African Queen - Rüdiger Happ - E-Book

African Queen E-Book

Rüdiger Happ

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Beschreibung

Völlig erschöpft und dennoch schlaflos lag Robertson später auf einer Matte neben fünf anderen Männern in einer Hütte. Plötzlich ließ ihn ein Zischen aufhorchen. Leise erhob er sich und schlich nach draußen. Kurz darauf erkannte er an den klar und akzentfrei geflüsterten englischen Worten Lord Peter. "Holen Sie mich hier heraus!" drängte er. "Schon so viele Jahre warte ich auf einen Weißen, der mir helfen kann!" "Wieso? Ihnen scheint es bei Sadiki doch gut zu gefallen - und wozu diese ganze Geheimnistuerei?" "Wenn Sadiki erfährt, daß ich fliehen will, werde ich vor dem ganzen Stamm ausgepeitscht. Deshalb muß ich so desinteressiert tun. Aber wenn Sie wüßten, wie furchtbar es hier ist! Ich habe heute Ihren kleinen Knochen an Ihrem Schwanz baumeln sehen. In Adetokumbos Stamm ist man etwas männerfreundlicher als in dem von Sadiki. Mein bestes Stück ist ganz mit dornigen Holzstücken umgeben, die über Bastschnüre zusammengehalten werden. Monatelang dachte ich, ich halte es nicht aus …" Scharf zog Robertson die Luft ein; ihm wurde übel. "Und warum fliehen Sie nicht?" "Weil ich ständig unter Aufsicht stehe. Das Durcheinander durch das Eintreffen von Adetokumbos Leuten ist die erste halbwegs unbeaufsichtigte Gelegenheit …" "Dann verschwinden Sie jetzt!" rief Robertson laut und entsetzt. "Scht! Verdammt, seien Sie doch leise! Wenn uns jemand hört, werde ich sofort bestraft! Ich würde allein im Busch nicht überleben. Meine Flucht muß vorbereitet werden, und dafür brauche ich Sie. Sie können sich frei bewegen, Sie leben bei Adetokumbos Stamm. Dort herrschen die Frauen, aber sie foltern nicht." Irgend etwas stimmte an Lord Peters Erzählung nicht. "Sie wollen mir doch wohl nicht ernsthaft erzählen, Sie haben 20 Jahre lang nie die Gelegenheit gehabt zu fliehen? Was war denn, als die beiden Stämme aus dem Tschad weiter in den Süden zogen? Da kann man Sie doch gar nicht ständig unter Aufsicht gehabt haben, und Sie müssen ganz nah an verschiedenen Niederlassungen von Weißen vorbeigekommen sein." "Damals war ich die ganze Zeit gefesselt", entgegnete Lord Peter gleichmütig. "Und es war auch nicht immer so schlimm. Anfangs hat es mir gefallen. Aber dann ist vor etwa einem Jahr meine Gefährtin im Stamm gestorben, und ich habe das Interesse der neuen Stammeshauptfrau Sadiki geweckt. Sie bestimmte mich zu ihrem Sklaven. Und danach war alles ein Alptraum." Noch bevor Robertson antworten konnte, wurde er von hinten gepackt, und aus einem erstickten Laut von Lord Peter schloß er, ihm ging es ebenso.

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African Queen

In Sklavenketten durch den dunklen Kontinent

Forscher 1905 unter Fessel und Peitsche

Ein Expeditionsbericht

von

Irena Böttcher und Rüdiger Happ

Impressum Ebookausgabe unter dem Titel »African Queen;

in Sklavenketten durch den dunklen Kontinent«

© 2021 by Marterpfahl Verlag Rüdiger Happ,

Firstbergstr. 2, D-72147 Nehren

https://marterpfahlverlag.wixsite.com/erotikbuch

Marterpfahl_Verlag @ gmx.de

Titelbild: R. Happ unter Verwendung eines Bilds aus

Wikimedia: Fotograf: Galkey, African Shades, 7. Juli 2010

eISBN 978-3-944145-86-0

Impressum der Printausgabe unter dem Titel »Die Schrift«

© 2007 by Marterpfahl Verlag Rüdiger Happ,

Firstbergstr. 2, D-72147 Nehren

www.marterpfahlverlag.com

[email protected]

Umschlaggestaltung und Foto:

Ronald Putzker, Wien (www.putzker.com)

ISBN 978-3-936708-32-5

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Epilog

Noch’n Nachwort …

Allen wahren Liebhabern afrikanische Amazonen gewidmet :-)

Kapitel

1

ER SETZTE SICH UNTER EINEN BAUM mit merkwürdig geformten breiten, fleischigen Blättern; bewußt etwas abseits von den anderen. Mit vor Erschöpfung zitternden Fingern zog er ein großes, kariertes, zerknittertes Taschentuch aus der Tasche seines vor Schweiß starrenden hellen Tropenanzuges, nahm den harten, drückenden Helm ab und wischte sich die Stirn.

Nie hätte er gedacht, wie anstrengend diese Expedition werden würde und wie sehr ihm seine Begleiter auf die Nerven gehen sollten, schon nach nur fünf Tagen unterwegs im afrikanischen Busch.

Es war so unerträglich heiß, selbst nachts, wo die dunkle, feuchte Schwüle ihn nicht schlafen ließ, so daß er regelmäßig den Sonnenaufgang herbeisehnte, der ihm dann umgehend die Fortsetzung der Unbequemlichkeit brachte. Er schwitzte immerfort, hatte ständig Durst und einen Hunger, den nichts von den merkwürdigen Gerichten stillen konnte, die die schwarzen Träger bereiteten und von denen er lediglich hin und wieder voller Abscheu ein paar Bissen herunterwürgte, um eine völlige Entkräftung zu verhindern. Er hatte sich seit fünf Tagen nicht richtig waschen können, denn vor sämtlichen Wasserstellen, die dazu geeignet gewesen wären, wurde gewarnt. Es gab dort Schlangen, Skorpione und anderes Getier, das ihm mit einem einzigen, winzigen Stich mühelos das Leben nehmen konnte.

Manchmal wünschte er sich genau das herbei – etwas, das dieser Mühsal und Plage endlich ein Ende setzte.

Und noch stand nicht einmal fest, ob er das alles nicht völlig umsonst auf sich nahm.

