Adolf Hitler - Hans-Ulrich Thamer - E-Book

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Hans-Ulrich Thamer

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Beschreibung

Bis heute geht von Hitler und seiner charismatischen Herrschaft eine widrige Faszination aus. Werke über zentrale Fragen seiner Herrschaft füllen ganze Bibliotheken. In dieser neuen, schlanken politischen Biographie fasst Hans- Ulrich Thamer unseren aktuellen Wissensstand prägnant zusammen und arbeitet insbesondere den Zusammenhang von Inszenierung und Macht sowie von Konsens und Gewalt heraus. Der renommierte NS-Fachmann zeigt klar und verständlich, wie der Führerkult und eine politisch geschickte Reaktion auf soziale Erwartungen der Gesellschaft zur Basis von Hitlers Politik werden. Beides zusammen erlaubt ihm, die Maske des Volkskanzlers zu tragen, eine einzigartige Machtfülle zu erlangen und einen singulären Vernichtungsfeldzug gegen innere und äußere, ideologisch definierte Feinde zu führen – eine zeitlos aktuelle Gefahr.

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Hans-Ulrich Thamer

ADOLF

Biographie eines Diktators

HITLER

C.H.Beck

ZUM BUCH

Im Herbst 1939 hatte Carl Zuckmayer im amerikanischen Exil ahnungsvoll in sein Tagebuch geschrieben: «Ich weiß, ich werde alles wiedersehen, und es wird alles ganz verwandelt sein.» Hitler hat mit seiner Herrschaft und seiner totalen Niederlage genau das Gegenteil dessen bewirkt, was er lautstark und wirkungsmächtig versprochen hatte. Das «Dritte Reich» wurde nicht zum Retter vor dem Bolschewismus und war auch nicht die letzte Karte im Spiel um die europäische Selbstbehauptung. Es wurde vielmehr zum Henker Deutschlands und Europas.

Doch was waren die Voraussetzungen für diese Katastrophe? In dem vorliegenden Buch arbeitet der Autor klar und verständlich heraus, wie der Führerkult und eine politisch sensible Reaktion auf soziale Erwartungen der Gesellschaft zur Basis von Hitlers Politik werden. Beides zusammen erlaubt ihm, die Maske des Volkskanzlers zu tragen, eine einzigartige Machtkonzentration zu erreichen und einen singulären Vernichtungsfeldzug gegen innere und äußere, ideologisch definierte Feinde zu führen – eine zeitlos aktuelle Gefahr. Es wird deutlich, dass Hitler zugleich die treibende Kraft der Radikalisierung der Massen und der Aushöhlung aller traditionellen politisch-normativen Ordnungsmuster war. Darüber hinaus werden konsequent seine Person, die NS-Politik und deren Umfeld in den Blick genommen und in ihren Wechselbeziehungen dargestellt, um die permanente Selbstinszenierung des Diktators in ihrer ganzen Wirkungsmacht zu erfassen. Auch erweist sich Hitler als Dreh- und Angelpunkt auf der politischen Macht- und Entscheidungsebene, wobei die Analyse einzelner Entscheidungsprozesse Aufschluss über seine politisch-taktischen Fähigkeiten und seinen Politikstil bietet.

ÜBER DEN AUTOR

Hans-Ulrich Thamer lehrte bis zu seiner Emeritierung Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im Verlag C.H.Beck sind von demselben Autor lieferbar: Die Französische Revolution (42013); Die Völkerschlacht bei Leipzig (22013)

INHALT

1. EINLEITUNG

2. EIN NAMENLOSER – 1889–1919

Jugendjahre und Künstlerträume

Fehlschläge

Kriegserlebnis und Räteherrschaft

Der Weg in die Politik

3. DER AGITATOR – 1920–1923

Der Weg in die Partei

Der «Trommler» und seine frühe Gefolgschaft

Ein «deutscher Mussolini»?

Der Putschist

4. DIE ERFINDUNG DES «FÜHRERS» – 1924–1929

Die Erfindung einer Biographie Landsberger Haft und «Mein Kampf»

Die Formierung der Führerbewegung

Hitler «privat» Selbstinszenierung und Lebensgewohnheiten

5. MACHTANSPRUCH UND MACHTKÄMPFE – 1929–1933

Durchbruch zur Massenbewegung

Hitlers Strategien der Machteroberung

Das Wahljahr 1932

Führerkult und Massenmobilisierung

Alles oder nichts? – Machtspiele und Intrigen 1932/33

6. DER «FÜHRER» DER NATION – 1933–1939

Gleichschaltung und Alleinherrschaft

Die Röhm-Affäre

Der nationalsozialistische Führerstaat

Terror und Verfolgung

«Führer» und «Volksgemeinschaft»

Der «Führer privat». Privatheit als Inszenierung

Der Weg in den Krieg. Außenpolitik und Aufrüstung

7. DER KRIEGSHERR UND DIE NATIONALSOZIALISTISCHEN VERBRECHEN

Auf dem Höhepunkt der Macht: 1939/40

«Unternehmen Barbarossa»: Lebensraum- und Vernichtungskrieg

«Volksgemeinschaft» und «totaler Krieg»

Terror und NS-Besatzungspolitik

Holocaust. Die Ermordung der europäischen Juden

Widerstand gegen Hitler

Die totale Niederlage

Der Rückzug in den Bunker

8. HITLER UND KEIN ENDE

ANMERKUNGEN

1. EINLEITUNG

2. EIN NAMENLOSER

3. DER AGITATOR

4. DIE ERFINDUNG DES «FÜHRERS»

5. MACHTANSPRUCH UND MACHTKÄMPFE

6. DER «FÜHRER» DER NATION

7. DER KRIEGSHERR UND DIE NATIONALSOZIALISTISCHEN VERBRECHEN

8. HITLER UND KEIN ENDE

AUSGEWÄHLTE LITERATUR

Dokumentationen, Memoiren und Quellensammlungen

Gesamtdarstellungen und Überblicke

Studien zu einzelnen Themen

BILDNACHWEIS

ORTSREGISTER

PERSONENREGISTER

1. EINLEITUNG

Er ist noch immer da. Der lange Schatten Adolf Hitlers lastet nach wie vor auf der deutschen und europäischen Geschichte. Mit seinem Namen verbindet sich bis heute die Erinnerung an Diktatur, Krieg und Völkermord. Er ist zum Inbegriff des Bösen und des Monströsen geworden. Zu den Bildern von Hitlers Macht, die sich in unsere Erinnerung eingegraben haben, gehören jedoch nicht nur Bilder von Marschkolonnen, Lagern und Leichenbergen, sondern auch von jubelnden «Volksgenossen», von Zeichen massenhafter Begeisterung und Zustimmungsbereitschaft zu ihrem «Führer». Hitler gab sich als nationaler Retter und ließ sich schließlich als politisches Genie feiern. Damit erfüllte er die Erwartungen einer krisengeschüttelten und erlösungsbereiten Gesellschaft, hinter deren Hoffnungen auf die vermeintliche Geschlossenheit einer «nationalen Volksgemeinschaft» sich die blutige Praxis der Ausgrenzung und Vernichtung von «Gemeinschaftsfremden» nur teilweise verbergen konnte. Hitlers Macht konnte sich auf die sozialen Erlösungs- und Aufstiegssehnsüchte stützen, die er zu mobilisieren verstand, wie auf Erfolge bei der Sicherung von Arbeit und Brot sowie der Wiedergewinnung von «nationaler Größe», die von seiner Propaganda ins Gigantische gesteigert wurden. Dass die Kehrseite dieser «Erfolge» in der permanenten Drohung mit Gewalt und Verfolgung sowie in der Vorbereitung eines Eroberungskrieges bestand, wollten nur wenige Zeitgenossen sehen.

Abb. 1   Dass der Nationalsozialismus Krieg und Zerstörung bedeuten würde, hatten nicht wenige kritische Zeitgenossen befürchtet, ohne eine Vorstellung von dem zu haben, was sie wirklich erwarten sollte. Erwin Blumenfeld hatte das schon 1933 in einer Collage eines Hitler-Porträts angedeutet; Marinus Kjeldgaard hat dieses Bild aufgegriffen und 1939/40, als die Vorahnung Wirklichkeit geworden war, in einer Fotomontage daraus einen Totenkopf mit Hitler-Tolle gemacht.

Abb. 2   Spätestens im Superwahljahr 1932 wurde, wie mit diesem Wahlplakat, Adolf Hitler von der Propaganda zur «Hoffnung von Millionen» stilisiert, und der Führermythos wurde zu einem Massenphänomen. Der «Führer» versprach nationale Erneuerung und soziale Rettung.

