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Beschreibung

Shitstorms, Hate Speech oder virale Videos, die zum Klicken, Liken, Teilen bewegen: Die vernetzte Gesellschaft ist von Affekten getrieben und bringt selbst ganz neue Affekte hervor. Die Beiträge des Bandes nehmen die medientechnologischen Entwicklungen unserer Zeit in den Blick und untersuchen sie aus der Perspektive einer kritischen Affekt- und Sozialphilosophie. Sie zeigen: Soziale Medien und digitale Plattformen sind nicht nur Räume des Austauschs, sie erschaffen Affektökonomien - und darin liegt auch ihre Macht. Indem sie neue Formen des sozialen Umgangs stiften und bestimmen, wie wir kommunizieren, verschieben sie auch die politische Topographie. Mit einem Beitrag von Antonio Negri.

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Seitenzahl: 653

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Rainer Mühlhoff (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Affective Societies« der Freien Universität Berlin. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen Sozialphilosophie, Affekt-Theorie und Ethik der digitalen Gesellschaft. Er studierte Mathematik, theoretische Physik, Philosophie und Gender Studies in Heidelberg, Münster, Leipzig und Berlin.

Anja Breljak (MA) ist Doktorandin am Forschungskolleg SENSING in Potsdam. Ihre Forschung beschäftigt sich mit der Körper- und Mediengeschichte von Affekt, digitaler Gesellschaft und politischer Ökonomie. Sie hat Philosophie, VWL und Informatik in Berlin, Sarajevo und Paris studiert.

Jan Slaby (Prof. Dr.) ist Professor für Philosophie des Geistes und Philosophie der Emotionen an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Themenfeldern Affekt/Emotion, Sozialität, Selbstbewusstsein, Handlungstheorie, Phänomenologie, Wissenschaftsphilosophie der Humanwissenschaften und Technikphilosophie. Er ist Vorstandsmitglied im Berliner Sonderforschungsbereich »Affective Societies«.

RAINER MÜHLHOFF, ANJA BRELJAK, JAN SLABY (HG.)

Affekt Macht Netz

Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft

Diese Publikation geht hervor aus dem DFG-geförderten Sonderforschungsbereich 1171 »Affective Societies«, Teilprojekt B05, an der Freien Universität Berlin. Sie wurde außerdem ermöglicht durch eine Ko-Finanzierung für Open-Access-Monografien und -Sammelbände der Freien Universität Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommerci-al-NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de

Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected]

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© 2019 transcript Verlag, Bielefeld

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Coverabbildung: © Strava 2017, © Mapbox, © OpenStreetMaps; Quelle: www.strava.com/heatmap; basierend auf Kartendaten von Mapbox und OpenStreetMaps, Lizenz: ODbL, http://www.openstreetmap.org/copyright

Print-ISBN 978-3-8376-4439-5

PDF-ISBN 978-3-8394-4439-9

EPUB-ISBN 978-3-7328-4439-5

https://doi.org/10.14361/9783839444399

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft?

Einleitung

Anja Breljak und Rainer Mühlhoff

I.Infrastrukturen der Kontrolle

Die Zeit der Datenmaschinen

Zum Zusammenhang von Affekt, Wissen und Kontrolle im Digitalen

Anja Breljak

Netzwerkaffekte

Über Facebook als kybernetische Regierungsmaschine und das Verschwinden des Subjekts

Felix Maschewski und Anna-Verena Nosthoff

Big Data Is Watching You

Digitale Entmündigung am Beispiel von Facebook und Google

Rainer Mühlhoff

Tasten

Taktilität als Paradigma des Digitalen

Shirin Weigelt

II.Affekt, Netz und Subjektivität

Klicklust und Verfügbarkeitszwang

Techno-affektive Gefüge einer neuen digitalen Hörigkeit

Jorinde Schulz

Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking

Von hermeneutischer Ungerechtigkeit zu einer Theorie des Narrativzwangs und der affektiven Dissonanz anhand der Erfahrungen gestalkter Frauen

Katharina Dornenzweig

More Substance Than a Selfie?

Affektökonomien des Authentischen beim Onlinedating

Jule Govrin

Tears in Heaven

Mediale Politiken des Schmerzes

Henrike Kohpeiß

Die neue Lust am Ressentiment

Grundzüge eines affekttheoretischen Ressentiment-Begriffs

Christian Ernst Weißgerber

III.Öffentlichkeit, Protest und Politik

The Internet is Dead – Long Live the Internet

Soziale Medien und idiosynkratisches Aufbegehren

Philipp Wüschner

Affektive Netze

Politische Partizipation mit Spinoza

Marie Wuth

Öffentlichkeit trotz alledem

Polemisches Erscheinen und Archivarbeit postdigitaler Proteste

Jan Beuerbach

»Die Mächte verstehen, die am Werk sind«

Ein Gespräch mit Toni Negri

Anja Breljak und Jorinde Schulz

Negri und Wir: Affekt, Subjektivität und Kritik in der Gegenwart

Ein Nachwort

Jan Slaby

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft?

Einleitung

Anja Breljak und Rainer Mühlhoff

Mühlhoff, R.; Breljak, A.; Slaby, J. (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft. transcript 2019, S. 7–34. DOI: 10.14361/9783839444399-001.

1Gelbe Karte für Facebook

»Wer ist der Boss einer Bewegung ohne Führer?« – diese simple und treffende Frage stellte der Journalist Vincent Glad in einem fast ikonisch gewordenen Artikel für die Libération über das Phänomen der »Gelbwesten« in Frankreich (Glad 30.11.20181). Die Proteste, die seit Ende 2018 scheinbar unkontrolliert, spontan, aber doch simultan an verschiedenen Orten immer wieder entstehen, verstehen sich nämlich als radikal horizontale, direktdemokratische Initiative abseits der Mobilisierungsstrukturen von Parteien oder Gewerkschaften. »Ab einem gewissen Punkt« jedoch, so stellt Glad fest, »bedarf es einer Struktur, um den Kampf zu koordinieren, eine Liste von Forderungen aufzustellen, auf Anfragen der Presse zu reagieren und mit der Regierung zu verhandeln.« (Ebd.) In dieser Lage habe sich nun – Stand November 2018 – eine achtköpfige »Delegation« gefunden, um für die Bewegung zu sprechen. Und in ganz undemokratischer Weise habe sich diese Delegation quasi »selbst ernannt«:

»Bei dieser neuen Art der Mobilisierung, bei der Online-Teilnahme genauso wichtig ist wie das Blockieren von Kreisverkehren, sind standardmäßig die Admins der involvierten Facebook-Gruppen die Anführer. Eric Drouet und Priscillia Ludosky sind beide Admins der Gruppe La France en colère !!! [›Frankreich zornentbrannt!!!‹], die 250.000 User umfasst. In der Achtergruppe sticht ein dritter Kopf heraus: der charismatische Maxime Nicolle alias Fly Rider [...]. Er verwaltet die Gruppe Fly Rider infos blocages [›Fly Rider Blockade-Infos‹], eine Gruppe von 62.000 Menschen, die täglich seinen Facebook-Livestreams folgen.« (Ebd.)

Die Gelbwesten-Bewegung ist damit exemplarisch für eine neue Art und Weise, wie sich soziale Bewegungen unter Bedingung der digitalen Medien organisieren. Das Medium Facebook mit seinen spezifischen Kommunikationsformen scheint ein dynamisches Organisationsprinzip von unten hervorgebracht zu haben, in welchem Gruppen-Administrator_innen die Rolle von Sprecher_innen einnehmen. Dabei wird diese Rolle in einer Kombination aus Echtzeit-Präsenz und permanenten Feedback-Prozessen durch die Kommentare und Reaktionen der User konstituiert:

»Bei ihnen geschieht alles live auf Facebook, über Live-Videos, in denen sich die beiden Wortführer [Drouet und Nicolle] in einem Kreuzfeuer der Fragen und der Kritik wiederfinden, auf die sie immer mit großer Gelassenheit und einer unbestreitbaren Verantwortung reagieren (mal abgesehen von der gelegentlichen Verbreitung von Falschinformationen). Man fragt sich beinahe, warum diese Videos nicht direkt auf BFM TV live auf Sendung gehen. Diese Facebook Live-Videos haben nicht weniger Relevanz für den Konflikt als eine Rede von Emmanuel Macron oder Edouard Philippe. Während unter den Gelbwesten kein Mensch dem traditionellen Mediendiskurs Glauben schenkt, erscheinen diese ›Lives‹ und im Grunde alle auf der Plattform zirkulierenden Videos als das einzig zuverlässige Medium. [...] Der Unterschied zwischen einem gewählten Politiker und einem Vertreter der Gelbwesten besteht darin, dass letzterer in Echtzeit der Aufsicht und Kritik seiner Artgenossen unterliegt. Hier offenbart sich ein verführerisches Modell der direkten Demokratie.« (Ebd.)

