After long Darkness (2) - Birgit Wannhoff - E-Book

After long Darkness (2) E-Book

Birgit Wannhoff

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Beschreibung

Drei Jahre später geraten Professor Christian Zeggher und einer seiner Ärzte in den Verdacht, aus niederen Beweggründen schuldig am Tod einer Frau geworden zu sein. Es gibt sowohl ein Motiv als auch verwertbare Fingerabdrücke. Sind Christian, seine Frau und seine Freunde Philipp und Lennard den Anfechtungen gewachsen? Die Saga über eine Männerfreundschaft geht weiter.......

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Seitenzahl: 412

Veröffentlichungsjahr: 2016

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After long Darkness

Birgit Wannhoff

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After long Darkness

Der Segen dunkler Stunden

Band II

Birgit Wannhoff

Impressum

Texte: © Copyright by Birgit Wannhoff

Frontumschlag: © Copyright by Gabi Schönemann /pixelio.de

Rückumschlag: © Copyright by Hermann Eberhard /pixelio.de

Verlag: Ohneklecks.de

   Birgit Wannhoff

   Lützowstr. 31;09119 Chemnitz.

   [email protected]

Druck:epubli ein Service derneopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-7418-6503-9

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Wichtigste handelnde Personen:

Arosa:

Doktor Philipp Northwood

Leiter der Klinik in Arosa, Chirurg, verwitwet, engster Freund von Christian Zeggher

Doktor Lessia Northwood

Philipps zweite Ehefrau, gelernte Krankenschwester, arbeitet nach Medizinstudium als Ärztin in Arosa

Haylie und Nikita Northwood

Kinder der Northwoods

Professor Christian Zeggher

Erbauer der Klinik in Arosa, ebenfalls ihr Leiter und Chirurg, lehrt am Kantonsspital in Zürich

Doktor Marla Zeggher, früher Adams

Ärztin in Arosa, enge Freundin von Lessia Northwood

Laura Zeggher

Tochter der Zegghers

Doktor Alex Berté

Arzt in Arosa

London:

Sir Lennard Maydon

Rechtsanwalt und Aufsichtsratsvorsitzender eines Londoner Krankenhauses, Philipps Schwiegervater aus erster Ehe und enger Freund Christian Zegghers, wirtschaftlicher Berater der Klinik Arosa

Olivia Maydon

Sir Lennard Maydons Sekretärin und mittlerweile seine Ehefrau

Weitere Personen:

Gideon Henderson und seine Frau Hedwig

Sohn und Schwiegertochter von Olivia Henderson

Professor Ernesto Rodriguez

Chirurg, ermordet in Caracas

Doktor Aurelio Fratino

Chirurg mit Hündin

Roger und Paula Wilkes

Freunde der Northwoods

Familie Almbacher

Bergbauern in Arosa

Schwester Elisabeth

Pflegerin in der Klinik Arosa

Sir Walter Kingsley

und der

Wachtmeister

Bern, 1978 - ungefähr drei Jahre später

Philipp und Lessia Northwood bewohnten ein schönes Zimmer in einem renommierten Hotel in der Bundesstadt der Schweiz. Die beiden besuchten während eines Kurzurlaubs einen Medizinerkongress, für den eigentlich Professor Zeggher die Einladung erhalten hatte. Der früher so reisefreudige Christian verließ die Schweiz nicht mehr, seit er Familie hatte. Er nahm nur Termine in Chur oder Zürich wahr und hatte Philipp und seiner Frau den Termin abgetreten, da er der Meinung war, sie hätten ein paar freie Tage dringend nötig.

„Fahrt und genießt eure Zeit!“ Mit diesen Worten untersetzte er solche Anordnungen.

Lessia war erneut schwanger. Zu Anfang war es ihr nicht gut gegangen, doch jetzt hatte sie sich stabilisiert.

Sie war eine glückliche junge Frau, die sich von ihrem Mann von ganzem Herzen geliebt und vergöttert wusste. Ihre Hand ruhte auf ihrem runden Bauch, während sie sich auf dem Bett des Hotelzimmers ausstreckte.

Sie genoss die Ruhe. Ihre kleine Tochter Haylie befand sich bei Marla und Christian in Arosa in bester Obhut.

Arosa! Über seltsam verschlungene Wege hatte es sie dahin verschlagen. Ihre Gedanken flogen zurück in die Kindheit. Schon damals wollte sie Ärztin werden, um ihren Eltern zu helfen, die sie anders als gesundheitlich angeschlagen kaum kannte. Durch deren Krankheit und lange Zeiten ohne Beschäftigung war meist das

Geld knapp. Ein Studium zu finanzieren kam nicht infrage. Also lernte Lessia auf Wunsch von Vater und Mutter den Beruf der Krankenschwester. Noch vor ihrem Abschluss verstarben beide. Sie hinterließen ihrer Tochter überraschend ein paar tausend Pfund, die sie im Lauf vieler Jahre für deren Hochzeit zusammengekratzt hatten. Dieses Erbe erweckte Lessias Wunsch aus Kindertagen wieder zum Leben. Sie beschloss jedoch zur Freude ihrer Freundin Paula, die gemeinsam begonnene Schwesternausbildung ordnungsgemäß zu beenden, um nicht ohne Abschluss dazustehen, falls sie das Medizinstudium nicht bewältigte. Während ihre Freundin als Krankenschwester sofort Arbeit fand, begann Lessia mit der Verwirklichung ihres Traums und wälzte dicke Lehrbücher.