Faszination und Gewalt waren die tragenden Säulen von Hitlers Macht. Seine Diktatur war wie kaum eine andere im 20. Jahrhundert Ausdruck einer personalisierten Herrschaft.[1] Das suggerierten nicht nur die Bilder von Ordnung und Charisma, mit denen die Geschlossenheit des Regimes und die Identität von «Führer» und «Volk» behauptet wurden. Das entsprach, freilich in charakteristischer Abweichung, auch den politischen Strukturen des nationalsozialistischen Regimes, das ohne die Person Hitlers nicht denkbar und das zugleich Voraussetzung für eine beispiellose Entfaltung von Macht und Zerstörung war. Person und Herrschaft waren eng miteinander verschränkt: Ohne die persönliche Macht Hitlers hätte das Regime völlig anders ausgesehen, ohne seine Ämter und ohne Politik wäre Hitler umgekehrt nicht vorstellbar, auch wenn seine Lebensgeschichte darin nicht aufgeht. Doch blieb diese «private» Seite durch suggestive Bilder und Selbstinszenierungen weitgehend verborgen bzw. stilisiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass er eine «Unperson»[2] war, dessen persönliche Eigenschaften und Verhaltensformen völlig in seiner Politik aufgingen oder erst durch die Politik ausgeformt wurden. Auch eine politische Biographie Hitlers muss den persönlichen Elementen und Prägungen nachgehen, die sein politisches Handeln mit bestimmten.[3]

Wie kaum ein anderer hat Adolf Hitler die Politik des 20. Jahrhunderts geprägt und zugleich die dunklen Seiten der Moderne, ihre Mobilisierungs- und Zerstörungskräfte demonstriert. Die Konsequenz, mit der er zu dieser Machtentfaltung und zu dieser Explosion der Gewalt fähig war, überrascht immer wieder, wenn man bedenkt, dass zunächst nichts auf seine politische Karriere als umjubelter «Führer» der Nation und verbrecherischer Kriegsherr hingedeutet hat. Im Gegenteil, Adolf Hitler hat die ersten dreißig Jahre seines Lebens als Namenloser am Rande der Gesellschaft gelebt und ganz im Gegensatz zu seinen eigenen, autobiographischen Selbstverklärungen kaum ernsthafte Anstrengungen zu einer beruflichen Ausbildung und bürgerlichen Bildung unternommen. Er führte ein «zielloses Leben».[4] Auch gibt es für die ersten drei Jahrzehnte seines Lebens keine schlüssigen Hinweise auf ein politisches Engagement oder auf politische Vorstellungen, die ihn geleitet hätten. Mehr noch: Selten ist jemand, ohne eine wirkliche politische «Lehrzeit» durchlaufen zu haben, in so kurzer Zeit zum Partei- und Massenführer aufgestiegen; selten hat jemand so unvorbereitet das Amt des Reichskanzlers erobern und dieses in kürzester Zeit zu einer außerordentlichen persönlichen Machtfülle ausbauen können. Erst wird er, so hat Sebastian Haffner schon vor mehr als vierzig Jahren konstatiert, von der Geschichte gemacht, dann macht er Geschichte.[5]

Niemand wird heute diese außergewöhnliche Karriere allein mit Hitlers persönlichen «Qualitäten» erklären oder ihn gar zum politischen Genie erheben, wie das nicht wenige Zeitgenossen getan haben. Umso plausibler könnte es dann erscheinen, Hitlers Weg in die Politik und vor allem zur Macht allein mit den gesellschaftlichen Bedingungen oder den gesellschaftlichen Erwartungen zu erklären, die sein Handeln bestimmt und seine Karriere gefördert haben.[6] Dass sein Weg in die Politik nicht ohne willige Helfer und nicht ohne die revolutionäre Nachkriegskrise zu erklären ist, bleibt unbestritten. Doch was für seine politischen Anfänge und seinen Aufstieg zur Münchner Lokalgröße gilt, muss nicht für alle weiteren Etappen und Entscheidungen zutreffen. Denn Bierhallenagitatoren und faschistische Parteiführer, die auf vielfache Unterstützung zurückgreifen konnten, gab es in den unruhigen 1920er Jahren viele, aber kaum einer hat in kurzer Zeit, taktisch überaus flexibel und auf Eigenständigkeit bedacht, sich eine solche Machtfülle verschaffen und seine Macht schließlich in einem solchen Ausmaß zu Eroberung und Vernichtung missbrauchen können. Hitler war mehr als nur ein Rollenspieler oder die bloße Projektionsfläche von politischen und gesellschaftlichen Erwartungen oder Zuschreibungen. Er hat diese vielmehr für sich eingesetzt bzw. immer wieder verstärkt. Es ist hingegen die Kombination von persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des Politikers Adolf Hitler mit den politischen und mentalen Bedingungen und Erwartungen einer Gesellschaft, die in einer komplexen Wechselwirkung Hitlers Aufstieg zur diktatorischen Macht ermöglicht hat. Es war eine Welt, die durch Krieg und revolutionäre Nachkriegswirren aus den Fugen geraten war, die schließlich den Boden dafür bereitet hat, dass ein einziger Mann, der im Zentrum eines extrem personalistischen Herrschaftssystems und einer Zustimmungsdiktatur stand, einen Zivilisationsbruch von so ungeheurem Ausmaß herbeiführen konnte. Hitler war ein Kind der Krise, und er hat eine der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts herbeigeführt.

Es sind immer wieder dieselben Fragen, die schon mehrere Nachkriegsgenerationen beschäftigt haben:[7] Wie waren Hitlers Herrschaft und seine Vernichtungspolitik in einer hochzivilisierten Gesellschaft möglich? Wie war Hitler überhaupt möglich? Wie konnte es geschehen, dass ein sozialer und politischer Niemand, der dreißig Jahre ein Leben am Rande der Gesellschaft verbracht hat und ohne Schul- und Berufsabschluss geblieben war, so schnell zu diktatorischer Macht aufstieg, ohne zuvor eine klassische politische Karriere vom Schriftführer zum Führer einer Partei durchlaufen zu haben? Wie konnte er in kürzester Zeit eine Massenbewegung mobilisieren und zu unumschränkter Macht gelangen, was ihn in die Lage versetzte, politische Entscheidungen von welthistorischer Tragweite zu treffen, dramatische Entwicklungen einzuleiten und Massenverbrechen von bis dahin nie gekanntem Ausmaß zu begehen? Auch wenn über Hitler wie über kaum einen anderen Politiker des 20. Jahrhunderts unendlich viel geforscht und geschrieben wurde, gilt knapp ein Dreivierteljahrhundert nach dem Tod des Diktators: Mit Hitler sind wir noch lange nicht fertig.

Abb. 3  Auch der Film hat schon sehr früh die Auseinandersetzung mit Adolf Hitler gesucht – zunächst allerdings nur im Ausland. Charlie Chaplins Film «Der große Diktator» von 1940 war einer der ersten und bis heute wirkungsmächtigsten filmischen Versuche, die Welt virtuell von Hitler zu befreien.

Seit den 1930er Jahren haben Zeitgenossen und Nachgeborene immer wieder versucht, das «Rätsel Hitler» zu lösen. Bis heute gibt es über achtzig wissenschaftliche Biographien zu Hitler, die die Rätselhaftigkeit seiner Erscheinung und seiner Politik zu ergründen und zu erklären suchen. Als nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 und seit den Nürnberger Prozessen immer mehr historische Dokumente zugänglich wurden, konnten diese Erklärungen auf eine solidere Quellengrundlage gestellt werden. Doch je deutlicher dabei die Ungeheuerlichkeit der nationalsozialistischen Verbrechen ins Licht gerückt wurde, desto größer wurden die Schwierigkeiten, mit den traditionellen Instrumentarien der Geschichtswissenschaft die Person und die Politik Hitlers zu begreifen. Anfangs konnte man sich das Phänomen Hitler nur als Folge einer «Revolution des Nihilismus», als Ausdruck eines «rohen» Machtwillens erklären, der Hitler angetrieben habe. Einen «prinzipienlosen Opportunisten» nannte ihn darum der britische Historiker Alan Bullock in seiner 1952 erschienenen Hitler-Biographie.[8] Das war für lange Zeit eine gültige These, die auch von der unbequemen Tatsache ablenken konnte, dass hinter Hitlers Wahn doch mehr stand als der pure Wille eines Einzelnen zur Macht. Siebzehn Jahre später konnte der Stuttgarter Historiker Eberhard Jäckel nachweisen, dass Hitler eine in sich geschlossene Weltanschauung besaß, die in der Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts wurzelte und auch sein politisches Handeln leitete.[9] Zu deren Kernelementen gehörten ein auf Vernichtung zielender Rassenantisemitismus und die Eroberung von Lebensraum. Diese Erkenntnis hat bis heute Gültigkeit behalten. Doch war damit nicht die Frage nach der Genese dieser Weltanschauung und deren Leitfunktion für Hitlers Politik beantwortet. Welche Eindrücke und Erfahrungen bringen einen Versager in offenbar kurzer Zeit zur Ausbildung einer eigenen Doktrin, deren scheinbare Konsistenz schon Zeitgenossen zum Staunen brachte? War Hitlers weltanschaulicher Dogmatismus, an dem er bei aller Fähigkeit zum taktischen Kalkül immer festhielt, schließlich die Leitlinie seines radikalen Handelns? Konnte man das alles schon in seiner Kampf- und Bekenntnisschrift «Mein Kampf» von 1925/26 nachlesen und möglicherweise darin Hitlers «Masterplan» entdecken? War er darum tatsächlich der allein entscheidende Machthaber,[10] als den ihn die NS-Propaganda unaufhörlich darstellte? Oder waren die ungehemmte Machteroberung und Expansion des NS-Regimes, einschließlich der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, Ergebnis einer systemspezifischen, sich gegenseitig hochschaukelnden Radikalisierung?[11] Die blieb politisch zwar immer auf Hitler bezogen, wurde aber nicht von ihm selbst, sondern, so die Gegenthese, von seinen um des «Führers» Gunst buhlenden «Unterführern» vorangetrieben und mündete zusammen mit der Auflösung geordneter Entscheidungsstrukturen in einen zerstörerischen «Amoklauf»,[12] der nicht mehr zu stoppen war. Oder war Hitlers Wille zur Macht und zur Zerstörung am Ende Ausfluss einer individuellen psychischen Disposition, die unter bestimmten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen zur Entfaltung kam und seine kriminellen Energien freisetzte? Nicht nur die Versuche einer solchen psychoanalytischen Erklärung von Hitlers Politik konnten wirklich überzeugen. Auch die Konzentration auf ein einziges Erklärungsmodell, auf die «Monokratie» Hitlers[13] oder auf die «Polykratie» rivalisierender NS-Ämter und Machtgruppen,[14] konnte das Rätsel Hitler nicht entschlüsseln.

