Lass mich, doch verlass mich nicht - Cordula Neuhaus - E-Book

Lass mich, doch verlass mich nicht E-Book

Cordula Neuhaus

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Beschreibung

»ADHS ist beinahe zu einer Art Leitsyndrom unserer Zeit geworden.« Psychologie heute »ADHS ist beinahe zu einer Art Leitsyndrom unserer Zeit geworden.« Psychologie heute Als Kinder nannte man sie »Zappelphilipp« oder »Träumer«; als Erwachsene leiden sie noch immer unter massiven Problemen, die auf ADHS, das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (mit und ohne Hyper-aktivität), zurückzuführen sind. Denn dass sich dieses Syndrom mit dem Erwachsenwerden nicht verliert, ist mittlerweile nachgewiesen. Cordula Neuhaus, eine der engagiertesten ADHS-Therapeutinnen Deutschlands, widmet sich erstmals einem der schmerzhaftesten Problembereiche von ADHS-Betroffenen: Partnerschaft und Beziehungen. Einfühlsam beschreibt sie, wie deren Impulsivität, Verspieltheit, Stimmungstiefs, Eifersucht und Chaos Beziehungen belasten und allzu oft zu Trennungen führen – ebenso wie der eigenwillige Umgang mit Nähe und Distanz: Sie sind leicht entflammt, fühlen sich jedoch ebenso leicht bedrängt oder abgelehnt. Dieses Buch gibt allen Betroffenen konkrete Hilfsmittel für eine entspanntere Kommunikation an die Hand und ermutigt zu einem fröhlichen »Dennoch«. Denn ADHS-Partnerschaften können gelingen – mit Geduld, Einfühlung und etwas, was ADHS-Betroffene von jeher auszeichnet: einer großen Portion Humor.

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Seitenzahl: 422

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Cordula Neuhaus

Lass mich, doch verlass mich nicht

ADHS und Partnerschaft

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2005© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-40448-8 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-34106-6Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de

Inhaltsübersicht

Vorwort: ADHS – Auf der Suche nach Hilfe?

Einleitung: Der zunehmende Erkenntnisgewinn – oder: »Bitte, die Hoffnung nicht aufgeben!«

Der derzeitige Wissensstand – ein Störungsbild im Wandel der Erkenntnis?

Es wird spannend!

ADHS – die Störung der ungebremsten Emotion?

Und was könnte das bedeuten?

Die Symptomatik von ADHS im Erwachsenenalter – ganz anders als bei Kindern?

Die Diagnostik von ADHS im Erwachsenenalter

Differenzialdiagnostik und Comorbiditäten

Irgendwann hat alles begonnen – oder: »Das Leben ist ungerecht!«

Kommunikationsmuster bei ADHS

Die Identitätsentwicklung bei ADHS – oder: »Lass mich, aber hilf mir trotzdem!«

ADHS und die Paarbeziehung – oder: »Es beginnt immer wieder neu …«

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

ADHS und Sexualität – wunderschön und sehr kompliziert

ADHS und das leidige Thema Eifersucht

Kleine Dramen entstehen aus typischen Symptomen

»Ordnungsprinzipien«

Falschparken und andere Autogeschichten

ADHS und Beruf

ADHS und die Gesundheit – alles ein bisschen anders?

Bewältigungsstrategien – oder: »Gehe ich jetzt gleich zum Psychiater oder trinke ich erst einmal eine Tasse Kaffee?«

Ordnung ist das halbe Leben?

Was habe ich meinen Eltern zu verdanken?

Wenn ich nicht meine Großmutter gehabt hätte

Und nun? – Voraussetzungen für den besseren Umgang mit sich und anderen

Zeitmanagement und Einstellungsänderungen

Der trickreiche Umgang mit »Zwischenbeschäftigungen«

Der Umgang mit dem lieben Geld

Aufschreiben und Selbstgespräch

Wenn es unerwartet schwierig wird – Hilfe durch Mikroanalysen

Techniken aus dem ADHS-Nähkästchen

Das Spiel mit dem Blick

Tipps für die Kommunikation und den Umgang mit dem Gefühlschaos

Leitsätze hinterfragen

Erwachsen werden und sein

In Ordnung, aber wenn mein Partner es nicht einsieht?

Und bei wirklich harter Auseinandersetzung?

Zauberformel Störungsbildverständnis

Medikation – ein leidiges Thema, aber oft so hilfreich

Und so kann es auch gehen – Zukunftsmusik?

Literatur

Vorwort

ADHS – Auf der Suche nach Hilfe?

»Die Schule interessierte mich nicht wirklich, dafür hatte ich häufig einen munteren Spruch auf Lager, was nicht jeden Lehrer freute.

Meine Schrift war angeblich grauenhaft, Hausaufgaben machte ich eher selten. Ich hatte auch immer irgendetwas vergessen und musste viel nachsitzen – nun, wie mein Sohn eben. Dass aus mir doch noch etwas geworden ist, verdanke ich vermutlich meiner Mutter und zwei Lehrern, ein paar glücklichen Zufällen und der Tatsache, dass ich einen Beruf ausüben kann, der mir wirklich Spaß macht. Und ich bin froh, dass man meinem Sohn jetzt schon helfen kann.«

Ein Erwachsener mit ADHS

Trotz des an sich erfreulich großen Bekanntheitsgrades des Störungsbilds und seiner Behandlung wird die derzeitige Diskussion über ADHS in der Presseberichterstattung, leider aber zum Teil auch in der fachlichen Auseinandersetzung seitens einiger Experten der Medizin, Psychotherapie und Pädagogik in immer schärferem Ton geführt – verwirrend selbst für Fachleute, die sich neu in das Thema einarbeiten wollen, und natürlich erheblich irritierend und verunsichernd für Betroffene.

»Man kann doch jetzt nicht alles mit ADHS erklären wollen!«

So äußerte sich auf typische Weise der Vater eines aus seiner Sicht lediglich »faulen« Jugendlichen, der nichts für die Schule tun »will«, aber stundenlang auf hohem Niveau Homepages am PC »bastelt«. Ähnlich reagieren skeptische Lehrer, Psychologen oder Ärzte angesichts der komplexen und vielschichtigen Problematik bei ADHS (auf jeder Altersstufe ähnlich und doch auch wieder ganz anders), der Fähigkeit beispielsweise, in manchen Situationen durchaus sehr gut »funktionieren« zu können, in anderen Situationen aber offensichtlich regelrecht unfähig zu sein, den eigenen Erwartungen oder denen anderer zu entsprechen.

»Ich bin es leid, es immer wieder erklären zu müssen!«

Dies ist die ebenso typische Äußerung einer Mutter zur Notwendigkeit, in jedem Schuljahr aufs Neue den Lehrern die störungsbildspezifischen Handikaps ihrer beiden Söhne erklären zu müssen. Die gleiche Aussage macht sie aber auch über die Gespräche, die sie mit Psychotherapeuten und Ärzten auf der Suche nach zielführender Hilfestellung für sich selbst geführt hat und die sie als frustrierend erlebte. Sie kommt nicht mit dem Argument zurecht, dass ja »an sich jeder einmal nervös oder launisch« sei und Konzentrationsprobleme habe.

Hilfen zur Selbsthilfe im »Kampf mit dem Chaos« und »zur Verbesserung der Konzentration« fruchten genauso wenig: So empfindet sie auch die zwölf Prinzipien der »Anonymen Messies« als nicht hilfreich, wenn es da zum Beispiel heißt: »Ich schulde es mir selbst, ein geordnetes Leben zu leben, weil Ordnung meine Selbstachtung fördert und Unordnung sie zerstört.« Regelpläne für ihre Kinder hat sie schon ausprobiert, To-do-Listen für sich selbst, und sie weiß mittlerweile gut, was sie tun soll: Sie soll »ihr Tempo verlangsamen«, »ihrer Neigung entgegenwirken, sich ablenken zu lassen« und »sich nicht zu sehr in Ordnung oder Unordnung, Kontrolle oder mangelnde Kontrolle, Hoffnung oder Verzweiflung hineinsteigern«.

