ADHS-Ratgeber für Erwachsene - Dieter Pütz - E-Book

ADHS-Ratgeber für Erwachsene E-Book

Dieter Pütz

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Beschreibung

Unkonzentriert, hektisch, schnell zu begeistern, desorganisiert und impulsiv sind nur einige Kennzeichen von Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Die Folgen sind häufig Probleme im beruflichen und sozialen Bereich. Der Ratgeber wendet sich an Erwachsene, die unter ADHS leiden, aber auch an Angehörige und Interessierte, die mehr über das Störungsbild erfahren möchten. Der Ratgeber informiert über die Entstehung und die neurobiologischen Grundlagen von ADHS und beschreibt das Vorgehen bei der Diagnostik. Weiterhin gibt er Auskunft über medikamentöse und psychotherapeutische Therapieangebote, deren Nutzen und Notwendigkeit und darüber, wer die Therapie bezahlt. Ausführlich wird ein Selbsthilfeprogramm zur Behandlung der Kernsymptome der ADHS vorgestellt. 52 Tipps bieten zudem vielfältige Anregungen zur Verbesserung der Selbstwahrnehmung und des Selbstmanagements und damit für einen problemloseren Alltag.

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ADHS-Ratgeber für Erwachsene

ADHS-Ratgeber

für Erwachsene

von

Dieter Pütz

Dr. med. Dieter Pütz, geb. 1947. 1974-1983 Studium der Medizin in Münster. 1983 bis 1986 Assistenzarzt für Neurologie im Klinikum Minden. 1986-1991 Assistenzarzt für Psychiatrie im Kreiskrankenhaus Lübbecke, dort auch Aufbau und Leitung der Institutsambulanz. 1991-1994 Ärztlicher Leiter der Fachklinik für Psychosomatik und Verhaltensmedizin in den Edertal Kliniken, MediClin, in Bad Wildungen. Seit 1994 Chefarzt der Deister Weser Kliniken, MediClin, in Bad Münder, Abteilung Psychosomatik. Nervenarzt, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Naturheilverfahren, Rehabilitationswesen und Sozialmedizin. Anerkannter Ausbilder und Supervisor für Verhaltenstherapie.

Für Barbara

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Illustrationen: Klaus Gehrmann, Boppard, http://www.klausgehrmann.net

Umschlagabbildung: © Corbis

Format: EPUB

Konvertierung: Brockhaus Commission

EBUP-ISBN: 978-3-8444-1944-3

Ein Leitfaden für diesen Ratgeber

Für wen wurde dieses Buch geschrieben? Zuallererst für alle diejenigen, die an einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden. Aber auch für deren Partner und Erwachsene, die zwar Symptome einer solcher Störung zeigen, aber dennoch kein ADHS haben.

Diejenigen Leser, die Interesse daran haben, mehr über sich zu erfahren oder vielleicht an einer anderen psychischen Gesundheitsstörung leiden, profitieren ebenfalls von den Anleitungen zur Selbsthilfe. Diese umfassen Wirkfaktoren, die auch im Rahmen einer Psychotherapie zum Tragen kommen und deren Verlust oder Mangel Menschen das Leben schwer machen. Das sind insbesondere Aufmerksamkeit, positive Verstärker, Selbstwirksamkeitserleben, Problemlösestrategien und soziale Kompetenz.

Aber auch Therapeuten finden die eine oder andere Anregung im Umgang mit erwachsenen ADHSlern und können sich über den aktuellen Wissensstand zu diesem Störungsbild informieren.

Sie können diesen Ratgeber so lesen, wie es Ihnen am ehesten entspricht. Blättern Sie ihn durch, fangen Sie bei den Tipps an, lesen Sie ihn von A bis Z, ganz wie Sie wollen. Im Kapitel 1 finden Sie Fallbeispiele und Hinweise zu geschlechtsspezifischen Unterschieden. Kapitel 2 und 3 informieren über die Vorstellungen zur Entstehung von ADHS und über die neuropsychologischen Grundlagen von ADHS. Kapitel 4 und 5 beschreiben die Diagnosekriterien von ADHS sowie die Differenzialdiagnose und gehen auf zusätzliche Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten ein. Screeningverfahren, Fragebögen und Tests werden im Kapitel 6 vorgestellt. Kapitel 7 und 8 informieren über die psychotherapeutische und medikamentöse Behandlung von ADHS. Kapitel 9 geht auf das Thema Nahrungsmittelallergien und ADHS ein. Kapitel 10 macht Sie vertraut mit einem Selbsthilfeprogramm zur Behandlung der Kernsymptome Ihrer Gesundheitsstörung und Kapitel 11 bietet Ihnen Tipps unter dem Motto „Mit 52 Tipps durch das Jahr mit ADHS!“

Am Ende des Ratgebers finden Sie das Literaturverzeichnis und Literaturempfehlungen, einige Webadressen, bei denen Sie weitere Informationen zum Thema finden können, Fragebögen und schließlich ein Glossar, in dem wichtige Fachbegriffe erklärt werden.

