die benötigte Hilfe einschließlich der Medikation erhält, die ihm ermöglicht, sich zu konzentrieren und zu steuern.Inzwischen bereitet er sich auf den Werkrealschulabschluss vor.

Erfreulicherweise geht es aber auch anders:

Die Mutter weiß gut, was ADHS ist, hat sich ebenso wie ihr Mann damit auseinandergesetzt. Die kleine Tochter ist – schon früh erkennbar – deutlich betroffen, dabei ungewöhnlich aufgeweckt, sensibel, impulsiv, kreativ. Das morgendliche Anziehritual ist durch Trödeln und Probleme beim Kämmen kompliziert – und Mama ist eben auch nur ein Mensch. Sie schimpft laut – was ihr gleich wieder Leid tut mit dem Kommentar: »Ich bin wieder mal furchtbar gerade, sorry, aber ich habe dich trotzdem so lieb!«Die 5-Jährige antwortet darauf ernst: »Mama, du bist nicht furchtbar, aber du zeigst mir gerade nicht, dass du mich lieb hast!«

Ungewöhnliches, Widersprüchliches wird oft schon im sehr jungen Alter erkannt und direkt benannt, treffend mit »Spontanassoziationen«, die u. U. erheiternd sein können. 2012 bekannte Eckart von Hirschhausen, dass er ADHS in milder Form nicht nur habe, sondern sogar davon lebe. Ohne seine sprunghafte Aufmerksamkeit wäre er wie viele seiner Kollegen nie Komiker geworden. In den Selbsthilfegruppen wird bei positiven Entwicklungen Betroffener seit Jahren gefragt, warum ADHS als Störung oder »Krankheit« definiert werde, wenn es doch viele berühmte Künstler, Erfinder, Köche, Sportler, Autoren und erfolgreiche Manager mit ADHS gebe. Die Antwort ist: Hat jemand in seiner »Begabungsnische« selbstbestimmt (!) eine subjektiv herausfordernde und interessante Tätigkeit gefunden, gerät er in den positiven Hyperfokus. Durch den intensiven Antrieb im Hyperfokus wird dann mit Überausdauer, oft enormer Sorgfalt z. B. umfassend recherchiert oder es werden detailverliebt, perfektionistisch anmutend, dabei oft querdenkend teils überraschende Hypothesen und Lösungen kreiert. Bei meinen Patienten und den Teilnehmern der Weiterbildung »Elterntraining für Elterntrainer« sowie den Kursteilnehmern der Kurse »Kommunikations- und Selbstwerttraining für Betroffene mit ADHS« möchte ich mich ganz besonders bedanken für ihr Vertrauen, ihre kritischen Fragen, ihre Anregungen und die Ermutigung, mit dem Werben für Akzeptanz von ADHS weiterzumachen, dranzubleiben an der Weiterentwicklung sich bewährender Hilfen im Sinne einer »Fortbildung in eigener Sache«. Ich wünsche mir, dass Betroffene damit möglichst frühzeitig realistische Chancen bekommen, kompetent mit sich und der Umgebung umgehen zu lernen, mit besserem Selbstwertgefühl ihre Nischen finden können, in denen sie dann selbstwirksam – wie es schon vielen gelang – wichtige Mitglieder der Gesellschaft werden können, statt als »Kranke« leiden zu müssen.

Esslingen am Neckar, Mai 2020Cordula Neuhaus

1 Einleitung

ADHS – ein Spiegelbild heutiger Lebensbedingungen für Kinder?