»Schon am frühen Morgen ist es mir einfach zu viel!«

Das heißt für sie, dass sie sich schlecht motivieren kann – auch nicht mit einem Satz wie dem folgenden aus dem Zwölf-Schritte-Programm der »Anonymen Messies«: »Ich werde jeden Funken Begeisterung am Leben erhalten, um mich nicht durch den Haushalt, andere Menschen oder mein eigenes Zaudern des Herzens entmutigen zu lassen«–, wenn sie selbst morgens noch nicht richtig »angelaufen« ist, die Kinder schon streiten, Hektik entsteht, lauter Fragen beantwortet werden sollen, gerechte und überlegte Entscheidungen getroffen werden müssen, weil der eine Sohn sich bereits zu dieser Uhrzeit persönlich zurückgesetzt fühlt und der Meinung ist, dass der Bruder erst gestern als Erster im Badezimmer war…

Bereits Ende der 80er Jahre fragten mich immer häufiger Eltern während oder nach intensiven Elterntrainings-Wochenenden (mit Schwerpunktlegung vor allen Dingen auf das funktionelle Verstehen der Symptomatik), ob es denn eigentlich auch Erwachsene gebe, die sich, genau wie die Kinder, blitzartig von einer unerwarteten Situation überwältigt fühlten und damit zu kämpfen hätten, dann nicht sofort gereizt zu reagieren. Wie ihr Kind ertappten sie sich manchmal auch selbst bei einer vorschnellen Äußerung und machten unüberlegt ein Zugeständnis – das vom Kind dann gleich als ein Versprechen oder eine bestehende Regel interpretiert wurde und damit schwer wieder zu relativieren war. Sie übernahmen privat oder im Beruf Aufgaben, bei denen sie sich über die Langzeitkonsequenzen im Moment der Zusage gar nicht konkret »im Klaren« waren und erst hinterher bemerkten, »was sie davon hatten«…

Es sei so schwer, einen konsequenten Erziehungsstil durchzuhalten, selbst wenn man es wirklich wolle, und dabei gelassen und ruhig zu bleiben. Natürlich war in der Elternberatung, die im Rahmen der Kindertherapie stattfand, auch schon früher aufgefallen, dass der eine oder andere Elternteil selbst immer wieder dazwischenplatzte, heftig emotional überreagierte, immer das letzte Wort haben »musste«, blitzschnell von einer Problematik, die man selbst noch nicht vollständig geklärt wähnte, auf ein anderes Problem zu sprechen kam – oder trotz aller Bemühung seitens des Beraters irgendwie »vergessen« hatte, was man in der letzten Sitzung zusammen erarbeitet hatte…

Damals war der Fokus meiner Aufmerksamkeit (und der vieler anderer erfahrener Behandler auch) jedoch darauf gerichtet, überhaupt erst einmal Verständnis bei den Eltern und Lehrern für das »andere« Funktionieren der Kinder und Jugendlichen zu erringen. Es ging darum, in einer Zeit, in der in deutschen Schulen immer früher selbstständiges, eigenmotiviertes Lernen im Team gefordert wurde, für Akzeptanz von ADHS zu werben.

Als Therapeut beziehungsweise Therapeutin war man damit beschäftigt, den Eltern im Umgang mit den Kindern aufzuzeigen, dass durch Schimpfen, Kritisieren und Strafandrohungen nicht nur Abwehr ausgelöst wird, sondern die Kinder regelrecht »blockiert« werden: Ihre Stimmung fällt sofort ab, und zeitgleich die Fähigkeit, sich zu aktivieren, was leider »bockig« wirkt. Des Weiteren musste man erläutern, dass auch Ignorieren oder Nachgiebigkeit kontraproduktiv wirken, mit der unmittelbaren Folge vermehrten Forderns und gesteigerter Aggressivität. Wir hatten die Hoffnung – und waren dabei wohl selbst ein bisschen »blind und taub«–, dass durch Erklärungen und Hilfestellungen zur Einstellungsänderung (wie mit dem Vorstellungsbild des Bären Balou für Ruhe und Gelassenheit, vgl. Neuhaus 1996) Eltern dazu bewegt werden könnten, für die Kinder einschätzbarer zu werden und einen liebevoll-stur-konsequent-gleichmäßigen Umgang mit ihnen zu entwickeln.

Zur Erleichterung boten wir Regelpläne an, mit deren Hilfe die Routinen mit den Kindern gut eingeübt werden konnten – prinzipiell. Verstärkt wurden sie durch Belohnungspunkte, die regelmäßig direkt nach Erfüllung der Aufgabe und über einige Monate hinweg gegeben werden sollten, bis sich die Abläufe »verautomatisiert« hatten. In vielen Fällen klappte das ganz gut, bisweilen nicht – aber nicht nur, weil die Kinder »den Aufstand« probten, sondern weil die Erwachsenen einfach vergaßen, die Regeln wirklich täglich im freundlichen Ton gleichmäßig einzufordern sowie zeitnah unaufgeregt die Bilanz über Erfüllung und Nichterfüllung zu ziehen. Oft wurde es für einen Elternteil »auf Dauer« sichtlich »zu anstrengend«, dies durchzuführen. Manchmal wurde es auch nicht durchgehalten, weil andere gewichtige Fachleute meinten, man dürfe Kinder doch nicht so »gängeln«.

Bei der rasanten Zunahme von Daten, die jedes Individuum im Rahmen der Hochtechnologieentwicklung der beginnenden 90er Jahre zu verarbeiten hatte, ergänzt durch vielfältige Umstrukturierungen der Arbeitsplätze, Leanmanagement, Benchmarking, Qualitätssicherung etc., schilderten Eltern zunehmend spontan auch bei sich selbst Vergesslichkeit und Überforderung sowie deren zum Teil gravierende Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, die Effektivität im Beruf und leider auch auf die Partnerschaft – von anderen oft sehr deutlich registriert und benannt! Die Entwicklungsgeschichten und oft sogar die Verhaltensbeobachtungen in der nun immer häufiger eingeforderten Erwachsenendiagnostik ähnelten sehr denen der Kinder: Erwachsene werteten sich beispielsweise im Intelligenztest genauso spontan ab wie sie: »Oje, in Mathe war ich immer eine Niete, das kann ich ganz sicher nicht!« etc.

1988 baten mich erstmals einige sehr engagierte, deutlich selbst betroffene Elternteile um die Gründung einer Erwachsenengruppe: Sie wollten sich selber besser verstehen lernen und abgleichen können, wie es anderen Betroffenen geht. Sie äußerten die Hoffnung auf ganz gezielte Hilfestellung – vor allen Dingen für das Zusammenleben mit denen, die sie liebten, mit denen sie aber immer wieder nicht klarkamen: Partner und Kinder. Sie verstanden sie oft nicht und fühlten sich umgekehrt von ihnen nicht richtig verstanden.

Je größer die Erfahrung mit Betroffenen wurde, desto mehr zeigte sich, dass sich nicht nur Kinder und Jugendliche mit ADHS regelrecht gegenseitig anzuziehen schienen – mit Ausleben bisweilen regelrechter »Hass-Lieben«. Bei genauerer Betrachtung in den letzten Jahren erwies sich außerdem, dass offensichtlich Menschen mit ADHS auch bei der Partnerwahl überzufällig häufig »unter sich bleiben«, wobei sich die Partner unterschiedlichen, zum Teil auch nur diskreten Ausprägungsformen zuordnen ließen, was zunächst nicht so leicht erkennbar war.

Die ersten öffentlichen Äußerungen darüber riefen heftigen Widerstand hervor: »Sie sieht überall nur noch ADHS!« Inzwischen berichten Krause und Krause 2003 in ihrem klaren Lehrbuch über Erwachsene mit ADHS, es bestehe eine außerordentlich große Wahrscheinlichkeit, dass ADHS genetisch verursacht werde. Sie schreiben: »Hochwahrscheinlich wird eine ADHS beim Kind dann, wenn beide Eltern deutlich betroffen sind.« Der aktuelle Stand der Forschung belegt dies nun immer mehr (Barkley 2004).

Auswirkungen dieser konstitutionell bedingten Neurodynamik bei ADHS (die zu einer spezifischen Regulierungsdynamik führt und damit dann zu einer ganz spezifischen Psycho- und Funktionsdynamik) erweisen sich immer sicherer auch für das Erwachsenenalter als »Hochrisiko« nicht nur für die eigene Entwicklung, sondern speziell auch für die Beziehungsgestaltung – und dies trotz aller positiven Aspekte, die der Wahrnehmungsstil von ADHS ja auch in sich birgt, wie die oft verblüffende Kreativität, die Beharrlichkeit bei großem Interesse, die häufig zu erstaunlichen Erfolgen führt, die nicht selten als einzigartig empfundene Hilfsbereitschaft, der ausgeprägte Gerechtigkeitssinn und vieles mehr.

Fast entlastend wirkte die Feststellung von Barkley 1996, dass die Ehezufriedenheit bei Erwachsenen mit ADHS deutlich niedriger sei als bei Nichtbetroffenen, die Trennungs- und Scheidungsrate dagegen deutlich höher! Denn auch in meiner eigenen gutachterlichen Tätigkeit für Familiengerichte sah ich mich in hochstrittigen Sorgerechts- und Umgangsrechtsverfahren immer wieder mit ganz typischen und mir sehr vertrauten Kommunikationsmustern konfrontiert. Die Auswirkungen auf die Bindungs- und Beziehungsentwicklung von Kindern in diesem Zusammenhang wurde bereits ausführlich dargestellt (vgl. Neuhaus 2003).