Facebook hatte die Live-Video-Funktion Anfang 2016 eingeführt und war damit dem Vorbild von Plattformen wie YouTube oder Periscope gefolgt, die länger schon Video-Livestreams ermöglichten (Cullen 15.09.2015). »Live is like having a TV camera in your pocket. Anyone with a phone now has the power to broadcast to anyone in the world« – so pries Mark Zuckerberg das neue Feature an und brachte es auch als Frontalangriff gegen TV-Sender und redaktionelle Live-Berichterstattung in Stellung (Zuckerberg 06.04.2016). Damit der Aufstand der Gelbwesten seine dezentrale, spontane und doch irgendwie koordiniert erscheinende Form annehmen konnte, brauchte es allerdings mehr als das Livestreaming-Feature, so jedenfalls mutmaßt Vincent Glad. Es brauchte eine Verschiebung der Prioritäten in der Anzeige von Nachrichten im Newsfeed von Facebook:

»Die Bewegung wurde zweifellos durch den neuen Facebook-Algorithmus unterstützt, der die Inhalte von Gruppen zum Nachteil der von Seiten (und damit von den Medien) geposteten Inhalte überbewertet. Nach ein paar Likes in einer Gruppe wird man von Inhalten dieser Gruppe im Newsfeed überschwemmt. Der neue Algo[rithmus] hat die Gelbwesten in eine ›Filterblase‹ versetzt, wo sie fast nichts als gelben Inhalt sehen.« (Glad 30.11.2018)

Hintergrund ist die Anfang 2018 von Facebook angekündigte und von vielen gefürchtete Überarbeitung derjenigen algorithmischen Routine, die darüber entscheidet, welche Inhalte eine Nutzer_in von Facebook im Newsfeed angezeigt bekommt (vgl. Hutchinson 11.01.2018). Facebook war im Nachgang der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten verstärkt für die Ermöglichung von Falschnachrichten und Hasskommentaren kritisiert worden. In Reaktion darauf verkündete Mark Zuckerberg als sein persönliches self-improvement project 2017, innerhalb eines Jahres jeden US-Bundesstaat einmal zu besuchen und »dort Menschen zu treffen«, um zu erfahren, »wie sie leben, arbeiten und über die Zukunft denken« (Zuckerberg 03.01.2017). Von diesen Reisen brachte er eine Erkenntnis mit nach Hause: »Lokale Communities sind viel wichtiger für die Menschen, als wir das realisieren.« (Zuckerberg 16.11.2017) Als Konsequenz wolle er deshalb die Firmenmission von Facebook verändern: »Die Zeit, die wir alle auf Facebook verbringen, soll wieder gut verbrachte Zeit sein«, und so gehe es nun darum, Postings zu bevorzugen, »die Konversationen und bedeutungsvolle Interaktionen zwischen Menschen anregen«, anstatt bloß passiv konsumiert zu werden (Zuckerberg 11.01.2018). Facebooks Head of News Feed, Adam Mosseri, konkretisierte:

»To do this, we will predict which posts you might want to interact with your friends about, and show these posts higher in feed. These are posts that inspire back-and-forth discussion in the comments and posts that you might want to share and react to.« (Mosseri 11.01.2018)

Die Zeit des bloßen Likens und Teilens ist also vorbei. Wertvoller für Facebook sind diejenigen Inhalte, die Diskussionen auslösen. Ein Jahr nach der großen Umstellung zur Förderung lokaler Communities scheint Zuckerbergs Projekt allerdings mehr neue Probleme geschaffen als bestehende Probleme gelöst zu haben: Denn es stellt sich heraus, dass es die polarisierenden, reißerischen, potenziell falschen Inhalte sind, die am meisten diskutiert werden und die Interaktionsintensität erhöhen (Owen 15.03.2019). Statistiken zeigen, dass Hasskommentare, Verschwörungstheorien und selbstjustiziale Verfolgungsdebatten auf der Jagd nach »meaningful interaction« und »back-and-forth discussions« am Besten abschneiden (ebd.). FoxNews ist nach dem Kriterium des »user engagement« der erfolgreichste Medienakteur auf Facebook in den USA – etwa zweimal so erfolgreich wie CNN oder die New York Times (ebd.).

»Wer bringt die Lehren des Mark Zuckerberg besser zur Anwendung als die Gelbwesten?«, fragt unterdessen Vincent Glad und vermutet hier den Glutkern eines fundamentalen Wandels der Demokratie (Glad 30.11.2018): In einer Zeit, in der Politiker_innen wie der französische Präsident Emmanuel Macron den direkten Draht zu ihrer Wählerschaft verloren zu haben scheinen, »finden diese sich einer Gruppe von Facebook-Admins gegenübergestellt« (ebd.). Die Admins sind in diesem Wandel die neuen Wortführer_innen, weil sie das Spiel, auf Facebook für diejenigen Inhalte zu sorgen, die in der »Engagement«-Metrik funktionieren, am besten beherrschen. Während die Plattform die Vorrechte der Admins ständig erweitert, entwickeln sich diese zu einem »intermediären Korps« (ebd.), das vom Scheitern klassischer Organisationsformen wie Gewerkschaften, Verbänden und Parteien profitiert und als quasipolitischer Verantwortungsträger handelt.

Phänomene wie das der »Gelbwesten« mit ihrer nicht wegzudenkenden Beziehung zu sozialen Medien wie Facebook führen direkt zu jenem Problemkomplex, den wir unter dem Titel einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft fassen und kritisch besprechen möchten. Damit ist eine interdisziplinäre und methodologisch bewusst offen angelegte, an Philosophie, Medientheorie, Sozial- und Kulturwissenschaft geschulte Theoriearbeit zu aktuellen Themen des Sozialen und der Politik unter den Bedingungen digitaler Vernetzung gemeint. Am Beispiel der Gelbwesten lassen sich zwei für uns zentrale Aspekte im Zusammenspiel von Vernetzung, Politik und Sozialität herausstellen: So wird erstens das Konstitutionsverhältnis zwischen Medium (hier: Facebook) und den Affekten und Diskursen einer politischen Bewegung ersichtlich. Die digitale Plattform ist nicht einfach nur ein Container für beliebige Inhalte, die von außen dort hineingeladen werden; ihre Rolle besteht nicht bloß in der Verstärkung und Reichweitenvergrößerung eines Stammtisches. Spezifische mediale Eigenschaften (hier unter anderem: Live-Videos, die durch das unmittelbare Feedback der Zuschauenden in Echtzeit beeinflusst werden) bringen vielmehr bestimmte Inhalte und Dynamiken überhaupt erst hervor. Damit wird auch das alte Prinzip des Broadcasting auf eine neue Qualitätsstufe gehoben. Um solche Effekte besser zu verstehen, sind genaue Untersuchungen der technologischen Eigenschaften wie auch ihrer Verwobenheit mit dem sozialen Raum vonnöten.

Zweitens erweist sich ein digitales Medium wie Facebook in dieser Perspektive als grundlegend politisch. Dies nicht nur, weil es beliebigen Akteuren erlaubt, politische Botschaften zu verbreiten, sondern weil es neue Modi des Politischen hervorbringt. Auch wenn sich die Plattform als »neutraler Vermittler« deklariert und hinter der harmlosen Mission versteckt, den Kontakt zu Familie und Freund_innen zu fördern, wird doch an der Veränderung sozialer Bewegungen in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder deutlich, dass mit den neuen Medien nicht nur Räume der Diskussion und Politisierung entstehen, sondern auch neue politische Subjekte die Bühne des (Welt-)Geschehens betreten – so problematisch ihre Positionen, Wirkungen und Effekte auch sein mögen. Denn gerade in den Formen von Netzwerk-Sozialität und den von ihnen sowohl ermöglichten als auch in spezifischer Weise geformten Subjektivitäten liegt das implizit Politische der digitalen Kommunikationsplattformen. Der damit einhergehende grundsätzliche Wandel von Demokratie und Gesellschaft, den Vincent Glad am Beispiel der Gelbwesten diagnostiziert hat, betrifft also auch die Ebene der Subjektivitäten, der Affektökonomien und die Spielarten von Macht in der Digitalen Gesellschaft. Diesem Wandel und der Frage, wie er sich beschreiben, analysieren und diskutieren lässt, stellt sich der vorliegende Sammelband.

2Das Programm: Affekt – Macht – Netz

Unter dem Titel »Affekt – Macht – Netz« widmen sich die Beiträge dieses Buches der Aufgabe, grundlegende gesellschaftliche Transformationen durch die digitale Vernetzung sozialtheoretisch auszuleuchten. Unter »sozialtheoretisch« verstehen wir die fallbezogene theoretische Arbeit an der Schnittstelle von Sozialphilosophie, Kritischen Theorien, Affect Studies und Medienwissenschaft. Mehr als die feste Zuordnung zu einem bestimmten disziplinären Kanon steht in dem vorliegenden Band der Bezug zu aktuellen Phänomenen im Mittelpunkt. Die drei zentralen Analysekategorien – Affektivität, Macht und Netz(werk) – dienen uns dafür als Vektoren der theoretischen Explikation.

Mit der Metapher des Netzes geht es uns zunächst um die Bestimmung einer medialen Topologie der dezentralen Konnektivität, wie sie für das Digitale charakteristisch ist. In dieser geläufigen Verwendung (siehe etwa »world wide web«) steht der Aspekt der Vernetzung von Kommunikations- und Informationsflüssen in sozialen, ökonomischen und politischen Beziehungen im Vordergrund. Für das darin wirksame kybernetische Prinzip der wechselseitigen Regulation und Kontrolle durch Feedbackschleifen ist die Topologie der medialen Vernetzung in besonderer Weise prädestiniert. Dies wird deutlich, wenn man sie mit der hierarchischen Baumstruktur von Informationsflüssen der Massenmedien oder der hierarchischen Personalführung in Unternehmen vergleicht. Im Bild des Netzes ist darüber hinaus die Bedeutung des Einfangens und Einwickelns enthalten. In einem Netz kann man sich mitunter verheddern und verfangen. So ist es ein Kennzeichen etwa sozialer Netzwerke, dass sie die Menschen zugleich verbinden und geradezu bis zur Sucht in ihre Interaktionslogiken einzuwickeln streben. Mit großen Treibnetzen, um die Metapher noch ein Stück weiter zu strapazieren, lässt sich dann im Bestand der Daten von Milliarden Nutzer_innen fischen und nach wertvollen Informationen sieben, etwa um Werbung individuell zuzuschneiden, aktuelle ökonomische Trends zu ermitteln oder die Präferenzen, Verhaltensweisen und psychologischen Dispositionen von Menschen systematisch zu vermessen. In diesem Sinne ist es ein Kernbestandteil unseres Ansatzes, anhand der medientechnologischen Grundlagen der digitalen Vernetzung ein Verständnis sowohl der ontologischen als auch der epistemologischen Bedingungen gegenwärtiger Sozialität und Gesellschaftlichkeit zu erarbeiten.