Nach wie vor wird immer wieder von Kritikern und Skeptikern (mit und ohne spezifischen ideologischen Hintergrund) behauptet, dass unzulässigerweise der Einfachheit halber unterschiedliche Verhaltensstörungen unter der Diagnose ADHS zusammengefasst würden. Dabei seien die Auffälligkeiten wohl eher gesellschaftlich bedingt und ein Ausdruck von offensichtlich beeinträchtigten »Normalitätsvorstellungen«. Die Gesellschaft müsse sich eben ändern und schwierigen Kindern mehr Zeit und Zuwendung widmen. Das neurobiologische Erklärungsmodell des typischen »abweichenden« Verhaltens bei ADHS wird abgelehnt und die medikamentöse Behandlung als moralisch verwerflich verurteilt. Eine Journalistin fasst dies so zusammen:

»Eine minimale zerebrale Dysfunktion schränkt die Steuerungsfähigkeit des Gehirns ein, und fertig ist das Störungsbild – mit oder ohne Begleiterkrankungen, mit unterschiedlichen Ausprägungsgraden, die sich auf das Lernen, Verhalten und die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen auswirken, die den Generalverdacht entkräften sollen, dass es sich bei ADHS um eine Modediagnose, Wunschkrankheit oder auch einen listig aufgefädelten Schachzug der Pharmaindustrie, Ärzteschaft und Psychologenzunft handelt, über die Erfindung neuer Krankheiten Kundenbindung zu betreiben« (Psychologie Heute 12/05).

2005 und 2008 berichtete »Spiegel-TV« sehr seriös in ausführlichen Sendungen über Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit ADHS. Die ARD strahlte den Film »Keine Zeit für Träume« 2014 und 2016 wiederholt aus. Ab und zu gab es auch von anderen Sendern mal gute kurze Beiträge – dennoch ist der Tenor der Presseberichterstattung bis heute, ADHS sei eine »erfundene« Krankheit.

Angesichts der Tatsache, dass bereits im Oktober 2002 am Bundesministerium für Gesundheit in einer interdisziplinären Konsensus-Konferenz zur Verbesserung der Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zwölf Eckpunkte formuliert wurden und im August 2005 die Kurzfassung der Stellungnahme der Bundesärztekammer (der Vorstand) zu ADHS veröffentlicht wurde (nachfolgend im November 2005 ein Fragen-Antworten-Katalog ebenda), wirkt eine solche Aussage doch verwunderlich.

Die Schilderungen der Symptomatik im Kindes- und Jugendalter sind seit »Urzeiten« dieselben:

Bereits 250 v. Chr. klagt eine Mutter in einer Ode von Herondas über einen Jungen, der ihr den letzten Nerv raubt, nicht richtig lesen kann, die Tafel mehr verkratzt, als schön darauf zu schreiben, keine Hausaufgaben macht, mühsam Gelerntes schnell wieder vergisst, überall herumturnt, ständig irgendwelchen Blödsinn macht und »falsche« Freunde hat!

Später erkannte man solche Kinder im Zappelphilipp von Heinrich Hoffmann (1844) oder im Michel von Lönneberga von Astrid Lindgren mit seinen vielen impulsiven und kreativen Ideen wieder.

Die motorische Unruhe galt bei der Störung, die man heute ADHS nennt, über viele Jahre bei jüngeren männlichen Kindern als Hauptsymptom. Man bezeichnete sie als zu lebhaft, zu nervös oder später als »hyperaktiv«.

1902 beschrieb der englische Kinderarzt George Still nach systematischen Beobachtungen ergänzend eine abnorme Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Er beobachtete auch, dass diese Kinder immer eine extreme emotionale Reizbarkeit zeigen sowie sofortige Befriedigung der eigenen Bedürfnisse brauchen. Nach seiner, von der damaligen sozialdarwinistischen Weltanschauung geprägten, Meinung litten diese Kinder an einem »Defekt der moralischen Kontrolle«. Er beobachtete diese Symptome ausschließlich bei Kindern, bei denen man nicht die Erziehung dafür verantwortlich machen konnte, weil sie aus »gutem Hause« stammten.

Verwirrende Begrifflichkeit im Laufe der Zeit

Solche Kinder wurden bereits im 18. und 19. Jahrhundert beschrieben. Es wurde gerätselt, ob sie unter einer gestörten Reaktion des Gehirns auf einwirkende Reize litten oder nur schwer erziehbar seien. Später nannte man sie oft neurotisch.