Eine merkwürdige Form der Selbsterfahrung (und der Validierung, das heißt der generalisierbaren Gültigkeit) machte ich auf einem Kongress der Selbsthilfegruppe AÜK in Hannover 1993 bei der Schilderung der Symptomatik Erwachsener mit ADHS durch: Von Betroffenen, die ich noch nie gesehen hatte, kam ungewöhnlich viel bestätigendes Feedback. Bei einem Referat über die Probleme bei ADHS in der Paarbeziehung auf dem Kongress in Bad Boll 1999 musste ich fast erschrocken registrieren, dass es plötzlich mucksmäuschenstill geworden war und viele Zuhörer zu Taschentüchern griffen. Ähnlich irritierte die heftige, bestätigende emotionale Reaktion anlässlich eines Vortrags über Frauen mit ADHS und ihre speziellen Probleme in Koblenz 2000.Dennoch kribbelte es im Dezember 1999 recht unangenehm in meinem Bauch, als Dr.Altherr und ich bei einer ersten Fachfortbildung über ADHS im Erwachsenenalter in einer Fachklinik für Psychosomatik über das Ansinnen berichteten, die Diagnose ADHS auch bei Erwachsenen stellen zu wollen. Wie erwartet, wurde sehr skeptisch, teilweise mit Zurechtweisung reagiert: »Die Symptomatik klingt doch typisch emotional-instabil!« oder »Das hört sich doch an wie bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung!« Die Realität der Folgen von ADHS im Alltag ist jedoch gewaltig. Prägnant hatte in den USA ja Paul Wender schon 1995 formuliert: »ADHD (amerikanische Bezeichnung für ADHS) ist wahrscheinlich die am meisten nicht diagnostizierte chronische, psychiatrische Erkrankung der Erwachsenen.«

Ermutigt durch amerikanische Kollegen – vor allen Dingen Edna Copeland und Steven Copps–, aber auch durch Eltern, Supervisanden und viele inzwischen erwachsene, »ehemalige« Patientenkinder (die zum Teil auch schon eigene Kinder haben), die mir Dinge sagten wie: »Es ist vor allen Dingen so gut, dass man weiß, was es ist!«, bis hin zu: »Seit wir im Elterntraining Ihre Schilderungen und Erklärungen zu Erwachsenen mit ADHS gehört haben, geht es uns auch in der Ehe viel besser!«, möchte ich aus der Erfahrung des Arbeitens und Lebens mit Betroffenen in den folgenden Ausführungen ergänzend zu bereits erschienenen Veröffentlichungen einen Mosaikstein des Verstehens und der Hilfestellung hinzufügen. Dabei ist es mir ein Anliegen, die immer »extreme Gefühlslage« bei ADHS mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung darzustellen und etwas Hilfestellung zu geben.

Dank gilt meiner Familie, meinen Mitarbeitern und Freunden, speziell meiner Mutter, Dr. med. Cornelia Seifert, die sich im hohen Alter noch bewundernswert mit dem Arbeitsschwerpunkt ihrer Tochter auch aus ihrer medizinischen Sicht und ihrer Lebenserfahrung auseinander setzt. Besonderer Dank gilt meinem äußerst kompetenten und belastbaren Sekretariatsteam mit Evi Abele, Ute Wulff, Bärbel Matt und Vreni Neuhaus, meinem Arzt und Coach Thomas Wirth und seiner Frau Moni sowie Sabine und Mike Townson für ihre liebevolle freundschaftliche Unterstützung in einer schwierigen und turbulenten Zeit, vor allem aber auch meiner Klientel der älteren Jugendlichen, der jungen und reifen Erwachsenen, von denen und mit denen ich buchstäblich täglich lernen darf, sowie, in memoriam, meinem Mann Eberhard.

Einleitung

Der zunehmende Erkenntnisgewinn –

oder: »Bitte, die Hoffnung nicht aufgeben!«

In einer gemeinsamen Erklärung, die internationale, mit ADHS als Schwerpunkt befasste Wissenschaftler im Januar 2002 (Barkley et al.) abgaben, wird eines besonders betont: Man könne die Tatsache kaum genügend hervorheben, dass die Vorstellung, es gebe ADHS nicht, einfach falsch sei. Diese Experten (nicht nur aus den USA, sondern auch aus Australien, Israel, England, Neuseeland, Schweden, Kanada, den Niederlanden und Norwegen) erläutern in dieser Erklärung vielmehr, dass ADHS »mit schwerwiegenden Defiziten in einer Aggregation von psychologischen Fähigkeiten verbunden ist und dass diese Defizite einen schwerwiegenden Schaden für die meisten Personen, die diese Störung haben, darstellen. Die aktuelle Erkenntnislage zeigt, dass Defizite in der Verhaltenssteuerung und Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit zentrale Bestandteile dieser Störung sind – das sind Fakten, die durch hunderte von Studien aufgezeigt werden.« (Barkley et al., S.2) Nach sehr deutlichen Ausführungen zur neurobiologischen Verursachung wird festgehalten: »ADHS ist keine gutartige Störung.« Und einmal mehr wird anhand von aktuellen Studien belegt, dass viele Betroffene die Schule vorzeitig abbrechen und »wenige oder überhaupt keine Freunde« haben (50 bis 70%). Auch die Risiken, beispielsweise antisozial zu entgleisen oder mehr Verkehrsunfälle zu haben, sind hinreichend belegt.

Im Oktober 2002 berichtete E.C.Ross, dass das US Federal Government’s Center for Disease Control and Prevention (CDC) die Elterninitiative CHADD als eine nationale offizielle Anlaufstelle benannt hat (und auch mit finanzieller Unterstützung versehen hat), da ADHS in den USA vom Staat nicht nur als eine valide Störung eingeschätzt wird, sondern auch als signifikant genug gilt, dass ausreichend Information darüber vorgehalten werden muss…

Eine aktuelle Übersichtsarbeit von Faraone et al. 2003 zeigte kürzlich auf, dass es keine überzeugenden Unterschiede gibt hinsichtlich der Prävalenz von ADHS in den USA und den meisten anderen Ländern oder Kulturen, aus denen Studien vorliegen (wobei gemahnt wird, dass eine verbesserte Symptombeschreibung zu einer verbesserten Messsicherheit und Vergleichbarkeit der diagnostischen Kategorien führen werde). Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass eine bessere Beachtung der Störung und der damit assoziierten Probleme sowie der Belastung für Individuum und Gesellschaft als wesentlich für die klinische Praxis angesehen werden.

Verwendet man zur Diagnose von ADHS die Kriterien des amerikanischen Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer Störungen (DSM IV), zeigen die Studien, dass es sich mit einer internationalen Prävalenz von 5 bis 9% um die häufigste kinderpsychiatrische Störung handelt (vgl. unter anderem Swanson et al. 1998). In diesem Manual gibt es den Hinweis darauf, dass ADHS beim Jugendlichen und beim Erwachsenen »teilremittiert« weiterhin bestehen kann – für genau beobachtende Fachleute und informierte Betroffene schon früher erkennbar, die sehr wohl registrieren, dass sich ADHS nicht »auswächst«…

1994 erschien in den USA das faszinierende Buch der Autoren Hallowell und Ratey über Erwachsene mit ADHS, das den Titel ›Driven to Distraction‹ trug (unter dem Titel ›Zwanghaft zerstreut‹ 1998 in Deutschland veröffentlicht). Aufgrund der großen Resonanz und vielen Fragen folgte im selben Jahr ein ebenso fesselnder Band derselben Autoren mit dem Titel ›Answers to Distraction‹.

Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland gestand zudem der eine oder andere Elternteil, bisweilen schon einmal von der Medikation des Kindes »genascht« zu haben, natürlich heimlich, mit mehr oder minder schlechtem Gewissen – oft aber verblüfft über die Wirkung. Insbesondere angesichts des häufigen Substanzmissbrauchs bei Erwachsenen mit ADHS werden inzwischen Überlegungen angestellt, inwieweit sich Erwachsene zur Linderung ihrer Symptome selbst »medizieren« – meist mit Nikotin oder »zum Abschalten« auch mit Alkohol… Dabei wussten in Deutschland manche Ärzte schon vor einigen Jahren, dass bei Konzentrationsstörungen und Merkschwierigkeiten »einer ganz spezifischen Art« (ohne sie zu benennen) zentralnervös stimulierende Medikamente wie Tradon® (Pemolin) oder Captagon® (Fenetyllin) in der Prüfungsvorbereitung gute Dienste taten…

Erste ausführliche Beschreibungen der »Residualform« von ADHS im Erwachsenenalter erschienen 1995 (P.Wender, K.Nadeau). Der Ratgeber ›Women with Attention Deficit Disorder‹ (1995) von Sari Solden (deutsch unter dem Titel ›Die Chaosprinzessin‹ 1999) beeindruckte viele. Anlässlich eines EU-Projekts mit dem Titel ›Knowing me, Knowing You‹ stellten 2002 in Stockholm Fachleute und Betroffene aus 14 europäischen Nationen ganz in Übereinstimmung mit der oben zitierten wissenschaftlichen Erklärung fest, dass in ihren Ländern ADHS mit seinen Folgen und Begleiterkrankungen eine deutliche Bedrohung auch für Erwachsene darstelle, da bei ihnen ebenfalls eine Gefahr sozialer Ausgrenzung bestehe.