Zugleich weist der sozialtheoretische Zuschnitt unserer Perspektive über die Medialität digitaler Vernetzung hinaus. So benennt das Titelstichwort »Macht« eine zweite Analyseebene, die in unserer Herangehensweise von Beginn an mitgedacht wird. »Daten sind Macht« – so lautet vielleicht das Credo unserer Zeit. Unter Begriffen wie Überwachung, Kybernetik, Kontrolle, Schwarmverhalten, Empire, Exploit oder Protokoll hat in den letzten drei Jahrzehnten eine kritische Auseinandersetzung stattgefunden, in der die Transformationen von Macht und ihren Formaten unter der Bedingung von Vernetzung herausgearbeitet wurden (vgl. Lyon 1994, Tiqqun 2011, A. Galloway 2004, A. R. Galloway und Thacker 2007, Hardt und Negri 2003). Denn Macht ist heute nicht mehr ohne Weiteres in den Begriffen von Unter- und Überbau, von Herrschafts- oder Staatsapparat und Ideologie explizierbar. Machtformationen erweisen sich immer häufiger als immanent und netzwerkförmig, stellen das Verhältnis zwischen Zentralität und Dezentralität, von Hierarchie und Anarchie, neu auf. Das klassische Denken von Macht als Verfügungsgewalt über andere wird von dieser Entwicklung mindestens verkompliziert, wenn nicht gar an seine Grenzen gebracht. Wir wenden uns daher solchen Ansätzen zu, die es erlauben, die verwickelten Konstellationen einer vernetzten, ›von unten‹ agierenden, dezentralen Form von Macht zu denken. Dabei kommt es umso mehr darauf an, am konkreten Fall zu arbeiten, um die subtile und oft unwissentliche Eingewobenheit alltäglicher Mikrohandlungen in machtvolle Gefüge vernetzter Medien überhaupt greifbar machen zu können.

Drittens verweist das titelgebende Stichwort »Affekt« nun schließlich auf die These, dass die digitale Vernetzung in spezifischer Weise affektive Bezugsformen von Individuen, Kollektiven und Gesellschaften zu sich selbst und anderen, zu Politik und Weltgeschehen im Rahmen einer beständigen Involvierung in digitale Kommunikationsprozesse betrifft. Seit dem sogenannten turn to affect in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften (siehe Abschnitt 3) wird rund um den Begriff »Affekt« eine Debatte über unmittelbar körperliche, in den sozialen Relationen liegende Formen der Bezugnahme geführt, die über primär symbolisch verfasste Kommunikationsregister hinausweisen. Gerade im medientechnologischen Kontext erweist sich dieser Theoriebegriff als produktiv, legt er doch anders als das subjektive »Gefühl« oder der psychologische Begriff der »Emotion« eine besondere Betonung auf zwischenkörperliche Dynamiken, Intensitäten und Bewegtheiten im sozialen Zusammenspiel von Individuen, Kollektiven und Umgebungen. Es gehört vielleicht zu den grundlegenden Scheinparadoxien unserer Zeit, dass die umfassende Digitalisierung und Computerisierung aller Lebensbereiche nicht etwa zur Überführung sämtlicher Kommunikations- und Erfahrungsgehalte in Einsen und Nullen, formale Ausdrücke oder symbolische Repräsentationen führen – weil Computer mit etwas anderem doch gar nichts anfangen können. Im Gegenteil erleben wir ein wachsendes Interesse des Digitalen an den affektiven Dynamiken und körperlichen Regungen, an den Reaktionen und unbewussten Sensitivitäten, an den psychologischen Dispositionen und dem Begehren der User. Voraussetzung dafür ist die feste Eingebundenheit der sozialen Medien und digitalen Geräte in das Alltagsleben ihrer User, denn nur so können umfassend Daten erhoben werden, die nicht nur zu einer Weiterentwicklung der digitalen Dienste beitragen, sondern die Dynamiken und Reaktionen der Nutzer_innen minutiös kartografieren, um Trends vorhersagen und Prognosen erstellen zu können. Ob in den »Echokammern« der sozialen Netzwerke, durch die Techniken des User Experience Designs oder in den affektiven Dynamiken von Memes und Onlineforen – digitale Medien erfassen und übertragen Affekte nicht einfach nur, sie bringen neue Affektdynamiken und emotionale Bezugsformen hervor.

3Debattenkontext

Mit dem Programm einer »Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft« verfolgen wir einen transdisziplinären Ansatz, der philosophische und medienwissenschaftliche Überlegungen mit Affekttheorie zusammenbringt, um die Verflechtung digitaler Technologien mit sozialen Verhältnissen, Politik und Lebensformen zu diskutieren. Damit nehmen wir grundsätzlich Bezug auf den sogenannten »turn to affect« (Angerer 2007, Clough und Halley 2007), der mit dem Aufkommen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Affect Studies seit den 1990er Jahren eine theoretische Reorientierung hin zum Somatischen, zu Körpern und den Dynamiken ihrer Begegnungen, ihrer Gefühle und gegenseitigen Wirkungen bedeutet hat (Sedgwick und Frank 1995; Massumi 1995, Massumi 2002; Gregg und Seig-worth 2010; Blackman 2012; Angerer, Bösel und Ott 2014; Slaby und von Scheve 2019). Dabei gilt es zu beachten, dass der Affektbegriff auch innerhalb der Affect Studies durchaus nicht einheitlich gebraucht wird, nehmen doch so unterschiedliche Denktraditionen wie beispielsweise Spinozismus, Feminismus, Operaismus, Psychologie und Neurowissenschaften Bezug auf ihn. Was sie miteinander teilen, ist neben dem Fokus auf zwischenkörperliche Dynamiken eine Perspektive, die der Engführung sozialer Identitäten und Verhältnisse auf die bewusste Reflexivität des Subjekts zuvor- oder gar entkommen möchte. Affizierung wird stattdessen als ein grundlegendes zwischenkörperliches Wirkungsgeschehen aufgefasst, das partiell außerhalb der Bahnen symbolisch, sprachlich oder konventionalistisch verfasster Interaktionsformen verlaufen kann. Schon dem Alltagsgebrauch des Wortes ›Affekt‹ lässt sich diese Tendenz entnehmen: Wer im Affekt agiert, handelt üblicherweise schnell und intensiv, unbedacht und mit außer Kontrolle geratenen Gefühlen. Gerade diesen Moment des Unmittelbaren und »Überschießenden« gegenüber dem Geskripteten, Formelhaften nehmen sich einige affekttheoretische Herangehensweisen zum Ausgangspunkt, um den sozialen Raum von den Beziehungen und reziproken Dynamiken her zu denken (Massumi 1995, Massumi 2002; Slaby und Mühlhoff 2019).

Für unsere Zwecke eignet sich innerhalb des heterogenen Feldes der Affect Studies vor allem jene philosophische Tradition im Anschluss an Baruch Spinoza, in der Affekt als ontologischer Begriff in Stellung gebracht wird: Hier wird sogar das Individuum selbst als Produkt eines Geflechts von Affizierungsrelationen verstanden, in denen es affiziert wird und selbst affiziert, und zwar in einer prinzipiellen Reziprozität (Spinoza 2010 [1677]; Saar 2013; Balibar 1997; Mühlhoff 2018c). Das Wort »Individuum« (»Einzelding«, bei Spinoza: lat. modus) ist dabei keineswegs auf menschliche Individuen beschränkt. Stattdessen wird von dynamischen Prozessen der Individuierung ausgegangen, in denen Einzeldinge sowohl als aus kleineren Individuen zusammengesetzt erscheinen, als auch ihrerseits höhere Individuen herausbilden können (zum Beispiel Gruppen, Gesellschaften, Gemeinschaften etc.). Was ein Individuum ist, das entscheidet sich dann nur anhand seiner spezifischen »Verhältnisse von Ruhe und Bewegung« – damit sind reziproke Affizierungsrelationen gemeint, zum einen zwischen den Teilindividuen des betreffenden Einzeldings, zum anderen zwischen dem Individuum und den anderen Dingen, mit denen es in Affizierungsrelationen steht. Affizierung (lat. affectio) bezeichnet somit im spinozistischen Substanzenmonismus ein ontologisches Prinzip, das eine ungewöhnliche Antwort auf die Frage nach dem (sozialen) Werden liefert: Das Individuum konstituiert sich durch die Akte seiner Wirksamkeit in Relation zu anderen Individuen. Es lässt sich deshalb nicht als abgeschlossene, unveränderliche Einheit verstehen, sondern als permanent in Veränderung begriffenes Produkt eines ontologisch primären Gefüges von Affizierungsrelationen (Andermann 2015; Mühlhoff 2018c; Saar 2013). Damit korrespondiert das spinozistische Konzept von Affektivität mit dem Begriff des Netzes in einer Weise, die die Relationen und ihre Wirkungsdynamiken nicht nur in den Fokus nimmt, sondern auch als grundlegendes Register allen Seins behauptet – als theoretische Perspektivierung unserer Welt durch die Linse einer Immanenzphilosophie des Immer-schon-verwickelt-Seins in »affektiven Netzen« (vgl. Wuth, in diesem Band).

Der zugegebenermaßen hohe Abstraktionsgrad dieses theoretischen Zugangs, der in vielen Beiträgen dieses Sammelbandes nur aus dem Hintergrund hervorlugt – sei es in Sympathie, sei es im produktiven Antagonismus –, bildet so etwas wie eine tieferliegende Schicht grundsätzlicher, philosophischer Überlegungen. Der Blick auf konkretes Material, Fallstudien und Beispiele ist damit keineswegs verbaut, vielmehr provoziert die affekttheoretische Herangehensweise geradezu, auf die konkreten Begegnungs- und Affizierungsweisen zu schauen, die sich in verschiedenen medialen Settings und ihren »affektiven Arrangements« zeigen (Slaby, Mühlhoff und Wüschner 2019). In unserer vernetzten und medientechnologisch durchdrungenen Gegenwart, in der der soziale Raum durchzogen ist von Emails, Sprachnachrichten, Emojis, Likes und Videos, in der Kommunikation mit anderen über kleine und große Distanzen permanent und in Echtzeit möglich ist, in der gesellschaftliche Atmosphären und politische Sachlagen unmittelbar von der Stimmung und den Reaktionen in den sozialen Medien hervorgebracht werden können, ist die Perspektive auf unser jeweiliges Verwickeltsein und die darin wirksamen Affektdynamiken hochgradig angezeigt.