Während der Studienjahre freundete sie sich mit dem Kommilitonen Roger Wilkes an. Sie büffelten gemeinsam, saßen im Hörsaal stets getreulich nebeneinander, schafften zusammen den Abschluss. Vielleicht hätte Roger mehr als Freundschaft gewollt, doch das beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Für Lessia war er ein verlässlicher Kamerad, nicht mehr. Er fand sofort eine Stelle in einem der vielen Krankenhäuser Londons.

Lessia hatte nicht so viel Glück, kassierte zunächst etliche Absagen. Sie war neu im Beruf und zudem eine Frau - man traute ihr die Leistung eines Mannes nicht zu. Eines Tages fiel ihr eine Stellenanzeige in einer medizinischen Fachzeitschrift auf. In einer Privatklinik für Lungen- und Atemwegserkrankungen im Schweizerischen Arosa war eine Assistenzarztstelle frei. 

Ohne große Hoffnung bewarb sie sich - und erhielt postwendend einen ausführlichen und informativen Brief über die Arbeit in der Klinik mit der Bitte sich vorzustellen. Sie las das interessante Antwortschreiben des Klinikleiters Doktor Philipp Northwood zweimal - und bekam Angst vor der eigenen Courage. Sie musste nicht bei Trost gewesen sein, sich auf dem Kontinent zu bewerben! Einerseits hatte sie vielleicht die ersehnte Arbeitsstelle gefunden. Andererseits - sollte sie deshalb England den Rücken kehren? Nach einiger Überlegung fragte sie eine ehemalige Dozentin, Stationsärztin eines Londoner Krankenhauses, Doktor Marla Adams, um Rat. Die wesentlich ältere Frau war ihr während des Studiums eine verständnisvolle Freundin geworden. Sie und Roger redeten ihr zu, in die Schweiz auszuwandern, während Paula einer Trennung nicht so aufgeschlossen gegenüberstand. Doch am Ende herrschte Einigkeit in dem Punkt, dass sie jederzeit zurückkehren könne. Lessia brach in London ihre Zelte ab, buchte den Flug, nannte Doktor Northwood das Datum ihrer Ankunft. Philipp empfing sie am gleichen Abend in seinem Büro. Beim Eintritt verschlug es ihr die Sprache. Sie hatte sich einen grauhaarigen Patriarchen kurz vor dem Ruhestand als künftigen Vorgesetzten vorgestellt. Ihr Gegenüber war jedoch höchstens Mitte dreißig. Abgesehen davon sah er blendend aus, groß, schlank, dunkles, welliges Haar, gebräuntes Gesicht, schmale Hände. Sofort fasste sie Vertrauen zu Doktor Northwood. Sie einigten sich, dass Lessia anfangs einfachere Fälle und Nachuntersuchungen betreute und zu komplizierteren allmählich hinzugezogen wurde. Sie unterzeichnete ohne Bedenkzeit den angebotenen Arbeitsvertrag und bezog eine kleine Wohnung im Klinikgebäude. Außer Northwood war ein weiterer Arzt tätig: der Chirurg Doktor Alex Berté. Der Schweizer Arzt freute sich riesig auf die Zusammenarbeit mit Lessia. Ihr Einstieg bedeutete sowohl für ihn als auch für den Chef eine wesentliche Entlastung, denn zwei befristet angestellte Ärzte hatten ihren Vertrag nicht verlängert. Vom ersten Tag an gab es für Lessia mehr als genug zu tun. Fleißig kümmerte sie sich um ihre Patienten, hatte ein Auge auf deren Pflege und hinterfragte ohne erhobenen Zeigefinger beim Pflegepersonal, was ihr nicht optimal erschien. So und so hätte sie es anderswo gesehen. Häufig setzten die Schwestern den einen oder anderen Tipp der jungen Ärztin um. Lessia bemerkte es mit Freude. Kurz vor Weihnachten leerte sich die Klinik, viele Patienten wurden ganz oder auf Urlaub entlassen. Lessia wurde rascher mit ihrer Arbeit fertig. Am 24. Dezember gestattete sie sich einen Spaziergang durch die winterlich verschneite Gegend nach Arosa hinunter. Sie kam an der Kirche vorbei, gerade als der Weihnachtsgottesdienst mit Krippenspiel begann. Kurz entschlossen trat sie ein, ließ sich vom Stück und der Weihnachtsstimmung gefangen nehmen. Während sich das Gebäude nach der Aufführung leerte, schritt sie nach vorn, um den Altar zu besichtigen. Als sie die Kirche verlassen wollte, bemerkte sie erschrocken den Mann, der noch ganz allein in der letzten Reihe verharrte: Philipp Northwood. 

Flammende Röte schoss ihr angesichts der völlig unerwarteten Begegnung ins Gesicht. Sie wusste längst von Alex Berté, dass ihr Chef seit Jahren verheiratet war, seine Frau jedoch nicht in Arosa lebte.

Dass dies bedeutete, dass er den Weihnachtsabend einsam in der Kirche verbrachte, erschütterte sie zutiefst. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht.