Im selben Jahr erfolgte am Deutschen Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (klärend angesichts der steigenden Zahlen bezüglich der Diagnosestellung und der Methylphenidatverschreibung bei Kindern) eine zweite »Konsensus-Konferenz« über das Störungsbild, auf der das »Eckpunktepapier« erarbeitet wurde, das Sie im Internet nachlesen können (Pressemitteilung des BMGS vom 27.12.2002, siehe unter www.bmgesundheit.de). Ziel war eine Definition der wesentlichen Kriterien zur Diagnose und Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen in Zusammenarbeit der medizinischen, pädagogischen und therapeutischen Fachgruppen zu einer qualitätsgesicherten und bedarfsgerechten Versorgung mit wirkungsvoller Hilfe. Mittlerweile hat eine Expertenrunde die damals noch fehlenden Leitlinien zur Diagnostik und Therapie für das Erwachsenenalter formuliert, die in der Zeitschrift ›Nervenarzt‹ im Oktober 2003 unter dem Titel ›ADHS im Erwachsenenalter– Leitlinien auf der Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der DGPPN‹ veröffentlicht wurden (www.dgppn.de). Trotz immer mehr Publikationen, Seminaren und Symposien, unter anderem einem ersten »ADHS-Frauentag« in Olten/Schweiz im Mai 2003, nutzte ›Der Spiegel‹ das Sommerloch 2003 zu einer Titelstory mit der Headline: »Erfundene Krankheiten – wie die Medizin Gesunde für krank verkauft«. Systematisch, so wird darin festgestellt, erfänden Pharmafirmen und Ärzte neue Krankheiten, wie die »atypische, agitierte, larvierte Depression« (bekannt auch als »Sissi-Syndrom«), die soziale Phobie, die Internetsucht, die Hypercholesterinämie etc. – und natürlich ADHS.

Trotz Quellenbenennung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde aus dem Jahr 2002 bezüglich ADHS erklärt der Autor Jörg Blech lapidar, dass die Zahlen zur Häufigkeit einer Erkrankung bestenfalls auf Stichproben beruhten, die auf das ganze Volk hochgerechnet würden. Die Verbreitung einer solchen Krankheit sei auf beliebige Schätzungen zurückzuführen. Und so könne bekannt gemacht werden, dass das »Zappelphilippsyndrom« nicht nur bei deutschen Kindern grassiere, sondern auch zwei Millionen Erwachsene krankhaft hyperaktiv sein sollten – zur Freude der Pharmafirmen…

In einer Zeit, in der immer wieder neu über Einsparmöglichkeiten im Gesundheitssystem und in der Jugendhilfe nachgedacht wird, Eltern mit ihren Kindern nach wie vor lange Odysseen bis zur Diagnose und zielführenden Behandlung durchlaufen müssen, viele Erwachsene bisweilen langwierige und kostspielige Psychotherapien ohne ausreichenden Erfolg für die Verbesserung ihrer Lebenssituation machen und schließlich eine flächendeckende medizinische Versorgungsstruktur für ADHS fehlt, mutet ein solcher Beitrag merkwürdig und problematisch an, ebenso wie die Aussage eines süddeutschen anthroposophischen Heilpädagogen: »In 10Jahren ist ADHS weg vom Fenster.«

Nach wie vor scheint das »Allgemeinwissen« über ADHS bei Ansprechpartnern und Behörden, von denen sich Betroffene Hilfe erhoffen, in Deutschland – anders als in den USA – von Unkenntnis, Hilflosigkeit und Vorurteilen geprägt (Droll 1997 in Hallowell 1998). Elternselbsthilfeverbänden unterstellte man kürzlich sogar öffentlich »mafiöse« Strukturen, bescheinigte ihnen »zweifelhafte Allianzen« im »Kreuzzug« gegen Kritiker der medikamentösen Behandlung (ARTE-Themenabend ›Zappelphilipp und Co.‹, ausgestrahlt am 16.09.2003). Private Krankenversicherungen, so klagen die Eltern jedoch, wollen kein Kind beziehungsweise keinen Jugendlichen mit der Diagnose ADHS versichern. Ähnliches schildern Betroffene bei Anträgen auf Unfall-, Haftpflicht- und Berufsunfähigkeitsversicherungen. So scheint das Störungsbild doch offensichtlich auch in Deutschland als außerordentlich »valide« betrachtet zu werden…

Die Not ist groß.

»Ich wünsche mir sehr, diese ständige Angst vor Ablehnung durch andere zu verlieren, das ewige, hintergründig schlechte Gewissen, wenn ich einmal nach meinen eigenen Wünschen handle. Natürlich schäme ich mich auch wegen meiner Vergesslichkeit und meinem schlechten Erinnerungsvermögen. Oder verdränge ich nur?

Was kann ich tun, damit ich nicht so rasch wieder desinteressiert bin, nachdem ich mich kurz zuvor spontan für etwas begeistert habe? Warum beziehe ich alles, was andere kritisch äußern, sofort auf mich? Später stelle ich oft fest, dass ich gar nicht gemeint war…

Eigentlich will ich es ja allen recht machen, aber warum reagiere ich bei zu viel ›Druck‹ plötzlich wie ein Kleinkind? Oder gerate in Panik? Wie fühlen sich ›echte‹ Gefühle an? Ich wäre so gern ›normal‹, was auch immer das heißt!«

Die sehr bedrückt wirkende 42-Jährige versucht seit ihrer Kinderzeit nach dem Motto zu leben: »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!« Sie scheine aber immer jemanden zu brauchen, der sie »anschiebe« – aber nicht zu sehr, denn dann blockiere sie sofort. Sie wisse aber nicht, warum. Es falle ihr immer schwerer, aktiv auf andere zuzugehen. Selbst in einer »anfallsartigen Ausmistaktion« könne sie sich nicht von den vielen Dingen trennen, die sie aufhebe. Sie könne sich nicht erklären, warum sie so an Gegenständen hänge, und ebenso wenig, wieso sie fast zwanghaft perfektionistisch ihr Bad putze, aber einfach nicht in der Lage sei, ihre Wohnung gleichmäßig in Ordnung zu halten.

Weder gutes Zureden lieber Mitmenschen noch eine Kur – medizinisch dringlich erachtet aufgrund von »chronischer nervöser Erschöpfung«–, weder eine psychotherapeutische noch eine medikamentöse Therapie – nach der Diagnose »Depression« – hätten geholfen. Über ein Kind im Bekanntenkreis, das mit ADHS diagnostiziert wurde (die Hinweise darauf waren rasche und heftige Stimmungswechsel, Trödeln bei ungeliebten Tätigkeiten, »chronische« Schlampigkeit und eine zunehmende Außenseiterposition in der Schule), sei sie schließlich darauf gestoßen, was ihr selbst fehlen könne.

Sie kann nun überhaupt nicht verstehen, warum man vielerorts noch diskutiert, ob ADHS eine »Mode-Diagnose« sei oder, was sie am schlimmsten findet, »eine Wunschkrankheit, mit der alles salonfähig werde, was schiefzulaufen drohe«. Sie hat sich selbst zunächst sehr skeptisch mit der Diagnose ADHS auseinander gesetzt, ebenso wie mit dem Vorschlag einer medikamentösen Therapie, die parallel zu einer erneuten Psychotherapie erfolgen sollte. Dennoch wird sie ärgerlich über das, was sie »auch noch im Internet gefunden hat«, ebenso über einen Artikel in der FAZ vom 30.7.2003 mit dem Titel »Superhirne – der neue Kult: Mit Arzneien den Verstand puschen«, in dem es unter anderem heißt, dass Ritalin® längst nicht mehr nur von Kindern mit ADHS genommen werde, sondern auch »von gesunden Menschen, deren schulische oder berufliche Leistung nicht mehr den Erwartungen ihres Umfelds oder ihren eigenen Vorstellungen entsprechen«.

Angesichts ihres eigenen, ständigen emotionalen »Achterbahnfahrens« erscheint es ihr als regelrecht zynisch und kaum erträglich, lesen zu müssen, Menschen würden diese Medikamente nur nehmen, damit ihnen die Arbeit leichterfalle, diese ihnen dann mehr Erfolg beschere und als Konsequenz »der Drang, sich einer neuen Herausforderung zu stellen, kleiner würde, und die Unzufriedenheit als Triebfeder für neue Entwicklungen wegfiele«.

Viele Erwachsene haben die Erfahrung machen müssen, dass bei einer Schilderung ihrer Probleme, die mitunter recht heftig ausfallen und mit »psychiatrischer« Begrifflichkeit unterlegt sein können, meist relativ schnell eine »Diagnosenschublade« aufgezogen wird: »depressive Erkrankung«, »Angsterkrankung«, »Persönlichkeitsstörung« (besonders bei Frauen des Borderline-Typus), »bipolare Störung« oder, vor allen Dingen bei einem jungen Erwachsenen mit massiven Gefühlsabstürzen (zum Beispiel infolge von außergewöhnlich stark erlebten Enttäuschungen in Liebesbeziehungen), »Vorstufe zur Psychose«.