Es wurde überlegt, ob eine minimale Hirnschädigung vorliege, woraus sich dann der Begriff der minimalen zerebralen Dysfunktion entwickelte. Damit wurden in den 1950er- und 1960er-Jahren durchschnittlich begabte bis hochintelligente Kinder mit Lern- und Verhaltensstörungen beschrieben, bei denen in unterschiedlicher Ausprägungsform und Kombination Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, zum Teil der Sprache, der Kontrolle von Aufmerksamkeit, Impulsivität und der Motorik beobachtet werden konnten.

Später wurde daraus ein frühkindlich exogenes Psychosyndrom. In der Schweiz gibt es heute noch die Bezeichnung POS (psychoorganisches Syndrom).

Um das auffällige Verhalten der Kinder vor allem auch bezüglich einer Veränderung unter Behandlungsbedingungen standardisiert bewerten zu können, wurden Ende der 1960er-Jahre spezielle Fragebögen entwickelt und das Konzept der Hyperaktivität in der Literatur beschrieben.

Hauptsymptom motorische Unruhe?

Ab den 1970er-Jahren wurde jedoch zunehmend in der inzwischen riesigen und immer interessanter werdenden internationalen Forschungsszene erkannt und belegt, dass bei der Störung, die aktuell als Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung bezeichnet wird, die motorische Unruhe nur ein Aspekt ist. Sie verliert sich meist zu Beginn oder gegen Ende der Pubertät.

Gravierender erscheinen die Defizite, die Aufmerksamkeit willentlich und situationsgerecht sofort aktivieren und aufrechterhalten zu können sowie impulsive Reaktionen kontrollieren zu können. Genau diese Defizite wurden vor allem in den letzten 15 Jahren wissenschaftlich differenziert untersucht.

In den 1980er-Jahren wurden als Ursache der ADHS-Symptomatik vor allem Allergien, speziell auf Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln wie z. B. Salizylat oder Phosphat, aber auch Farbstoffe und Konservierungsmittel diskutiert. Aber weder dies noch der Verdacht auf die verminderte Zufuhr essenzieller Nahrungsbestandteile, wie z. B. ein Vitamin- oder Mineralstoffmangel, oder eine gestörte Darmflora konnten als Ursache der ADHS wissenschaftlich bewiesen werden. Allerdings hält sich das Thema Ernährung bis heute, da bei einzelnen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen z. B. durch spezifische Auslassdiäten, Sanierung des Darms bei Pilzbefall oder auch durch Gabe von bestimmten Vitaminen und Mineralstoffen Verhaltensverbesserungen zumindest vorübergehend beobachtbar wurden.

Anhand der Ergebnisse erster Forschungen liegt die Vermutung nahe, dass bio-psycho-soziale Faktoren für das Entstehen von ADHS verantwortlich sein könnten.

Ab den 1990er-Jahren wurde eine neurobiologische Abweichung im Belohnungs- und Motivationssystem im Gehirn sowie die eingeschränkte Entwicklung der Stirnhirnfunktionen als zusätzlich zentral bedeutend angenommen. Volumenunterschiede wurden entdeckt, die genetische Verursachung als sehr wahrscheinlich vermutet (inzwischen immer besser belegt).

Auf dem 5. Weltkongress über ADHS in Glasgow 2015 wurde umfassend vom Stand der seriösen internationalen Forschung bezüglich der Ätiologie psychischer Störungen und speziell der ADHS berichtet, mit immer mehr Belegen für die Erblichkeit. (So wurde 2013 in der renommierten Zeitschrift Lancet von einer »Cross Disorder Genome – Wide Association Study Analysis« berichtet, nach der ADHS, die Autismus-Spektrum-Störung, Schizophrenie, manisch-depressive Erkrankung und emotionale Instabilität als genetisch bedingt gelten.) Es ist noch längst nicht alles entschlüsselt, aber die »Anlage« bestimmt Verhalten weit mehr als das Umfeld, wobei die Interaktion zwischen der ererbten Disposition und den Umfeldfaktoren über Gesundheit/Krankheit bestimmt.

Die konstitutionell bedingte Neurodynamik bei ADHS führt zu einer spezifischen Regulierungsdynamik mit unmittelbaren Auswirkungen auf die »Funktionssteuerung« und somit zu einem Wahrnehmungs- und Reaktionsstil, der Betroffene von Gleichaltrigen unterscheidet.