Doch wenn sie zum Ausgang wollte, musste sie an ihm vorbei. Natürlich bemerkte er sie, registrierte ihr Zögern, ihre Bestürzung. Er habe sie nicht erschrecken wollen. Ob sie sich kurz zu ihm setze? Lessia nahm neben ihm Platz und wartete stumm, was Northwood ihr zu sagen hatte. Warum sich ihr Herzschlag beschleunigte, wusste sie nicht. Sie habe sich gut in der Klinik eingelebt, sei ausgesprochen fleißig, begann er.

Ob er und Doktor Berté auf längere Zusammenarbeit hoffen dürften? Sie antwortete ihm, dass sie mindestens ein Jahr zu bleiben gedenke, um dann neu darüber zu befinden. Es sei schön, dass sie sich von der personellen Unterbesetzung und der vielen zusätzlichen Arbeit nicht entmutigen lasse, entgegnete er. Er habe schon bemerkt, dass sie ihre Obliegenheiten sehr ernst nehme. Northwood galt als pflichtbewusster Chef, der viel fordern konnte, weil er selbst überdurchschnittlich viel leistete. Lessia hatte sich darauf eingestellt, dass pünktliche Feierabende bis kurz vor Weihnachten die absolute Ausnahme waren. Während sie nervös und verlegen die Unterhaltung gern rasch beendet hätte, wirkte er entspannt, sogar erfreut, sie zu treffen. Nach einigen Augenblicken des Schweigens fügte er hinzu, er fliege in den nächsten Tagen nach London zu seinem Schwiegervater. Ihr rutschte die Frage heraus, warum er die Weihnachtstage nicht mit ihm verbringe.

Ihr Chef seufzte. So sei es geplant gewesen, antwortete er, doch seine Frau sei plötzlich bei ihrem Vater aufgetaucht. Eine Begegnung mit ihr ende erfahrungsgemäß im Streit und verderbe allen Beteiligten das Fest. Also verschiebe er den Besuch. Es sei ohnehin an der Zeit, den Schlussstrich zu ziehen. Er habe seinen Schwiegervater vorgewarnt, dass er endlich auf einer Scheidung bestehe. Glücklicherweise habe auch Sir Lennard eingesehen, dass die Ehe nur noch auf dem Papier bestand. Sie, Lessia, sei an der Entwicklung nicht ganz unschuldig, setzte er mit einem kleinen Lächeln hinzu.

Erschrocken fragte sie ihn, wie er das meine. Sie habe ihm unbewusst gezeigt, dass er nicht nur Arzt, sondern auch Mann sei. Es täte ihm nicht gut, dass er sich ausschließlich hinter der Arbeit vergrabe, die Zeit sinnlos verstreichen ließ, sich selbst für einen Neuanfang blockiere und seine Seele in Ketten lege. Er gedenke sich von seinen Altlasten zu befreien. Die dunkle Bitterkeit in seiner Stimme berührte sie tief. Dass er unter dem Scheitern seiner Ehe litt, war sicher normal, fand Lessia, doch die privaten Probleme ihres Chefs allzu sehr an sich heranzulassen, ging nicht an. Obwohl sie es nicht ratsam fand, dass er ihr diese persönlichen Belange in der inzwischen menschenleeren Kirche auseinandersetzte, sagte sie zu, als er sie zum Essen einlud.

Der Gedanke, dass ein begnadeter Chirurg, der jedes Jahr hunderten Patienten das Leben rettete, niemanden finden sollte, der ihm an Heiligabend ein wenig seiner Zeit schenkte, stimmte sie traurig. Gleichzeitig fragte sie sich, warum es ihr nicht möglich war, eine gesunde Distanz zu wahren. Zwei Tage danach ereignete sich etwas Seltsames. Doktor Berté suchte Lessia spät abends nach Dienstschluss auf. Er beginne seinen Dienst am Folgetag etwas später, um für seine in Arosa lebenden Eltern etwas zu erledigen, informierte der Kollege sie an ihrer Wohnungstür. Kaum war er fort, klopfte es forsch. Sie öffnete die Tür. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus. Ihr Chef stand mit angespannter Miene auf der Schwelle. Sie bat ihn einzutreten. Er fragte fast schroff, was Berté um diese Uhrzeit gewollt habe. Sie sagte es ihm verwundert. Er entspannte sich, gleich darauf errötete er. Offensichtlich geriet ihm die Peinlichkeit seines Verhaltens vor Augen. Im Gegensatz zu Alex fehlte ihm eine plausible Erklärung für sein Erscheinen. Sie standen sich wortlos gegenüber. Lessia rettete die Situation, bevor die Stille unangenehm wurde. Mit vor Verlegenheit hochroten Wangen bot sie ihm von ihren selbstgebackenen Plätzchen an. Philipp trank dazu eine Tasse ihres Tees und ließ sie wissen, dass er morgen früh nach England fliege, um seine Angelegenheiten zu ordnen. Wann er zurück sei, ließe sich im Moment nicht einschätzen. Befangen wünschte sie ihm eine gute Reise und viel Erfolg. Er kehrte bereits am Abend des 2. Januar zurück, bemerkte ihr gegenüber bei einem Treffen vor einem Patientenzimmer, er habe mit Hilfe eines Anwalts das Scheidungsverfahren in die Wege geleitet. In spätestens sechs Monaten sei alles vorbei.