Womöglich war es ein ganz fruchtloses Unterfangen, diesen Mann zu suchen, der angeblich Briefe von Lord Peter Denning in seinem Besitz hatte. Lord Peter, der vor etwa 20 Jahren irgendwo hier in diesem Gebiet spurlos verschwunden und nie wieder aufgetaucht war. Alle hielten ihn für tot, und alle vermuteten, er habe vor seinem Tod etwas ganz Entscheidendes entdeckt. Was das war, wollte unter anderem der Leiter des Instituts für Geschichte herausfinden, wo er vor knapp einem Jahr als Assistent angefangen hatte.

Deshalb war beschlossen worden, man würde diesen merkwürdigen Gerüchten um die von Lord Peter hinterlassenen Briefe nachgehen. Und er als der Jüngste im Institut war einstimmig dazu bestimmt worden, diese Strapaze auf sich zu nehmen.

Er hätte sich widersetzen können; seine Verlobte hatte ihm das dringend angeraten. Allerdings hatte man ihm unmißverständlich klargemacht, sollte er sich weigern, war seines Bleibens am Institut nicht länger. Und obwohl die Erbschaft seiner Eltern es ihm durchaus ermöglicht hätte, auf die Einnahmen aus dieser Stelle zu verzichten – er liebte seine Arbeit und wollte sie auf keinen Fall aufgeben.

Und deshalb war nun er als Altorientalist, als Mann des Schreibtischs, der Worte und der Bücher, unterwegs in einem fremden Land, das ihm in seiner Hitze ebenso feindlich erschien wie in der von allerlei unheimlichen Geräuschen erfüllten Dunkelheit der Nacht, das ihm jede Sekunde jeder Stunde jedes Tages Unbehagen bescherte.

Oh, wie die anderen schwatzten und lachten! Machte ihnen das alles gar nichts aus?

Da war Egbert Hegel, ihr Führer, ein Deutscher, der schon seit zehn Jahren im Busch lebte, da waren die Hauptpersonen, die beiden Brüder Pierre und Robert Liaud aus Frankreich, deren Auftraggeber die ganze Expedition finanzierte und die ständig dicht beieinander blieben wie siamesische Zwillinge – und so nannte man sie auch hinter ihrem Rücken –, da war sein Landsmann George Dellingham, ein Biologe auf der Suche nach einer neuen Spezies irgendeiner ekelhaften Reptiliengattung, und da war die einzige Frau der Expedition, ebenfalls aus England, Miß Camilla Longherd. Daß sie eine Frau war, mußte man allerdings wissen; sehen konnte man es nicht. Sie war ein echtes Mannweib, mit einem Körper wie ein Koloß, Männerkleidern, kurzen Haaren und einer Stimme, die Tote auferwecken konnte.

Ja, und dann gab es die Schwarzen. Stumme, bewegliche Diener, die das Gepäck trugen, die Zelte aufschlugen, Essen bereiteten.

Die anderen beachteten sie nicht, höchstens dann, wenn sie einen Wunsch hatten, behandelten sie wie Gegenstände oder allenfalls dumpfe Tiere. Doch er hatte ihre Augen gesehen, die so geheimnisvoll in den dunklen Gesichtern aufblitzten, und er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, diese Menschen wußten weit mehr als die dummen Europäer, über die sie sicherlich heimlich lachten.

Kein Wunder – schließlich war man in ihrer Heimat.

Kein Engländer würde sich in London von einem Dunkelhäutigen, den er herumführte, so behandeln lassen; immer würde er die stolze Überlegenheit des Einheimischen herauskehren.

Was bewies ihm das? Eine größere Geduld oder zumindest Gleichmütigkeit der Schwarzen? Oder eher die wahre Überlegenheit, die es nicht nötig hat, sich rüde und lauthals zu äußern? Er wußte es nicht.

Doch mehr und mehr beschäftigten seine Gedanken sich mit diesen Begleitern der Expedition, die für die anderen nahezu unsichtbar waren.

»He – was soll das!« schrie auf einmal von den Zelten her Miß Longherd los. »Wie kommst du dreckiger Kaffer dazu, mein Fernglas in deine schmutzigen Pfoten zu nehmen?«

Er seufzte. Diese Ausbrüche waren sie mittlerweile alle gewohnt. Miß Longherd besaß keinerlei Selbstdisziplin und dachte sich wenig dabei, einen der Schwarzen aufs übelste zu beschimpfen, wenn er genau das tat, was sie zuvor von ihm verlangt hatte.

Doch diesmal war etwas anders. Er hörte klatschende Geräusche, die nur von Ohrfeigen stammen konnten.

Empört sprang er auf. Das ging zu weit!

Er eilte zu dem Zelt, wo Miß Longherd tatsächlich einen der Schwarzen beim Kragen gepackt hatte, oder was heißt hier Kragen – sie hatte seine lange Halskette aus merkwürdig geformten Steinen und Knochen gepackt, hielt ihn daran fest, und schlug ihm fortwährend immer abwechselnd rechts und links ins Gesicht.

Er vergaß, wie sehr er körperliche Auseinandersetzungen jeglicher Art haßte, bei denen er mit seiner zwar hohen, doch knabenhaft schlanken Statur ohnehin im Nachteil war. Er vergaß, daß Frauen ätherische, anbetungswürdige Wesen waren, immer ausgesucht höflich, sogar galant und zuvorkommend zu behandeln.

Grob riß er Miß Longherd an der Schulter zurück. Oder vielmehr, er versuchte es, hatte jedoch die Standhaftigkeit ihres massigen Körpers völlig unterschätzt. Er geriet ins Taumeln, und nun stürzte sie sich stattdessen auf ihn, versetzte ihm einen Fausthieb nach dem anderen.

Sein Ziel hatte er erreicht – der Schwarze war, losgelassen, sofort verschwunden –, allerdings nicht ganz auf die Art und Weise, die er geplant hatte.

Um ihn herum standen die anderen, wie er aus den Augenwinkeln wahrnahm, während die Schläge auf seine Schultern und seinen Brustkorb hagelten, vor denen er sich nur sehr unvollkommen schützen konnte. Hegel wirkte ganz unbeteiligt, die siamesischen Zwillinge tuschelten miteinander, und Dellingham lachte schallend. Er schien die furchtbare Szene ungeheuer amüsant zu finden.

Keiner griff ein.

Endlich ließ Miß Longherd von ihm ab – wahrscheinlich nur, weil es ihr langweilig geworden war – und verschwand in ihrem Zelt. Die anderen betrachteten ihn neugierig noch einen Augenblick, gingen dann zum Feuer zurück. Und er stand da, schwankend, zitternd. Sein ganzer Körper schmerzte ihn.

Noch mehr jedoch schmerzte ihn seine Seele, in der Empörung, Ekel, Verzweiflung und Unverständnis tobten. Vermischt mit einer unglaublichen Wut, die keinen Ausgang fand.