Diese gängigen und anerkannten Diagnosen stehen entsprechend auch im Vordergrund eines aktuellen Lehrbuchs über die ›Neurobiologie in der Psychotherapie‹ (Schipek 2003), in dem der Begriff ADHS nur ein einziges Mal auftaucht (nicht auffindbar übrigens im Stichwortverzeichnis) und nur im Zusammenhang mit der medikamentösen Behandlung – ausgerechnet in einem Artikel, der in Koautorenschaft von einem »in der ADHS-Szene« sehr bekannten (leider in einem negativen Sinne) Neurobiologen verfasst wurde.

Schwierig erscheint die Situation derzeit oft nicht nur für Hilfe suchende Patienten, sondern auch für Fachleute. Prof. Thomas Brown nannte als Ursache dafür in einem Vortrag in Zürich 2002, dass »wir uns hinsichtlich der Verursachung psychischer Störungen derzeit in einem Paradigmenwechsel befinden«. 2003 schreibt Antonio R.Damasio, der berühmte Professor für Neurologie, angesichts der Fortschritte der Emotionsforschung: »Im Laufe der nächsten 20Jahre, vielleicht schon früher, wird die Neurobiologie der Emotionen und Gefühle der Biomedizin ermöglichen, wirksame Behandlungsmethoden für Leid und Depression zu entwickeln.« Er prophezeit, dass neue Behandlungsmethoden die Psychiatrie vollkommen umkrempeln werden und die bisherigen Therapieformen »uns dann so roh und archaisch erscheinen (werden), wie heute die Chirurgie ohne Anästhesie«.

Hilfe Suchenden erscheint die Abwehr von vielen Behandlern in der Psychotherapie unverständlich. ADHS mit der altersspezifischen Symptomveränderung ist ja nicht nur bei der Bewältigung von Alltagsroutinen und »Entwicklungsaufgaben« hinderlich, sondern führt oft zu traumatischen »Übergriffen« durch Mitmenschen, zum Teil schon seit frühster Kinderzeit, das heißt durch Eltern, Verwandte, Nachbarn, Erzieher, Lehrer oder Gleichaltrige. Verständnislose, kränkende und verletzende Einwirkungen führen zur Verschärfung der leider fast immer schon sehr früh entstehenden, hintergründigen Verlust- und/oder Existenzängste. Alternativ kommt es zur Entwicklung von Angst vor Kontrollverlust, wenn jemand, als Folge seiner Erziehung oder motiviert durch ein Vorbild, versucht hat, sich mit Willen und Verstand zu disziplinieren; er kann zum Teil beachtlich anmutende Leistungen in beruflicher oder sozialer Hinsicht erbringen und erscheint seiner Umgebung als ein Mensch, der gut ausgestattet ist mit »Power«, Stärke und Souveränität… Wie hart dies jedoch erkauft und wie groß oft das hintergründige Leiden ist (ohne dass der Betroffene jemals von sich aus Hilfe in Anspruch genommen hat), ist viel zu wenig bekannt und akzeptiert. Möglicherweise werden bisher ohnehin nur die schwersten und damit zumeist auch comorbiden Fälle gesehen beziehungsweise akzeptiert.

»Es bedeutet keine Hilfe für Menschen mit ADHS, Literaturverzeichnisse angeboten zu bekommen, in denen die Wissenschaftlichkeit ihrer Diagnose bestätigt wird. Das Thema wird behandelt, aber wo sind die griffigen Formulierungen darüber, was zu tun ist? Keine Buchveröffentlichung, kein Seminar und keine Kongressaktivität hat noch einen Sinn, wenn nicht endlich ›Tools‹ entwickelt werden, die Betroffene aus der Sackgasse herausführen. Und zwar Tools, die man handhaben kann! Und diese bitte auch für Erwachsene, vor allem für Ehepaare!«

Ein Vater, selbst betroffen, Ehemann einer »Chaosprinzessin« mit zwei heranwachsenden Töchtern

Diese griffigen »Tools«, diese Werkzeuge, die schnell und sicher »Abhilfe« schaffen sollen – sowohl der mangelnden Lust zu lernen, der Tendenz, sich so schnell zurückgesetzt zu fühlen, oder der schnell »hochkochenden« Wut oder Verzweiflung–, gibt es (noch) nicht, zumindest nicht in der gewünschten Form. Lynn Weiß erörterte bereits 1992, dass man sich die Frage stellen müsse, ob es überhaupt Sinn macht, wirklich eine »Abhilfe« schaffen zu wollen, zumal eine »Gleichschaltung« mit Nichtbetroffenen wohl sicher nie möglich sein wird, auch nicht mithilfe von Trainingsmanualen und/oder Medikation.

Vielmehr wird sich bei Betroffenen selbst und natürlich auch in der Fachwelt die Erkenntnis etablieren müssen, dass ADHS ein sehr »spezieller« Wahrnehmungs- und Reaktionsstil ist – mit unterschiedlichsten Ausprägungsgraden, mit und ohne Begleiterkrankungen und Folgestörungen–, der sich unter anderem auf das Lernen, auf das Verhalten und damit auch auf die Beziehungsgestaltung auswirkt. ADHS erweist sich dabei vor allem deutlich geprägt von einer immer ganz schnell extremen Gefühlslage: von Verletzlichkeit zum Beispiel im Sinne einer Unfähigkeit, Gefühle angemessen kontrollieren zu können; eine solche Verletzlichkeit ist aber ganz sicher nicht primär eine »emotionale Störung«, die aus schlechten Beziehungs- und Erziehungsbedingungen entstanden ist, sondern sie wird bei der biologischen Disposition im Laufe der Lebensentwicklung durch entsprechend günstige oder weniger günstige Umfeldeinflüsse verbessert oder verschlechtert.

Der derzeitige Wissensstand –

ein Störungsbild im Wandel der Erkenntnis?

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, wie in Anlehnung an die amerikanische Bezeichnung nun zunehmend auch der deutsche Fachbegriff lautet, ist ein eigenständiges, anerkanntes Störungsbild mit klar definierten Leitlinien zur Diagnose beziehungsweise Therapie im Kindes- und Jugendalter, formuliert durch die Fachgesellschaften der Kinder- und Jugendpsychiater sowie der Kinder- und Jugendärzte. Erfreulich ist, dass »Überschneidungen« mit anderen psychischen Krankheitsbildern mittlerweile deutlicher erkannt werden, statt dass man (wie noch vor wenigen Jahren) vor allem sorgfältig darauf achtet, was davon abzugrenzen ist – in der Meinung, die motorische Unruhe sei das Hauptproblem.

Als hinreichend belegt werden inzwischen Hinweise gesehen, dass »ADS/ADHS nicht nur mit genetischen Veränderungen, sondern auch mit strukturellen und funktionellen Gehirnanomalien und neuropsychologischen Auffälligkeiten assoziiert ist« (Rothenberger et al. 2003). Schon lange werden Störungen der Neurotransmitter/Neuromodulatoren Dopamin und Noradrenalin als verantwortlich für die Ausprägung von ADHS angenommen.

Die Stoffwechselversorgung und Funktion des Stirnhirns erscheint abweichend im Vergleich zu Nichtbetroffenen (vgl. Krause und Krause 2003 zu weiteren Befunden der veränderten Stoffwechsellage), eine vermehrte Durchblutung des motorischen Kortex wurde gefunden, und neurophysiologische Befunde weisen darauf hin, dass der cinguläre Kortex im Vergleich zu Gesunden nur mangelhaft aktiviert ist. Der cinguläre Kortex koordiniert offenbar das komplexe System von Aufmerksamkeit, Emotion und Motivation und ist im vorderen Teil unter anderem für das Setzen von Prioritäten, die Aufmerksamkeitslenkung und das Ergreifen von Initiative verantwortlich. Dieser Teil des Gehirns bekommt vom Mandelkern, der Reize von allen Sinnesorganen erhält, eine vorbewusste sofortige Wertung der emotionalen Bedeutung einer Information. Der Mandelkern wird bei ADHS, Angststörungen, Panikattacken und posttraumatischer Belastungsstörung als hypersensibel eingeschätzt (vgl. Ratey 2001).

Besonders interessant sind Untersuchungen der Funktion der bei ADHS suboptimal genutzten Netzwerke im »vorderen Aufmerksamkeitssystem« mit den eingeschränkten »exekutiven Funktionen«, die zum Beispiel mit dem verbalen und nonverbalen Arbeitsgedächtnis nicht nur unmittelbar wichtige Daten und Ideen eine Weile quasi »online« halten sollen, sondern auch die Steuerung der Kodierung im Altspeicherkoordinator (Hippocampus) und anderen Teilen der Hirnrinde für entsprechende Langzeitspeicherung übernehmen müssen.

Ebenso muss im Arbeitsspeicher der entsprechende Gedächtnisabruf gesteuert, organisiert und strukturiert werden. Dazu gehört beispielsweise die Fähigkeit, nach Analyse einer Textaufgabe diese unter Einbeziehung von Rechenregeln »im Kopf« wieder zusammenzusetzen. Menschen ohne ADHS gelingt dies. Betroffene haben bei komplexeren Aufgaben im Erwachsenenalter auch bei guter Begabung Schwierigkeiten, wenn sie nicht Zettel und Bleistift als »externe Speicherhilfe« nutzen dürfen, weil sie in der Mitte der Aufgabe schon wieder »vergessen« haben, was sie am Anfang gerechnet haben.