Ein paar Wochen später, sie saßen an dem Abend zur Besprechung im Büro, begleitete die am Empfang dienstführende Schwester einen älteren, auffallend dunkel gekleideten Herrn zu ihnen herein. Augen und Haltung des Mannes verrieten nicht nur Lessia, dass ihm Schreckliches widerfahren sein musste.

Northwood schob sofort alles Dienstliche beiseite und begrüßte ihn mit ausgesuchter Herzlichkeit, obgleich er den Besucher offenkundig nicht erwartet hatte. Umgehend entließ er seine Ärzte in den Feierabend. Der Mann war kein Geringerer als Sir Lennard Maydon, erfuhr sie von Alex. Am anderen Morgen hörte Lessia, dass es keine Scheidung geben würde. Northwoods Schwiegervater war aus London angereist, um seinen Schwiegersohn persönlich vom Tod seiner Tochter zu unterrichten. Lessia war wie vor den Kopf geschlagen.

Dass es sich um einen Suizid handelte und dass Philipps Frau in einem Abschiedsbrief ausgeführt hatte, dass sie, inzwischen schwer alkoholkrank, über die Zurückweisung eines Liebhabers nicht hinwegkomme, erfuhr die junge Ärztin erst später. Der Klinikalltag lief scheinbar unberührt davon weiter: Northwood betraute Doktor Berté mit den geplanten Operationen, die eigentlich er selbst hätte durchführen sollen. Da der zweite Assistenzarzt zeitgleich ausschied, stand Lessia von früh bis spät im Operationssaal, ignorierte ihre brennenden Füße und assistierte Alex, der sich als ein hervorragender Lehrmeister entpuppte. Ihr war klar, dieses Wissen hätte man ihr an keiner anderen Einrichtung in so kurzer Zeit zur Verfügung gestellt.

Northwood begegnete sie nicht an jenem Tag. Erst spät abends teilte man ihr mit, dass Philipp seinen Schwiegervater nach England zurückbegleitet hatte. Sie nahm an, dass er nicht nur der Beerdigung beiwohnen und Maydon eine Stütze sein wollte. Er musste wenigstens beim Anwalt das Mandat für die Scheidungsklage zurückziehen und, da die Ehe nicht rechtskräftig geschieden war, Erbschaftsangelegenheiten regeln. Lessia versuchte, sich über ihre Gefühle für ihren Chef klar zu werden, der diesmal fast zwei Wochen ausblieb.

Viel Zeit zum Nachdenken blieb ihr nicht. Sie war mit Berté allein in der Verantwortung für alle Patienten.

Gemeinsam hatten sie ein enormes Arbeitspensum abzuleisten. Die Klinik war zwar noch nicht voll belegt, doch Voruntersuchungen, Operationen, Nachuntersuchungen und Gespräche mit Patienten und deren Angehörigen füllten den Tag komplett aus. Wenn Lessia spät am Abend ihre kleine Wohnung betrat, aß und trank sie etwas und fiel todmüde ins Bett. War sie zum Bereitschaftsdienst eingeteilt, holte man sie gelegentlich während der Nacht zu Patienten, die Probleme hatten. Was Northwood in die Lage versetzte, nebenher im Büro Unmengen von Papierbergen abzuarbeiten, war ihr schleierhaft. In jedem anderen Krankenhaus hätte er auch als Leiter kürzere und geregeltere Dienstzeiten haben können. Lessia fragte sich häufig, was ihren Chef an der Zeggher-Klinik hielt. Professor

Zeggher wurde unter dem Personal hoch verehrt. Er hatte die Klinik errichten lassen. Doktor Berté hatte ihr einen Einblick in seine revolutionierenden Operationstechniken verschafft, die die Klinik so berühmt gemacht hatten. Doch kennengelernt hatte Lessia Zeggher bisher nicht. Es hieß, er sei selten in Arosa, häufig auf Reisen und arbeite ansonsten im Züricher Kantonsspital. Lessia fand es bemerkenswert, dass ein Schweizer eine Klinik bauen ließ, deren Leitung jedoch einem Engländer übergab. Kurz nach Northwoods Rückkehr bat sie ihren Chef um ein paar freie Tage. Er erkundigte sich besorgt, ob es ihr gut ginge, er wisse zu schätzen, was sie in den letzten Tagen geleistet habe.

Sie habe viel von Doktor Berté gelernt, erwiderte sie, der sie im OP geduldig mit den Techniken Professor Zegghers vertraut gemacht hätte. Dann sei seine Sorge, dass sie wegen der hohen Arbeitsbelastung eine Auszeit wolle, wohl unbegründet, vergewisserte er sich.

Nein, sie wolle es mit Skilaufen versuchen, ehe der Frühling Einzug hielt. Northwood nickte, gewährte ihr ein freies Wochenende und sie dankte ihm. Zeit für private Worte blieb nicht. Das Telefon klingelte. Lessia stürzte beim Skifahren am nächsten Tag mehrmals. Sie gab missmutig den ungewohnten Sport auf, bevor sie sich ernsthafte Verletzungen zuzog und in der Arbeit ausfiel, kaufte ein Bahnticket, um einen Ausflug nach Zürich zu unternehmen. Die Erkundung der Stadt erschien ihr wesentlich weniger gefährlich. Gefahrlos war sie jedoch keineswegs: Im Foyer des Hotels, in dem sie abgestiegen war, lief ihr am frühen Abend

unvermittelt ihr Chef über den Weg. Beiden verschlug es die Sprache, als sie sich so unerwartet wiedersahen.