Mühsam straffte er sich, stolperte auf Beinen, die ihn kaum zu tragen vermochten, zurück zu seinem Baum, ließ sich den Stamm entlang nach unten gleiten.

Etwas Hartes war unter seinem Oberschenkel. Furchtsam fuhr er hoch, dachte an ein Tier, gepanzert, das an diesem Ort nur gefährlich sein konnte, vielleicht sogar tödlich war.

Der Schein des Feuers in der so plötzlich während der kleinen Auseinandersetzung hereingebrochenen Dunkelheit fiel auf etwas Rundes, das ganz gewiß kein Tier war. Vorsichtig tastete er danach, nahm es auf.

Es war die Kette aus Steinen und Knochen, die der Schwarze getragen hatte.

2

WIE ÜBLICH GING ER ALS LETZTER IN DER REIHE, HINTER DEN ANDEREN. Wie üblich verfluchte er jeden einzelnen Schritt, der ihm abwechselnd herabhängende Lianen, Dornenranken, Blätterränder mit der Schärfe eines Rasiermessers, Steine, Baumwurzeln, Schlamm und Tiere aller Art als Komplikation bescherte. Wie üblich blieb er in seinem Kampf mit der unwirtlichen Umgebung immer weiter zurück, ohne daß der Rest der Gruppe darauf Rücksicht nahm.

Nicht wie üblich allerdings war das Gefühl, das ihn seit kurz nach dem Aufbruch am Morgen beherrschte.

Sie wurden beobachtet.

Unzählige Augenpaare verbargen sich im Dickicht rings um sie herum, waren verschwunden, sobald er seinen Blick an die betreffende Stelle richtete, und bohrten sich kurz darauf wieder spürbar in seinen Rücken.

Wahrscheinlich sehe ich vor lauter Erschöpfung einfach Gespenster, versuchte er sich wieder und wieder zu beruhigen. Vergebens. Nach einigen Stunden war es keine vage Empfindung mehr, sondern sichere Gewißheit – ihr Trupp wurde begleitet. Unsichtbar, in der Deckung des dichten Grüns, und unhörbar in dem Lärm ihrer stapfenden Füße und den Geräuschen des Urwalds, an die er sich nie gewöhnen wurde, folgten ihnen fremde Menschen. Schwarze wahrscheinlich; so wie ihre Träger, von denen seit gestern Abend einer vermißt wurde – der, den Miß Longherd geohrfeigt und der ihm seine Kette hinterlassen hatte, die er nun um seinen Hals trug.

Ich muß etwas unternehmen, sagte er sich, ich muß die anderen informieren. Doch ein seltsamer Trotz hielt ihn davon ab, nach dem Führer zu rufen. Man sorgte sich nicht um ihn – warum also sollte er sich um die anderen sorgen?

Um sich selbst hatte er seltsamerweise überhaupt keine Angst. Nichts konnte schlimmer sein, als immer weiter einem unbekannten Ziel zuzumarschieren, das ihm aller Wahrscheinlichkeit nicht einmal das bescheren würde, wonach er suchte.

Natürlich kannte er die Erzählungen von wilden Stämmen, die nach einem Regelwerk lebten, das einen zivilisierten Europäer nur mit Abscheu erfüllen konnte. Falls es überhaupt ein Regelwerk war und keine blinde Willkür. Wilde Stämme, unter denen es auch Menschenfresser gab, wie er gehört hatte. Aber die ganzen Berichte erschienen ihm so unwirklich, als könnten sie ihn nicht betreffen. Als handelten sie nicht von realen Gefahren seiner konkreten Situation, sondern von alten, längst vergangenen Zeiten.

Beinahe begrüßte er die Abwechslung, die ihm heute zuteil wurde. Er fühlte, er war wacher als sonst; weniger verzweifelt, weniger zerschlagen – obwohl die Fausthiebe des unerträglichen Mannweibs vom Abend zuvor ihn durchaus noch schmerzten.

Gegen Mittag befahl Hegel eine Rast auf einer weitläufigen Lichtung. Dankbar ließ er sich neben dem ganz am Rand abgestellten Gepäck zu Boden gleiten, nachdem er endlich herangekommen war. Die anderen saßen längst beisammen und diskutierten eifrig.

»Ich kenne mich aus – wir sind auf dem richtigen Weg«, beharrte Hegel mürrisch. Anscheinend hatte jemand seine Fähigkeiten als Führer bezweifelt.

»Wenn das der richtige Weg ist – warum ist dann von der Ebene, die wir nach Ihren Angaben spätestens gegen Mittag erreicht haben sollten, noch immer nichts zu sehen?« Miß Longherds Stimme klang ungewohnt schrill; das erste Mal hätte man sie nun für die Stimme einer Frau halten können.

»Wenn Sie es besser können, schlage ich vor, Sie übernehmen selbst die Führung!« erwiderte Hegel ungehalten.

»Das würde Ihnen so passen – unser Geld nehmen und uns dann mitten im Busch allein lassen!« schimpfte Dellingham.

Hegel sprang auf. »Erstens habe ich gerade Ihr Geld noch überhaupt nicht bekommen«, brüllte er, »weil Sie angeblich erst am Ende unserer Reise die erforderlichen Mittel dazu erhalten. Und zweitens habe ich noch nie eine Gruppe im Stich gelassen! Einen zuverlässigeren Führer als mich können Sie gar nicht finden. Und wenn Ihnen etwas nicht paßt, schlage ich vor, Sie machen sich umgehend auf den Rückweg!«

»Geben Sie es doch zu – wir haben uns verirrt!« kreischte Miß Longherd.

Mitten in der heftigen Auseinandersetzung fiel es anscheinend niemandem auf, daß wie auf ein Kommando sämtliche Schwarze auf einmal verschwunden waren. Er allein bemerkte es.

Doch noch bevor er darüber nachsinnen konnte, was das zu bedeuten hatte, ertönten plötzlich von allen Seiten wilde Schreie.

Im Nu war ihr kleines Lager von furchterregend bunt angemalten dunklen Gestalten umringt.

Hegel wollte zu seinem Gewehr greifen, aber zwei der Schwarzen schlugen es ihm mühelos aus der Hand. Auch die siamesischen Zwillinge wurden entwaffnet, die mit ihren Revolvern, wie sie freimütig zugegeben hatten, ohnehin nicht umgehen konnten. Dellingham kämpfte wie ein Löwe zwischen zwei Angreifern, die ihn jedoch rasch besiegten.