Seit Joachim Fests Hitler-Biographie von 1973, die auch ein vorsichtig urteilendes Psychogramm des Diktators enthält, hat die Forschung einen vielversprechenderen Weg beschritten. Hitlers Politik und sein Weg zur Macht waren nur aus dem Zusammenwirken von allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Bedingungen und der individuellen Biographie des Diktators zu erklären. Während Fest von einer «schwer entschlüsselbaren» Korrespondenz Hitlers mit seiner Zeit und umgekehrt der Zeit mit diesem Mann ausging und durch den Einschub strukturgeschichtlicher «Zwischenbetrachtungen» in die biographische Erzählung des Lebenswegs und des politischen Handelns des Diktators Individuelles und Überindividuelles miteinander zu verbinden versuchte,[15] hat fünfundzwanzig Jahre später der britische Historiker Ian Kershaw in seiner richtungweisenden Hitler-Biographie die gesellschaftlichen Bedingungen und Kräfte in den Blick genommen, die Hitler möglich machten. Ihn hat vor allem Hitlers Macht interessiert und weniger seine Persönlichkeit. Er zeigt, wie Hitlers Aufstieg von der deutschen Gesellschaft ermöglicht wurde und wie auf dem Höhepunkt seiner Macht Hitler die deutsche Gesellschaft beherrschte. Auch wenn Kershaw mit großer Kennerschaft eine Hitler-Biographie in «gesellschaftsgeschichtlicher Absicht» geschrieben hat, hat er die politische Rolle Hitlers und seine ideologische Fixierung bei der Beschreibung seines politischen Handelns keineswegs vernachlässigt und auf diese Weise die Interaktion von Hitlers Intentionen und seinen politischen und gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten hervorgehoben, die erst zusammen die Politik des NS-Regimes erklären könnten.[16]

Seither ist die Detailforschung jedoch weitergegangen. Fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen von Kershaws großer Biographie gibt es eine Reihe von Studien, in denen die Persönlichkeit Hitlers, wichtige Etappen seiner Biographie und seine Strategie der politischen Selbst-inszenierung näher in den Blick genommen werden; das hat dazu geführt, dass Hitler wieder verstärkt als eigenständig und zielorientiert Handelnder wahrgenommen wird, dass sein individueller Politikstil sowie seine politischen Strategien und Entscheidungen wieder stärker als ausschlaggebende Faktoren betrachtet werden: Nicht länger bestimmt, überspitzt formuliert, die Charakterisierung als «schwacher Diktator», sondern der Eindruck eines «starken», handlungsbestimmenden Diktators das Bild von der politischen Rolle Hitlers im NS-Regime. Zudem haben die politischen Biographien der Männer aus Hitlers politischem Umfeld, die mittlerweile erschienen sind,[17] auch Hitlers Herrschaft in verändertem Licht erscheinen lassen. Kaum ein anderer Agitator und Gewaltmensch aus der nationalsozialistischen Führungsriege hätte diese einzigartige Machtposition erobern und dieses ungeheuerliche Zerstörungspotential entfalten können. Weder der Blick allein auf die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen und auf die inneren Machtverhältnisse bzw. Mechanismen des NS-Regimes noch die ausschließliche Fixierung auf die Lebensgeschichte Adolf Hitlers und auf seine persönlichen politischen Eigenschaften und Fähigkeiten wird darum die Frage beantworten können, wieso ausgerechnet ein politisch unbeschriebenes Blatt wie Adolf Hitler eine solche persönliche Machtfülle erobern und eine ungeheure Zerstörung ins Werk setzen konnte. Erst das Zusammenwirken von krisenhaften äußeren Umständen und singulären politischen Fähigkeiten bzw. persönlichem Handeln können die Macht des Adolf Hitler erklären. Es gilt, die historischen Kräfte und Bedingungen zu beschreiben, die Hitler bewegten und förderten, umgekehrt aber auch die Entscheidungen und Bewegungen zu erfassen, die er hervorgebracht und verursacht hat.[18] Sein Leben muss also in die politische Kultur der 1920er und 1930er Jahre wie in die Geschichte des Nationalsozialismus eingebettet werden, ohne dass er nur als Produkt der Krisenzeit erscheint. Umgekehrt muss das Bild von der souveränen Alleinherrschaft Hitlers, das die Propaganda unaufhörlich entfaltet hat, zurechtgerückt, muss seine tatsächliche Rolle in den politischen Entscheidungsprozessen des Regimes aus seinen sich selbst verherrlichenden Darstellungen und Stilisierungen herausgefiltert und in den sich verändernden Handlungsrahmen beschrieben werden. Denn seit seinem Aufstieg zum Parteiführer mit diktatorischen Vollmachten in den frühen 1920er Jahren bis zu seinem Ende im Bunker im April 1945 waren sein politischer Weg und seine Macht von Inszenierungen verklärt und umgeben. Sie wurden untrennbarer Bestandteil seiner Macht.[19]

Der Zusammenhang von Inszenierung und Macht ist darum eine der Leitfragen dieser kurz gefassten Biographie, die die Erträge und zahlreichen Anregungen der neueren Forschung zusammentragen will. Seit dem Beginn seiner politischen Karriere, so die These des Autors, hat Hitler sich vor allem als Politiker inszeniert, der aus bescheidenen Anfängen kam und seinen Weg konsequent gegangen ist, bis er zum ersehnten «Führer» und Retter der Nation wurde. Mit seiner Regierungsübernahme hat er ein Herrschaftssystem etabliert, das sich als ordnungsstiftende Macht inszenierte und hinter der Fassade einer konsensstiftenden Führerherrschaft eine totalitäre Verfolgungs- und Ausgrenzungspolitik propagierte. Der Künstler-Politiker Adolf Hitler war sich wie kaum ein anderer Politiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Notwendigkeit bewusst, politische Macht sichtbar zu machen und zu inszenieren. Zu dieser politischen Strategie gehörte auch die Fähigkeit, sich als entschlossenen und allein entscheidenden Staatsmann zu präsentieren, wo er tatsächlich in einer komplexen Gemengelage konkurrierender Macht- und Teilhabeansprüche seiner Unterführer und Bündnispartner eine Politik des Abwartens und Ausgleichens sowie des Gegeneinander-Ausspielens praktizierte. Die Frage nach den vielfältigen Formen politischer Entscheidungsbildung in der nationalsozialistischen Diktatur ist darum die andere Leitfrage dieser Darstellung. Sie soll die Verflechtung von politischem Dogmatismus und einer mitunter skrupellosen taktischen Flexibilität zeigen und damit den Politikstil Hitlers beschreiben.

Das alles in einer kurz gefassten Biographie darzustellen, ist ein Vorhaben, das den Verfasser angesichts der Herausforderung immer wieder zweifeln ließ. Dass er dabei nicht in Verzweiflung geriet, verdankt er dem Gespräch und der Unterstützung von Freunden und Kollegen, vor allem aber der Geduld und der inspirierenden Zusammenarbeit mit Stefan von der Lahr, meinem Lektor im Verlag C.H.Beck. Hilfreich war auch meine Erfahrung als Kurator der Ausstellung «Hitler und die Deutschen» im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Denn der Umgang mit visuellen Objekten und ihre Präsentation in einem Ausstellungsnarrativ erfordern eine Straffung der Erzählung, wo die schriftliche Darstellung weiter ausholen und auch manches stärker differenzieren kann. Wichtiger noch waren das über viele Jahre währende Gespräch mit meiner Frau und ihre kritischen Einwände. Ihr und unseren Kindern ist dieses Buch darum gewidmet.

2. EIN NAMENLOSER

1889–1919

Jeder Hitlerjunge sollte die wichtigsten Daten und Stationen des Lebensweges von Adolf Hitler kennen. Die sollte man in der Bekenntnis- und Programmschrift «Mein Kampf» nachlesen;[1] und nur dort, denn 1938 – beim deutschen Einmarsch in Österreich – hatte er dafür gesorgt, dass möglichst alle Spuren seiner Linzer und Wiener Vergangenheit gelöscht wurden. Zeugnisse aus dieser Zeit ließ er beschlagnahmen, Veröffentlichungen über seine Jugend und seine Familie waren verboten; seine Zeichnungen, die er zum Broterwerb verfertigt und vertrieben hatte, wurden, soweit das möglich war, aufgespürt und verschlossen. Hitler erfand in «Mein Kampf» seine Biographie neu und achtete darauf, dass sie für seine Anhänger festgeschrieben blieb. Es war eine fiktive Geschichte im Stile eines bürgerlichen Entwicklungsromans vom Aufstieg aus einfachen und materiell unsicheren Verhältnissen zur Bewährung im Krieg und bis zur Eroberung der politischen Macht.[2] Die Aufstiegs- und Heldengeschichte des «einfachen Gefreiten» und Parteiführers der NSDAP, wie sie in «Mein Kampf» festgeschrieben bleiben sollte, wurde weitergeführt von millionenfachen Erfolgsgeschichten des charismatischen «Führers der Nation». Davon erzählten, von Hitler selbst und von den anderen Regisseuren der Macht in seiner Entourage sorgfältig inszeniert und kontrolliert, Wochenschaubilder und Propagandafilme, Bildbände des Hoffotografen Heinrich Hoffmann,[3] vor allem aber die zahllosen Führerbesuche des «Volkskanzlers» und seine Parteitagsauftritte: Immer ging es dabei um dieselben Themen und Selbstdarstellungen.