Habe sie nicht Skilaufen wollen, fragte Philipp irritiert.

Sie erklärte ihm lachend den Grund ihres Hierseins und erntete ein scherzhaftes Lob für ihre lobenswerte Arbeitseinstellung. Ihr Chef wirkte ansteckend fröhlich. Lessia erfuhr, dass er von Professor Zeggher kam.

Dieser habe angerufen, als sie im Büro um ihren Urlaub bat, um Philipp nach der Rückkehr von einer monatelangen Reise treffen. Leider sei sein Freund bereits auf dem Weg zum nächsten Termin. Mit Vergnügen nahm Lessia die Einladung Philipps an, gemeinsam zu Abend zu essen. Anschließend besuchten sie eine ruhige Bar, unterhielten sich und tanzten. Lessia war glücklich, wenn sie Philipps Berührungen spürte. So fern von Arosa und der Klinik genoss sie vorbehaltlos das Zusammensein mit ihm. Sie war verliebt.

Ihr Herz schlug schneller, ihre Augen leuchteten. Sie sah die Zärtlichkeit auf seinem Gesicht, die ihr galt.

Knisternde Spannung baute sich zwischen ihnen auf.

Doch als der Abend fortschritt, meldeten sich nagende Zweifel. Lessia fragte sich, ob es richtig war, den Abend zusammen zu verbringen. War es vernünftig, ihrem Chef ihre Zuneigung zu schenken, dessen Frau gerade freiwillig ihr Leben beendet hatte? Erwiderte Philipp ihre tiefen Gefühle für ihn überhaupt? Wenn ja, gäbe es Klatsch und Tratsch zuhauf, sicher zum Schaden der Klinik. So etwas würde Professor Zeggher rigoros unterbinden, da war sie sicher. Sie hatte zudem Angst, dass Philipps trauernder Schwiegervater nicht

akzeptierte, dass es so schnell eine neue Frau in seinem Leben gab. Was, wenn die Männer ihretwegen in unversöhnlichen Streit gerieten? Jemandes Gefühle zu verletzen lag ihr fern. Vielleicht wollte Philipp geheime Treffen mit Lessia, um neugierigen Fragen aus dem Weg zu gehen? Nach dem gerade überstandenen Fiasko mit seiner ersten Frau stand ihm wohl kaum der Sinn nach einer neuen Ehe. Würde sie das aushalten, ihm in der Arbeit ständig zu begegnen, ohne zu verraten, dass sie in ihm nicht mehr nur den Vorgesetzten sah, sondern den Mann, den sie liebte? Philipp merkte ihr an, dass etwas nicht stimmte, bat den Kellner um die Rechnung. Er musste sich ihr erklären. Sie verließen die Bar. Das Wetter hatte umgeschlagen. Draußen fegte eisiger Wind durch die verlassenen Straßen der Altstadt und es schneite. Schneekristalle brannten auf der Haut. Bis zum Hotel waren es zwar nur ein paar hundert Meter zu Fuß, aber Northwood mochte Lessia bei dem Wetter den Weg nichtzumuten. Er kehrte in die Bar zurück und bestellte ein Taxi, auf das sie im Hausflur warteten. Dort war niemand außer ihnen. Es war dunkel, nur das Licht einer Straßenlaterne erhellte ihre Gesichter. Lessia fror in ihrem warmen Mantel.

Philipp wickelte seinen Wollschal ab und legte ihn ihr um den Hals. Er war noch warm von seiner Haut. Der Geruch seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase. Sie sahen einander stumm in die Augen. Lessia bot alle Willenskraft auf, um die aufsteigenden Tränen niederzuhalten. Die Geste Philipps erschien ihr nicht nur fürsorglich und liebevoll, sondern auch sehr intim. Ihm ging es ebenso. Er seufzte gequält. Seine Arme umfassten sie plötzlich, er zog sie an sich, spürte ihr Zittern.

Er legte seine Finger unter ihr Kinn und sie hob den Kopf. Seine warmen Lippen berührten ihre und sie öffnete den Mund, um den Kuss zu erwidern. In ihrem Inneren warnten keine Alarmglocken. Ihr Verstand setzte aus, machte einer unbändigen Sehnsucht nach ihm Platz. Sie wusste, dass sie ihre Hingabe bereuen würde, blendete jedoch jeden Gedanken an die Konsequenzen ihres Handelns aus, lebte den Moment mit ganzer Intensität. Schwer atmend lösten sie sich endlich voneinander. Jetzt war ihr siedend heiß. Dafür zitterte Philipp, allerdings nicht vor Kälte. „Seit du mein Büro zum ersten Mal betreten hast, träume ich genau davon“, flüsterte er bewegt. „Ich hatte Furcht, du könntest mich wegstoßen, vielleicht Berté den Vorzug geben oder noch schlimmer, kündigen, weil dir alles zu viel wird.“ „Niemals“, hauchte sie kaum hörbar. Philipp umfasste ihre Handgelenke. „Dessen bin ich froh.“