Mut hat sie, dachte er anerkennend, als Miß Longherd sich unversehens auf gleich drei Gegner stürzte – denen sie allerdings trotz ihrer Masse nicht gewachsen war – binnen Sekunden lag sie am Boden, an Händen und Füßen gefesselt.

Alles ging so schnell vor sich, daß er nur wie betäubt dasitzen konnte. Ein Eingreifen war ihm nicht möglich, selbst wenn er gewollt hätte. Und ob er seinen Gefährten wirklich zu Hilfe kommen wollte, vermochte er nicht zu entscheiden.

Um ihn kümmerte sich keiner von den Eindringlingen, und er überlegte gerade, ob er diese Gelegenheit zur Flucht nutzen sollte.

Doch es war bereits zu spät.

Nachdem die anderen Teilnehmer der Expedition wehrlos gemacht worden waren, schritten insgesamt fünf der Schwarzen auf ihn zu und blieben unmittelbar vor ihm stehen.

Halb erschrocken, halb neugierig sah er zu ihnen auf – und dann weiteten sich seine Augen vor Erstaunen.

Es war nur ein einziger Mann dabei, der Schwarze, dessen Kette er angelegt hatte.

Alles andere waren Frauen.

Große Frauen mit Körpern, deren grelle, primitive Bemalung ihre samtweiche, üppige Schönheit nicht verbergen konnte.

Er versuchte, rasch auf die Füße zu kommen; es gehörte sich einfach nicht dazuhocken, wenn eine Frau vor ihm stand.

Übelkeit biß sich in seinen Magen, er taumelte. Es war wohl alles zuviel gewesen in seinem untrainierten Zustand, die unerträgliche Hitze, die ungewohnten Anstrengungen, und nun die Aufregung.

Wie ein schwarzes Tuch legte sich die Ohnmacht über seine Sinne.

3

ALS LANGLEY HINTER IHM STEHENBLIEB und ihm über die Schulter blickte, sah auch er von seiner Arbeit auf. »Na, immer noch mit Ihrer Lieblingstheorie beschäftigt?« Die Skepsis in der Stimme seines Chefs war nicht zu überhören, aber auch nicht das lächelnde Wohlwollen.

»Was heißt hier Theorie? Ein paar vage Indizien und Anhaltspunkte, mehr ist es ja nicht. Aber die sind so eindeutig, daß man eigentlich nicht die Augen davor verschließen kann. Zumindest wenn man unvoreingenommen und vorurteilslos an die Sache rangeht.«

»Meinen Sie wirklich, daß in dieser … Kultur … in diesem Volk – wenn es überhaupt ein eigenes Volk ist – die Frauen das Sagen haben? Hat es Ihnen nicht gereicht, wie Ihre Kollegen auf Ihren Vortrag vor ein paar Wochen reagiert haben?«

Robertson lachte leise in sich hinein. »Mein Gott, was die Leute alles in meine Worte hineininterpretieren. Man könnte meinen, nur weil ich irgendwelche vielleicht ganz anderen afrikanischen Kulturen studiere, wollte ich ihre braven Ehefrauen zur Rebellion aufstacheln oder so etwas. Die scheinen den harmlosesten Aufsatz ganz persönlich zu nehmen. Dabei müßten sie als Historiker doch wissen, daß man die Vergangenheit nicht durch die ideologische oder sonstige Brille der Gegenwart wahrnehmen darf.«

»Es ist eben nicht ganz einfach, sich den Blick nicht trüben zu lassen. Außerdem haben Sie das alles mit einer so glühenden Begeisterung vorgebracht – man könnte fast meinen, Sie seien mehr als nur ein wenig fasziniert von einer solchen Gesellschaftsform.«

Täuschte er sich, oder schwang in dieser Bemerkung Institutsleiter Langleys mehr Bewunderung als Skepsis mit?

»Wie dem auch sei«, bemerkte Langley, nun wieder sachlich und kühl, »Sie müssen Ihren Thesen nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität immer auf den Fersen bleiben.«

Fragend runzelte er die Stirn. »Wie meinen Sie das?«

Langley zog die Augenbrauen hoch. »Nun, Sie wissen, daß in der Fakultätssitzung heute nachmittag darüber entschieden wird, wer von uns an der Felsenbilder-Expedition teilnehmen soll, um bei dieser Gelegenheit dem Schicksal Lord Peters nachzuforschen – und Sie wissen wohl auch, wie die Stimmung in der Fakultät in dieser Hinsicht ist.«

Robertson nickte bedrückt.

»Wir können uns diese Gelegenheit schlicht nicht entgehen lassen, uns einer anderweitig finanzierten Expedition einfach so anschließen zu können. Oder glauben Sie etwa, irgend jemand in England gibt uns auch nur einen Penny dafür, nach der Hinterlassenschaft von Lord Peter zu forschen? Dazu war dieser Mensch viel zu unbeliebt mit seiner direkten und manchmal geradezu vulgären Art, und strenggenommen kann man all seine Erkenntnisse auch kaum als wissenschaftlich bezeichnen. Er war ebenso verrückt wie Sie, Robertson – und hatte dabei nicht einmal Ihre methodische Gründlichkeit vorzuweisen. Allerdings kann es sehr wohl sein, er hat tatsächlich etwas entdeckt. Sie müßten doch noch weit mehr Interesse als jeder andere daran haben, das herauszufinden.«

»Aber Langley«, wandte Robertson ein, »Sie wissen genau, wie sehr mir der eigentliche Zweck dieser Expedition widerstrebt. Ich sehe in den Felsenbildern der Pygmäen keine Parallelen zur mykenischen Kunst, keine Beeinflussung durch spanische Einwanderer und erst recht keine durch französische, wie sie die Gebrüder Liaud im Geheimauftrag der französischen Regierung dokumentieren wollen, um sich diese Kunst unter den Nagel zu reißen. In meinen Augen ist das ganz autochthone afrikanische Kultur, die allein den Afrikanern gehört und nicht den Europäern.«

»Spielt das denn auch nur die geringste Rolle?« erwiderte Langley bissig. »Fest steht allein, mein Freund Salliard im französischen Kultusministerium hat mich um Hilfe gebeten. Sie brauchen nun einmal einen anderen, einen offiziellen Vorwand für diese Expedition, und da ist ihm Lord Peter eingefallen, der zuletzt in der Region gesehen wurde, in der die Bergwand mit diesen Felsenbildern steht. Dort in der Nähe muß auch dieser Mensch leben, der behauptet, er hätte Briefe von ihm in seinem Besitz. Ich tue ihm einen Gefallen, und dafür tut er uns den Gefallen, das Geld für diese kostspielige Unternehmung lockerzumachen. Damit ist uns beiden geholfen. – Nein«, wehrte Langley ab, als Robertson etwas sagen wollte, »ich will nichts mehr hören. Behalten Sie Ihre moralischen Skrupel für sich und konzentrieren Sie sich lieber auf Ihre Arbeit.«

Robertson senkte den Kopf, sichtlich unzufrieden und auch ein wenig trotzig angesichts der scharfen Zurechtweisung.