Mit Hilfe der bildgebenden Verfahren wird es möglich, immer besser die Pathophysiologie der ADHS zu verstehen. Obwohl jedes Gehirn einzigartig, plastisch, dynamisch und komplex ist, ist bei ADHS mittlerweile klar, dass es strukturelle und funktionale Reifungsverzögerungen gibt, die Hirnrinde »dünner« ist, das Hirnvolumen geringer (was aber keinesfalls Rückschlüsse auf die Intelligenz erlaubt!).

Als gesichert gilt, dass bei Betroffenen mit ADHS eine signifikant größere intraindividuelle Variabilität bezüglich der Leistung besteht im Vergleich zu Nichtbetroffenen.

So besteht bei ADHS eben nicht nur eine Aufmerksamkeitsstörung durch Ablenkbarkeit (bei Reizoffenheit und Reizfilterschwäche) und zu geringe Ausdauer, sondern auch eine kontextabhängige Vigilanz. Die »innere Wachheit«, die man benötigt, um aufmerksam sein zu können, ist je nach Kontext »da« oder nicht. Jeder Betroffene mit ADHS kennt es von sich, dass die Aufmerksamkeit nur bei subjektiv positiver emotionaler Vorbewertung einer Sache oder Person aktiviert ist. Dann ist sogar eine extreme Konzentrationsfähigkeit möglich, mit Superausdauer und entsprechender Leistung.

Immer klarer wird mittlerweile, warum Betroffene mit ADHS alles Ungewöhnliche registrieren – ihre Retinazellen (die Zellen der Netzhaut des Auges) scheinen aktiver zu sein (»Das Rauschen hinter dem Auge«, Universität Freiburg 2015). Leider bringt das aber offensichtlich mit sich, dass Dinge mit wenig Aufforderungscharakter oft schlicht übersehen werden (Müllbeutel, Wäschestapel, abgelegte Kleidungsstücke).

Angesichts einer schwierigen oder subjektiv langweilig empfundenen Aufgabenstellung setzt schlagartiges »Ermüden« ein, bei unangenehmer Interaktion mit einem Gegenüber »Blockade« (mit Unfähigkeit, auf Strategien und/oder [Erfahrungs-]‌Wissen zugreifen zu können).

Anhand mittlerweile riesiger Datenmengen wurde aktuell belegt, dass die Amygdala (der Mandelkern), das Belohnungs- und Motivationssystem (Nucleus accumbens), der Altspeicherkoordinator Hippocampus und das Kleinhirn jene Regionen des Gehirns sind, die bei ADHS diese spezielle Art bestimmen, wie die Welt gesehen und auf sie reagiert werden kann.

Literaturempfehlung:

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Thomas E. Brown schildert gut verständlich geschrieben auf der Basis der sich ständig weiterentwickelnden Erkenntnisse der aktuellen wissenschaftlichen Forschung ADHS als Entwicklungsstörung der »Aufmerksamkeitsfunktionen«, die die kognitive Selbststeuerung beeinträchtigen: Thomas E. Brown (2013) »Heritability and Genetics of ADHD« in: »A New Understanding of ADHD in Children And Adults – Executive Function Impairments«, S. 72 – 76, New York, Routledge.

Hypothesen und Theorien

Verhaltensforscher überlegten lange, ob nicht eben doch mangelnde Einübung von Regeln in der Erziehung oder zu wenig Gleichmäßigkeit im Alltag die Ursache für die typischen Verhaltensmuster bei ADHS sein könnten.

Inzwischen behaupten manche »Kritiker«, dass alles, was ein Mensch tue, für ihn Sinn mache, da er es sonst nicht täte – unter der orthodox-psychoanalytischen Annahme, dass auffällige Kinder mit ADHS-Symptomen raffinierte Mechanismen entwickelten, um ihre »nicht verarbeiteten (negativen) Erfahrungen loszuwerden« – d. h. alle Schwierigkeiten sind, so die Grundannahme und -behauptung, reaktiv entstanden.