Draußen hupte es. Philipp ließ Lessias Hand nicht los. „Unser Taxi ist da.“ Er öffnete die Tür, legte schützend den Arm um ihre Schulter und führte sie durch das Unwetter zum Fahrzeug. Die Fahrt zum Hotel dauerte keine fünf Minuten, in denen er sie fest an sich drückte und immer wieder küsste. Philipp bezahlte den Fahrer. An der Rezeption ließen sich beide ihre Zimmerschlüssel aushändigen, betraten den Fahrstuhl. Die Wirklichkeit holte Lessia ein, sie ließ den Kopf sinken. Eine Woge der Beklemmung umspülte sie. Aufmerksam fragte Philipp nach dem Grund ihrer Bedrückung. Sie kämpfte mit neuen Tränen, setzte vorsichtig zu einer Erklärung an. Er hörte ihr zu, nahm ihre Hände in seine. „Keine Angst, Professor Zeggher legt uns keine Steine in den Weg“, stellte er richtig.

Der Lift hielt, sie stiegen aus. Wie selbstverständlich folgte Lessia Philipp zu seinem Zimmer. Er schloss auf, ließ sie eintreten. Ritterlich nahm er ihr den Mantel ab. Er bat sie, sich zu setzen, goss zwei Gläser spritzigen Weißwein aus der Minibar ein, nahm ihr gegenüber Platz. „Für meinen Schwiegervater dürfte sich ebenfalls kein Problem wegen uns ergeben und wenn, dann ein vorübergehendes.“ Endlich war Zeit sich mit Lessia auszutauschen. Mit dem dekadenten Verhalten seiner Tochter sei der konservative Anwalt nie einverstanden gewesen, trotzdem habe er sein Kind geliebt. Philipp wolle Lessia nicht lange verborgen halten, ganz im Gegenteil, er brauche sie an seiner Seite, für jedermann sichtbar ihm zugehörig, falls sie seine Gefühle erwidere. Er liebe sie und wolle sie heiraten. Sie erstarrte, als sie ihre stummen Fragen so rasch beantwortet und ihre Ängste ausgeräumt sah.

Philipp verstand. Sein Geständnis musste Lessia völlig überrollen. Hilflos hob er die Hände. Wo, wann und wie hätte er sich ihr glaubhaft offenbaren sollen? Beider Lebensmittelpunkt sei die Klinik. Dort seien sie ständig von Personal oder Patienten flankiert und wenn nicht, klingle das Telefon. Sie begriff, dass es ihm ernst war. Zaghaft streichelte sie seine Wange.

„Ich will nicht mehr weg von dir. Doch es kommt so plötzlich. Dass du eine Ehe in Betracht ziehst, nachdem du so enttäuscht wurdest…“ Sie verstummte. Er lächelte. „Ich möchte eine Familie, Kinder. Für mich kommt keine andere Art von Beziehung infrage. Wenn wir uns heute nicht getroffen hätten, hätte ich dich nach deiner Rückkehr aufgesucht, damit du mir nicht verloren gehst. Aber so ist es besser. Zu unserem Schutz sollten wir zunächst Diskretion wahren, wenigstens kurze Zeit. Wir leben in der Nähe eines Bergdorfs, zum großen Teil stammt unser Klinikpersonal von da. Jeder kennt jeden. Ich will verletzendes Gerede vermeiden. Meine Frau packte ihre Koffer nach einer lautstarken Auseinandersetzung und erzählte voller Wut jedem in der Klinik, der es hören wollte, dass sie mich verlassen würde. Ich wollte weiß Gott keine öffentliche Beurteilung unserer Eheprobleme, aber nach dem Auftritt dauerte es nicht einmal bis Schichtwechsel, bis sie sich sogar bis Davos und Chur herumgesprochen hatten. Ich erntete fragende, hämische oder mitleidsvolle Blicke von allen Seiten, schwieg, bis die Sache in Vergessenheit geriet. Willst du mir ein bisschen Vertrauen schenken? Glaub mir, es wird alles gut.“ Sie erwiderte: „Natürlich. Liefe jetzt das Scheidungsverfahren, käme es auf dasselbe hinaus, nicht wahr?“ „Ja, da hast du recht“, nickte er. „Komm, lass uns anstoßen. Es wird nicht lange dauern, bis ich dich frage, ob du meine Frau werden willst.“ 

Die Gläser klangen. Lessia ließ sich von Philipps Händen berühren. Er trank ihre Küsse, die nach kühlem süßen Wein schmeckten, genoss es, dass sie sich ihm öffnete wie ein Blütenkelch dem Sonnenlicht. Seine Finger wanderten über die gerötete Haut ihres Gesichts und ihres Halses. Langsam zog er den Reißverschluss ihres Kleides herunter, ließ sie herausschlüpfen. Er stöhnte, als er ihres schlanken Körpers in schwarzer Spitzenunterwäsche ansichtig wurde. Seine heiße Hand glitt über ihre Brust. Lessia erschauerte, während in ihrem Unterleib Flammen aufloderten, fordernd züngelten und ein Begehren entfachten, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte. Philipp streifte sein Hemd ab, um sich ihr ebenfalls unbekleidet hinzugeben und um das Gefühl ihrer duftigen Samthaut auf seinem Körper auszukosten. Er wollte Lessia weder überfallen noch drängen, aber dieser Vorsatz trat vollständig in den Hintergrund. Sie berauschte ihn mit Leidenschaft und Lust, erschien ihm dabei engelgleich und unberührt.