Und damit viel Spaß bei Ihrem Streifzug durch die Welt der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung des Erwachsenen!

Bad Münder, Herbst 2005

Dieter Pütz

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Struwwelpeter – Wie äußert sich ADHS?

1.1

Drei Fallbeispiele

1.2

Impulsivität, Gefühlsschwankungen, mangelnde Affektkontrolle und weitere Symptome

1.3

Frauen und Männer: Gibt es hier Unterschiede bei ADHS?

Kapitel 2: ADHS – Wie das Krankheitsbild entsteht

2.1

Vererbung und Neurobiologie

2.2

Dopamin-Hypothesen

2.3

Übertragungsvorgänge und Neurotransmitter

Kapitel 3: Mein Gehirn ist mir das zweitliebste Organ – Gedächtnis, Lernen und ADHS

3.1

Das Gehirn ist ein Feuerwerk von Schaltkreisen

3.2

Lernen und Erinnern

3.3

Das Arbeitsgedächtnis und seine Aufgaben

3.4

Manchmal vergisst das Gedächtnis etwas

Kapitel 4: Diagnosekriterien, die ADHS beschreiben können

4.1

Historisches zur ADHS-Diagnose

4.2

Kriterien nach der ICD-10

4.3

Kriterien nach dem DSM-IV

4.4

Die Wender-Utah-Kriterien

4.5

Ärztliche Leitlinien und deren Ziele bei ADHS

Kapitel 5: Die Frage der Differenzialdiagnose – Könnte außer ADHS auch eine andere Störung vorliegen?

5.1

Persönlichkeitsstörungen

5.2

Angststörungen

5.3

Substanzmissbrauch und Sucht

5.4

Affektive Erkrankungen: Depressionen

Kapitel 6: Feinarbeit ist gefragt – Diagnostik bei ADHS

6.1

Das Interview mit dem ADHS-Patienten

6.2

Helfen Tests bei der Diagnostik?

6.3

Screeningverfahren und Fragebögen

6.4

Testpsychologische Untersuchungen und deren Bedeutung für die Diagnose

Kapitel 7: Wie wird ADHS behandelt? – Die Therapie

7.1

Wann ist eine Therapie überhaupt erforderlich?

7.2

Multimodale Therapie

7.2.1

Was versteht man unter einer Psychotherapie?

7.2.2

Psychotherapie und Medikamente bei ADHS

7.2.3

Nichtmedikamentöse Behandlung

7.3

Warum ist eine Psychotherapie bei ADHS sinnvoll?

7.4

Verhaltenstherapie und ADHS

7.5

Die anderen wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren

7.6

Was sollten Sie vor einer Psychotherapie noch wissen?

7.7

Wie kommen Sie an eine Therapie und wer bezahlt sie?

7.8

Wie ist das mit einer stationären Behandlung?

Kapitel 8: Die medikamentöse Behandlung von ADHS

8.1

Methylphenidat

8.2

Amphetamin

8.3

Atomoxetin

Kapitel 9: Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten und ADHS

Kapitel 10: Jetzt helfe ich mir selber – Selbsthilfeprogramm und flankierende Maßnahmen

10.1

Flankierende Maßnahmen

10.2

Programmbausteine für die Kernsymptome der ADHS

10.2.1

Baustein 1: Aufmerksamkeitsstörung

10.2.2

Baustein 2: Motorische Hyperaktivität

10.2.3

Baustein 3: Achtsamkeit im Alltag

10.2.4

Baustein 4: Affektlabilität

10.2.5

Baustein 5: Desorganisiertes Verhalten

10.2.6

Baustein 6: Affektkontrolle und Impulsivität

10.2.7

Baustein 7: Emotionale Übererregbarkeit

10.3

Problemlösetraining

10.4

Veränderungen geschehen nicht nebenbei: Stadien der Änderung

10.5

Soziale Kompetenz

Kapitel 11: Weitere Anregungen für den täglichen Umgang mit ADHS – Mit 52 Tipps durch das Jahr