Einzelne (wohl eher populärwissenschaftliche?) Neurowissenschaftler versuchen nach wie vor, ihre Erkenntnisse über das Zusammenspiel von Anlage, Umwelt und dem sich entwickelnden Gehirn (speziell bezüglich dessen Plastizität) im Sinne der psychodynamischen Sicht entgegen die vielfältigen gut belegten Befunde der Genetik oder der Neuropsychologie zu ADHS zusammenzutragen.

Eine nicht unerhebliche Zahl psychoanalytisch denkender/handelnder Fachleute vermutet bis heute, dass Kinder »hyperaktiv« reagierten, weil sie entweder unbewusst schon vor der Geburt abgelehnt worden seien oder Bindungsstörungen zu ihrerseits traumatisierten, bindungsunsicheren Müttern entwickeln würden, welche selbst Schwierigkeiten mit der Stressregulation haben. Entsprechend erlebten diese Mütter beispielsweise ein schreiendes Baby vor allem als Stress und könnten nicht angemessen fürsorglich reagieren. Dies könnte schon den Boden für entstehende Gewalt gegenüber dem Kind bereiten. Verbunden damit ist die Forderung, das Kind möglichst schon früh im Leben psychoanalytisch zu behandeln.

Der Begriff Trauma wird derzeit leider sehr schnell benutzt. Dabei zeigen Beobachtungen und Untersuchungen, dass selbst bei katastrophalen Ereignissen (wie zum Beispiel die Zerstörung des World Trade Centers am 11. 09. 2001) etwa acht bis neun von zehn Personen damit zurechtkommen, ohne eine Störung zu entwickeln.

Viele Sozialmediziner, Sozialpädagogen, Sonderpädagogen hinterfragen einen »biologistisch inspirierten Normalitätsbegriff«, was bedeutet, dass sie sich dagegen wehren, dass Kinder mit chemischer Korrektur ihrer scheinbar unzureichenden Steuerungsmechanismen im Gehirn zu erwünschten »normalen« Verhaltensweisen gebracht werden sollen.

In der systemischen Theorie geht man davon aus, dass das Kind seine Realität und Umwelt selbst gestaltet und mit seinen Möglichkeiten des Verhaltens reagiert – mit der Einschätzung, dass das typische Verhalten eines Kindes mit ADHS Ausdruck einer sinnvollen Selbstorganisation des Bewusstseins sein könne und als Ausdruck der Selbstbestimmung des Betroffenen verstanden werden müsse.

Entsprechend wird für die frühe Bildung hierzulande gefordert, auf kindliche Neugier und natürliche Lernbereitschaft zu vertrauen, mit der Forderung, dass Erwachsene ihnen vor allem helfen müssten, aktive Erforscher ihrer Lernumwelt zu werden. Bei diesem Vorgehen besteht die Vorstellung eines freien, unabhängig selbstmotivierten Kindes, das eigenständig Wissen erwerben will und kann – Leitbild sogar in der sonderpädagogischen Praxis!

Die Kinder mit Lernstörungen (oft in Verbindung mit ADHS) profitieren belegbar nicht von diesen kindzentrierten freien Ansätzen, erfahren auch keine Unterstützung durch »indirekte« Ansätze wie sensorische Integration, Psychomotorik, Kunst- oder Musiktherapie bei ihren ganz konkreten Schwierigkeiten, sich Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens, Rechnens aneignen zu müssen.

Literaturempfehlungen:

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Einen hervorragenden aktuellen Überblick über diese Argumentation gibt kritisch Rupert Filgis 2006 in seinem Artikel »Betrachtungen zu einer Buchrezession in der Zeit« oder »ADHS im Sommerloch« in »die Akzente«, Nr. 73, 2006, S. 33 – 40, siehe auch: http://www.zeit.de/2006/33/st-Unruhige-Kinder, und http://www.zeit.de/2013/36/bildung-schulrevolution-bestsellerautoren.

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Grünke M (2006) Zur Effektivität von Fördermethoden bei Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen. Eine Synopse vorliegender Metaanalysen, in: Kindheit und Entwicklung, 15‍(4), S. 239 – 254, Hogrefe.