Weiter dehnte er es nicht aus. Er ließ die Erregung verebben, nicht abrupt, sondern ganz sacht und behutsam. „Es wäre nicht gut, es jetzt schon bis zum Äußersten zu treiben. Ich bin nicht vorbereitet und will kein Risiko eingehen.“ Seine Stimme klang heiser und rau vor Bedauern. Lessia verstand. Sie küsste ihn, spürte Schweiß auf Philipps Oberlippe. In den frühen Morgenstunden huschte Lessia in ihr Hotelzimmer.

Philipp hielt Wort. Nur Wochen später stellte er in London die alles entscheidende Frage und erhielt ihr Ja. Sie heirateten bereits im Frühsommer. Ihre Trauzeugen Marla Adams - Ärztin am dem Krankenhaus, in dem Sir Lennard den Aufsichtsratsvorsitz führte - und Professor Christian Zeggher verliebten sich, Sir Lennard Maydon heiratete seine Sekretärin Olivia

Henderson. Es schien, als habe Gott sie vereint. Drei Jahre war das jetzt her. Lessia kehrte in die Gegenwart zurück.

Die Tage in der Klinik waren unverändert lang und arbeitsreich. Christian Zeggher achtete mit fürsorglicher Strenge darauf, dass alle Ärzte regelmäßig Auszeiten erhielten. Sich selbst vergaß er gelegentlich zu berücksichtigen, und so hatte Philipp es sich zur Aufgabe gemacht, dafür Sorge zu tragen, dass auch der Professor dann und wann die Arbeit hinter sich lassen konnte. Wesentliche Personalprobleme ergaben sich dadurch nicht, obwohl von sinkenden Patientenzahlen keine Rede sein konnte.

Die Chirurgen Alex Berté und Aurelio Fratino arbeiteten nach wie vor in Arosa, waren unverwüstlich und gehörten praktisch zum Inventar. Christian und Philipp hatten die Arbeitsstunden der beiden Ärzte bei vollem Lohnausgleich leicht verkürzt. Grund: Beide hatten inzwischen ebenfalls Familie.

Als Margarete Heller vor drei Jahren nach mehrmonatigem Aufenthalt in Arosa nach England zurückkehren musste, war ihre Tochter untröstlich. Es war schon schlimm genug für Marie, künftig auf Aurelio und seine Hündin Elsa verzichten zu müssen, mit denen sie sich angefreundet und viel Zeit verbracht hatte. Doch dass sie „Doktor Alex“, den sie ganz besonders ins Herz geschlossen hatte, plötzlich nicht mehr täglich aufsuchen und mit ihm plaudern, mit ihm und ihrer Mutter keine Wanderungen mehr unternehmen, in eiskalten glasklaren Bergseen baden, ja, ihn vielleicht nie wiedersehen sollte, verinnerlichte sie nicht. Auch ihre Mutter musste insgeheim zugeben, dass sie den jungen Arzt und sein wunderschönes Heimatland so schnell nicht vergessen würde. Je näher die Stunde des Abschieds rückte, desto trauriger wurde Margarete.

Doktor Berté suchte sie am Vorabend der Abreise auf und bat, sie zum Flughafen nach Zürich bringen zu dürfen. Sie willigte gern ein. Vor dem Flughafengebäude überreichte Alex der jungen Frau außer ihren Koffern schüchtern eine zartrote Rose. Er nahm allen Mut zusammen, als er betonte, dies müsse kein Abschied für immer sein. Ob Margarete sich ein Wiedersehen und sogar eine Rückkehr vorstellen könnte, um als seine Frau in der Schweiz zu leben? Margarete sagte mit hochroten Wangen und leuchtenden Augen ja.

Marie stimmte ein Jubelgeschrei an. Inzwischen lebten sie längst als Familie vereint. Zu Maries großer Freude bekam sie vor kurzem einen Bruder. Alle trugen den Nachnamen Berté. Alex war von Marie uneingeschränkt als Papa respektiert und geliebt. Maries leiblicher Vater hatte das Kind ohne juristische Kämpfe freigegeben. Ausfallende Unterhaltszahlungen waren zu verschmerzen.

Aurelio Fratino verliebte sich etwa zur gleichen Zeit in Elisabeth, die bildhübsche Tochter eines Bergbauern, die in der Klinik ihr Auskommen als Krankenschwester gefunden hatte. Ihre Familie, allen voran ihr Vater, hegte zunächst starke Vorurteile gegen ihn. Dass seine Tochter sich mit einem Ausländer aus dem Elendsviertel einer „hochkriminellen Stadt“ einließ, passte ihm gar nicht. Aurelio ließ sich nicht entmutigen. Hatte er früher nach Feierabend in den Slums von Caracas verarmten Kranken geholfen, ohne eine Vergütung dafür zu fordern, erschien er nun regelmäßig mit Elsa auf dem Hof des künftigen Schwiegervaters, um zur Hand zu gehen. Das anfängliche Misstrauen des Bauern schwand rasch und machte zunehmender Hochachtung Platz. Ein Doktor, der sich nicht scheute, sich nach Feierabend schmutzig zu machen, und der Mensch und Tier im Krankheitsfall mit Rat und Tat oder einer Medizin half, kam ihm äußerst gelegen.