Anhang

Literaturverzeichnis und lesenswerte Bücher zum Thema ADHS

Informationen im Internet

Glossar

Fragebögen zum Selbsttest

Andere Bilder – andere Assoziationen:

Vermeintlich unsinniges Verhalten

offenbart subjektiven Sinn …

Einleitung

Unter dem Suchbegríff „ADD und Erwachsene“ listet die Suchmaschine gut 16.000 Hinweise auf. ADD (Attention Deficit Disorder, dt.: Aufmerksamkeitsdefizit-Störung ADS) ist die englischsprachige Kurzform eines außerordentlich umfassenden Symptombildes. Auch bekannt unter: Hyperkinetisches Syndrom (HKS), Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Minimal Cerebral Dysfunction (MCD), Psychoorganisches Syndrom (POS) oder „Zappelphilipp-Syndrom“.

Amazon.de nennt unter ADHS 45, ADS 156 und ADD 40 Titel von Büchern und Nachschlagewerken, Ratgebern und Themenbänden, was deutlich macht, wie sehr diese Gesundheitsstörung an Bedeutung gewonnen hat. Immer häufiger wird in diesen Büchern berichtet, wie schwer es die Betroffenen haben, dass sie verkannt werden, nicht anders können und immer neue Therapien werden ihnen in den Ratgebern angeboten. Angefangen von buddhistischen Weisheiten, über Psychotherapie, medikamentöse Behandlung und Außenseitermethoden wie z. B. bestimmte Diäten, bleibt ihnen und ihrer Umgebung wenig erspart. Oft sind diese Ratgeber von Betroffenen oder Elternteilen geschrieben, deren Kinder betroffen sind. Das macht sie nicht immer objektiv.

Ratgeber für Erwachsene orientieren sich überwiegend an den Inhalten, Tipps und Tricks, Behandlungsvorschlägen und Meinungen der Kinderratgeber. Eigenes fehlt fast völlig. Möglicherweise hängt das auch damit zusammen, dass es „reinrassige“ erwachsene ADHSler eher selten gibt. Sie segeln unter der Flagge Angst, Depression, Soziale Phobie, Sucht u.Ä., ihre Aufmerksamkeitsstörung ist nur eine Seite der Medaille und nicht einmal die bedrückendste, wie die Beispiele im Buch zeigen werden.

So richten sich die Therapieansätze – psychotherapeutischer oder medikamentöser Art – gegen die Spitze eines Eisbergs – in diesem Falle ADHS –, obwohl die Betroffenen mit ganz anderen Fragestellungen kommen. Häufig bleiben die Verhaltensauffälligkeiten, die in vielen Fällen den Charakter einer Persönlichkeitsstörung entwickelt haben, zwar nicht unbemerkt, aber sie werden als „ADHS-bedingt“ oder „Der Patient kann ja nicht anders“ oder „Ich kann nichts dafür, ich habe ADHS“ abgetan.

Es gibt auch zahlreiche Märchen und Mythen um ADHS, wie z. B.:

• Modediagnose

• Erfindung der Gesundheitskartelle

• Entschuldigung für überforderte Eltern

• Zeiterscheinung

• Folge der Medienkultur

• Ergebnis verfehlter Schulpolitik

• Folge der gestörten Gesellschaft

• Überforderung

• Pippi Langstrumpf bekäme heute Ritalin, Huckleberry Finn wäre dissozial

Das mag man bedauern, es bleibt dennoch eine Tatsache, die vielfach den Blick für das Leid und die Minderung der Lebensqualität verstellt, die die Betroffenen und ihre Umgebung erleben und erfahren.

Kapitel 1: Struwwelpeter – Wie äußert sich ADHS?

Von ADHS betroffene Menschen haben viel mit den Charakteren gemeinsam, die der Nervenarzt Heinrich Hofmann für seinen dreijährigen Sohn schuf und 1859 in der Figur des Struwwelpeters beschrieb. Hofmann umgab Struwwelpeter mit Kindern, die viele Symptome zeigten, die wir heute bei der Beschreibung des Störungsbildes finden:

• Da ist Struwwelpeter, abweisend, anders als die anderen schon im Auftreten;

• Friederich, „… das war ein arger Wüterich …“, impulsiv, böse, sadistisch;

• Paulinchen, neugierig, unvernünftig, selbstvergessen …:

„Da sah sie plötzlich vor sich stehn

Ein Feuerzeug, nett anzusehn.