Die Bedeutung der Kategorien »Netz« und »Affekt« für eine Sozialdiagnose unserer Zeit wurde auch abseits der Affect Studies betont. So spricht etwa Tiziana Terranova im Kontext des Postoperaismus und der Kritik heutiger Produktionsweisen von »network culture« als der grundlegenden Sozialstruktur des Informationszeitalters (Terranova 2004). Eva Horn und Lucas Marco Gisi (2008) bringen ein zentrales Organisationsprinzip der Netzwerkkultur – den Schwarm – mit der Kategorie des Affekts in Verbindung; Schwarmdynamiken sind für sie eine Form mediatisierter kollektiver Affizierungsprozesse, die für die spezifischen Wertschöpfungsformen in digitalen Räumen kennzeichnend sind. Dass dabei das Phänomen der »Ansteckung« als wichtigste Affizierungsform das »Zeitalter der Netzwerke« bestimmt, hat Tony Sampson (2012) mit einem Rückgriff auf die massenpsychologischen Arbeiten von Gabriel Tarde herausgearbeitet. Längst sind auch umfassendere Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Netzkultur und Gefühlen, beziehungsweise Emotionen, in die Diskussionen eingegangen (Karatzogianni und Kuntsmann 2012; Garde-Hansen und Gorton 2013; Benski und Fisher 2014). Im Kontext der Affect Studies ist besonders der Band Networked Affect von Ken Hillis, Susanne Paasonen und Michael Petit (2015) zu erwähnen, der gezielt die Perspektive der Internet Studies vom Affektbegriff aus weiterdenkt, um das »online setting« auf neue theoretische wie politische Implikationen hin zu untersuchen (vgl. ebd.: 3).

Auch die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes zeigen, dass die theoretischen Werkzeuge der Affekttheorien wertvolle Ansätze zur Analyse und Kritik von Netzkultur bieten. Dabei wird dieser Band in seiner Gesamtheit allerdings nicht auf die – nur vermeintlich so klare – Trennung von online settings und offline settings setzen (siehe auch Wüschner, in diesem Band); vielmehr wird hier gerade die Untrennbarkeit von digitalen Medien und Lebensformen thematisiert. Ist der Affektbegriff eine Einladung dazu, über die wechselseitige Ko-Konstitution von Körpern, Subjektivitäten, Dingen und Umgebungen in Affizierungsrelationen nachzudenken, so ist es von höchster Dringlichkeit, dabei auch die prägende Rolle technischer Artefakte und medialer Vollzüge in den affektiven Arrangements unserer Gegenwart im Blick zu behalten. Es geht uns also um die Frage, wie sich die Hervorbringung des sozialen Seins in der Digitalen Gesellschaft ausbuchstabieren lässt, wie das Werden unter Bedingungen der medientechnologischen Vernetzung beschrieben und theoretisiert werden kann.

Affekttheorie und Medienwissenschaft

Die Bezugnahme auf den turn to affect, die hier den Ausgangspunkt bildet, bedeutet auch einen besonderen Schulterschluss mit der Medienwissenschaft. Der enge Anwendungsbezug auf digitale Medien und die affekttheoretische Frage nach der Ko-Konstitution von Medientechnologien, Subjektivitäten und Lebensformen führt nämlich zu einer Aktualisierung und Bekräftigung der mit Marshall McLuhan schon Mitte des 20. Jahrhunderts zur medienwissenschaftlichen Theoriegrundlage gewordenen These, dass das Medium selbst die »message« sei (McLuhan 1964). McLuhans Einsicht, wonach Medien nicht nur externe Inhalte übertragen, sondern selbst etwas konstituieren, hat die Medienphilosophin Sybille Krämer ein halbes Jahrhundert später mit den folgenden Worten radikalisiert: »Medien übertragen nicht einfach Botschaften, sondern entfalten eine Wirkkraft, welche die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns und Kommunizierens prägt« (Krämer 1998: 14). Dass sich mit dem Smartphone, mit sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook, mit Phänomenen wie Shitstorms, Clickbaits oder Fake News die Wirkkräfte von Medien auf Lebensrealitäten in nahezu jedem Winkel des sozialen Raumes zeigen, nimmt gerade die Medienwissenschaft in die Pflicht, sozialtheoretisch zu denken und neben der Analyse einzelner Medienformate und -inhalte auch eine Perspektive auf deren soziopolitische Eingebundenheit und gesellschaftliche Rolle zu entwickeln. Affekttheorie bietet dafür eine mögliche Brücke, die auch Zugänge zu medientechnischen Entwicklungen wie künstlicher Intelligenz, vernetzten Sensortechnologien und algorithmischer Gefühlserkennung erlaubt. Die Beiträge in diesem Band liefern Ansätze dafür, diese Verbindung theoretisch und methodisch zu erschließen. Damit situiert sich der vorliegende Band in einem neuen Forschungsfeld, dessen Konturen im deutschsprachigen Raum aktuell unter anderem durch die Aktivitäten des Sonderforschungsbereichs Affective Societies an der Freien Universität Berlin, des Forschungskollegs SENSING: Zum Wissen sensibler Medien in Potsdam, der Arbeitsgruppe Affective Media Technologies der Gesellschaft für Medienwissenschaft und des DFG-Netzwerks Affective Media Studies erkennbar geworden sind.

Wir behaupten also, dass der medientechnologische Umbruch, in dem wir uns heute befinden, auch einen gesellschaftlichen Umbruch darstellt. Darin sind neue Perspektiven auf die Frage, wie das soziale Werden, wie die Grenzen des Individuums und die Möglichkeiten und Begrenzungen von Subjekten, wie soziale Bewegungen, Öffentlichkeiten und Kollektivitäten zustande kommen, dringend geboten (vgl. auch Kohpeiß sowie Beuerbach, in diesem Band). Die Entwicklung des (Personal) Computers, seine Verbreitung und Veralltäglichung, die Mark Weiser bereits 1991 unter dem Begriff des »ubiquitous computing« fasste (Weiser 1991), hat inzwischen zur digitalen Vernetzung jedes noch so banalen Geräts geführt und damit den Computer als Gerät fast schon zum Verschwinden gebracht (vgl. Weigelt, in diesem Band). Dieser Prozess der »Durchdringung« der Welt durch das Medium Computer hat nicht etwa andere Medien verdrängt, sondern sie in sich integriert und re-aktualisiert. Nach dem industriellen Großrechner und dem Personal Computer bildet das »ubiquitous computing« daher eine dritte Phase der Computerisierung, die durch ein intimes, körperliches, umweltliches Verhältnis zum Rechner gekennzeichnet ist (vgl. Distelmeyer 2017; Kaerlein 2016). Unsere These ist, dass diese aktuelle Phase wesentlich in der Verbreitung einer affektiven Medialität des Computers besteht, das heißt, in der digitalen Erschließung und Durchdringung affektiver Verhältnisse.

Grundlage dafür ist die partizipative Wende der Netzkultur, die mit dem Paradigma »Web 2.0« (DiNucci 1999, O’Reilly 30.09.2005) die technischen Voraussetzungen von social media geschaffen hat. Im Gegensatz zum Prinzip der Massenmedien, die, wie Megaphone vorgestellt, eine Trennung der Produktion und Rezeption von Inhalten vornehmen, wobei wenige Produzierende eine große Zahl an Rezipierenden erreichen (Thompson 1995), setzen die sozialen Medien auf sogenannten »user generated content«, auf Interaktion und Kollaboration, auf das Teilen von Inhalten, Geräten, Dienst- oder gar Rechenleistung. Das geht mit vernetzten, nunmehr in beide Richtungen kommunizierenden, also sendenden und empfangenden Endgeräten einher, die sich in nahezu alle Bereiche des Lebens eingenistet haben. Moderne Techniken der »Human Computer Interaction« (HCI) und des »User Experience Designs« haben es darauf abgesehen, die Medienbruchschwelle zwischen Mensch und Maschine möglichst zu verwischen und den Weg vom Impuls zur Umsetzung einer Handlung am Smartphone oder in der App in die Bereiche des Intuitiven und Unbewussten zu verschieben.2 An die Stelle des Subjekts, welches sich – so die klassische Vision – der technischen Artefakte rein instrumentell bedient, tritt das affektive Verhältnis zum vernetzten Gerät, das überdies den wirtschaftlichen »Vorteil« bietet, diese Interaktionsabläufe datenmäßig zu erfassen und auszuforschen (vgl. Breljak sowie Schulz, in diesem Band; Mühlhoff 2018b). In ihrer dezentralen Konnektivität bilden die digitalen Endgeräte eine »mediale Ökologie«, die eben auch eine »affektive Ökologie« und eine »affektive Ökonomie« darstellt.(Angerer 2017; Ahmed 2004). Denn wer daran partizipiert, und man kann daran nicht nicht partizipieren, der wird als affizierbarer und zugleich affizierender Agent angesprochen und erfasst; potenziell jede Regung des Gemüts und der Körper wird dadurch mediatisierbar und einer maschinischen Rationalität der prädiktiven Modellierung und kapitalistischen Verwertung zugeführt (vgl. z. B. Govrin, in diesem Band).

Schon immer sprachen Medien die Affizierbarkeit der Menschen an, versuchten sie zu mobilisieren und zu monetarisieren. Qualitativ neu im Web 2.0 jedoch ist, dass das Medium sich nun auch umgekehrt als empfänglich für oder gar interessiert an Affizierungen erweist, die von jeder einzelnen Nutzer_in ausgehen. Mit der partizipativen Wende vernetzter Medien sind Tracking-Verfahren und prädiktive Analytiken ins Spiel gekommen, die auf technischen Infrastrukturen mit so hoher Informationsverarbeitungskapazität beruhen, dass jeder Nutzer_in ihre »Capricen«, ihre Affekte, ihr vermeintlich höchst individuelles Anwendungsprofil gelassen und zugleich all das digital erfasst und verwertet werden kann. Vor allem an den sozialen Netzwerken zeigt sich, dass digitale Medien nicht einfach unabhängig von ihnen vorhandene Affekte ihrer User »übertragen« oder bloß »verstärken«, sondern sie konstituieren. Dies kann zum Beispiel durch top-down verfahrende, gezielte Ansprache individueller »affektiver Dispositionen« (Mühlhoff 2019a) etwa im politischen Wahlkampf erfolgen, wie es der Skandal um Cambridge Analytica gezeigt hat (vgl. Nosthoff und Maschewski, in diesem Band; Dachwitz, Rudl und Rebiger 21.03.2018; Tufekci 2014). Oder es überwiegt eine Bottom-up-Dynamik der Konstitution, ausgehend zum Beispiel von den Resonanzen einer »ressentimentalen Affektivität« (vgl. Weißgerber, in diesem Band) in den Echokammern sozialer Netzwerke und einschlägiger Onlineforen, die sich dort im Wechselspiel mit den Präsenzmomenten zum Beispiel der »Pegida«-Proteste zu Wellen populistischer Empörung aufschwingen und in diesem (cross-medialen) Prozess überhaupt erst ihre vernehmbare Form und Mobilisierungskraft gewinnen (Mühlhoff 2018a).