Fortschreibungen oder Präzisierungen seiner Thesen und Welterklärungen, wie er sie im Bekenntnisteil von «Mein Kampf» geschrieben hatte, sollten allerdings in der NSDAP nach Erscheinen der Schrift nicht weiter diskutiert werden, weil er dadurch seine Machtgrundlage gefährdet sah. Es sollte bei der immer wiederkehrenden Erzählung der Parteigeschichte und den eingängigen Propagandaparolen bleiben: Immer ging es um die Sicherung von Arbeit und Brot, um die Wiederherstellung deutscher Größe, um die Identität von «Führer» und «Volksgemeinschaft». Nur der wachsende «Führer-Mythos»[4] erweiterte das öffentliche Bild und steigerte es ins Übermenschliche und Geniehafte. Erst nach der Wende des Krieges begann der Mythos vom «Führer» Adolf Hitler zu bröckeln, trat die Gewalt hinter der Maske des nationalen Retters ungeschminkt hervor.

Jugendjahre und Künstlerträume

Was wir über Hitlers Kindheit und Jugendjahre tatsächlich wissen, ist recht wenig.[5] Auch bekannte der Diktator später, dass ihn seine Familiengeschichte wenig interessiere. Die Spuren seiner Familie verlieren sich im Waldviertel, einer bäuerlich geprägten Region im Norden Niederösterreichs. Hier wurde Hitlers Vater Alois Schicklgruber 1837 als unehelicher Sohn der Maria Anna Schicklgruber geboren. Ob Alois der Sohn des Müllergesellen Johann Georg Hiedler war, den Anna Schicklgruber 1842 schließlich heiratete, oder ob Alois aus einer Liaison Anna Schicklgrubers mit dem jüngeren Bruder, dem Bauern Johann Nepomuk Hiedler, hervorging, der Alois nach dem frühen Tod der Anna Schicklgruber aufzog, ist und bleibt unklar. Auf jeden Fall ließ Johann Nepomuk Hiedler 1876 Alois Schicklgruber, der es mittlerweile schon zum «Zollamtsoffizial» gebracht hatte, zum Sohn seines neunzehn Jahre zuvor verstorbenen Bruders Johann Georg Hiedler erklären. Im Protokoll des Notars, der den erstaunlichen Vorgang notifizierte, tauchte als Familienname von Alois nun allerdings nicht «Hiedler», sondern «Hitler» auf. Möglicherweise nahm man es damals mit der Schreibweise von Namen nicht so genau, und damit bleibt die Identität von Adolf Hitlers Großvater väterlicherseits unklar. Auf jeden Fall blieb den Deutschen dadurch der Gruß «Heil Schicklgruber» erspart, auch wenn die politischen Gegner Adolf Hitlers, als sein politischer Aufstieg Anfang der 1930er Jahre viele irritierte, genüsslich auf die ungeklärte Ahnentafel des «Führers» verwiesen und auch den unbegründeten Verdacht ausstreuten, Hitler habe möglicherweise auch jüdische Vorfahren.

Adolf Hitler, am 20. April 1889 als viertes Kind von Alois Hitler und seiner Frau Klara in Braunau an der deutsch-österreichischen Grenze geboren, wuchs in zwar materiell gesicherten, aber doch einigermaßen unübersichtlichen Familienverhältnissen auf.[6] Nicht nur dass die Vaterschaftsfrage von Alois Hitler ungeklärt war, war doch zudem Johann Nepomuk Hiedler auch der Großvater von Adolfs Mutter Klara Pölzl. Diese seine eigene Nichte, die zwanzig Jahre jünger war als er selbst, hatte Alois Hitler in mittlerweile dritter Ehe geheiratet. Wegen des zu nahen Verwandtschaftsverhältnisses der beiden Eheleute musste Alois beim Bischöflichen Ordinariat in Linz um Dispens ersuchen, der aber schließlich – Klara war bereits schwanger – gewährt wurde.

Alois Hitler hatte mit neunzehn Jahren seine Schuhmacherlehre aufgegeben und war danach in den Finanzdienst gewechselt. In diesem Metier war er durchaus erfolgreich und stieg 1892 zum Zollamtsoberoffizial auf, ein Dienstrang, der normalerweise nur Abiturienten vorbehalten war. Nach einer Erbschaft zog die Familie von Braunau nach Passau und von dort nach Linz, wohin Alois 1894 versetzt worden war. 1895 ging er in den Ruhestand, und trotz seiner beachtlichen Beamtenkarriere zog es ihn wieder zurück in die einstige ländliche Umgebung. Er erwarb in Hafeld bei Lambach einen Hof und versuchte sich mit mäßigem Erfolg als Landwirt und Bienenzüchter. So verkaufte er bereits 1897 den Hof wieder und zog in ein kleineres Haus mit großem Garten in Leonding bei Linz. Dort verbrachte er fortan seine Zeit vor allem im Wirtshaus oder mit seiner Bienenzucht.

In dem Haushalt von Alois und Klara in Leonding lebten neben Edmund und Paula, den Geschwistern von Adolf, auch die Stiefgeschwister aus der zweiten Ehe des Vaters, Alois junior und Angela, ferner Klaras unverheiratete Schwester Johanna, von Hitler als «Hanni Tante» bezeichnet. Die drei älteren Geschwister von Adolf waren schon vor seiner Geburt gestorben. Sein jüngerer Bruder Edmund starb im Jahr 1900 an Masern.

Vater Alois war als jähzornig bekannt und schlug zu Hause seine Söhne, wahrscheinlich auch seine junge Frau. Sohn Alois junior floh mit vierzehn Jahren vor dem gewalttätigen Vater. Adolf Hitler war zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt und vermutlich zu jung, um dem Beispiel seines Bruders zu folgen. Nach dem Tod seines Bruders Edmund war er der einzige männliche Nachkomme im Leondinger Haushalt und alleiniges Opfer der väterlichen Autoritätsausbrüche, der den Widerstand des störrischen, früh pubertierenden Sohnes durch regelmäßige Prügel brechen wollte. Die Schwestern wurden nicht geschlagen. Adolf Hitler hat später mehrfach erwähnt, dass er seinen Vater gefürchtet hat – sollte er ihn auch gehasst haben, so wäre das nach Lage der Dinge nicht überraschend. Umso enger aber war sein Verhältnis zur Mutter, die ihn gegen die väterliche Gewalt in Schutz zu nehmen versuchte. Nach dem Tod ihres Ehemanns verzärtelte sie ihren letzten verbliebenen Sohn, der ihr später in einer nationalsozialistischen Ausstellung über die «deutsche Frau» einen Ehrenplatz zuwies. Auch hing ihr Foto in der Reichskanzlei immer im Schlafzimmer der Dienstwohnung. Offenbar hat Adolf Hitler jedoch mehr Charaktereigenschaften seines tyrannischen Vaters übernommen als von seiner fürsorglichen und liebevollen Mutter. Ob sich freilich aus diesen Kindheitserlebnissen die spätere mörderische Politik Adolf Hitlers ableiten lässt, wie das die Psychohistorie propagiert hat,[7] ist fraglich bzw. unerweislich. Gab es doch viele Familien aus den unteren Mittelschichten, deren Lebensverhältnisse von einem tyrannischen Vater und einer liebevollen, um Ausgleich bemühten Mutter bestimmt waren, ohne dass daraus stets ein menschenverachtender, mörderischer Sohn erwachsen wäre. Immerhin scheint es, als seien die überbordende mütterliche Zuwendung und Nachsicht der Neigung des jungen Hitler förderlich gewesen, sich selbst zu überschätzen und unnötigen Anstrengungen aus dem Wege zu gehen.

Was wir über Adolf Hitlers Kindheitserfahrungen sicher wissen, ist sein Versagen in der Schule.[8] 1895 wurde er in der einklassigen Dorfschule von Fischlham eingeschult und hatte in den ersten Schuljahren trotz der mehrfachen Umzüge der Familie offensichtlich keine Schwierigkeiten, die dort an ihn gestellten Anforderungen zu erfüllen und gute Noten nach Hause zu bringen. In Lambach, wo die Familie zwischenzeitlich eine Wohnung gemietet hatte, besuchte der Achtjährige vorübergehend die Volksschule und für kurze Zeit auch die Sängerknabenschule der Benediktinerabtei. Nachdem die Familie 1898 wieder umgezogen war, ging er in die Volksschule von Leonding. Das Lernen machte ihm weiterhin keine Schwierigkeiten und bot ihm reichlich Zeit zu dem, was Zehnjährige gern tun: Man trieb Kriegs- und Indianerspiele und las gebannt die Bücher von Karl May. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt den Schüler Adolf Hitler, wie er mit verschränkten Armen in der Mitte der oberen Reihe steht und in einer Pose der Überlegenheit stolz in die Kamera blickt. Rückblickend hat er sich in «Mein Kampf» als «kleinen Rädelsführer» sehen wollen.