„Ei“, sprach sie, „ei, wie schön und fein!

Das muss ein trefflich Spielzeug sein.

Ich zünde mir ein Hölzchen an,

Wie’s oft die Mutter hat getan.“

• Kaspar und Wilhelm, dissozial, feindselig, aggressiv lachen sie „ärger als zuvor über den armen schwarzen Mohr.“

• Der wilde Jägersmann, aufmerksamkeitsgestört, legt sich ins hohe Gras und weil er unaufmerksam ist, kommt der Hase „und nahm die Flint’ und auch die Brill’, und schlich davon ganz leis’ und still’. Der Jäger merkt nichts.

• Und Konrad, der Daumenlutscher? Allein zu Hause fehlt ihm die Aufgabe. Unfähig sich zu beschäftigen, lutscht er „Wupp! Den Daumen in den Mund“, um sich zu stimulieren, zu fühlen, abgelenkt zu sein.

• „Ich esse keine Suppe! Nein!

Ich esse meine Suppe nicht!

Nein, meine Suppe ess’ ich nicht.“

Essgestört und letztendlich tot ist er, Kasper, der interessanterweise auf allen Illustrationen herumhüpft, vielleicht auch hyperaktiv ist und einer der wenigen essgestörten männlichen Jugendlichen, die es zu Hofmanns Zeit gab.

• Hanns-Guck-in-die-Luft, stets mit dem Blick im Himmel, nach allem schauend, was da steht, geht und sich bewegt, abgelenkt und irritiert durch immer neue Abwechslungen, der Inbegriff des aufmerksamkeitsgestörten, verträumten Typen.

• Und Robert? Der fliegende Robert? Während alle bei Regen und Sturm hübsch daheim in den Stuben bleiben, denkt er, draußen müsse es herrlich sein. Wind und Regenschirm tragen ihn fort. „Wo der Wind sie hingetragen, Ja! Das weiß kein Mensch zu sagen.“ Er sucht den Nervenkitzel, ist der Adrenalinjunkie.

• Und Philipp, der Zappelphilipp, der der Störung den Namen gegeben hat, gauckelt und schaukelt, trappelt und zappelt, ist hyperaktiv.

Mit dieser umfassenden Beschreibung der Ausprägungen des Krankheitsbildes zeigt Hofmann bereits, dass sich hinter dem Begriff „ADHS“ kein einheitliches Krankheitsbild versteckt, sondern ein sehr vielfältig verflochtenes, durch große Veränderlichkeit gekennzeichnetes, das nicht einfach zu erfassen ist. Dass die Klassifikation im Erwachsenenalter nicht einfacher wird, sehen wir, wenn wir schauen, was Philipp mit zunehmendem Alter für Verhaltensweisen zeigt:

Fahrig, zerstreut, unkonzentriert, ungeduldig, hektisch, chaotisch, unorganisiert, nicht zu stoppen, dazwischenreden, schusselig, trödeln, nichts durchziehen, nicht dranbleiben, streitlustig, explosiv, Faden verlieren, Inhalte nicht merken, nichts erledigen, Berge vor sich herschieben, reizbar, frustriert, launisch, Stimmungsschwankungen, Tagträumer, geistig abwesend, schnell zu begeistern, kein Durchhaltevermögen, überempfindlich, Fettnäpfchentreter, unvernünftig.

Diese Vielfalt der Symptome und ihre Ausprägung, können zu vielgestaltigen, oft schwierigen Lebensläufen führen, wie die folgenden Beispiele zeigen.

1.1 Drei Fallbeispiele

Schauen wir uns Marion L., Herbert W. und Jochen D. einmal an. Sie haben alle ADHS.

Fallbeispiel: Marion L.

„Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben schon einmal wirklich glücklich war. Traurigkeit nagt an mir, solange ich denken kann. Habe ich nicht daran gedacht, gab es Momente, von denen man sagen könnte, es waren glückliche. Sobald ich beginne nachzudenken, sind die Gedanken aber wieder da. Und mit ihnen das schlechte Gefühl, das ich so hasse. Nein, ich habe nie versucht, mir etwas anzutun. Irgendwie ist es auch keine Verzweiflung, die mich quält, ich habe nur kein gutes Gefühl, was mich betrifft, was mein Leben betrifft und was die Zukunft angeht. Alles ist immer Kampf gewesen. Bisher habe ich gedacht, das muss so sein: Leben ist einfach so. Eine lange Folge von Enttäuschungen, Kampf, Quälerei und dazwischen ein paar Lichtblicke.“

Marion L., 38 Jahre alt im Sommer 2004

„Marion ist in jeder Hinsicht liebenswert. Äußerst gutaussehend, liebevoll mir und den beiden Töchtern gegenüber. Sie ist sagenhaft ehrgeizig und fleißig. Marion möchte, dass alles immer topp in Ordnung ist, sie bemüht sich und oftmals gelingt es ihr auch, aber häufig mit schier unmenschlicher Anstrengung. Kaum einmal kann sie jemandem einen Wunsch abschlagen. Keine Bitte, der sie nicht nachkommt. Weder in der Familie, noch im Freundeskreis. Dabei kommt sie immer zu kurz. Außerdem legt sie enorm hohe Maßstäbe an sich selber an. Hinsichtlich Ordnung, Sauberkeit, Gerechtigkeit etc. Sie akzeptiert sich nicht, wie sie ist. Ihre äußere Erscheinung, ihre Figur. Obwohl sie allen Grund hätte, auf sich stolz zu sein. Marion ist seelisch wenig belastbar, in kleinen wie in großen Dingen. Ihr mangelt es in hohem Maße an Selbstbewusstsein und Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Sie hat Riesenprobleme damit, Entscheidungen überhaupt zu treffen. Wenn sie dann endlich einen Entschluss gefasst hat, steht sie nicht hinter ihm, hat Skrupel, Selbstzweifel, Sorgen ob es richtig war, so zu entscheiden. Sie ist kaum in der Lage, richtig zu entspannen, geschweige denn ein paar Stunden unbeschwert und sorglos zu verbringen. Und dennoch ist sie eine tolle Frau und Mutter!“

Peter L., 42 Jahre, Ehemann von Marion

Marion L. hat eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, die nicht nur Lernen und Verhalten in der Kindheit behinderte. Sie beeinträchtigte in hohem Maße auch die Funktionsfähigkeit in wesentlichen Bereichen des gesamten späteren Lebens. Forschung und klinische Erfahrung zeigen, dass ADHS-Probleme zu erheblichen Schwierigkeiten in der Ausbildung, im Beruf, in der Familie führen und so eine entscheidende Rolle bei einer großen Zahl gesundheitlicher, sozialer und ökonomischer Folgeprobleme spielen. Es zeigt sich aber auch, dass besondere Kompetenzen mit einer solchen Störung verbunden sein können. Nach vielen Fehldiagnosen, fehlgeschlagener Psychotherapie und medikamentöser Behandlung war Marion L. im Internet auf „ihre“ Diagnose gestoßen.

Fallbeispiel: Herbert W.

Herbert W., heute 25 Jahre alt, sei – so berichtet seine Mutter– während der Schwangerschaft schon sehr unruhig gewesen, habe mehr getreten und sich „gerührt“. Und er habe sehr schnell gute motorische Fähigkeiten gehabt, gegriffen, gelaufen. Und so wenig geschlafen! Da sei es kaum möglich gewesen, einen geregelten Ablauf beim Schlafen und Essen zu bekommen. Im Kindergarten war er dann unruhig, ausweichend vor sitzenden Tätigkeiten wie basteln etc. Er sei zwar gerne in den Kindergarten gegangen, aber oft weggelaufen. Sie hätten ihn dann auf Kinderspielplätzen oder zu Hause wiedergefunden. Er kannte überhaupt keine Angst, stieg über Zäune, fiel von Bäumen, brach sich die Beine und stieg noch mit dem Gipsbein über Mauern.