Einige kritische Worte

Es ging in den vorigen Abschnitten nicht um eine generelle Infragestellung oder gar Abwertung der Psychoanalyse und deren Denkmodellen und Behandlungsansätzen an sich. Dasselbe gilt auch für die klassische systemische Familientherapie.

In jüngster Zeit wird jedoch nicht nur über Literatur und Vorträge vermehrt ADHS als eigenständiges Störungsbild mit neurobiologischem Verursachungshintergrund abgelehnt von offensichtlich regelrecht »konfessionell« anmutenden Fachleuten in der »kritischen Medizin«, Psychoanalyse und Systemtheorie mit einem heftigen Überschwappen in die Pädagogik und Sonderpädagogik. Alarmierend ist vielmehr, dass auch in den Ausbildungen der Sozialpädagogen, Sozialarbeiter und Heilpädagogen entweder völlig veraltetes oder sehr merkwürdiges »Wissen« vermittelt wird.

Im sogenannten »multiperspektivisch-sozialpädagogischen Fallverstehen« geht man konkret so weit, dass es zwar eine medizinische und eine psychologische Diagnose geben mag (in der z. B. ein Störungsbild beschrieben wird, der kognitive und emotionale Entwicklungsstand), diese aber durch eine »systemische Netzwerkdiagnose«, der Struktur und der Dynamik der Familie und deren soziale Einbindung zu erweitern sei.

Pädagogisch müsse man die Funktionsbereiche der Motorik, der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und des Verhaltens einschätzen, um eventuellen Förderbedarf festzustellen.

Die sozialpädagogische Diagnose »rundet« das »multiperspektivistisch-sozialpädagogische Fallverstehen« ab und beinhaltet jeweils Einschätzungen der sozialen Intelligenz, des Sozialverhaltens, der Rollenzuschreibung, des Selbstwerts, der Strategien zur Lebensbewältigung und der Ressourcen. Dabei wird dann ganz klassisch heruminterpretiert über Frühverwahrlosung, psychosoziale Regulationsstörungen und Bindungsunsicherheiten. Im Team müsse dann vorbesprochen werden, wie beispielsweise eine »Selbstüberforderung« einer Mutter abgebaut oder Beziehungen und Erziehungskompetenzen »geklärt« werden könnten.

Spieltherapie zur Klärung von Geschwisterkonflikten wird dann selbstverständlich angeboten, gezielte Hilfe zum Beispiel bei den Hausaufgaben durch eine »sozialpädagogische Familienhilfe« oder die Suche nach einer geeigneten Schule jedoch nicht.

Bei solchen Ansätzen, die beispielsweise Mitarbeiter des Jugendamtes in ihrer Sichtweise vornehmen, reflektiert das Team dann, ob es eine Familie über- oder unterfordert, welche Rahmenbedingungen nötig seien, damit Veränderungen zugelassen werden können, welche Strukturen hinderlich oder förderlich in dieser Arbeit sind – und welche Fördermethoden von hyperaktiven Kindern in der Einrichtung des Teams erwünscht, akzeptiert, abgelehnt oder tabuisiert sind.

Es geht hier nicht darum, engagierte Mitarbeiter im Helfernetz schlecht zu machen, aber ein solches Vorgehen ist gerade bei ADHS und Begleitstörungen wenig bis nicht hilfreich, oft sogar verschlechternd, dauert lang und kostet viel.

Je mehr Fachleute sich vor den belegbaren, evidenzbasierten Möglichkeiten verschließen, Betroffenen mit ADHS wirkungsvoll zu helfen, desto bunter wird das Angebot an unterschiedlichsten »Helfern«, selbsternannten Coachs, angeblich hilfreichen »Kügelchen« und Nahrungsmittelergänzungen.

Leider wird von vielen Therapeuten, die psychoanalytisch oder tiefenpsychologisch fundiert arbeiten, behauptet, dass alle psychischen Störungen mit allen Behandlungsansätzen der Richtlinienpsychotherapie behandelbar seien. Bei ADHS ist als effektive Behandlungsmethode wissenschaftlich jedoch nur die Verhaltenstherapie belegt.