Die bei ADHS typische eingeschränkte Steuerungsfähigkeit des Gehirns, die bewirkt, dass man nicht wie andere Menschen quasi automatisch planvoll Handlungsabfolgen koordinieren kann, dass man nicht in der Lage ist, beim Problemlösen »abgewogen und überlegt« zu entscheiden, unwichtige Reize (auch »innerer Herkunft«, wie beispielsweise eine plötzliche Besorgnis oder eine »ganz andere Idee«) auszublenden sowie unangemessene Verhaltensweisen hemmen zu können, lässt tatsächlich eine »cerebrale Dysfunktion« vermuten. Man geht inzwischen davon aus, dass Menschen mit ADHS andere Vernetzungen im Gehirn als Menschen ohne ADHS entwickeln.

Bei unbeeinträchtigten Funktionen entwickelt sich ganz von allein ein »Gefühl für Zeit« und damit auch die Fähigkeit, Zeit abschätzen zu können – sowohl durch den ständigen inneren Vergleich mit Alterfahrungen als auch durch integrierendes Verarbeiten von Einzelheiten–, leider aber nicht bei ADHS (an der Universität in Sydney wird derzeit die »Time blindness« bei ADHS erforscht, das Leben im »Hier und Jetzt«, was für Menschen mit ADHS bedeutet: in der Krise).

Eltern beklagen bei Kindern und Jugendlichen, dass das Lernen aus »Einsicht« in der Form, dass jederzeit auf Akzeptiertes zurückgegriffen werden kann, nicht funktioniert, und dass »Rücksicht« und »Nachsicht« Fremdwörter zu bleiben scheinen… Ebenso wenig scheint es dem zum Stirnhirn gehörenden orbitofrontalen Kortex bei ADHS zu gelingen, Ablenkung oder auch die bei ADHS charakteristische Hyperfokussierung, die »Überkonzentration« zu verhindern und den Menschen beim Finden von Fehlern zu unterstützen – zur Verhinderung von Nachlässigkeit und zur »Verhaltensorganisation« (vgl. Ratey 2001), wie das einer ungestörten Stirnhirnfunktion entspricht.

Im »hinteren Aufmerksamkeitssystem« (nach Posner und Dehaene 1994) scheint bei ADHS in ganz besonderem Ausmaß die zur Aufmerksamkeitsleistung notwendige Aktivierung/Erregung und (motorische) Orientierung vom Belohnungs- und Neuartigkeitssystem im limbischen System gesteuert (die zentrale Schaltstelle für Emotionen, Gedächtnis, Lust und Lernen), wobei dem Nucleus accumbens, dem »Lustzentrum« des Gehirns, das mit dem Mandelkern in enger Verbindung steht, eine entscheidende Rolle bei der Beschaffung von Befriedigung und Motivation zugeordnet wird. Normalerweise hat der Nucleus accumbens die größten Dopaminvorräte. Nicht so bei ADHS.Ratey nennt ADHS ein Motivationsdefizit- oder Belohnungsdefizitsyndrom. Entsprechend versuchen viele Betroffene – zunächst sicher ohne Absicht–, mit stimulierenden Aktionen oder Substanzen die Dopaminzufuhr erfolgreich für den Körper zu steigern (zum Beispiel durch viel Bewegung oder auch durch Nikotin, Kaffee oder Schokolade). Offensichtlich ist eine solche Stimulation dringlich nötig, um an etwas Langweiliges oder Schwieriges heranzugehen und dranzubleiben!

Die »Spontaneität« beziehungsweise die Hyperaktivität scheinen vor allem ein Enthemmungsproblem zu sein; Betroffene befinden sich auf der ständigen, organisch bedingten Suche nach »unmittelbar Befriedigendem« (vgl. Ratey 2001). Bei Menschen mit ADHS und ihrer biologisch bedingten Reizoffenheit und Reizfilterschwäche reifen die sich normalerweise entwickelnden Fähigkeiten zur »automatischen Servoverhaltenskontrolle« sichtlich nicht heran: eine ausreichend stabile Frustrationstoleranz etwa ab dem 6.Lebensjahr, die Fähigkeit zur Selbstregulation (inklusive des Abschätzenkönnens von Konsequenzen und der Verhinderung des Aufschiebens von Aufgaben), die Fähigkeit zur Selbstüberwachung und entsprechender Selbstkontrolle impulsiver, spontaner Reaktionen.

Barkley beschreibt 1997 eindrücklich die Folgeprobleme einer eingeschränkten Fähigkeit, situationsangepasst und zielgerichtet zu reagieren beziehungsweise zu handeln, sowie der zu geringen Sensibilität für und Reaktionsfähigkeit auf Feedback (es sei denn, etwas ist subjektiv gravierendpositiv emotional besetzt – dann klappt das durchaus!). Menschen mit ADHS haben große Schwierigkeiten damit, nach einer Unterbrechung wieder zu einer Aufgabe zurückzufinden. Vor allem die mangelnde Verhaltensflexibilität (das heißt schnell abstoppen und sich umorientieren zu können) bedeutet für Betroffene, dass eine rechtzeitige und entsprechend angepasste Umstellung von einer Situation zur nächsten problematisch ist. Offensichtlich wird nur ein ausreichend starker und somit aktivierender Reiz erkannt; allein dieser kann zur motorischen Orientierung führen, den Fokus der Aufmerksamkeit verändern und dann eine Ausführungsreaktion bewirken.

Beschäftigt man sich »allgemein« mit der aktuellen Literatur der Neurowissenschaften, wie beispielsweise mit Untersuchungen zu den Stirnhirnfunktionen oder mit der Emotionsforschung, ist man jedoch immer wieder überrascht, dass ADHS meist nicht explizit behandelt wird (außer beispielsweise in dem oben zitierten Werk von Ratey 2001). In der neurobiologischen/neurophysiologischen Erforschung klinischer Störungsbilder (zum Beispiel mithilfe von bildgebenden Verfahren oder auf molekulargenetischem Wege) kommt zwar vieles Interessante und Erhellende über Störungen zutage, die häufig mit ADHS assoziiert sind, aber von den betreffenden Wissenschaftlern nicht in einen Zusammenhang mit ADHS gebracht werden. Nur ein Beispiel: In einer Übersicht über »biologische Korrelate zur Erklärung von Persönlichkeitsstörungen« des Clusters B mit histrionischer, narzisstischer, antisozialer und der Borderline-Persönlichkeitsstörung (Menschen, die als sehr dramatisch, emotional und launisch bezeichnet werden), erkennen Schneider et al. 2003, dass beispielsweise Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung Ähnlichkeiten mit Menschen aufweisen, welche Erkrankungen oder Verletzungsfolgen im Frontalhirn haben. Das weit verbreitete, derzeit häufig als allgemein gültig erachtete Konzept der »erfahrungsgesteuerten, neuronalen Plastizität« geht jedoch davon aus, dass »erste, das spätere Leben prägende Erfahrungen (in der Eltern-Kind-Beziehung) zu Veränderungen der physiologischen, metabolischen und chemischen Eigenschaften von Neuronen und ihren synaptischen Verbindungen führen« (Braun und Bogarts 2001). Gestützt durch einige wenige Befunde glaubt man, dass vor allen Dingen frühe Lernprozesse ausschlaggebend seien: Beispielsweise könnte eine »Traumatisierung« zu einer Unter- beziehungsweise Fehlfunktion von gefühlsregulierenden Strukturen des Gehirns führen, und es sei anzunehmen, dass biologische Faktoren nur einen modifizierenden Einfluss auf menschliches Verhalten hätten. Und es wird postuliert, dass auch im fortgeschrittenen Alter durch Lernen die Gehirnfunktion plastisch verändert werden könne, wenn nach Aktivierung solcher Strukturen in der Psychotherapie »emotionale Mechanismen mit einbezogen würden«.

In ihrer oben bereits zitierten »gemeinsamen Erklärung« stellen die internationalen Wissenschaftler jedoch sehr deutlich fest, dass die zentralen psychologischen Defizite bei Menschen mit ADHS durch zahlreiche Studien und mittels verschiedener wissenschaftlicher Methoden mit mehreren spezifischen Hirnregionen in Verbindung gebracht wurden – und es scheint sich zu bewahrheiten, was längst vermutet wurde: dass diese Gehirne tatsächlich etwas anders funktionieren, dass Signale von Betroffenen nicht so präzise erkannt werden wie von Nichtbetroffenen (es sei denn, sie sind subjektiv interessant) und dass viele neuronale Bahnen nicht so gezielt genutzt werden können. Wo auf der Welt auch immer ein Kind mit ADHS lebt: Wenn es etwas sieht oder hört, erfolgt eine sofortige Sinnerfassung und Bedeutungsstiftung nur, wenn es das Gesehene oder Gehörte – spontan emotional bewertet – interessant und wichtig findet. Wenn ja, wird Information regelrecht »aufgesogen« und ist auch erinnerbar – wenn nicht, wird Information nur teilweise aufgenommen und rasch wieder vergessen.