Abb. 4  «Der kleine Rädelsführer». Klassenfoto aus Leonding 1899 mit Adolf Hitler in der oberen Reihe. Stolz und überlegen blickt er in die Kamera.

Im September 1900 wechselte er in eine Realschule in Linz. Für den Elfjährigen bedeutete der neuerliche Ortswechsel einen weiten Schulweg zu Fuß: eine Stunde hin und eine Stunde zurück vom Unterrichtsort. Vor allem aber war er in der neuen Klasse inmitten der Linzer Bürgersöhne nicht mehr der Wortführer und hatte Schwierigkeiten, sich in die Disziplin der Schulgemeinschaft einzufügen. Der Übergang zur Realschule in Linz stellt in Verbindung mit den zunehmenden Konflikten mit dem herrischen Vater sicher einen entscheidenden Einschnitt im Leben und in der charakterlichen Entwicklung Adolf Hitlers dar. Nicht nur seine schulischen Leistungen blieben mehr und mehr hinter den Erwartungen zurück. Die Zeiten einer leidlich unbelasteten Kindheit waren vorbei. Aus dem zufriedenen und spielfreudigen Volksschüler wurde ein fauler, störrischer und renitenter Jugendlicher.

Am 3. Januar 1903 starb Alois Hitler bei einem seiner morgendlichen Wirthausbesuche. Im Nachruf der «Linzer Tagespost» vom 8. Januar 1903 war von seinem «schroffen Charakter» und seiner «rauhen Hülle» die Rede.[9] Der plötzliche Tod des Vaters hat Adolf Hitler kaum mit Trauer erfüllt. War er nun auch endlich von den väterlichen Ermahnungen und Gewaltmaßnahmen befreit, so ließen seine schulischen Leistungen dennoch weiter nach. Bereits nach dem ersten Schuljahr der Realschule 1900/01 musste er mit einem «Ungenügend» in Mathematik und Naturgeschichte die Klasse noch einmal wiederholen, und auch in den folgenden Jahren schaffte er jeweils nur ganz knapp die Versetzung. Am Ende des Schuljahrs 1903/04 wurde er nach einer Nachprüfung nur mit der Auflage versetzt, dass er die Schule wechselte. Seine Linzer Lehrer beurteilten den «hageren, blassen Jungen» zwar als «entschieden begabt», aber als faul. Sein ehemaliger Klassenlehrer Dr. Eduard Huemer erinnerte sich 1924 an ihn als «widerborstig, eigenmächtig, rechthaberisch und jähzornig», auf Ermahnungen habe er oft «mit schlecht verhülltem Widerwillen reagiert».[10] Die meisten Schulfächer interessierten ihn offensichtlich wenig, seinen Lehrern begegnete er mit Ablehnung, später sprach er von seiner Schule und seinen Lehrern mit Verachtung und Hass. Nur den Geschichtsunterricht bei Dr. Pötsch nahm er davon aus und erwähnte ihn lobend. Er habe ihn und seine Mitschüler durch spannendes Erzählen und durch «Heldengeschichten» aus der deutschen Vergangenheit zu begeistern verstanden.

Das reichte jedoch nicht, um ihn zu einem ordentlichen Abschluss zu motivieren, und so nahte bald das vorzeitige Ende der Schullaufbahn. Klara Hitler schickte ihren Sohn nach dem unrühmlichen Abgang in Linz in die Realschule in Steyr, achtzig Kilometer von seinem Heimatort entfernt. Aber auch dort besserten sich die schulischen Leistungen kaum. Im ersten Halbjahreszeugnis von 1904/05 erzielte er nur in Leibesübungen und Zeichnen gute Noten, ansonsten lag der Notendurchschnitt bei «genügend» – übrigens auch in Geographie und Geschichte, die er später als seine besten Fächer darstellte. Sein Fleiß wurde als «ungleichmäßig» bewertet. Obwohl im zweiten Halbjahr eine leichte Verbesserung eingetreten war, musste er im September 1905 wieder eine Nachprüfung ablegen, die ihm immerhin die Berechtigung einbrachte, weiter eine höhere Realschule oder eine technische Schule zu besuchen. Doch dazu hatte er mittlerweile keine Lust mehr. Zu dem Desinteresse am Unterricht befiel ihn in Steyr offenbar heftiges Heimweh. Einer seiner dortigen Lehrer erinnerte sich an sein «scheues, gedrücktes Benehmen», das der damals sechzehnjährige Adolf an den Tag legte, und führte das auf den «ersten Aufenthalt in der Fremde» zurück.[11] Im Herbst 1905 nahm die Mutter ihn, nachdem er eine Erkrankung vorgetäuscht hatte, auf sein wiederholtes Drängen endgültig von der Schule. Er war froh, im Alter von sechzehn Jahren die Schule hinter sich lassen zu können.

Klare Pläne für eine berufliche Zukunft besaß er nicht; die einstigen hartnäckig geäußerten Wünsche des Vaters, eine Beamtenlaufbahn anzustreben, hatte er stets abgelehnt, und dass er nur so schlechte schulische Leistungen erbracht hatte, sollte er später mit dem Dauerkonflikt mit dem Vater erklären. Mehr noch, die Misserfolge in der Schule erscheinen im ersten, autobiographischen Kapitel von «Mein Kampf» als bewusste Reaktion auf die Versuche des übermächtigen Vaters, seinen Sohn Adolf nach seinem eigenen Bild zu formen. Die Weigerung, Beamter zu werden, erklärt Hitler mit dem Bedürfnis, «Herr der eigenen Zeit» bleiben, und seinem Wunsch, Kunstmaler werden zu wollen.[12] Der Widerstand gegen die väterliche Autorität wird damit zur Bedingung für die eigene Persönlichkeitsentwicklung – ein Motiv, das ganz und gar aus bürgerlichen Entwicklungs- und Bildungsromanen vertraut ist. Nach diesen literarischen Vorbildern gestaltete auch Hitler seine eigene Biographie, die mit der Realität seines Lebenslaufs allerdings kaum übereinstimmte.

Fehlschläge

Das gilt noch mehr für das zweite Kapitel seiner autobiographischen Erinnerungen in seiner Rechtfertigungsschrift «Mein Kampf», das er mit «Wiener Lehr- und Leidensjahre» überschrieben hat: Nach seiner Rückkehr in den Kreis der Familie lebte der Schulabbrecher das Leben eines Faulenzers, der von der Mutter umsorgt wurde. Im Juni 1905 hatte die Mutter, nachdem sie das Haus der Familie in Leonding verkauft hatte, eine annehmliche Wohnung in der Humboldtstraße in Linz bezogen. Dort wohnten Mutter Klara, Tante Johanna, die kleine Schwester Paula und Sohn Adolf. Die Stiefschwester Angela war inzwischen verheiratet und hatte den Haushalt verlassen. Der verhätschelte und umsorgte Sohn besaß dort ein eigenes Zimmer, und die Mutter kaufte ihm sogar einen Flügel. Von Oktober 1906 bis zum Januar 1907 nahm er für vier Monate Klavierunterricht, bis ihn auch das nicht mehr interessierte. Meistens verbrachte er seine Zeit mit Zeichnen, Malen oder Lesen. Abends ging der schmächtige und blass wirkende Hitler, wie sein Jugendfreund August Kubizek später berichtete,[13] in die Oper oder ins Konzert. Er kleidete sich gern wie ein junger Herr aus gutem Hause. Er trug zum Opernbesuch einen dunklen Mantel mit Hut, dazu einen Stock mit Elfenbeinknauf. Meist träumte er von einer großen Zukunft als Künstler. Er blieb bis tief in die Nacht auf und schlief bis in den späten Vormittag. An diesen Gewohnheiten, an seiner Abneigung gegenüber geregelter Arbeit wie an seinen Tagträumen und grandiosen Phantasien, sollte er, sofern es die Umstände erlaubten, bis zu seinem Lebensende festhalten. Die beiden Jahre in Linz nannte er wiederholt «die glücklichsten Tage, die mir nahezu als ein schöner Traum erschienen».[14]