4Das Subjekt der Digitalen Gesellschaft

Wird das soziale und politische Wirken digitaler Technologien unter dem Gesichtspunkt von Macht untersucht, dann muss unweigerlich auch die medienkulturelle Subjektivierung von Benutzer_innen durch diese Technologien befragt werden. Damit wiederum kommen die sozialtheoretischen Kategorien der Subjektivität und des Subjekts ins Spiel. Die netzwerkförmige Macht des Digitalen begründet sich nämlich in einem pluralen Zusammenspiel vieler menschlicher und nicht-menschlicher Entitäten, das im Ganzen einen gewissen Grad der Organisation aufweist, also Muster und Strukturen ausbildet. So ist beispielsweise die Verwendung von Messenger-Diensten wie WhatsApp oder Telegram in manchen Milieus so verbreitet, dass sie wie selbstverständlich Teil der sozialen Infrastruktur sind, die mit neuen Formen der Gruppenbildung und der sozialen Ausschlüsse einhergeht. Auch am Beispiel der Gelbwesten-Bewegung wurde eingangs die Entstehung eines neuen Organisationsprinzips sozialer Bewegungen und einer neuen Form der Führerschaft thematisiert, zu der es nur deshalb kommen konnte, weil ein großer Teil der Bewegung Facebook benutzt und den Inhalten dort einen bestimmten Wahrheitsgehalt zumisst.

Solche Formen der Organisation und Strukturierung, die sich im Zusammenspiel von Individuen, Gruppen und Medien herausbilden, lassen sich nicht allein aus den technologischen Bedingungen der digitalen Räume erklären. Das Zusammenspiel wird von technischen Apparaten orchestriert und gerahmt, ohne jedoch durch diese determiniert zu sein. In dieser Situation ist der Begriff der »Subjektivität« dasjenige Werkzeug, mit dem sich eine kollektive Praxis der sozialen Selbstbezüglichkeit im Kontext digitaler Kommunikation als wesentlicher Faktor für das Funktionieren digitaler Medien theoretisch fassen lässt: Plattformen wie WhatsApp oder Facebook hätten ihre machtvolle Stellung nicht ohne die Milliarden von Nutzer_innen, die es als wichtigen Teil ihrer Kommunikationspraktiken, Sozialformen und Selbsterfahrung empfinden, dort präsent zu sein. Aber auch die Google-Suchmaschine – ein etwas weniger offensichtliches Beispiel – würde nicht ohne das freiwillige (und oft unwissentliche) Mitwirken ihrer Benutzer_innen funktionieren, die mit jeder Nutzung Trainingsdaten zur Rekalibrierung einer künstlichen Intelligenz liefern (vgl. Mühlhoff, in diesem Band; Mühlhoff 2019b). Es ist der Funktionsweise zahlreicher digitaltechnologischer Produkte und Dienste inhärent, sich als feste Größe in die Subjektivität ihrer Nutzer_innen einzuschreiben – denn diese Produkte werden durch die Benutzung überhaupt erst zu dem, was sie sind.

Das Agieren von Individuen und Kollektiven unter den Bedingungen digitaler Vernetzung muss also als selbstbestimmt, freiwillig und lustvoll aufgefasst werden, allein schon um dem mehrheitlichen Selbstempfinden der Nutzer_innen gerecht zu werden. Und dennoch steht es prinzipiell im Dienst der technischen Apparate, ihrer Macht und ihrer Ausbeutungsmechanismen. Was für eine Form von »Freiheit« hier im Spiel ist, die sogar noch so klassische Unterteilungen wie die zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Empowerment und Entfremdung unterwandert, bleibt zu diskutieren. Die Partizipation in Online-Räumen ist jedenfalls immer beides zugleich: freie Entfaltung für User oder Communities, und unentgeltliche Arbeitsleistung zugunsten der Plattformen. Deshalb kommen hier auch diejenigen Subjektivierungsmodelle, die im Anschluss an Louis Althusser die Hervorbringung des Subjekts durch Unterwerfung unter das Gesetz eines sozialen Zusammenhangs erläutern, an ihre Grenzen. Die Terminologien der Unterwerfung, Einschließungsmilieus, Disziplinierung und Hierarchien scheinen die spezifische Relationalität digitaler Räume nicht mehr treffend zu beschreiben.3 Trotzdem ist ein – wenn auch aktualisierter – Begriff der Subjektivität die theoretische Figur, mit der das Empfinden von Nutzer_innen, selbstbestimmt und lustvoll zu agieren, ernst genommen und zugleich ein Raum für Kritik eröffnet werden kann. Denn der Begriff der Subjektivität weist dieses Empfinden als medienkulturell situiert und produziert aus – und somit als wandelbar und emanzipatorisch gestaltbar. Unter »Subjektivität« verstehen wir in Anschluss an das Spätwerk Michel Foucaults (2007a [1984]) sowie an die Arbeiten von Gilles Deleuze (1987 [1986]) und Félix Guattari (2014 [1992]) die spezifischen Erfahrungsweisen und Formen der Selbstbezüglichkeit, die in einem medienkulturell gerahmten sozialen Gefüge ins Werk gesetzt werden und zugleich wesentlich zum Funktionieren des Gefüges beitragen. Subjektivität ist als Produkt und Vollzugsform technologischer Zusammenhänge zu verstehen, und das heißt auch: Was man als die eigenen Gefühle, Gedanken, sozialen Bedürfnisse und Impulse wahrnimmt, wird in dieser theoretischen Perspektive darauf hin befragt, inwiefern es als Teil eines größeren, durch digitale Technologien vermittelten Gefüges hervorgebracht wird und durch Reflexion, Diskussion und selbstbestimmte Eingriffe modifiziert werden könnte. Subjektivität ist insofern stets Produkt von Subjektivierung, die jedoch nicht als Unterwerfung, sondern als Prozess der Konstitution – als Subjektwerdung in einem Netz von Relationen – zu verstehen ist.

Affekt und Subjektivität

Auch im Kontext der Affect Studies bildet der Begriff der Subjektivität einen Gegenstand lebhafter Debatten und Auseinandersetzungen (vgl. zur Übersicht Blackman u. a. 2008). In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass der Affektbegriff für die im Poststrukturalismus stark gemachten Begriffe »Subjektivität« und »Subjekt« einen paradoxalen Denkraum eröffnet, in dem besonders die Lokalisierung affektiver Erfahrungsgehalte in der individualistisch gedachten Instanz eines (diskursiv produzierten) »Subjekts« in Frage gestellt wurde. So ist nämlich in der spinozistischen Tradition die Idee angelegt, dass Subjektwerdung selbst von Affizierungsrelationen abhängt und als Produkt eines relationalen, affektiven Geschehens zu verstehen ist – die ontologische Abhängigkeit der Kategorien Subjekt und Affekt wird damit umgedreht. Affekt wird von einigen Proponent_innen dieser Tradition gelegentlich sogar als ›autonomer Überschuss‹ und ›Unfassbares‹ theoretisiert, als ein Geschehen, das über die Gehalte individueller Bewusstseinszustände hinausweist, und das in den Semantiken reflexiver Kommunikation immer nur unzureichend eingehegt und nie voll und ganz erfasst werden kann (Massumi 1995). In dieser Fluchtrichtung deutet sich ein posthumanistischer Zugriff auf das Thema Subjekt an, der »eine Dezentrierung der Frage des Subjekts auf diejenige der Subjektivität« einfordert, wie es Félix Guattari schon in den 1990ern zum Programm erhoben hat:

»Traditionell ist das Subjekt als allerletzte Wesenheit der Individuierung verstanden worden, als reine präreflexive, leere Apprehension der Welt, Herd der Sensibilität, des Ausdrucksvermögens, als Einiger der Bewusstseinszustände. Mit der Subjektivität wird vielmehr die gründende Instanz der Intentionalität betont. Es geht darum, die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Objekt von der Mitte aus zu erfassen und die ausdrückende Instanz [...] in den Vordergrund rücken zu lassen.« (Guattari 2014 [1992]: 34)

Diese »ausdrückende Instanz« bezeichnet nicht notwendigerweise als Einzelne verfasste Individuen. Mit dem Begriff der Subjektivität rückt ein transindividualistisches Konzept eines »Unbewusste[n] des Flusses [Flux] und der abstrakten Maschinen« in den Blick (ebd.: 22), das Guattari (mit einem heute nicht mehr unbedingt begreifbaren Optimismus) von der Maschine der »geisttötende[n] Massenmediatisierung« abgrenzt und das tatsächlich erstaunlich passgenau auf die spezifische Relationalität digitaler Vernetzung und ihrer Verwertungslogiken zugeschnitten zu sein scheint. Die Kategorie des Subjekts wird mit dieser theoretischen Verschiebung hin zu Subjektivität nicht verworfen, sondern tritt als abgeleitete und prinzipiell nichthumanistisch verfasste Instanziierung von Subjektivität zutage:

»Wir wissen, dass sich die Subjektivität in bestimmten sozialen und semiologischen Kontexten individuiert; eine als für sich selbst verantwortlich angesehene Person positioniert sich innerhalb der von den Familiensitten, den lokalen Bräuchen, den juristischen Gesetzen usw. beherrschten Alteritätsverhältnisse. Unter anderen Bedingungen wird die Subjektivität kollektiv, was nicht bedeutet, dass sie deswegen ausschließlich sozial wird.« (Ebd.: 17)

Folgt man diesem theoretischen Zugriff, erweist sich ein Subjekt der vernetzten Medien als prozessualer Knotenpunkt mannigfaltiger Relationen, die immer schon mehr als dieses Subjekt sind, über es hinausgehen und ihm gegenüber als ontologisch primär gedacht werden müssen. Für einige Vertreter_innen der Affect Studies folgt hieraus das Programm eines »exploring subjective behavior beyond the human subject« (Hansen 2014: 65) – ein Ansatz, dessen Potenziale sich auch einige Beiträge des vorliegenden Sammelbands zunutze machen. Die hierin angelegte posthumanistische Tendenz führte in jüngster Zeit sogar zu einer kleinen Umwälzung innerhalb der Affect Studies: Dem Medientheoretiker Mark B. Hansen zufolge hat der affective turn nicht nur den Körper und das Somatische wieder in den Vordergrund philosophischer und kulturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen gerückt, sondern birgt das noch viel radikalere Versprechen, mittels des Affektbegriffs die Materie selbst (ebd.), beziehungsweise »affect-itself« (Clough, Goldberg u. a. 2018 [2007]: 1), in den Fokus zu nehmen. Von technischen Operationen und maschinischen Gefügen ist dann die Rede, in denen es »feelings without feelers« (Hansen 2014: 65) zu denken gelte und Affekt als ökologische Kraft ins Spiel komme (Angerer 2017; Hansen 2014; Hansen 2015; Parisi 2014).