Der Wahrnehmungs- und Reaktionsstil bei ADHS (der fälschlicherweise jahrzehntelang als eine Kinderverhaltensstörung betrachtet wurde, die »sich auswächst«) wird natürlich nicht »normaler«, wenn enge Bezugspersonen im direkten Umfeld unangemessen, extrem oder unvorhersehbar für das Individuum und möglicherweise sogar abwertend reagieren (»invalidierend«, wie Linehan es 1996 benannte), wenn ein Kind nach ADHS-Art Gefühle äußert oder sich entsprechend verhält. Das heißt, das Kind wird oft nicht ausreichend stabil an entsprechende Normen und Werte herangeführt, zudem durch verständnisloses Maßregeln in seiner seelischen Entwicklung gravierend beeinträchtigt. Die Schlussfolgerung jedoch, dass vor allem dadurch ein Kind nicht lernen könne, seine emotionale Erregung zu benennen und zu kontrollieren, Belastungen auszuhalten, den eigenen kognitivemotionalen Reaktionen als gültiger Interpretation innerer und äußerer Ereignisse zu vertrauen (vgl. Renneberg et al. 2003) und somit Verhaltensmuster einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zur Regulation intensiver Emotionen zu entwickeln, erscheint bei Kindern mit ADHS nicht zulässig. Denn auch unter sehr günstigen Erziehungsbedingungen, in denen sie keinem chronischen Stress oder gar traumatischen Ereignissen oder Vernachlässigung ausgesetzt sind, haben sie beispielsweise beim Eintritt in die Schule damit zu kämpfen, dass sie nicht abwarten können, bis sie an der Reihe sind oder wenn ihnen etwas subjektiv wichtig erscheint, dass sie nicht verlieren können und aus geringstem Anlass wütend werden oder weinen.

Im Kriterienkatalog ICD 10 der Weltgesundheitsorganisation (erstmals veröffentlicht 1991) ist noch nachzulesen, dass man die Diagnose »HKS« (hyperkinetische Störung) nicht stellen darf, wenn die Symptomatik durch andere Störungsbilder besser zu erklären ist. »HKS« wird in diesem Katalog der Kategorie »Verhaltens- und emotionale Störung mit Beginn in Kindheit und Jugend« zugeordnet, zu der beispielsweise die Störung des Sozialverhaltens, Bindungsstörungen, Ticstörungen, Enuresis und Enkopresis oder Fütterstörung im frühen Kindesalter gehören (übrigens alles Auffälligkeiten, die mit ADHS im Kindesalter assoziiert sein können).

Inzwischen weisen die Leitlinien zur Diagnose und Therapie von ADHS aus, dass nicht nur differenzialdiagnostisch genau abgewogen werden muss, inwieweit Auffälligkeiten im Verhalten oder Symptome wie Ablenkbarkeit oder Verstimmtheit vielleicht besser durch ein anderes Krankheitsbild erklärt werden können, sondern dass vor allen Dingen darauf geachtet werden muss, welche Störungen zusammen mit ADHS (comorbid oder als Folgestörung) auftreten können. Die Palette der Störungen ist groß: von der Störung des Sozialverhaltens bis hin zur dissozialen Entgleisung, von der Intelligenzminderung in Form von Lernbehinderung bis hin zur geistigen Behinderung. Persönlichkeitsstörungen des Clusters B, atypische, agitierte depressive Episoden, Dysthymia (leichtere, ängstlich geprägte Depression) können sich entwickeln, ebenso Migräne. Desorganisierte und chaotische Familienverhältnisse entstehen möglicherweise, mit finanziellen Problemen, ehelichen Konflikten, dysfunktionalen Kommunikationsmustern, ungünstigem Erziehungsstil etc. Im Extremfall kann es zu Misshandlung oder massiver Vernachlässigung des Kindes kommen, bedingt beispielsweise durch die psychische Störung einer Bezugsperson, biopsychosoziale Belastungen und/oder den Genuss von neurotoxischen Substanzen (vor allem natürlich Alkoholmissbrauch) in der Umgebung des Kindes beziehungsweise des Jugendlichen. Für die Erwachsenen ergänzen Krause und Krause 2003 die bipolare Störung (manisch-depressive Erkrankung) sowie Angststörungen, Zwangsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, oppositionelles Verhalten und die antisoziale Persönlichkeitsstörung, Substanzmissbrauch, das Tourette-Syndrom sowie Teilleistungsstörungen.

Brown betonte 2002 in Zürich, dass etwa 70% der Betroffenen mit Lernstörungen zu kämpfen haben (eine Zahl, die aus der Perspektive der täglichen Therapiepraxis viel realistischer erscheint als die 20 bis 30%, die bisher in der derzeitigen Literatur zu ADHS angegeben werden).

Auch in Deutschland beobachtet man mittlerweile, dass ADHS im Kindesalter enorm »symptomstabil« im Entwicklungsverlauf ist. Die Kinder erscheinen hochsignifikant gefährdet, später in seelische Krisen zu geraten, finanzielle Probleme zu entwickeln und in der Partnerschaft unter erheblichen Schwierigkeiten zu leiden. Deutlich wird außerdem (wie dies auch immer mehr Ärzte und Psychologen äußern, die mit dem Störungsbild seit langem befasst sind), dass die derzeitig gültigen Kriterienkataloge DSM IV und ICD 10 »alte Beobachtungskataloge« zur Beschreibung »zappeliger, kleiner Grundschulbuben zwischen 6 und 12« darstellen, deren Verhalten lediglich von »außen« betrachtend. Die Zahlen der Erwachsenen, die noch heftig mit ihren Problemen in »Residualform« kämpfen, werden auf etwa 2 bis 6% der Bevölkerung geschätzt (Wender 1995).

Genaue epidemiologische Daten für Erwachsene mit ADHS werden ebenso dringlich gebraucht wie ein Profil der spezifischen Auffälligkeiten dieser Altersgruppe. Die Symptomatik an sich erscheint zwar tatsächlich grundsätzlich dieselbe zu sein wie die des von ADHS betroffenen Kindes, aber eben mit einer alterstypischen Ausformung. In ihrer Literaturdurchsicht bestreiten Goldstein und Gordon 2003 spezifische Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Betroffenen an sich und sehen dabei geschlechtsbezogene Unterschiede eher hinsichtlich des Zeitpunkts, zu dem die Störung mit klinischer Relevanz auftritt (also zum Beispiel die Entwicklung beeinträchtigt), und hinsichtlich des Subtyps (im Vorfeld der Kriterienüberarbeitung für das DSM V, das Symptomlisten für ADHS bei Kindern und Erwachsenen ausweisen soll).

In seinem »State of the Art«-Vortrag auf dem Internationalen Kinder- und Jugendpsychiatriekongress in Wien 2003 wies Prof. Steinhausen deutlich darauf hin, dass der Subtyp »hyperaktivimpulsiv« gemäß DSM IV 1994 »wohl auf dem Reißbrett entstanden sein müsse«. Es könnten höchstens Kinder in sehr jungem Alter gemeint sein, von denen man noch eine Aufmerksamkeitsleistung im eigentlichen Sinn nicht erwarte oder fordere.

Der vorwiegend »unaufmerksame Typus« wird offensichtlich wesentlich häufiger bei Mädchen und Frauen angetroffen, der so genannte »Mischtypus« (impulsiv-unaufmerksam-hyperaktiv) nach DSM IV häufiger bei Jungen und Männern.

Die ehemalig postulierte »Knabenwendigkeit« relativiert sich angesichts der Erkenntnisse aus der Diagnostik bei Jugendlichen und Erwachsenen bereits seit vielen Jahren (nach Brown 2002/2003 und Barkley 2004 sollte die Geschlechterverteilung realistischerweise mit 1:1 angesetzt werden).

Einigkeit besteht darüber (wie derzeit in den Kriterienkatalogen und natürlich auch in den Leitlinien gefordert), dass die Störung schon im frühen Kindesalter erkennbar sein muss, wobei aber viele Mädchen vor dem sechsten oder siebten Lebensjahr oft noch nicht so »spezifisch« auffallen, da sie noch kein störendes Verhalten an den Tag legen (vgl. unter anderem Krause und Krause 2003, Neuhaus 2003).

Natürlich ist nicht jede Lebhaftigkeit Hyperaktivität, nicht jede Schusseligkeit oder Vergesslichkeit eine »Aufmerksamkeitsstörung«, nicht jeder Temperamentsdurchbruch ein »Gefühlsabsturz« im Sinn von ADHS.Mit Recht wird darauf hingewiesen, dass in einer »Erklärungseuphorie« die Diagnose nicht zu einer Modediagnose verkommen darf.

Andererseits gibt es Betroffene, die, bedingt durch eigene Ressourcen oder günstige Umgebungsbedingungen (beispielsweise ein für sie besonders geeigneter Beruf), erst spät im Leben Probleme bekommen, gegebenenfalls auch erst beim Eintritt eines spezifischen Ereignisses, wie zum Beispiel bei gravierenden Veränderungen der Berufs- oder Lebensumstände, einem Arbeitsplatzwechsel oder der Geburt des eigenen Kindes. Mit ihren speziellen, vielleicht auch sehr eigenwillig entwickelten »Kompensationsstrategien« können sie nun den Anforderungen nicht mehr ausreichend gerecht werden.