Es kann darum auch nicht verwundern, dass wir über Hitlers tatsächliche Lebensführung in den beiden Jahren zwischen dem Verlassen der Schule im Herbst 1905 und dem Umzug nach Wien im Sommer 1907 in «Mein Kampf» nichts erfahren. Sie waren eben Jahre eines «schönen Traumes», einer Scheinwelt, in der sich der charakterlich labile junge Hitler eingerichtet hatte. Über das sorglose Leben, das er in diesen Jahren in Linz führte, berichtet August Kubizek, sein einziger Freund in dieser Zeit, später in seinen Memoiren. Auch wenn Kubizek offensichtlich einiges erfunden hat und das ursprüngliche Manuskript, das er während des Zweiten Weltkrieges im Auftrag der Parteikanzlei der NSDAP verfasst hatte, in den frühen 1950er Jahren erheblich umgeschrieben hatte, berichtet er einigermaßen glaubwürdig von der ungleichen Freundschaft, die sie miteinander verband: so beispielsweise von der Exzentrik und von den häufigen, starken Gefühlsausbrüchen Hitlers, die er als Beweis seiner Genialität deutete; vor allem erzählt er von den gemeinsamen Interessen an Musik und Theater, von den langen Spaziergängen, bei denen Hitler sich eine grandiose, aber unbestimmte Zukunft ausmalte, sowie von den Erregungszuständen, in die sein Freund sich besonders nach Opernaufführungen hineinsteigern konnte. Kubizek war ein geduldiger Zuhörer und gab seinem Freund immer recht, wenn dieser ihm seine Lesefrüchte mitteilte und kritisch-erregt lange Vorträge über Opernaufführungen oder über die öffentlichen Bauten in Linz hielt, die man abreißen und sehr viel prächtiger wiedererrichten müsse. Eine neue große Donaubrücke müsse man bauen und eine neue Musikhalle. Unermüdlich fertigte er dafür Skizzen und Pläne an, ohne sich die Frage zu stellen, ob sich auch nur irgendetwas davon je würde verwirklichen lassen. Wichtiger war es, Freund Kubizek von der scheinbaren Ernsthaftigkeit dieser Projekte zu überzeugen und in den «Gesprächen» über Musik und Oper immer den Ton anzugeben, obwohl Kubizek musikalischer war und auch mehr von Musik verstand. Dennoch war Kubizek voller Bewunderung für das, was der Freund ihm vortrug und wie er dies vortrug. Hitler hingegen konnte sich als Überlegener fühlen und hatte jemanden gefunden, der ihm zuhörte und nicht widersprach. «Er musste eben sprechen», erinnerte sich Kubizek.[15] Der Hang zum Monologisieren, mit dem Hitler später seine Gesprächspartner überfuhr, war offenbar bereits in jungen Jahren angelegt.

Hitlers ganze Leidenschaft galt den Musikdramen Richard Wagners. Ihn verehrte er als großen Komponisten und als künstlerisches Genie – als Schöpfer von Welterklärungen und Erlösungsversprechen. Was ihn schon früh an Wagner begeisterte, war die quasireligiöse Botschaft seines Musikwerkes, war der Anspruch von Kunst, die Welt zu verändern und eine neue Gemeinschaft zu stiften.[16]

Hitler las alles, was er über das Leben und Schaffen Wagners in die Hände bekam. Besonders für Wagners Oper «Lohengrin» konnte er sich begeistern. Wenn Kubizek später in seinen Memoiren den «Zustand völliger Entrückung» beschreibt, in den sein Freund nach einer Aufführung der Oper «Rienzi» geraten sei, so mag in dieser sogenannten Rienzi-Episode auch ein Bedürfnis nach Selbstüberhöhung mitschwingen. Offenbar hatte die Geschichte des mittelalterlichen Volkstribuns Cola di Rienzi den jungen Hitler so sehr hingerissen, dass er dem Freund, nachdem sie schweigend nebeneinander hergegangen waren, schließlich offenbarte, dass auch er eine besondere Mission in sich verspüre. Bei einem Besuch der Festspiele in Bayreuth Anfang August 1939 erinnerte Kubizek den mittlerweile mächtigen Jugendfreund an diese nächtliche Stunde, der daraufhin, zu Winifred Wagner gewandt, mit dem ihm eigenen Drang zur nachträglichen Projektion und Selbstinszenierung bemerkt haben soll: «Damals begann es.»[17]

Zu der Scheinwelt, die der Sechzehnjährige für sich aufbaute, gehörte auch die stille Verehrung für ein Mädchen namens Stefanie aus gutbürgerlichem Linzer Hause, das Hitler jedoch nur aus der Ferne anhimmelte und nie ansprach. Sie blieb für ihn ein Idealbild, und er rechtfertigte seine schüchterne Zurückhaltung damit, dass er seine Angebetete lieber nicht näher kennenlernen möchte, um dieses sein Idealbild vom Weiblichen nicht zu zerstören. Nur Kubizek wusste offenbar davon und war stolz darauf, in dieses Geheimnis eingeweiht zu sein. Er wusste auch, wen Hitler meinte, wenn er auf seinen wenigen Postkarten, die er aus Wien an ihn schrieb, mit dem Tarnnamen «Benkiser» meinte, den (die) er gern wiedersehen wollte. Stefanie, die sich 1908 mit einem Offizier verlobte, erhielt, wie sie sich später erinnerte, von ihm im September 1907 einen Brief ohne Unterschrift, mit dem er seinen Besuch der Kunstakademie in Wien ankündigte. Danach werde er wiederkommen und sie heiraten.[18]

Anfang Mai 1906 war Hitler zum ersten Mal für zwei Wochen nach Wien gereist. Die Mutter hatte ihm den Aufenthalt ermöglicht, um die Gemäldegalerien und die architektonischen Sehenswürdigkeiten der Stadt zu besuchen. Damit wollte er sich, wie er seinen Reisewunsch begründete, auf den Künstlerberuf vorbereiten. Tatsächlich dürfte er einigermaßen ziellos durch die große Stadt gelaufen sein, die ihn faszinierte und zugleich irritierte. Er bewunderte das Stadttheater und die Hofoper, wo er Aufführungen des «Tristan» und des «Fliegenden Holländers» besuchte. Immerhin beflügelten die Eindrücke, die Wien bei ihm hinterließen, seinen Entschluss, Künstler zu werden.

Zunächst aber musste er sich der Pflege seiner schwerkranken Mutter widmen. Ihr Hausarzt Dr. Bloch hatte bei ihr im Januar 1907 Brustkrebs diagnostiziert und zu einer sofortigen Operation geraten. Über dreißig Jahre später berichtete Bloch, mittlerweile im amerikanischen Exil, von der großen Erschütterung, die der Sohn bei der Nachricht von der Erkrankung gezeigt habe, und von der liebevollen Pflege, die er der Mutter zuteilwerden ließ, als sie im Februar 1907 das Krankenhaus verlassen konnte.

Im September 1907, als sich der Gesundheitszustand der Mutter stabilisiert zu haben schien, wollte Adolf Hitler seinen Traum verwirklichen und brach endgültig nach Wien auf. Die Mutter ließ ihn ziehen. Sie hoffte, dass die Ausbildung in Wien die ziellose Bummelei ihres Sohnes beenden könnte. Die «Hanni Tante» steckte ihrem Neffen ein beträchtliches Geldgeschenk zu, das für die Lebenshaltungskosten eines Jahres reichte. In Wien wollte er sich um die Aufnahme an der Kunstakademie bewerben. In seinem Gepäck hatte er einige Zeichnungen, die man bei dem Bewerbungsverfahren der Akademie vorlegen musste. Offenbar rechnete Hitler fest mit seiner Annahme und mietete sich für zehn Kronen monatlich, was sehr günstig war, ein kleines Zimmer bei einer tschechischen Vermieterin, der unverheirateten Kleidermacherin Maria Zakreys in der Stumpergasse 31 im Stadtbezirk Mariahilf. Immerhin konnte Hitler die erste Hürde im Aufnahmeverfahren nehmen, und er wurde zum Probezeichnen unter Aufsicht zugelassen. Die zweiteilige, mehrstündige Prüfung fand am 2. Oktober 1907 statt. Von den ursprünglich 113 Bewerbern bestanden nur 28; Hitler wurde mit dem Urteil «Probez.(eichnung) ungenügend, wenig Köpfe» abgelehnt.[19] Die Ablehnung traf ihn, wie er später glaubwürdig eingestand, «wie ein jäher Schlag aus heiterem Himmel».[20] Seiner Mutter und seinem Freund Kubizek verschwieg er, dass er durchgefallen war. Immerhin wagte er sich zum Rektor der Akademie, um nach einer Erklärung für sein Scheitern zu fragen. Er sei ungeeignet für die Malerschule, erfuhr er, aber er besitze offensichtlich ein Talent für die Architektur. Nach tagelangem Grübeln kam er zu dem Schluss, dass das Urteil des Rektors zutreffend sei und «dass ich einst Baumeister werden würde». Doch zu einem Architekturstudium war der Nachweis des Abiturs erforderlich, das er sich mit seinem Schulabbruch verbaut hatte. Auch tat er in der Folgezeit nichts, um dieses Hindernis etwa dadurch zu beheben, dass er das Abitur nachgeholt hätte. Die Ablehnung hatte ihn offenbar zu tief in seinem Selbstbewusstsein erschüttert.

Inzwischen hatte sich der Gesundheitszustand der Mutter wieder verschlechtert. Hitler kehrte erneut nach Linz zurück, um sich um die Kranke, die den Sohn zu Hause haben wollte, zu kümmern. Der Hausarzt Dr. Bloch eröffnete der Familie am 22. Oktober 1907, dass der Zustand der Mutter hoffnungslos sei. August Kubizek erinnerte sich an die «liebevoll einfühlende Zärtlichkeit», mit der Adolf Hitler daraufhin die Mutter umsorgt habe. Auch Dr. Bloch bezeugte später die «unermüdliche» Sorge Adolf Hitlers um seine sterbende Mutter. Der Hausarzt besuchte die Todkranke seit Anfang November täglich und behandelte sie mit einer damals üblichen, aber sehr schmerzhaften Behandlungsmethode, bei der jodoformhaltige Tücher auf die offene Wunde gelegt wurden. Während die Mutter die Schmerzen klaglos ertrug, schienen sie den Sohn geradezu zu «foltern». Dennoch zeigte er sich dem jüdischen Arzt sehr dankbar, dass dieser die Schmerzen der Mutter mit Morphium zu lindern versuchte. Am 21. Dezember 1907 starb die 47-jährige Klara Hitler. Dr. Bloch, der den Totenschein ausstellte, traf den Sohn neben der toten Mutter: «Adolf saß neben seiner Mutter, sein Gesicht zeigte die Müdigkeit einer schlaflosen Nacht. Um den letzten Eindruck festzuhalten, hatte er sie am Totenbett gezeichnet.»[21] Nach der Beisetzung der Mutter auf dem Friedhof von Leonding kam die Familie noch einmal zu Dr. Bloch: «Ich habe in meiner beinahe 40jährigen Tätigkeit nie einen jungen Menschen so schmerzgebrochen und leiderfüllt gesehen, wie es der junge Adolf Hitler war, als er … kam, um mit tränenerstickter Stimme für meine ärztlichen Bemühungen Dank zu sagen.» [22]

Mit dem Tod der Mutter hatte Hitler die einzige Person verloren, für die er tiefe Zuneigung empfand. Ohne Zweifel hat der Verlust ihn, wie er später in «Mein Kampf» beteuerte, «entsetzlich»[23] getroffen. Gegen die Annahme freilich, dass der Judenhass Hitlers seine Wurzeln in dem Erlebnis der qualvollen Behandlung der Mutter durch einen jüdischen Arzt habe, sprechen die Dankbarkeit, die Hitler gegenüber Dr. Bloch äußerte, und der persönliche Schutz, den er dem früheren Hausarzt nach dem «Anschluss» 1938 gewährte. Ende 1940 konnte das Ehepaar Bloch über Portugal in die Vereinigten Staaten emigrieren.