Hierbei scheint es keine Rolle zu spielen, dass es nicht wenige Kinder und Jugendliche mit Lernstörungen gibt, die (noch) nicht über eine ausreichende Fähigkeit verfügen zu planen, sich zu organisieren, strategisch vorzugehen sowie notwendige Lern- und Gedächtnisstrategien nicht hinreichend beherrschen, nicht ausreichend konzentriert sind – und die am besten lernen, wenn eine Lehrkraft gut geplant schrittweise übend und schnell konkret rückmeldend ihnen hilft, »richtig« wahrzunehmen und umzusetzen.

Mit dem Vorwurf, dass Eltern und auch Lehrer sich eine organische Verursachung in biologistischer oder reduktionistischer Sichtweise der Medizin wünschten, wird beispielsweise als eine pädagogische Kernfrage formuliert, wenn ein Kind sich nicht richtig konzentrieren kann: »Welches emotionale Beziehungsangebot muss ich anbieten, damit das Kind innerlich zur Ruhe kommen und sich auf ein Sachthema konzentrieren kann?«

Entsprechend wird kritisiert, dass man eine Teilleistungsstörung, ein Merkfähigkeitsdefizit oder Ähnliches als »monokausale Erklärung« in einer »Oberflächenstrukturdiagnostik« mit vielen Trugschlüssen in vermeintlicher Exaktheit diagnostiziere. Mit einer Vermischung von Beschreibung und Erklärung der Verhaltens- und Leistungsprobleme würde »gewagt simplifizierend« direkt auf Funktionsstörungen des Gehirns zurückgeführt.

Wird mit aktuellsten Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften auch bezüglich anderer Störungsbilder argumentiert, heißt es speziell von psychodynamisch oder systemisch denkenden Fachleuten, »man habe eben eine andere Sichtweise«. Es wird auch gefragt, warum man diese nicht »stehen lassen könne«. Hilfsweise wird dann auf einen »Schulenkrieg« der Psychotherapieansätze verwiesen.

Für Eltern von Kindern mit auch nur geringsten Schwierigkeiten wird es generell zunehmend problematisch, sich zu orientieren, da mittlerweile frühe Bildung und Schule an sich neu erfunden wird in systemisch-konstruktivistischer Richtung. Das bedeutet, dass man keinen Entwurf darüber vorlegen könne, wie Schüler und Lehrer miteinander lernen sollen. Es gehe darum, wie man lernen wolle. Lernen solle nicht zum Problem gemacht werden mit der Hypothese, dass das Erfinden neuer Lernwelten im Prozess des Redens und der Erarbeitung von Handlungsübereinkünften entstehe.

Konkret heißt das: Kinder sollen schon sehr früh (d. h. bereits im Kindergarten!) selbstständig, eigenständig, selbstmotiviert entdecken, forschen, sich in der Freiarbeit entscheiden und sich im Team und Gruppenprozess positiv einbringen. Kinder sind aber keine zu klein geratenen Erwachsenen.

Literaturempfehlungen:

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Will man sich mit »kritischen« Denkansätzen auseinandersetzen, sei auf das Buch von Ampft H, Gerspach M und Mattner D (2002) Kinder mit gestörter Aufmerksamkeit, Kohlhammer, verwiesen.

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Bezüglich der Entwicklungen im Bildungssystem verwirrt Reinhard Voß (Hrsg.) (2002) »Die Schule neu erfinden«, Luchterhand, und noch mehr »Die Entwicklung der frühen Jahre. Die Initiative McKinsey bildet. Zur frühkindlichen Bildung« als Dokumentation von Reinhard Kahl (2006) Beltz. (Wie sehr diese Ansätze greifen, zeigt die pädagogische Entwicklung in den letzten Jahren – nachhaltig).

Es verblüfft wirklich, was in der Resolution des Grundschulverbandes von 15. 11. 2014 zu lesen ist: »Leitideen wie Demokratisierung und Inklusion und wachsende berufliche Anforderung verlangen die volle Entfaltung der persönlichen Potenziale« (in: »Humane Schule« 40. Jahrgang, 12/2014, S. 17).