»Um nun auf den Ausgangspunkt unseres Gespräches zurückzukommen«, fuhr Langley fort, »die Mehrzahl des Lehrkörpers ist der Ansicht, wer in der geistigen Nachfolge Lord Dennings solche, wie viele meinen, völlig abstrusen Thesen verfolge, dessen verdammte Pflicht und Schuldigkeit sei es auch, persönlich alles daran zu setzen, sein Schicksal und Verbleiben aufzuklären. Oder er sei nichts wert, tauge nichts.«

»Es ist doch nicht meine Schuld, daß ich nicht als muskelbepackter Tarzan zur Welt gekommen bin!« fuhr Robertson empört auf.

Die Anspielung auf die gerade populär werdenden Tarzanheftchen ließ Langley amüsiert lächeln; offenbar war Robertson doch nicht so ganz weltfremd und stubengelehrt – zumindest wenn es sein Lieblingsgebiet Afrika betraf.

»Tja, es tut mir leid, mein Lieber, aber Sie werden wohl in den sauren Apfel beißen müssen – sonst kann es leicht geschehen, daß Ihr Arbeitsvertrag nicht mehr verlängert wird. Ich würde Sie ja nur zu gerne unterstützen – aber solche Entscheidungen hängen nun einmal nicht nur allein von mir ab.« Mit einem bedauernden Schulterzucken verließ Langley die Bibliothek und ließ Robertson mit seinen düsteren Gedanken zurück.

Der Einbruch der Realität in seine vorherigen Überlegungen hatte seiner seit langem anhaltenden Begeisterung einen gewaltigen Dämpfer verpaßt.

Seit er zum ersten Mal davon gehört hatte, hatten ihn die ägyptisch-songhischen Bilinguen fasziniert. Ob diese zweisprachigen Texte wirklich etwas mit dem erst im Mittelalter südwestlich des Tschadsees lebenden Volk der Songhu zu tun hatten, war natürlich ganz ungewiß; allzu häufig wanderten die Völker Afrikas von einem Ort zum anderen.

Aber irgendein Name mußte vorläufig ja her, um dieses Volk und diese Sprache zu benennen; dieses Volk, dessen Existenz die Mehrzahl seiner Kollegen schlicht und einfach bestritt. Immer hatten die Bewohner Oberägyptens in Beziehungen zu Nubien, dem heutigen Sudan, gestanden, das war bekannt, und ebenso, daß auch die Nubier es zu einer Schrift gebracht hatten. Zahlreiche kleinere und größere Bilinguen, zweisprachige Texte, zeugten von der Verflechtung Oberägyptens und Nubiens: Politische Verträge, Handelsabkommen, Urkunden von Privatleuten. Sie alle gab der staubtrockene Wüstensand der Sahara fast unversehrt frei. Man mußte nur an den richtigen Stellen danach suchen.

Und vor einem Vierteljahrhundert traten dann auf einmal einige steinerne Stelen zutage, die noch einen dritten Text aufwiesen. Die meisten Forscher gingen einfach davon aus, daß es sich bei den stets zuoberst stehenden Texten in der unbekannten dritten Schrift schlicht um eine ältere Version der nubischen Schrift handelte. In der Tat wirkten die unbeholfenen Zeichen ungelenker, archaischer, ursprünglicher. Doch die Deutungsversuche der Kollegen litten allesamt an unüberbrückbaren inneren Widersprüchen, waren nicht in Einklang zu bringen mit der Faktenlage.

»Man muß der Wahrheit ins Auge sehen: Eine unbekannte Sprache, geschrieben in einer unbekannten Schrift, kann einfach nicht entziffert werden.« Diese für jeden wißbegierigen Forscher bittere Erkenntnis war Robertson natürlich geläufig.

Auch Champollion wäre ohne den von Napoleon nach Frankreich gebrachten Stein von Rosetta mit seiner dreisprachigen Inschrift an der Entzifferung der Hieroglyphen gescheitert. Und dann hatte genau dieser ihm die Lösung verschafft, an die vorher keiner geglaubt hatte.

Oben fand sich der Text in der bilderreichen Schrift des alten Ägypten, darunter in der weiterentwickelten ägyptischen Volkssprache. Die kannte man von den koptischen Christen; »koptisch« hieß ja »ägyptisch«. Und in den krakeligen Zeichen dieses mittleren Textes konnte man ohne Schwierigkeiten die eilige Schreibschrift-Weiterentwicklung der umständlichen alten Zeichen entdecken. Der dritte Text vollends war Altgriechisch, also ohne weiteres lesbar. Und da alle Texte das gleiche bedeuteten, konnte das Spiel beginnen: Das Spiel um Wort- und Zeichenhäufigkeiten, um Eigennamen und Wortbedeutungen. Der Erfolg, früher oder später, war garantiert. Hätte es der – zweifellos geniale – Champollion nicht geschafft, wäre es ein, zwei Jahrzehnte später ein anderer gewesen.

Was ihn an der unbekannten Schrift irritierte, war, daß ihm zwar einerseits klar zu sein schien, welche ihrer Zeichen gewissen anderssprachigen Worten zu entsprechen schienen – aber eines war absolut merkwürdig: Wo sich beispielsweise im ägyptischen und nubischen Text die Formulierung fand »man muß sicherstellen, daß …« – wobei dieses »man« durch zwei nebeneinandergestellte stilisierte Männchen dargestellt wurde –, da waren im dritten, obersten Text deutlich erkennbar zwei stilisierte kleine Frauen zu sehen. Der mehr als nur angedeutete hervorstehende Busen ließ daran keinen Zweifel.

Auch andere allgemeine Begriffe schienen eher weiblich geprägt zu sein, wo das Nubische, Altägyptische und auch unsere heutigen europäischen Sprachen eher männliche Begriffe benutzten. Das weckte sein Interesse noch stärker. Die prähistorischen Frauenstatuetten mit übermäßig ausgeprägten Hüften kamen ihm in den Sinn, ebenso wie vereinzelte Stimmen europäischer Forscher, die es für möglich hielten, daß es in Zentralafrika Gebiete gab oder zumindest früher einmal gegeben hatte, in denen »mutterrechtlich« organisierte Völker lebten, wie der neugebildete Begriff dafür hieß.