Wenn Hitler im Weiteren erzählt, er habe sich sofort nach dem Tod der Mutter nach Wien begeben, um nun Architekt zu werden, dann ist das wieder eine der Legenden, mit denen er versuchte, seine unstete Lebensführung zu einem entschlossenen Lehr- und Bildungsweg umzudichten. Tatsächlich dauerte es Monate, bis er sich dazu aufraffte, endgültig nach Wien zu gehen. Dieses Mal hatte er den Aufbruch gut vorbereitet und vor allem zusammen mit seiner Schwester Paula bei der Linzer Finanzlandesdirektion eine Waisenrente beantragt. Beide zusammen erhielten sie monatlich 50 Kronen. Das väterliche Erbe von 652 Kronen war vorerst auf einem Sperrkonto bis zum 24. Lebensjahr festgelegt, über das mütterliche Erbe von rund 2000 Kronen konnten die Geschwister sofort verfügen. Adolf Hitler war also keineswegs so mittellos, wie er später behauptet hat. Er war zwar nicht vermögend, aber mit dem ererbten Geld konnte er für einige Zeit gut leben, ohne arbeiten zu müssen.

In Wien fand er, wie schon zuvor im Oktober 1907, eine Bleibe bei der Kleidermacherin Maria Zakreys in der Stumpergasse. Beim Abschied aus Linz hatte er seinen Freund Kubizek gedrängt, doch bald nachzukommen. Kurz darauf traf Kubizek tatsächlich in Wien ein und begann dort ein Musikstudium. Er zog zusammen mit Hitler in der Stumpergasse in das größere Zimmer bei Maria Zakreys ein und teilte sich mit ihm die Miete.

Zusammen besuchten sie die Oper, wann immer Richard Wagner auf dem Programm stand. Sie erlebten dort auf dem Stehparterre nach Kubizeks Erinnerung den «Lohengrin» wie die «Meistersinger» «gewiss zehnmal», «Tristan und Isolde» nach Hitlers eigener Aussage «dreißig bis vierzig Mal». Dass Hitler die billigeren Stehplätze mied, hatte nach Kubizeks Erinnerung damit zu tun, dass auf dem Stehparterre keine Frauen zugelassen waren, von denen der frauenfeindliche Hitler sich nur gestört fühlte.

Bald sollten sich die Freunde in dem engen Zimmer auf die Nerven gehen. Kubizek übte häufig auf dem Flügel, den er in das gemeinsame Zimmer gezwängt hatte. Im Unterschied zu seinem Zimmergenossen, der ihm nur lange Vorträge über Musik, Architektur und Kunst hielt, hatte er die Aufnahmeprüfung auf Anhieb bestanden. Hitler musste mit ansehen, wie der Freund jeden Morgen zum Konservatorium ging und dort recht erfolgreich studierte. Er hingegen schlief meistens lange und hielt sich in seinem Zimmer auf. Dort las oder zeichnete er, oft bis tief in die Nacht hinein, vor allem Bühnenentwürfe für Wagner-Opern. «Bücher, immer wieder Bücher! Ich kann mir Adolf gar nicht ohne Bücher vorstellen», erinnerte sich sein Freund später.[24] Als ihn Kubizek eines Tages fragte, ob ihm denn sein Malereistudium so viel freie Zeit lasse, geriet der sonst eher verschlossene Neunzehnjährige außer sich und schrie: «Abgelehnt haben sie mich, hinausgeworfen, ausgeschlossen bin ich.» Die Schuld sah er natürlich bei den anderen. «Diese Akademie!», schrie er. «Lauter alte verkrampfte, verzopfte Staatsdiener, verständnislose Bürokraten, stupide Beamtenkreaturen! Die ganze Akademie gehört in die Luft gesprengt!»[25]

Das war nicht das einzige Mal, dass Hitler selbst bei Kleinigkeiten in Wut geriet. Sein Selbstvertrauen war durch eine neuerliche Ablehnung bei der Aufnahmeprüfung offenbar schwer angeschlagen. Immer wieder verfiel er, so erinnerte sich Kubizek, in heftige Anklagen und Hasstiraden gegen alle, die ihn verfolgten und nicht verstünden. Ganz besonders die Professoren und die Akademie, die in der Wahrnehmung Hitlers für echtes Künstlertum kein Verständnis zeigten: Im September 1908 war er ein zweites Mal zur Aufnahmeprüfung angetreten, diesmal aber gar nicht erst auch nur zur «Probe» zugelassen worden. Waren seine Träume und Phantasien auch im Kontakt mit der Realität gescheitert, so tat er dennoch nichts, um nach diesen Fehlschlägen etwa durch Fleiß und Übung noch zum ersehnten Ziel zu gelangen. Noch vor dem zweiten Bewerbungsversuch hatte er ein Angebot des von ihm bewunderten Bühnenbildners Professor Alfred Roller zu einer Unterredung und vielleicht zu einer Ausbildung als Bühnenbildner nicht wahrgenommen. Er hatte diese Chance durch ein Empfehlungsschreiben einer hilfreichen Linzer Nachbarin erhalten, doch der schüchterne Jüngling aus der Provinz traute sich nicht, den verehrten Meister aufzusuchen, und zerriss den Brief. Versuche, doch noch das Abitur nachzuholen, um an einer Technischen Hochschule Architektur studieren zu können, unternahm er ebenfalls nicht mehr. So blieb er in Wien, suchte und fand auch keine Arbeit, sondern ließ sich treiben und zog im November 1908 bei Frau Zakreys aus, und zwar ohne Kubizek auch nur zu benachrichtigen oder eine neue Anschrift anzugeben.