Ein Beispiel für diese theoretische Entwicklung der Affect Studies liefert eine Studie des Soziologen Robert Seyfert, der anhand ethnographischer Beobachtungen die Mensch-Maschine-Interaktion in den Kontrollräumen des High Frequency Trading untersuchte (2018). Er beschreibt, wie menschliche Operateure in diesen Settings nicht kognitiv-informationsverarbeitend, sondern über Sounds, Farben und blitzschnelle Signale auf großen Wänden voller Computerbildschirme mit den automatisierten Trading-Prozessen verbunden sind, in denen sie schnell und intuitiv, wie in Trance oder wie in einem mitreißenden Computerspiel agieren und reagieren. Seyfert führt ein interessantes Detail an: Bei der Schichtablösung kommen die Mitarbeiter_innen der neuen Schicht eine halbe Stunde früher in den »control room«, um sich auf die aktuelle Situation des Handelsprozesses »einschwingen« zu können. Es gehe um ein »getting the feel« für ein Mensch-Maschine-Interaktionssystem, »das jedes klassische Verständnis davon übersteigt, wie Menschen und Maschinen miteinander interagieren, z.B. durch Kognition oder symbolische Kommunikation« (ebd.: 202, eigene Übersetzung). Wer den Kontrollraum betrete und »the process« übernehmen wolle, der müsse die Form der Subjektivität wechseln, beziehungsweise seine mitgebrachte, individuelle Subjektivität erst »auflösen«:

»Getting a feel is [...] a liminal process that marks the transition from the form of subjectivity with which the person enters the room to the immersion (and dissolution) of the subject within the socio-technical ensemble. Getting a feel is the transgression of the subject that is necessary to immerse oneself within this ensemble.« (Ebd.: 202)

Seyfert betont hier das transgressive Moment »intensiver Affekte«, welches die »Integrität des Subjekts bedrohen« könne und mitunter »stärker [sei] als die emotionale Konfiguration des individuellen Subjekts« (ebd.: 203). Im Register der Affektivität könne die »Attraktion« zwischen Mensch und Maschine so stark sein, dass ihre Kräfte den vermeintlich semantisch geordneten Raum eines individuellen subjektiven Inneren durchkreuzen, nach außen stülpen oder auflösen, und letztlich also »de-subjektivierend« wirken.

Diese Beschreibung einer De-Subjektivierung scheint auch auf den Kontext von Instant Messaging, Self-Tracking, sozialen Medien, allgegenwärtiger Smartphone-Benutzung oder immersiven Gaming-Erlebnissen übertragbar zu sein. Aus unserer Sicht wirft sie allerdings vielmehr die Frage auf – anstatt eine abschließende Antwort zu liefern –, wie es sich in den soziotechnischen Assemblagen des Alltags mit der Subjektivität verhält. Denn Subjektivität ist darin keineswegs einfach »aufgelöst«. Einerseits beschreibt Seyfert hier ja einen Wechsel in eine andere – aufgelöste oder dispersive – Form der Subjektivität, andererseits währt der Zustand der »Immersion« innerhalb dieser intensiven Dynamik zwischen Mensch und Maschine auch in diesem Beispiel nicht ewig. Es ist vielmehr die klassische Form des Subjekt, verstanden als personale Instanz einer Selbstreflexivität des Denkens, Fühlens und Handelns, die sich durch den situativen Wechsel der Subjektivität auflöst. Die Person ist in der technologisch initiierten Verschmelzung mit dem maschinischen Gefüge nicht mehr Agens, denn die dispersive Form der Subjektivität durchkreuzt den »klassischen« Erfahrungsraum von auf den eigenen Körper und auf das eigene Selbst bezogener Handlungsautorität. Das, für sich genommen, macht den sozialtheoretischen Begriff des Subjekts allerdings nicht obsolet, es ruft vielmehr nach einer geeigneten Neuformulierung. Denn die Dauer des Subjekts übersteigt den einzelnen intensiven Kontext und liegt vielleicht gerade darin, einen chaotischen, potenziell spannungsgeladenen Knotenpunkt verschiedener, auch disparater Subjektivitäten und ihrer Auflösungserfahrungen zu bilden. Immersive Verschmelzung ist nicht per se an eine reflexive Instanz gebunden. Aber sie kann an eine solche rückgebunden werden und über die immersive Situation hinaus transformierend wirken, indem sie eine Erfahrung davon liefert, was der eigene Körper alles kann – und das mag überraschend sein, denn es hängt vom jeweiligen medialen und relationalen Kontext ab. Internetsucht, Trading-Trance, zombihaft-zerstreutes Scrollen auf dem Smartphone, das Vergessen von elementaren Bedürfnissen beim Computerspielen oder Binge Watching, ja sogar das »zwanghafte Programmieren«, das Joseph Weizenbaum schon in den 1970er Jahren beschrieben hat (vgl. Weizenbaum 2008 [1976]: 155 ff.) – all dies sind momentane Zustände der »Vereinnahmung oder Verschmelzung« in Immersion (Mühlhoff und Schütz 2019), die aber durch Praktiken und Techniken der Reflexion, des Dialogs, der Auseinandersetzung und der Narrativierung als ein mikrosozial geteiltes, reflexives Verhältnis des Selbst zu diesem Umstand der Verschmelzung angeeignet werden können.

Subjekt und Kritik

Die »Dezentrierung der Frage des Subjekts« oder gar dessen posthumanistische Überwindung hat wahlweise die Konzepte maschinischer, dispersiver, transindividueller oder gar aufgelöster Subjektivitäten hervorgebracht. Diese wurden seit den 1990er Jahren oftmals mit dem (berechtigten) Optimismus in die Diskussion getragen, humanistische, eurozentrische, psychoanalytische und strukturalistische Standardmodelle »des Subjekts« und seiner inneren Triebstruktur zu überwinden. Unser Punkt ist nun allerdings, dass diese Beschreibungen heute ihren kritischen Stachel eingebüßt haben und stattdessen in auffälligem Einklang mit der spezifischen Produktion von Subjektivität und ihrer Verwertung in den medialen Gefügen der digitalen Vernetzung stehen. Das wirft aus unserer Sicht die Frage auf, welcher theoretische Zugriff auf das Subjekt-Problem einen neuen kritischen Impuls im Hinblick auf die Vereinnahmungstendenzen des digitalen Kapitalismus entfachen kann.

Um einen für die Verwertungslogiken der Digitalen Gesellschaft wirkungsvollen Modus der Kritik zu artikulieren, bringen wir deshalb neben der Kategorie der Subjektivität gezielt wieder die des Subjekts ins Spiel. Wir verstehen das Subjekt allerdings nicht als metaphysische Instanz einer primären Innerlichkeit, Triebstruktur, Agentialität oder Rationalität, sondern als abgeleitetes, ja sogar methodisch erwirktes Ereignis der Instanziierung einer sich selbst als denkend, fühlend und handelnd empfindenden Einheit in der Immanenz maschinischer Gefüge und ihrer spezifischen Subjektivitäten. Das Verhältnis von Subjektivität und Subjekt ist die Theoriestelle, die einen Angriffspunkt für Kritik an und in den technologischen Formationen des 21. Jahrhunderts markieren kann: Sich selbst als Subjekt einer bestimmten technologischen Subjektivität zu begreifen – zum Beispiel einer Social-Media-Plattform, einer Gamingkultur oder eines hochautomatisierten Börsenparketts –, bedeutet die kritische und ethische Haltung einzunehmen, sich als performative Agent_in und Kompliz_in dieser Subjektivität zu verstehen, ihre Wirkungen und Effekte aber gerade dadurch an sich selbst und anderen studieren zu können, um daraus die Möglichkeit subversiver Interventionen abzuleiten (Foucault 2010 [1978]; Foucault 2007b [1984]).

Die womöglich größte Bedrohung für eine digitale Ökonomie, die auf das impulsive Liken, Teilen und Kommentieren, auf das intuitive Manövrieren, Klicken und Einwilligen, auf den freiwillig zur Verfügung gestellten Datenreichtum, das Misstrauen in redaktionelle Medien und die Aktivierung sozialer Antriebe wie Selbstbestätigung und Zugehörigkeitsgefühl setzt, sind Individuen und Kollektive, die als Subjekte die technologischen Strukturen ihrer Subjektwerdung hinterfragen. Neben der philosophisch-spekulativen Herangehensweise an die (sei es ontologische oder gar kosmologische) Konstitution von Welt sind für dieses Projekt der Befragung vor allem Mikroanalysen der gelebten und erfahrenen medientechnologischen Gegenwart erforderlich – denn die Gefüge der technologischen Subjektivität sind plural und kontextabhängig, sie lassen sich nicht von einer übergeordneten Warte beschreiben und kritisieren. Situierte Analysen milieuspezifischer Genealogien des Mediengebrauchs und der eigenen digitalen Verwobenheit erlauben es dagegen, die Frage nach der jeweiligen medienhistorischen Gewordenheit unserer selbst in eine kritisch-experimentelle Haltung zu integrieren.