Gewiß sei eine solche Orientierung, so es sie denn überhaupt gegeben hatte, die Ursache für den Niedergang dieser Regionen und Völker, tönte solchen Gedanken prompt die communis opinio der beamteten europäischen Gelehrtenschar entgegen, die sich einen anderen Kulturträger als den Mann schlechterdings nicht vorstellen konnte.

»Strohköpfe!« hätte Lord Peter sicher zu dieser Bande gesagt, der nach allem, was Robertson über ihn wußte, in seinen Meinungsäußerungen nur selten ein Blatt vor den Mund nahm.

Lord Peter mußte nach dem ersten Auftauchen dieser Songhu-Inschriften ganz ähnliche Gedanken gehabt haben wie er, und da er nicht nur ein Mann des Intellekts und der Schreibstube war, sondern mindestens ebenso sehr ein Mann der Tat, ein Abenteurer, der sich gleich Hals über Kopf in medias res stürzte, um seine Theorie zu überprüfen, war er sogleich zu seiner ersten Afrikareise aufgebrochen. »Man muß Afrika erforschen, solange es dort noch etwas zu erforschen gibt«, war einer seiner Standardsätze.

Sein letzter Brief, aufgegeben in einer französischen Missionsstation am Tschadsee, war nicht nur voller Zuversicht, sondern auch voller Andeutungen, er habe schon etliche Indizien entdeckt, die darauf hindeuteten, daß er auf der richtigen Spur sei. Leider beließ er es bei diesen geheimnisvollen Andeutungen – und dann verschwand er spurlos.

Wie Robertson auch hatte er angenommen, daß das unbekannte Volk – die Sprecher jener weiblich geprägten »Inschriften-Sprache« – südwestlich von Oberägypten beheimatet sein müsse, irgendwo in Richtung Tschadsee vielleicht. Oder noch südlich davon, in Richtung Kongobecken. Die Entfernung zu Nubien und erst recht zu Ägypten war natürlich beachtlich – aber Handelsbeziehungen über Tausende von Kilometern hinweg gab es schon in uralter Zeit; man denke nur an die Bernsteinstraße oder das britische Zinn, das schon in vorgeschichtlicher Zeit seinen Weg bis in den Mittelmeerraum fand.

Robertson seufzte. Langley hatte recht – aufgrund seines Vorwissens war er der ideale Mann für diese Expedition. Und die günstige Gelegenheit einer der seltenen Expeditionen in diese immer noch höchst mangelhaft erforschten Gegenden mitten im Herzen des dunklen Kontinents durfte nicht ungenutzt verstreichen. Eigentlich müßte er es begrüßen, wenn endlich nach Lord Denning geforscht wurde; und eigentlich müßte er es begrüßen, endlich seine eigenen Theorien praktisch überprüfen zu können, ohne dies aus eigener Tasche bezahlen zu müssen.

Eigentlich.

Wenn nur die enormen und unübersehbaren körperlichen Strapazen und Gefahren der Reise nicht wären!

4

SANFT UND KÜHL STRICH EINE HAND ÜBER SEINE STIRN.

»Sophie«, murmelte er. Noch waren seine Augen geschlossen, doch er konnte sie vor sich sehen, in einem hellen, duftigen Kleid, mit dem silbernen Medaillon am hohen Kragen, das ein Bild ihrer verstorbenen Mutter barg, die langen dunklen Haare hochgesteckt, besorgt über ihn gebeugt.

Zuerst hatte sie ihm Vorwürfe gemacht, daß er sich der Entscheidung der Fakultät so widerspruchslos gebeugt hatte, dann hatte sie vor Angst geweint, ihn nie mehr wiederzusehen, weil er vielleicht so spurlos im afrikanischen Busch verschwinden würde wie Lord Peter.

Den ganzen Abend lang hatte sie ihn bedrängt, obwohl die Sitzung und die rauhe, plötzliche Konfrontation mit einer Arbeit fern von seinen Büchern ihn ohnehin über Gebühr erschöpft hatten.

Endlich war sie gegangen, und er hatte sich mitsamt seiner Kleidung aufs Bett fallen lassen, wo er sofort eingeschlafen war.

Doch nun war sie zurückgekommen, um sich mit ihm zu versöhnen; ihre schlanken Finger, die so liebevoll sein Gesicht berührten, bewiesen es ihm.

»Sophie«, seufzte er noch einmal.

Eine leise, warme Stimme antwortete ihm mit Worten, die er nicht verstand.

Es war nicht Sophies Stimme. Schlagartig drang etwas durch die Nebel seiner schwindenden Bewußtlosigkeit.

Sophie hatte keinen Schlüssel zu seiner Wohnung; sie hatte nicht zurückkommen können. Sie war nicht zurückgekommen. Und überhaupt war er gar nicht in seiner Wohnung in London.

Er war in Afrika.

Erschrocken fuhr er auf, doch energisch drückten ihn die vorher noch so sanften Hände zurück auf sein Lager.

Neben ihm saß auf dem Boden im Schneidersitz eine Frau, dunkelhäutig, anders als die vier, denen er vorher begegnet war, unbemalt, fast vollständig nackt, bis auf eine Kette um ihren Hals, ähnlich der, die ihm der Träger hinterlassen hatte, und mit langen, ähnlich gearteten Ohrringen in den Ohrläppchen. Seine Erziehung wollte ihn zwingen, schamhaft den Blick von ihrer Blöße abzuwenden, doch er konnte nicht anders, er mußte hinsehen, nahm den straffen Schwung ihrer Brüste wahr, deren dunkle Färbung in der Erhebung heller zu werden schien, mit den wieder vollständig dunklen, dunkelsten Höfen um die Brustwarzen herum als triumphierendem Schlußpunkt.

Auf einmal war ihm alles wieder eingefallen; der lange Marsch, er immer hinter den anderen, auf dem sie beobachtet worden waren, und dann der Überfall. Der Überfall der Frauenkrieger.

In seinem Bauch meldete sich das typische Kribbeln, das ihn immer erfaßte, wenn er etwas auf der Spur war. Hatte das Schicksal ihm ganz unerwartet Entdeckungen in den Schoß geworfen, die über irgendwelche von Lord Peter hinterlassenen Briefe weit hinausgingen?