Möglicherweise hatten diese Erwachsenen für das, was nicht so gut klappte, ihre eigenen Erklärungsmuster in petto wie:

»Ich bin halt ein bisschen chaotisch!«

»Ich lese, was nicht so furchtbar wichtig ist, eben diagonal.«

»Papierkram ist nicht mein Ding.«

»Wenn ich mal wieder ein bisschen ausraste, weiß meine Familie schon: raue Schale, weicher Kern!«

»Ja, ja, in meinem Auto ist es etwas unordentlich – aber wissen Sie, mein Auto ist ein Gebrauchsgegenstand, und ich brauche eben viele Utensilien, wenn ich unterwegs bin!«

»Wenn ich zügig Auto fahre, fahre ich einfach konzentrierter!«

Und solche Erklärungsansätze können manchmal nicht nur bestechend klar formuliert, sondern auch ausgesprochen fordernd sein:

»Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige!« (wenn der Betroffene gar nicht warten kann)

»Ich bin eben ein Bewegungstyp!« (wenn der Liegestuhl einem Marterpfahl ähnelt)

»Wer aufräumt, ist nur zu faul zum Suchen!«

»Ich lass dich doch immer deine Entscheidungen alleine treffen, doch wenn ich mir einmal von dir wünsche, dass…« (wenn die Zustimmung ein ansonsten kaum willentlich kompensiertes – und somit schwieriges – Abwägen ersetzt)

»Allgemein betrachtet« scheint jemand mit ADHS offensichtlich nur »nicht zu wollen«, wenn es zum Beispiel um unangenehme Routinen, Uninteressantes oder unerwartete Übergänge von einer Situation in die nächste geht. Im Laufe ihres Lebens erwerben dementsprechend viele Menschen mit ADHS mittels Erziehung, Modelllernen, aber oft auch durch bittere Erfahrungen alle möglichen Strategien, die durchaus sogar im Bereich einer psychiatrischen Comorbidität liegen können und ein Funktionieren ermöglichen, das bisweilen in anderer Hinsicht auffällig wird, zum Beispiel mit der Tendenz zur Überkontrolle, mit Perfektionismus oder gar Zwanghaftigkeit. Der erfahrene Praktiker, der interessierte und schon recht gut informierte Elternteil, der betroffene junge Erwachsene selbst oder der aufgeschlossene Lehrer erkennen, dass ADHS offensichtlich ein »Syndrom der Extreme« ist, bei dem es einfach keinen »Mittelweg« gibt, keine »Grauzonen« in der Wahrnehmung, im Denken und im Handeln – und vor allem nicht im Gefühlsbereich!

Von einigen erwachsenen Betroffenen erfolgte die Einschätzung, dass man als Mensch mit ADHS vermutlich einen digitalen Wahrnehmungs- und Reaktionsstil habe im Sinn von »alles oder nichts«, »an oder aus«, »heiß oder kalt«, »schwarz oder weiß«. Beim Aufnehmen von Informationen, beim Denken, Sprechen und Handeln wird oft der »Spontanidee des Gehirns«, das heißt der ersten Assoziation gefolgt, noch immer mit der Neigung, schnell und damit einseitig wahrzunehmen und zu bewerten. Menschen mit ADHS scheinen immer dem plötzlich einsetzenden Affekt ausgeliefert zu sein, der spontan einsetzenden Begeisterung, aber auch blitzartig entstehender Wut, heftiger Furcht, erheblichem Ärger, Ekel etc.

»Ich will eine Anti-Gefühlspille!«

Die 37-Jährige leidet unter ihren schnell heftig und extrem hochschießenden Stimmungslagen, die sie einfach nicht steuern kann, aus denen heraus sie »spontan« entscheidet, spricht und handelt. Hinterher ist sie mit den »Ergebnissen« oft mehr als unzufrieden.

Ebenso »syndromtypisch« funktioniert jemand mit ADHS in bestimmten Situationen (in der Regel) hervorragend, wenn es wirklich darauf ankommt, es sei denn, er ist schwer comorbid erkrankt. Auch bei Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (mit hintergründig bestehendem ADHS) beeindruckt zum Beispiel, dass sie oft für andere alles können, bloß nicht für sich selbst, was leider als »Scheinkompetenz« gewertet wird (Linehan 1996).

Bohus relativiert dies 2002 auf erfreuliche Weise, indem er erkennt, dass diese Patienten durchaus fähig sind, anderen gute Ratschläge für effektives Verhalten zu vermitteln. Sie scheinen durch ihre eigenen, für sie unkontrollierbaren emotionalen Reaktionen oder ihre quer einschießenden dysfunktionalen Gedanken selbst jedoch in der Umsetzung solcher Ratschläge zum Scheitern verurteilt.

Es wird spannend!

Stimmungsschwankungen, die blitzschnell auftauchen und sich auch sehr schnell wieder stabilisieren können, für die eventuell noch nicht einmal ein Auslöser benannt werden kann oder nur ein ganz geringfügiges Alltagsereignis, ein plötzlich auftauchender Gedanke mit negativ erlebter innerer Spannung vielleicht, beschäftigen als »großes Rätsel« viele Ärzte und Therapeuten. Speziell im Zusammenhang mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung wird beobachtet, dass Betroffene oft nur recht diffus Emotionen wahrnehmen und »erkennen« können. (Dies ist Eltern von Kindern mit ADHS nur zu geläufig…)

In Phasen der Verstimmtheit, die vielleicht einmal länger andauern, können sie nur äußern, dass sie sich eben »schlecht fühlen«. Sie haben beobachtbar keine entsprechenden innerpsychischen Regulationsmechanismen oder Verhaltensfertigkeiten, um ihre Emotion zu modulieren. Sie neigen dazu, gegebenenfalls schon bei geringer Anforderung oder Anspannung die Kontrolle über die Emotion zu verlieren (vor allem unter Substanzeinfluss). Impulsives und entsprechend risikoreiches Verhalten wird als Ablenkung von unangenehmen Gedanken interpretiert oder zum Erzielen eines positiven »Hochgefühls« wie Kontrolle, Stolz und Überlegenheit eingesetzt (vgl. Sipos und Schweiger 2003). Solche Patienten gehen nach Schilderung dieser Autoren »intensive zwischenmenschliche Beziehungen ein und empfinden gleichzeitig starke Angst davor, verlassen zu werden«. Durch den »dichotomen Bewertungsstil« (entweder jemand ist für mich oder gegen mich) könne es »bereits bei kleinen Enttäuschungen oder Konflikten zu einem abruptem Wechsel in der Bewertung der Beziehungspartner« kommen – ein alltägliches Erleben und Agieren von Menschen mit ADHS…

Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, so die Autoren, träfen eine »dysfunktionale Wahl« ihrer Partner, es ziehe sie zu »emotional instabilen« oder »zu aggressiven Verhaltensweisen« neigenden Persönlichkeiten (das kennen leider auch viele Menschen mit ADHS…). Und derartige Verhaltensweisen, so wird konstatiert, begünstigten »einen Zustand der Dauerkrise« mit zunehmend negativer Selbstsicht, wobei das Handeln auf »kurzfristige Vermeidung weiterer Stimmungsverschlechterung« ausgerichtet sei. Langfristige Anstrengungen, so wird vermutet, würden als nicht Erfolg versprechend bewertet, mangelhafte Fähigkeiten in der Problemlösung (weniger handlungs- als vielmehr lageorientiert) mit Rückschlägen und Frustrationen führten zur Aufgabe von Zielen – und um dies behandeln zu können, sei »ein Minimum von Handlungsorientierung und der Einsatz erheblicher psychischer Energie erforderlich«, um die Patienten zu »Experten in eigener Sache« werden zu lassen… Das könnte auch jeder unterschreiben, der deutlich von ADHS betroffen ist. Nur: So jemand würde wohl sehr kritisch nachfragen, was es ihm konkret bringen soll, dysfunktionale Gedankengänge immer und sofort in einen lerngeschichtlichen Zusammenhang zu stellen, oder wie er es »einfach so« schaffen soll, bezüglich der eigenen Verhaltensweisen, der eigenen Selbstachtung und im Kontakt mit anderen »mögliche störende Gedanken vorher zu erfassen und alternative Selbstinstruktionen zu erarbeiten«. Oder wie er Stressbewältigung mit Entspannungsübungen bewerkstelligen soll… Jemand mit ADHS muss sich zuvor erst einmal selbst »kennen lernen« (wenn er zum Beispiel comorbid an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet – aber es reicht auch, wenn er »nur« ADHS hat…). So wird er feststellen müssen, dass der Umgang mit Alltagsärger bei ihm zum Beispiel durch Autogenes Training ganz und gar nicht leichter wird. Und er könnte vielleicht erklären, warum manche Patienten Therapien abbrechen, die für sie unzureichend spezifiziert sind.