Wenn wir also im Rahmen einer kritischen Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft ganz emphatisch an den Begriffen der Subjektivität und – in abgeleiteter Form – des Subjekts festhalten, dann in einem zukunftsgewandten und programmatischen Sinn. Die Perspektive des Subjekts bekommt tatsächlich eine neue Dringlichkeit, wenn ihr Zweck nicht als deskriptiver, sondern als appellativer erkannt wird: Nach einer zur kollektiven und politischen Willenssache verkehrten »Antinomie der Freiheit« wird das Subjekt zur Ziel- und Hoffnungsfigur einer kritischen Methodologie, der es um die Adressierung und Mobilisierung potenziell betroffener Agent_innen netzbasierter Subjektivitäten geht – das können sowohl Individuen als auch Kollektive sein. Für wen produziert man kritische Sozialtheorie, wenn nicht für rezipierende Instanzen, denen man Erkenntnisvermögen, Verantwortlichkeit und Gestaltungskraft über die gemeinsamen Verhältnisse zutraut – ja, notwendigerweise zutrauen muss? Wer ein Buch publiziert, der hofft auf das Vorhandensein einer reflexiven Praxis von Individuen, Kollektiven und Gesellschaften über sich selbst, deren Selbstgestaltungswillen durch diese alte Form der Schriftlichkeit erreichbar ist. Natürlich ist diese Gestaltungskraft nicht »verloren gegangen« in den vielfältigen Subjektivitäten einer digitalisierten Welt, sondern sie war und ist stets ein performatives Produkt auch eines kritischen Diskurses, der eine solche Instanz adressiert und damit zuallererst hervorbringt. In diesem Sinne schreiben wir tatsächlich für Menschen und nicht für Maschinen oder Computer, auch wenn unsere Texte, noch ehe sie eine menschliche Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen wird, bereits den Indizierungsmaschinen und künstlichen Intelligenzen von Google Books & Co. zugeführt worden sein werden – und wer weiß, vielleicht nur durch deren Vermittlungsarbeit die Menschen erreicht. Das Subjekt, als im kritischen Diskurs eingesetzte Instanz einer Subjektivität, als humanoide, transhumanoide oder kollektive Materialisierung kritischer Selbstbezüglichkeit, ist der Zielpunkt einer performativen Relation von Theorie zu ihren Adressat_innen. Wir möchten diese Subjekte dazu anhalten zuzuhören, zu diskutieren, und etwas zu verändern.

5Zur Struktur des Bandes

Der vorliegende Band untergliedert sich in drei Hauptteile. Unter dem Titel »Infrastrukturen der Kontrolle« versammeln wir im ersten Teil Texte, die sich mit den materiellen Bedingungen der digitalen Vernetzung beschäftigen und ihre Machteffekte befragen. Alle vier Beiträge zeichnen sich durch einen – wenn auch jeweils ganz verschieden gearteten – Blick auf die Geschichte und Beschaffenheit digitaler Mediendispositive aus.

Als wir im Sommer 2016 begannen, über diesen Sammelband nachzudenken, wurden global nationalpopulistische Bewegungen stark. Großbritannien hatte für den Brexit gestimmt, in den USA stand Donald Trump kurz vor der Wahl, in Deutschland erlebte »Pegida« einen unerwarteten Aufwind. Wie in kaum einem Jahr zuvor wurde deutlich: Wir leben in Zeiten, in denen Wut und Hass Konjunktur haben, und Kontrollverlust zur mutmaßlich größten Bedrohung avanciert. Zentral in dieser Entwicklung sind digitale Medien und soziale Netzwerke. Aber warum eigentlich? Und welche Rolle spielt dafür speziell die Datensammelwut, die hinter den digitalen Medien und sozialen Netzwerken steht? Diesen Fragen widmet sich Anja Breljak in ihrem Text Die Zeit der Datenmaschinen. Breljak fragt danach, welche sozialen und gesellschaftlichen Effekte mit der universellen Datafizierung einhergehen und welche Geschichte sich davon erzählen lässt.

Kurz nach der Wahl von Donald Trump zum 45. US-Präsidenten wurde bekannt, dass das Datenanalyse-Unternehmen Cambridge Analytica mithilfe einer Facebook-App große Mengen psychometrischer Daten über Wähler_innen in den USA dazu benutzte, maßgeschneiderte Wahlwerbung für die Trump-Kampagne zu verbreiten. Der Skandal machte erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt, dass sich durch subtile Eingriffe in die Kommunikationsprozesse des sozialen Netzwerks auch das Denken, Fühlen und Handeln der Nutzer_innen manipulieren und modulieren lässt. Facebook erwies sich damit als ein technologischer Apparat, der die modernste Form des kybernetischen Regierens implementiert – so die zentrale Einsicht von Felix Maschewski und Anna Verena Nosthoff in ihrem Artikel über Facebook als »kybernetische Regierungsmaschine«. Ein Blick auf neuere Trends wie nudging und social physics lässt die psychopolitischen und affektiven Mechanismen erkennen, mit denen Facebook das forciert, was Maschewski und Nosthoff als Netzwerkaffekte bezeichnen.

Netzwerkinfrastrukturen, die zum Zweck der Datensammlung entworfen werden, sind auch das Thema des Artikels Big Data is Watching You: Digitale Entmündigung am Beispiel von Facebook und Google von Rainer Mühlhoff. Er setzt sich mit dem Prinzip der »informierten Einwilligung« auseinander, mit dem große Plattformen zumeist legal und in großem Umfang Nutzungsdaten sammeln. Damit werden Klicks und Bewegungen im Internet detailliert protokolliert, um verhaltenspsychologische und ökonomometrische Analysen über die Nutzer_innen zu erstellen. Der Text studiert für verschiedene Formen der mehr oder weniger freiwilligen Datenerhebung die Techniken der Gestaltung von Nutzer-Interfaces. Die Tatsache, dass diese Techniken oftmals auf der aktiven Mitarbeit der User beruhen, führt zur der These einer spezifischen Subjektivierung durch digitale Interfaces, die Mühlhoff als »digitale Entmündigung« beschreibt.

Shirin Weigelt richtet in ihrem Text zum Tasten: Taktilität als Paradigma des Digitalen unsere Aufmerksamkeit auf den Moment des Kontakts zwischen Nutzer_in und digitaler Oberfläche. Mit dem Fokus auf die Berührung lassen sich nämlich jene paradigmatischen Handlungen der digitalen Kultur aufarbeiten, die im Narrativ nichtmaterieller Informationsverarbeitung und virtueller Welten des Digitalen schnell aus dem Blick geraten. Von den kleinen Gesten des Tippens, Klickens und Wischens ausgehend, die wir tagtäglich hundertfach ausführen und die im Zentrum unserer körperlichen Relation zu digitalen Geräten stehen, zeigt Weigelt, dass es in der heutigen Medienkultur auf die Kopplungsmomente zwischen Hardware, Software und wetware ankommt.

Der zweite Teil des Bandes versammelt unter dem Titel »Affekt, Netz und Subjektivität« Studien zu den sozialen Beziehungsweisen unter Bedingungen der digitalen Kommunikation. Die Texte in diesem Abschnitt fragen nach der Sozialität in vernetzten Formationen, in denen wir heute arbeiten, uns kennenlernen, lieben, betrauern, stalken oder hassen. Hier werden die jeweiligen medialen Politiken der Formierung und Deformierung von Subjektivitäten untersucht.

Soziale Medien haben längst auch die Büros, Schreibtische und Arbeitsbeziehungen neu angeordnet. Während Arbeit immer stärker in die intimen Sphären des Zuhauses, der Freizeit und der Freundschaften vorrückt, werden die arbeitenden Subjekte immer verfügbarer und zugleich umso prekärer. Eine besondere Rolle spielen dabei neue Kommunikationsmedien: die E-Mail, die noch schnell aus dem Bett heraus beantwortet werden muss; die Instant-Messaging-App, die verrät, ob eine Nachricht bereits gelesen wurde oder gerade getippt wird; Plattformen, die auf die Privatvermarktung der eigenen Wohnung drängen. Jorinde Schulz widmet sich in ihrem Text zu Klicklust und Verfügbarkeitszwang der Entstehung einer »neuen digitalen Hörigkeit« in den »techno-affektiven Gefügen« diverser sozialer Medien.

Jemanden »auf Facebook stalken« gehört längst zum leichtfertig-selbstironischen Sprachgebrauch der Millennial-Generation. Dabei versteckt sich hinter dieser Phrase eine typische Euphemisierung des ernsthaften und die Betroffenen schwer beeinträchtigenden Straftatbestands des Stalkings. Katharina Dornenzweig arbeitet in dem Text Die umkämpfte Grenze zwischen Liebe und Stalking die popkulturellen Narrative heraus, mittels derer die Handlungsmuster des Stalkings fest in das Dispositiv der romantischen Liebe eingewoben werden. Dafür erweitert sie die von Miranda Fricker geprägte Theorie »hermeneutischer Ungerechtigkeit« am Beispiel Stalking um die Analyseebene affektiver Dissonanzerfahrungen durch implizit aufgezwungene, aber das eigene Erleben nicht erfassende Narrative in Bezug auf Stalkinghandlungen. Dabei erschließt Dornenzweig nicht nur affekttheoretisch, sondern auch narrativ einen spezifischen Komplex von Subjektivität und Machtwirkung zwischen Sprache, populären Darstellungen und persönlichen Beziehungen im Kontext digitaler Mediendispositive.

Eine weiteres zentrales Territorium digitaler Subjektivitäten untersucht Jule Govrin in More Substance Than A Selfie? Affektökonomien des Authentischen beim Onlinedating. Am Beispiel beliebter Plattformen wie Tinder und OkCupid fragt sie nach den Formen der Produktion und Präsentation von Identität, Authentizität und Begehren. Govrin arbeitet heraus, wie die Datingseiten im Stil der sexuellen Liberalisierung auf progressive Selbstdarstellung und die Betonung individueller Merkmale drängen, während eben diese Merkmale damit zugleich standardisiert, rigide codifiziert und psychometrischen Big-Data-Verfahren zugeführt werden. Dafür ist die maschinenlesbare Benennung des eigenen Begehrens und der bevorzugten Spielarten der Sexualität zentral – das erst schafft die Grundlage für Bewertungen, Berechnungen und das »algorithmische Matchmaking« und lässt ein für den Spätkapitalismus charakteristisches Sexualitätsdispositiv entstehen.

Am 14. Februar 2018 kam es an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida, zu einem Amoklauf mit 17 Todesopfern. Während Attentate an Schulen in den USA längst zur traurigen Gewohnheit geworden sind, hat in diesem Fall eine Gruppe von überlebenden Schüler_innen eine wirkmächtige Protestbewegung initiiert: Unter dem Hashtag #neveragain war es ihr gelungen, die US-Medien wochenlang in Atem zu halten und ein Zeichen progressiv-politischer Handlungsfähigkeit zu setzen. Henrike Kohpeiß geht in Tears in Heaven: Mediale Politiken des Schmerzes den medialen Performanzen der #neveragain-Aktivistin Emma González nach, die nach dem Amoklauf ihre Trauer für den Protest gegen Waffengewalt einsetzte. Kohpeiß liest González als mediale Figuration und fragt entlang ihrer Auftritte danach, was die Parkland-Proteste und ihre Darstellung von Leid und Schmerz politisch so wirksam gemacht hat.