Das Wort Schoß ließ seinen Blick ein wenig nach unten schweifen, wo die Frau neben ihm ihr intimstes Geheimnis, das in England die Frauen besser behüteten als ihre Aussteuer, so freimütig preisgab, daß heißes Unbehagen ihn erfüllte, von dem er sich nicht gestattete nachzuforschen, ob es noch andere Empfindungen enthielt außer Unbehagen.

»Wo bin ich?« fragte er und mußte innerlich beinahe schmunzeln über seine Reaktion. Genau das fragten in den Theaterstücken immer die Frauen, wenn sie aus ihrer Ohnmacht erwachten, die sie oft so passend ereilte. Beschämt gestand er sich ein, mit seiner eigenen, eher ausgesprochen unpassenden Ohnmacht wieder einmal bewiesen zu haben, er war kein Held; vielleicht nicht einmal ein richtiger Mann, der etwas taugte, der etwas wert war. Genau das behaupteten einige seiner Kollegen im Institut. Und auch einige seiner weiblichen Bekannten. Sophie war eine der wenigen, die sich nie daran gestört hatten, wie zurückhaltend, wie wenig stark und hart er war.

Aber Sophie war weit weg; ebenso wie seine Kollegen; mochten sie nun von ihm halten, was sie wollten. Er war allein, auf sich selbst angewiesen.

Und hatte vielleicht das erste Mal in seinem Leben die Chance zu beweisen, daß er durchaus etwas konnte.

Die Frau an seiner Seite antwortete etwas. Erneut verstand er sie nicht. Natürlich nicht – wie hätte er auch? Es war allseits für völlig überflüssig erklärt worden, eine Vorbereitung auf die Expedition erfordere es, sich mit wenigstens einem der Dialekte der eigentlichen Bewohner Afrikas vertraut zu machen; Lingala, Hausa oder Swahili. Der ausgewählte Führer sprach Englisch und genügend Swahili, den in der Region wohl am weitesten verbreiteten Sprachstamm, um notfalls zu dolmetschen, bei den Trägern ebenso wie bei den Personen, mit denen er im Rahmen seines Auftrags zu reden hatte.

Allerdings erinnerte ihn das, was die Frau sagte, nicht an das, was er bei den schwarzen Trägern gehört hatte.

Sie sprach immer weiter, gestikulierte dazu.

Er hob ungehalten die Hand, um sie zu stoppen, doch sie wollte sich ausschütten vor Lachen, verstummte erst, als ganz plötzlich ein heller Strahl Sonne in den kleinen Raum fiel. In dessen Licht erkannte er erstmals, daß er sich wahrscheinlich in einer Lehmhütte von runder Form befand, mit einem Dach aus etwas, das er aus Stroh bezeichnet hätte, ohne zu wissen, ob dieser Begriff korrekt war. Der Ausgang war geschützt durch ein schweres Tuch, das sich nun langsam wieder senkte.

Eine weitere Frau schritt auf sein Lager zu, und respektvoll erhob sich seine bisherige Gesellschafterin, neigte vor ihr den Kopf und verschwand nach draußen.

Angesichts ihres ehrerbietigen Verhaltens richtete er sich unwillkürlich vollständig von seinem niedrigen Lager auf, um seine Besucherin gebührend mit einer höflichen Verbeugung zu begrüßen.

Sie nahm es lächelnd zur Kenntnis, nickte ihm zu, kniete sich neben ihm auf den Boden und bedeutete ihm, ebenfalls Platz zu nehmen.

Er tat es; wider Willen beeindruckt von ihrer hohen Statur und ihrer imponierenden, beinahe königlichen Haltung. Bei ihr wagte er es nicht, mit den Augen auf den typisch weiblichen Vorzügen zu verweilen; etwas, das ihm dadurch erleichtert wurde, daß ihr Körper bemalt war, wie er es bei den Kriegerinnen gesehen hatte.

»Wer?« fragte sie und zeigte dabei auf seine Brust. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, sie hatte ihn in seiner Sprache gefragt; so sehr hatte er mit Lauten in einer ihm unverständlichen Zusammenstellung gerechnet.

»Charles Robertson«, antwortete er, ausgesprochen überrascht.

Wieder nickte sie. »Ah-deh-toh-kum-boh«, sagte sie dann, langsam und jede Silbe betonend, deutete dabei auf sich selbst. Erst diese Geste ließ ihn erraten, es handelte sich um ihren Namen. »Ah-deh-toh-kum-boh«, versuchte er die Lautfolge nachzusprechen. Sie klatschte lachend in die Hände, und wiederholte: »Adetokumbo.«

Ihr Lachen war noch nicht verklungen, als er von draußen einen Schrei vernahm. Wenn ihn nicht alles täuschte, war es Hegel, der geschrien hatte.

Er sprang auf, wandte sich zum Ausgang.

»Sitzen!« hielt ihn die scharfe Stimme der Frau zurück.

Ihre mangelhafte Beherrschung seiner Sprache ließ die Anweisung ein wenig lächerlich klingen; dennoch konnte er sich der Autorität in ihrer Stimme nicht entziehen. Zögernd blieb er stehen, drehte sich um.

»Sitzen!« wiederholte sie energisch und deutete mit dem Finger auf den Platz, den er vorhin eingenommen hatte.

Ein zweiter Schrei ließ ihn zusammenzucken.

Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung war sie aufgestanden und hatte sich vor ihm aufgerichtet, blitzte ihn wütend aus ihren dunklen Augen an. Sie war fast so groß wie er; nein, nicht fast – sie war ebenso groß wie er.

Unsicher zog er die Schultern ein, wollte unwillkürlich vor ihr zurückweichen. Doch dann übermannte ihn der Zorn. Was bildete sie sich eigentlich ein, ihm Befehle zu geben? Schließlich war sie nichts als eine Frau, und draußen wurde ein Kamerad von ihm mißhandelt, gefoltert, benötigte seine Hilfe.

Er straffte sich. »Ich werde es nicht zulassen, daß Sie den anderen Mitgliedern etwas antun! Und ich werde mir von Ihnen gar nichts sagen lassen, sondern jetzt hinausgehen und nachschauen, was dort geschieht!«

Zwei Schritte machte er auf das schwere Tuch zu, dann fühlte er plötzlich, wie ihm die Beine weggezogen wurden. Schwer und plump krachte er mit dem Gesicht nach unten zu Boden, ein jäher Stich schoß durch sein linkes Knie und sein Kinn, und schon kniete sie auf seinem Rücken, drehte ihm die Arme nach hinten.