Für mehrere Monate des Jahres 1909 gibt es keine Quellen, die genauere Auskunft über Hitlers weiteren Weg geben könnten. Seine Behauptung, er habe in Wien hart auf dem Bau gearbeitet, stellt eine seiner späteren Erfindungen dar. Es gibt freilich neuerdings einige Hinweise, dass er sich 1910 zwischendurch und nur für kurze Zeit als Dekorationsmaler bzw. als Zeichner in einem Architekturbüro verdingt hatte – freilich ohne Aussicht auf eine längerfristige Beschäftigung, sei es, weil er sich schwer unterordnen konnte, sei es, weil seine weitere Bewerbung abgelehnt wurde.[26] Da er im Jahre 1909 meistens weder Geld noch Arbeit hatte, aß er offenbar in Armenküchen, die von wohlhabenden Bürgern finanziert wurden. Er übernachtete meist in Massenunterkünften oder auf einer Parkbank. Seine finanzielle Situation hatte sich von Woche zu Woche verschlechtert, seitdem die mütterliche Erbschaft aufgezehrt war und die Waisenrente allein seinen Lebensunterhalt kaum sichern konnte. Nun war er ganz unten angekommen, im Heer der Armen und Obdachlosen. Wenn es kalt war, wärmte er sich in stickigen und überfüllten Wärmestuben, die angesichts der dramatischen Wohnungsnot, die in Wien herrschte, teilweise auch über Nacht offen waren. Ein Meldezettel vom August 1909 bezeugt, dass er eine billige Unterkunft in der Sechshauser Straße 58 ergattern konnte, bis er im September schon wieder ausziehen musste, da er seine Miete nicht zahlen konnte. Auf der Meldekarte firmierte er inzwischen nicht mehr als «Künstler» oder «Student», sondern als «Schriftsteller». Als er im Spätherbst 1909 schließlich im Meidlinger Obdachlosenasyl Unterschlupf fand, lernte er seinen Pritschennachbarn Reinhold Hanisch kennen, einen vorbestraften Stadtstreicher. Dieser beschrieb ihn als einen «mageren jungen Menschen mit ganz wundgelaufenen Füssen».[27] Sein blaugemusterter Anzug habe durch den Regen und die Desinfizierung allmählich eine lila Farbe angenommen. Er habe nichts besessen als das, was er auf dem Leib trug. Damals dürfte Hitler tatsächlich jene Zeit bitterster Entbehrungen durchgemacht haben, die er später mit seiner ganzen Zeit in Wien verband. «Durch Monate habe ich kein warmes Essen gehabt. Ich habe von Milch und trockenem Brot gelebt.»[28] Hitler und sein neuer Freund Hanisch versuchten, sich zunächst etwas Geld durch anstrengende Gelegenheitsarbeiten zu verdienen, bis Hanisch auf eine bessere Idee kam. Hitlers Behauptung, die Kunstakademie besucht zu haben, brachte ihn auf den Gedanken, dessen offenkundiges künstlerisches Talent für eine Form von Arbeitsteilung zu nutzen. Hitler solle Ansichtskarten malen, die er dann in Gaststätten verkaufen würde. Den Erlös würde man sich teilen. Das Geld für Pinsel und Farben besorgte sich Hitler von seiner Tante Johanna. Nachdem sich das Geschäft gut entwickelt hatte, konnten die beiden das Meidlinger Obdachlosenasyl verlassen und im Männerheim Meldemannstraße 27 in Wien-Brigittenau unterkommen, eine für damalige Verhältnisse modernere und mit bescheidenem Komfort versehene Einrichtung. Dort gab es keine Massenschlafsäle mehr, sondern einzelne Schlafecken mit Bett, Tisch und Schrank, außerdem Gemeinschaftsräume mit Lesesaal und einer Bibliothek, in der auch aktuelle Zeitungen auslagen. Hitler blieb für drei Jahre in der Meldemannstraße. Tagsüber saß er meist in einem kleinen Schreibzimmer, wo er zeichnete und malte, Zeitungen las oder erregte politische Diskussionen führte. In dem Schreibzimmer beanspruchte er einen festen Platz und geriet in Rage, wenn jemand ihm diesen streitig machen wollte. Den benötigte er vor allem, um bekannte Wiener Stadtansichten in Form von Aquarellen und Postkarten zu kopieren, die Hanisch dann verkaufte. Abends zog er sich früh in seine Schlafkoje zurück, wo er viele Stunden las. Er galt als «Sonderling», der nicht rauchte und trank und der sich an den «Männergeschichten», die seine Mitbewohner austauschten, nicht beteiligte, vor allem wenn es um Frauen ging. Auch nahm er nicht an den gemeinsamen Besuchen des Praters oder anderer Vergnügungsstätten teil. Dank der bescheidenen Einnahmen konnte er jetzt wieder seine Kleidung in Ordnung halten. Nach einiger Zeit kam es zum Streit mit Hanisch, dem Hitler vorwarf, ihn um den Erlös zweier Bilder betrogen zu haben. Hanisch wurde von einem Mitbewohner angezeigt und zu einer Arreststrafe verurteilt. Hitler verkaufte seine Bilder nun selbst, und nicht wenige seiner Geschäftspartner waren jüdische Bilderhändler. Vor allem besuchte er häufiger den Glasermeister Samuel Morgenstern, der zusammen mit seiner Frau ein schönes Geschäft nahe der Ordination von Sigmund Freud betrieb. Die hilfsbereiten Morgensterns kauften Hitler so viele Bilder ab, dass sie noch bis 1938 darauf sitzengeblieben waren, als die Gestapo daranging, Kunstwerke des «Führers» zu beschlagnahmen. Auch im Männerheim hatte Hitler jüdische Freunde, die sich für ihn, wenn es nottat, einsetzten. Wenn Hitler später behauptete, sein Judenhass sei aus der Begegnung mit osteuropäischen Juden in Wien entstanden, so war das ganz offensichtlich ebenfalls eine Erfindung, die er aus seiner Lektüre rassistischer Schriften in die eigene Vita zurückspiegelte.

Die Jahre der Armut und Entbehrung in Wien hätten, so ließ Hitler zehn Jahre später, nachdem er die Stadt verlassen hatte, seine Anhänger und Leser wissen, seinen Charakter und die Grundlagen seiner Weltanschauung geformt. «In dieser Zeit bildeten sich in mir ein Weltbild und eine Weltanschauung, die zum granitenen Fundament meines derzeitigen Handelns wurde.»[29] Über zwei Kapitel beschreibt er in grellen Farben sein Leben am sozialen Abgrund und seine einigermaßen ziellose Lektüre, die – von ihm als Selbststudium stilisiert – ihm zu seinem politischen Verständnis verholfen hätten. «Wien aber war und blieb für mich die schwerste, wenn auch gründlichste Schule meines Lebens», schrieb er in «Mein Kampf». Dort seien ihm die Augen für die größten Gefahren geöffnet worden, die er zuvor «kaum dem Namen nach kannte (…): Marxismus und Judentum». Außerdem hätte er dort aus der unmittelbaren Anschauung ein tieferes Verständnis für die soziale Frage und für den Widersinn des Parlamentarismus entwickelt. Als er dies 1924 schrieb, wollte er ganz offensichtlich die Diskrepanz zwischen der Anonymität seiner Jugendjahre und seinem Anspruch auf politische Führung übertünchen, indem er die Jahre in Wien als Lehrjahre eines politischen Genies darstellte, das allen Widrigkeiten zum Trotz seine Persönlichkeit und Weltanschauung geformt habe. Doch nicht nur die Schilderung seiner materiellen Lage und sozialen Erfahrungen hat sich als Legende und Versuch einer nachträglichen Rationalisierung der Wiener Erfahrungen herausgestellt. Vor allem sein politischer Formierungsprozess in Wien war keineswegs so ausgeprägt und fundiert, wie Hitler später immer wieder behauptete. Wir begegnen vielmehr einer «zielgerichteten Konstruktion»,[30] die seinen Führungsanspruch in der völkischen Bewegung begründen und seinem Werdegang die Konsequenz von Lehrjahren unterstellen sollte, wo der unbefangene Betrachter tatsächlich nur zielloses Vagabundieren einer Künstlerexistenz ohne feste politische Vorstellungen beobachten kann. Für die Behauptung seines ersten Biographen Konrad Heiden, Hitler sei, als er Wien 1913 schließlich verlassen habe, fertig gewesen,[31] lassen sich keine Belege finden. Allenfalls sein ursprünglicher und von ihm immer wieder erwähnter Wunsch, «Baumeister» zu werden, hat in Wien zu einer intensiven Beschäftigung und einer Art Selbststudium von Architektur und Kunst geführt, die sich auf die Wiener Ringstraße und ihre Theaterarchitektur konzentrierten.

Dass jedoch sein manischer Judenhass, an dem er bis zu seinen letzten Tagen im Berliner Bunker festgehalten hat, in Wien begründet und geformt wurde, dafür lassen sich keine Belege finden. Seit seiner Begegnung mit dem jüdischen Hausarzt Dr. Bloch hatte er immer wieder – im Männerheim und unter den Kunden seiner Bildchen – mit Juden zu tun, zu denen er ein freundschaftliches und auf keinen Fall ein misstrauisch-ablehnendes Verhältnis hatte. Es gibt keine dezidiert antisemitischen Äußerungen aus dieser Zeit, allenfalls antisemitische Vorurteile oder Redeweisen, wie man sie damals allerdings nicht nur in Wien, sondern überall auf der Straße hören konnte. Gelegentlich habe er festgestellt, dass Juden einen «anderen Geruch» hätten oder dass sie in vielen Nationen Fremde wären, weil sie zu einer «anderen Rasse» gehörten. Tatsächlich verband er in seinen Äußerungen einfach alles, was er als Übel wahrnahm und was ihn abstieß, mit dem Judentum: die liberale Presse, das mondäne und moderne kulturelle Leben und die Sozialdemokratie. Umgekehrt lobte er die Juden als «erste zivilisierte Nation», pries die Fürsorge jüdischer Einrichtungen, deren Wohltätigkeit er selbst erfahren hatte; auch verteidigte er die kulturellen Leistungen jüdischer Komponisten und Dichter.[32]

Was Hitler in seinen Wiener Jahren gelesen hat, lässt sich nicht genau rekonstruieren. Auch hat er nicht systematisch gelesen, sondern nur selektiv. Später ließ er sich über die «Kunst des richtigen Lesens»[33] aus und über die Fähigkeit, im Buch das Wertvolle vom Wertlosen zu unterscheiden bzw. auszuwählen. Er las Bücher nicht vollständig, sondern suchte und fand das heraus, was ihm passte. Da Hitler über ein erstaunliches Gedächtnis verfügte, konnte er immer wieder mit seinen Lesefrüchten imponieren und den Eindruck gründlicher Lektüre erwecken. Seine ganze Leidenschaft aber galt der Architektur, der Musik und der Oper. Wenn er sich mit Kunst und Architektur beschäftigte oder von seinem Traum, Architekt zu sein, sprach, «war Hitler bei sich».[34] Seine Kenntnisse dieser Kunstformen entstanden aus der unmittelbaren Anschauung und aus seiner Lektüre. Zu der einseitigen Wahrnehmung und Rezeption gehörte es, dass er für alle modernen Kunstformen, die zu seiner Zeit in Wien einen ersten Höhepunkt erlebten, keinen Zugang fand. Er hatte weder etwas für den Jugendstil übrig noch für die Wiener Sezession und die moderne funktionale Architektur. Moderne, abstrakte Malerei, die um die Jahrhundertwende ihren Ausgang nahm, verachtete er zeit seines Lebens. Später verband er diese Abneigung mit antisemitischen Vorurteilen und Ideologemen. Er bevorzugte deutsche Komponisten, allen voran Richard Wagner, und hatte für italienische Musik nichts übrig. Er war ganz am Althergebrachten orientiert.