Die ausgeprägte motorische Unruhe und zunehmende Konzentrationsschwäche führten dazu, dass Herbert nach der Einschulung gleich wieder in den Schulkindergarten kam. Erneute Einschulung gut ein Jahr später. Wieder unruhig, unkonzentriert, Schwächen in der Feinmotorik. Die Raumaufteilung bei den Hausaufgaben gelingt nicht, Begrenzungen werden nicht eingehalten, Ränder immer wieder übermalt, überschrieben. Ständig habe er Druck haben müssen, um Hausaufgaben etc. zu erledigen. Die Sonderschule sei angedacht gewesen, der Verdacht auf Legasthenie habe bestanden. Eine Vorstellung bei der Erziehungsberatungsstelle blieb ohne Erfolg, aber es wurde eine überdurchschnittliche intellektuelle Begabung festgestellt. Der weitere Schulverlauf stand unter der Überschrift:

„Herbert könnte viel mehr, wenn er nur wollte!“

Als er den Führerschein machte, habe er ständige Schwierigkeiten gehabt die notwendige Aufmerksamkeit und Konzentration aufzubringen, um das theoretische Wissen zu pauken. So sei es bis heute. Er brauche ständige Unterstützung, um am Ball zu bleiben. Auch jetzt, im 3. Lehrjahr als KfZ-Mechaniker habe es Schwierigkeiten gegeben. Er habe die Lehrstelle gewechselt, habe Motivationsprobleme gehabt und sich gemobbt gefühlt. Mittlerweile drohe eine Kündigung im zweiten Lehrbetrieb, da Herbert W. die „Arbeit nicht sehe“ und durch sein ungeschicktes Verhalten die Mitarbeiter gefährde.

Zusammengefasst klagen Herbert W. und seine Eltern über große Schwierigkeiten beim Behalten einzelner Abläufe, auch dann, wenn sie wiederholt werden:

• Schwierigkeiten, hinreichende Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten;

• nur dann länger lesen zu können, wenn die eigene Motivation extrem hoch sei oder das Buch ebenso interessant;

• erhebliche Schwächen beim Planen und Organisieren;

• motorisches Ungeschick;

• große Selbstzweifel, Selbstunsicherheit und Verunsicherung, da das, was mit Herbert W. geschieht und geschehen ist, weder ihm, seinen Eltern und auch nicht den behandelnden Ärzten nachvollziehbar und erklärlich scheint.

Herbert W. selbst ist aufgefallen, dass unter hohem Kaffee- und Cola-Konsum „Ruhe einkehre“ und er sich besser und auch länger konzentrieren könne.

Fallbeispiel: Jochen D.

Jochen D., der mittlerweile 40 Jahre alt ist, berichtet über sein mangelndes Selbstwertgefühl aufgrund negativer Erfahrungen im zwischenmenschlichen Bereich, wie er sagt. Er sei schüchtern, in fast allen Bereichen. Beruf, Haushalt, Hobby. Er mache viele Fehler und höre zu oft, dass er dumm sei. Er sei unkonzentriert, nicht bei der Sache, fange vieles gleichzeitig an, bringe nichts ordentlich zu Ende, habe ständig viele Baustellen, sei ungeduldig, wolle die Aufgabe erledigen, mache dann Flüchtigkeitsfehler. Da er so schüchtern sei, habe er erhebliche Probleme auf andere Menschen zuzugehen. Bekäme er dann Kontakt, hätte er sofort die Sorge, alles könne zu eng werden, befürchte aber auch den Verlust. Könne nicht länger zuhören, klinke sich aus, alles gehe dann an ihm vorbei. Er rede zuviel. Sei sehr aggressiv, besonders, wenn er sich provoziert fühle, was oft vorkomme. Sei sehr impulsiv, was bereits zu Konflikten mit der Justiz geführt habe. Seine Arbeitsleistung schwanke stark, sei abhängig von seinem Interesse. Er spüre ständig eine starke Unruhe, sei sehr aktiv, kratze sich, zupfe an den Fingern, beiße Nägel, streiche sich über die Haare; wenn er sitze, rutsche er auf dem Stuhl hin- und her, scharre mit den Füßen.

Werden seine Erwartungen nicht umgehend erfüllt, ist er frustriert, oft traurig und niedergedrückt. Diese Gefühle wechseln aber sehr rasch. Am schlimmsten für ihn sei die Tatsache, dass er so schnell in Wut gerate und den Wutausbruch, der bis zu Handgreiflichkeiten gehe, dann nicht stoppen könne.