Sie sprach dabei sehr schnell und sehr böse Laute, die er nicht verstand. Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, erklärte sie langsam und betont in seiner Sprache: »Du Mann – Männer tun, was Frauen bestammen.«

»Bestimmen«, verbesserte er sie spontan. Unmittelbar darauf stöhnte er vor Schmerz – sie hatte seinen Kopf an den Haaren zurückgerissen. Wie Peitschenhiebe prasselten ihre fremdartigen Laute auf ihn herab.

Sie erhob sich .

Der Schmerz an seiner Kopfhaut ließ sofort nach, hinterließ jedoch ein unangenehmes Prickeln.

»Sitzen!« befahl sie ein weiteres Mal.

Mühsam rappelte er sich auf. Sein linkes Knie tat ihm weh, ebenso sein Kinn, das er sich am harten Boden aufgeschrammt hatte, wie er fürchtete. Von seinem Hinterkopf ganz zu schweigen.

Er hatte keinerlei Lust auf eine weitere körperliche Auseinandersetzung. Gehorsam setzte er sich im Schneidersitz auf seinen alten Platz.

Erst dann wurde ihm bewußt, was sie vorhin gesagt hatte. Männer tun, was Frauen bestimmen. Wieder meldete sich das Kribbeln in seinem Bauch, sein untrüglicher Anzeiger dafür, er war etwas auf der Spur.

»Bestimmen bei Ihnen wirklich die Frauen, was geschieht?« fragte er.

Sie runzelte die Stirn, horchte seinen Worten nach. Er hatte in seiner Aufregung zu schnell geredet. Langsam wiederholte er seine Frage.

Nun nickte sie. »Frauen befehlen, ja.«

Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Und die Männer des Stammes lassen sich das gefallen?«

»Männern das gefallen, ja«, antwortete sie.

Wider Willen mußte er lachen über die Zweideutigkeit ihrer Aussage. Verwundert sah sie ihn an. »Männer das mögen«, wiederholte sie. »Männer dann keine – Verwortung, frei sein.«

»Verantwortung?« vergewisserte er sich. Diesmal akzeptierte sie seine Korrektur. »Ver-ant-wor-tung, ja.«

Was erzählte sie ihm da? Es sollte Männer geben, die, noch dazu völlig freiwillig, ihren gott- und naturgegebenen Anspruch aufgaben, in einer Gesellschaft, sei sie nun ein wilder Stamm in Afrika oder Südamerika oder ein zivilisiertes Land in Europa, die Befehlsgewalt zu übernehmen? Die sich von Frauen, dem natürlich schwächeren Geschlecht, von den physischen wie von den geistigen Kräften her, Anweisungen geben ließen und diese sogar befolgten?

In ihm kämpfte die totale Verblüffung mit dem triumphalen Gefühl, recht gehabt zu haben. Wenn bloß seine Kollegen da wären – die, die ihn so oft ausgelacht hatten wegen seiner Vermutung einer Frauenherrschaft.

Nun wurde ihm unversehens nicht nur für die Vergangenheit, für die Zeit, in der die steinernen Stelen entstanden waren, sondern sogar für die Gegenwart, für das Hier und Jetzt und Heute, der Beweis vor Augen geführt, sie war nicht nur theoretisch denkbar, sondern sie existierte tatsächlich, ganz real und ganz praktisch.

Auf einmal kam ihm ein völlig verrückter Gedanke. Unter ihrer mißtrauischen Beobachtung zog er aus seiner Brusttasche das kleine, in schwarzes Leder gebundene Tagebuch mit silbernem Drehbleistift, ein Geschenk Sophies, das er ständig bei sich trug und in dem er all seine Erkenntnisse zu verewigen gedachte.

Mit raschen Strichen zeichnete er aus seiner Erinnerung ein paar der Zeichen auf, die sich in sein Gedächtnis gebrannt hatten, so oft hatte er die gemalten Abbilder dessen studiert, was als Oberstes auf den steinernen Stelen gefunden worden war. Falls er mit seiner Übersetzung richtig lag, bedeuteten sie sinngemäß: »Man muß sicherstellen, daß jede Handelskarawane von ausreichend Männern zur Verteidigung begleitet wird«, mit den beiden stilisierten Frauen für die Begriffe »man« und »Männer«.

Aufmerksam war sie dem Stift gefolgt, hatte das Buch an sich genommen und studierte nun, was er geschrieben hatte.

Enttäuschung machte sich in ihm breit. Wahrscheinlich konnte sie gar nicht lesen. Oder wenn, dann war ihr dennoch diese uralte Sprache ersichtlich fremd.

Sie hob den Kopf. »Frauen Karawanen führen«, sagte sie.

Jäh klopfte sein Herz schneller. Aufregung nahm ihm beinahe den Atem.

Noch bevor er antworten konnte, hob sich erneut der schwere Vorhang vor dem Eingang. Der Schwarze, dessen Kette er trug – nein, getragen hatte, denn ein vorsichtiges Tasten bestätigte ihm seinen Eindruck, man hatte sie ihm abgenommen – kam herein, verbeugte sich tief vor Adetokumbo und sprach eifrig auf sie ein. Er erkannte die Laute von vielen Unterhaltungen der Träger, denen er recht gleichgültig und ohne Neugier gelauscht hatte – es mußte Swahili sein.

Adetokumbo überlegte einen Augenblick, antwortete dann, ebenfalls in Swahili. Sie beherrschte also ihre eigene Sprache, sie beherrschte Swahili – und genügend von seiner, um sich, wenn auch mühsam, verständlich zu machen. Und er konnte lediglich in einer einzigen dieser Sprachen mit ihr kommunizieren; in seiner eigenen – obwohl er sich in ihrem Land befand. Ein leises Gefühl der Beschämung überfiel ihn.

Danach deutete Adetokumbo auf ihn und fügte etwas hinzu.

Der Schwarze wandte sich an ihn. »Adetokumbo sagt, ich soll übersetzen, worüber wir gesprochen haben.«

Dem ehemaligen Träger war seine Sprache also keineswegs so fremd, wie er dies vermutet hatte. Womöglich wäre er sogar ein besserer Dolmetscher gewesen als Hegel.

»Der Führer eurer Expedition weigert sich«, erklärte der Schwarze, »die angemessene Kleidung anzulegen. Ich hoffe, du kannst ihn zur Vernunft bringen; sonst wird es ausgesprochen unangenehm für ihn.«

Fragend sah Robertson ihn an. »Was verstehen Sie unter angemessener Kleidung?« Er blickte am Körper des anderen herab und hoffte, die Antwort würde nicht so ausfallen, wie er es allerdings befürchtete.