Auch der ›neue‹ Nationalpopulismus steht unter Verdacht, durch ›neue‹ Medien zu seiner gegenwärtigen Manifestation und Ausdrucksform gelangt zu sein. Christian Ernst Weißgerber skizziert in Die neue Lust am Ressentiment Grundzüge eines affekttheoretischen Zugriffs auf diese Entwicklung. Dafür aktualisiert er den wesentlich durch Friedrich Nietzsche geprägten Begriff des Ressentiments und grenzt ihn im Anschluss an Gilles Deleuze und Félix Guattari von verwandten Sentimenten wie Assentimentalität, Pressentimentalität, Consentimentalität und Dissentimentalität ab. Dabei kommt es ihm darauf an, Ressentimentalität, also das ständige Wieder-Erleben einer vergangenen Kränkung, die auf Vergeltung drängt, mittels Durcharbeitung in die benachbarten, politisch weniger gefährlichen Sentimente zu überführen.

Der dritte und letzte Teil dieses Bandes ist mit dem Titel »Öffentlichkeit, Protest und Politik« überschrieben. Hier versammeln wir Texte, die sich mit den spezifischen medialen Bedingungen politischen Handelns in unserer vernetzten Zeit beschäftigen und darin öffentliches, kollektives oder widerständiges Agieren untersuchen. Welche politischen Effekte, welche Regungen, Reize und Gereiztheitenspielen dabei eine Rolle? Wie werden unter den Bedingungen des Digitalen Aufbegehren, Widerstand und Gemeinschaft artikuliert? Wie wird Veränderung eingefordert, wie der Istzustand kritisiert?

Shitstorms, Trolle und Hasskommentare sind Phänomene der Online-Welt, die zwischen Aufbegehren und Zerstörungswut changieren. Philipp Wüschner argumentiert in The Internet is Dead – Long Live the Internet für die Relevanz einer Online-/Offline-Differenz zur Rejustierung des medientheoretischen Verständnisses derartiger Phänomene. Weil soziale Medien, die in jede Nische des Alltags vordringen, die Reflexion über ihre eigene Medialität verwischen, schlagen Überempfindlichkeiten und Gereiztheiten schnell in Überreaktionen um – ein Spiel, das in der Welt der Trolle systematisch provoziert wird. Die Vergessenheit um das Online-Setting in Differenz zur Offlinewelt ruft so in doppelter Weise die Affekte eines »idiosynkratischen Aufbegehrens« hervor: nämlich sowohl als Folge dieser Differenzvergessenheit als auch in Reaktion auf sie.

Im Anschluss daran geht Marie Wuths Artikel Affektive Netze: Politische Partizipation mit Spinoza von der grundlegenden These aus, dass jedwede Form des Handelns – ob online oder offline – als politische anzusehen ist. Unter der Bedingung von digitalen Medien jedoch verändert sich das Verhältnis zwischen globalem und lokalem Handeln, wie sich etwa am Beispiel der #metoo-Bewegung zeigen lässt. Damit rückt auch die Frage in den Vordergrund, wie und unter welchen Bedingungen politische Partizipation in der Situation der digitalen Vernetzung möglich ist. Im Rückgriff auf die Immanenzphilosophie Baruch Spinozas bringt Wuth zur Diskussion dieser Bedingungen den Begriff des »affektiven Netzes« ins Spiel und liefert damit einen wichtigen Theoriepfeiler für den vorliegenden Band.

Dem für die Diskussion politischer Formen im Kontext von Onlinemedien zentralen Begriff der Öffentlichkeit widmet sich schließlich Jan Beuerbach. In seinem Text Öffentlichkeit trotz alledem: Polemisches Erscheinen und Archivarbeit postdigitaler Proteste schlägt er einen Begriff der politischen Öffentlichkeit vor, der speziell auf die Transformationen durch digitale Kommunikationsmöglichkeiten abgestimmt ist. Im Anschluss an Hannah Arendt, Jacques Rancière und Judith Butler plädiert er für ein agonistisches Modell, mit dem sich Protest als paradigmatische Manifestation von Öffentlichkeit begreifen lässt. Damit rücken nicht nur die Körper, die Modi ihrer Versammlung und ihres Erscheinens in den Fokus, auch die Kämpfe um Aufmerksamkeit und Empörungsspiralen als typische Phänomene netzbasierter Öffentlichkeiten lassen sich in dieser Perspektive greifen. Das macht die Notwendigkeit einer Archivarbeit des Protests umso größer, um affektive Spuren von Unterdrückungserfahrungen im kollektiven Gedächtnis festhalten zu können.

Auch die Zeitzeugenschaft kann uns die affektiven Spuren vergangener Kämpfe vermitteln und für die gegenwärtige historische Situation sensibilisieren. Im Gespräch mit Toni Negri fragen Anja Breljak und Jorinde Schulz nach der Geschichte der Arbeiterbewegung im Italien der 1960er und 1970er Jahre. Gemeinsam mit Negri diskutieren sie die Ansätze der Operaist_innen zu Fragen des Kapitals, der Arbeit und des Protests hinsichtlich ihrer Aktualisierbarkeit für die Gegenwart. Wie sich heute Spinozas Begriff der Multitude, der Marxismus als Werkzeug und das Konzept der »gesellschaftlichen Arbeiter_in« nutzen lassen, was sich von der zweiten Welle des Feminismus und den Argumenten für ein bedingungsloses Grundeinkommen lernen lässt und wie sich darin der jüngste Rechtspopulismus und die Macht der Algorithmen verorten, erörtern sie unter dem Titel Die Mächte verstehen, die am Werk sind.

Schließlich greift Jan Slaby im Nachwort Negri und Wir: Affekt, Subjektivität und Kritik in der Gegenwart die hier begonnene Diskussion über Möglichkeiten und Formen von Kritik in den heutigen Zeiten »entgrenzter Regierbarkeit« wieder auf. Die Impulse Negris aufnehmend, formuliert er ein Konzept anti-kapitalistischen Widerstands, das auf jüngere Beiträge der Affect Studies zurückgreift. Zum einen plädiert Slaby für eine Abkehr vom »Produktionsparadigma der Moderne«, das er im Arbeitsethos des Postfordismus ungebrochen am Werk sieht. Zum anderen skizziert er, angelehnt an Félix Guattari und María Lugones, ein dissidentes »Dispersionsmodell« von Subjektivität als Alternative zu klassischen Vorstellungen eines selbstidentischen und hierarchisch verfassteanchorn Subjekts. Welche Möglichkeiten die dispersiven Subjektivitäten von heute bergen und zu welchen neuen Konstellationen von Affekt, Subjektivität und Kritik sie führen, ist schließlich eine der drängenden Fragen unserer Zeit.

Hintergrund und Danksagung

Das Herausgeber_innen-Team dankt herzlich Charlotte Thielmann für ihre verständigen und geduldigen Lektorate und die Unterstützung beim Textsatz. Dank gebührt ferner dem DFG-Sonderforschungsbereich 1171 Affective Societies sowie dem Fonds zur Ko-Finanzierung von Open-Access-Monografien und -Sammelbänden der Freien Universität Berlin für die finanzielle Unterstützung dieses frei zugänglichen Werkes unter einer Creative-Commons-Lizenz.

Das Medium Sammelband ist ein kollaboratives Format, das eine Vielfalt an Stilen, Ansätzen, theoretischen Ressourcen und Autor_innen zusammenführt. Die Autor_innen unseres Buchprojektes vereint eine gemeinsame, teils viele Jahre andauernde Diskussion, die im Umfeld des Instituts für Philosophie der Freien Universität Berlin, des Kolloquiums von Jan Slaby und des Sonderforschungsbereichs 1171 Affective Societies stattfand. Der Sammelband ist Resultat und Materialisierung eines zeitgenössischen philosophischen Denkens einer Gruppe von Nachwuchswissenschaftler_innen zu Fragen und Problemen der vernetzten Gegenwart. Er bildet eine philosophische Haltung ab, die sich aktuellen Fragen von Affekt, Subjektivierung und Politik stellen und das theoretische Denken an einem drängenden Problemkomplex bewähren möchte. Bedingt durch den aufwändigen Publikationsprozess ist ein solcher Band naturgemäß mit Erscheinen schon längst nicht mehr ganz up to date, liegen doch nunmehr einige Monate zwischen unseren einstmaligen Überlegungen und den fertigen Buchbeiträgen. Insofern ist diese Textsammlung ein Stück weit auch ein Archiv, anhand dessen sich die »Schichten« eines Diskussionsstandes zu einem sich schnell verändernden Thema ablesen lassen. Wir danken dem Engagement aller Autor_innen dieses Buchprojekts und dem Kolloquium von Jan Slaby für die zahlreichen Diskussionen.

Editorische Bemerkungen

Seitenzahlen in Literaturverweisen erscheinen hinter einem Doppelpunkt nach der Referenz, zum Beispiel verweist die Angabe Flusser 1995: 17 auf Seite 17 in Flusser 1995. Sollten zitierte Passagen Hervorhebungen (Kursivierungen) enthalten, so finden die sich bereits im Original, wenn nicht anders vermerkt. Sollten zitierte Passagen Einschübe oder Auslassungen in eckigen Klammern [...] enthalten, so stammen diese von der Autor_in des jeweiligen Textes dieses Sammelbandes, wenn nicht anders angegeben. Die Rechtschreibung in zitierten Passagen wurde der heute gültigen Rechtschreibung angepasst. Alle URLs und Online-Quellen wurden, wenn nicht anders vermerkt, am 1.4.2019 aufgerufen. Zur inklusiven Kennzeichnung geschlechtsspezifischer Substantive und Pronomen verwenden wir im Regelfall den Unterstrich _. Ist das Hauptwort ein entsprechend gegendertes Substantiv, so wird eine Doppelkonstruktion des Artikels vermieden, es werden stattdessen meist weibliche Artikel und Pronomen verwendet, so dass (im Femininum) ein grammatikalisch korrekter Satz hörbar wird (»die Autor_in, die dies geschrieben hat«).

Literatur

Wissenschaftliche Literatur

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