Jochens Eltern erzählen, „als der Weihnachtsmann kommt, hat Jochen (1 Jahr alt) keine Angst. Ist nur ganz aufgeregt. Er singt viel, lernt die Texte sehr rasch. Er spricht früh ganze Gedichte. Bald besitzt er einen umfangreichen Vorrat an Liedern und Gedichten, da er alles nach einmaligem Lesen oder Hören behält. Der Umgang mit ihm ist nicht einfach. Bereits mit einem Jahr hat er einen ausgeprägten Dickkopf, der weder mit Güte noch mit Schimpfen auszutreiben ist. Dickkopf und Starrsinn nehmen zu. Er wirft sich zu Boden, trampelt, schreit und zieht nur ein Paar Schuhe an („Schwarzschuhchen“), geht in kein Geschäft mit hinein. Im Umgang mit anderen Kindern spielt er sich in den Vordergrund und ist dabei „nicht genießbar“. Abends schläft er schnell ein, ist aber morgens oft schon gegen 4.00 bis 5.00 Uhr wieder wach und aktiv …“

Auszüge aus den Zeugnissen belegen, dass diese Entwicklung sich fortsetzt: „Juli ’85: Jochen hat ein umfängliches Wissen. Aufgaben löst er dann sehr gerne, wenn sie seinen persönlichen Vorlieben und Interessen entsprechen. Aufgabenbereiche, die dem nicht entsprechen, geht er lustlos, später gar nicht mehr an. Jochen muss noch lernen, seine Fähigkeiten im Unterricht zu verwirklichen.“ 1 Jahr später: „Jochens Interesse und Mitarbeit im Unterricht haben sehr stark nachgelassen. Seine Leistungen in Mathematik sind nur noch ungenügend …“.

Dennoch gelingt es Jochen, der bereits in der Schule durch eigenbrötlerisches Sozialverhalten und Aggression gegenüber Mitschülern und innerhalb der Familie auffällt, durch viel Verständnis und Unterstützung von Mitschülern und Lehrern, sich besser einzuordnen, den erweiterten Abschluss an der Realschule zu erreichen. Es folgen zwei Berufsausbildungen, die beide abgeschlossen werden, immer wieder gekennzeichnet und erschwert durch Unruhe und Konzentrationsmängel im Umgang mit anderen Menschen und bei Gesprächen. Er neigt zunehmend dazu, schnell ungeduldig zu werden und lässt sich von anderen Menschen sehr leicht provozieren. Vor allem dann, wenn es diese Menschen bewusst auf eine Auseinandersetzung anlegen. Die dann bei Jochen teils unkontrolliert auftretende Aggression hat ihn mehrfach in große Schwierigkeiten gebracht und so ist es nicht verwunderlich, dass ein schwebendes Verfahren wegen Nötigung im Straßenverkehr ihn in die Behandlung führt.

1.2 Impulsivität, Gefühlsschwankungen, mangelnde Affektkontrolle und weitere Symptome

Die Störung gibt es bevorzugt bei Mädchen und Frauen als ADS, also ohne Hyperaktivität (Tagträumerin, Träumsuse) und als ADHS, also mit Hyperaktivität, besonders bei Jungen und Männern. Betroffene fallen bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten durch inadäquate Aufmerksamkeit oder Unaufmerksamkeit auf. Es fällt ihnen schwer, ihre Konzentration für längere Zeit auf eine geforderte Aufgabe zu richten. Sie haben Probleme Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen, was dazu führt, dass sie oft nur schwer Mimik, Gestik und Körpersprache anderer Menschen verstehen können. Sie haben große Schwierigkeiten beim Zuhören, „klinken sich aus“, sind desorganisiert, leicht ablenkbar durch äußere Reize, vergesslich im Alltag und verlegen oder verlieren häufig Gegenstände. Ausgeprägte motorische Unruhe finden wir vor allem bei Jungen. Diese Hyperaktivität macht sich auch mit zunehmendem Alter durch ständige Unruhe in Händen und Füßen, in der Unfähigkeit ruhig zu sitzen und in übermäßigen körperlichen Aktivitäten oder dem starken Verlangen danach (z. B. exzessiver Sport) bemerkbar. Es wird häufig potenziell gefährlichen Sportarten wie Fallschirmspringen oder Autorennen nachgegangen, um einen „Nervenkitzel“ zu erreichen.

Im Erwachsenenalter kann sich diese motorische Unruhe durch innere Unruhe bemerkbar machen. Manchmal trippeln die Betroffenen beim Sitzen mit den Füßen auf dem Boden. Viele neigen dazu, übermäßig viel und laut zu reden, was nicht selten dazu führt, dass sie als „Nervensäge“ erlebt werden.