Fratino stellte sich nicht nur geschickt an, sondern setzte die Tätigkeit auch kontinuierlich und unbeirrt fort, als er Kenntnis von dem Tatbestand erhielt, dass nicht seine zukünftige Frau einmal den Hof übernehmen würde, sondern ihr älterer Bruder. Vererben konnte man einen solchen Besitz eben nur an einen, obwohl zum Bewirtschaften viele Hände nötig waren.

Aurelio bemerkte auf Nachfrage, er sei Arzt in Vollzeit und deshalb zusätzlicher Verantwortung für den Hof nicht gewachsen. Helfen wolle er gern. Er habe außerdem in der Kindheit zu oft gehungert und wisse Naturalien wie Eier, Käse, Butter, Milch, Obst, Gemüse und Brot als Lohn für seine Arbeit überaus zu schätzen. Diese Antwort freute den alten Bauern. Das junge Paar war zu glücklich, als dass Elisabeths Vater der Hochzeit lange Widerstand entgegengesetzt hätte. Als im Jahr darauf ein Enkel geboren wurde, war Aurelio endgültig in die Familie integriert.

Die beiden jungen Ärzte bezogen die ehemaligen Dienstwohnungen Doktor Northwoods und Professor Zegghers, nachdem die Chefs in ihre eigenen Häuser umgesiedelt waren. Der Büroraum in der Mitte blieb als Besprechungszimmer erhalten. Philipp und Christian lebten nun mehr als zwei Jahre in den eigenen vier Wänden. Auch das dritte Wohngebäude unmittelbar daneben, der Alterssitz Sir Lennards und Olivias, war längst fertiggestellt und wurde von ihnen regelmäßig genutzt. Beinahe von selbst wurden sie zum Großeltern-Ersatz für Laura und Haylie. Sie dachten ernsthaft daran, mittelfristig in den Ruhestand einzutreten, eine Vorstellung, vor der Sir Walter Kingsley grauste. Über Lennards und Olivias Hochzeit war im Krankenhaus nie ein übles Wort gefallen; sie hatten mit ihrer Aktion erreicht, dass böse Zungen schwiegen. Maydon jedoch, finanziell unabhängig, fand zunehmend Gefallen daran, mit seiner Frau zwischen England, der Schweiz und Australien unterwegs zu sein. „Ewig werden wir es nicht mehr können“, bemerkte er in weiser Voraussicht. Nach wie vor widmete er sich unermüdlich den betriebswirtschaftlichen Angelegenheiten der Klinik in Arosa. Die hätte inmitten des Urlaubsgebietes eigentlich zunehmend schweren Stand haben müssen. 

Doch nach wie vor lieferte sie gleichbleibend zufriedenstellende schwarze Zahlen, ein Phänomen, über das Lennard sich jedes Jahr neu verwunderte. Letztlich erklärte es sich wohl mit ihrer rechtzeitigen Angliederung an das Unfallkrankenhaus in Chur, dem Fleiß ihrer Ärzte und des Pflegepersonals, Christians umfangreichen wissenschaftlichen Publikationen, finanzieller Unabhängigkeit und einem kleinen Quäntchen Gottes Segen.

Lessia genoss die freien Tage mit ihrem Mann. Häufig waren sie in der Stadt unterwegs. Philipp zeigte ihr Berns Sehenswürdigkeiten, unter anderem das weltbekannte Wankdorf-Stadion, in dem 1954 das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen wurde, das als „Wunder von Bern“ in die Geschichte einging. Die Nationalmannschaft der Bundesrepublik Deutschland gewann unter Bundestrainer Sepp Herberger 3:2 gegen Ungarn. „Neun Jahre nach Kriegsende war das eine wichtige Stunde für die niedergedrückte deutsche Nation, glaube ich. Endlich machte Deutschland wieder Schlagzeilen - aber in diesem Fall positive“, lautete Philipps Kommentar. Sie standen ferner während der Besichtigungstour vor dem eindrucksvollen Bundeshaus, überquerten die Monbijoubrücke und verweilten im Berner Münster. Auch die Heiliggeistkirche, ein prachtvoller Barockbau und eines der Wahrzeichen der Bundesstadt, wurde eines ihrer Ausflugsziele.

Das Hotel war für die Dauer des Kongresses völlig ausgebucht. Die Redner, hochkarätige Fachleute, beleuchteten interessante medizinische Themen; daraus resultierend folgten im Anschluss gute Gespräche.

Dass sich ihrer beider Freund Christian Zeggher in diesen Kreisen wohl gefühlt hätte, glaubte Lessia sicher. Doch der Professor hatte Philipp und ihr den Vortritt gelassen.

Zwischen Dutzenden Medizinern aus ganz Europa, Vertretern der Pharmaindustrie und hin und her eilendem Servicepersonal glaubte Lessia an einem der Veranstaltungsabende für einen Augenblick eine vertraute Gestalt zu sehen, war sich jedoch nicht sicher. Sie hielt angestrengt Ausschau, konnte sie in der Masse der Leute aber kein zweites Mal erspähen. So glaubte sie schließlich, sich getäuscht zu haben. Philipp wurde nahezu pausenlos von anderen Ärzten erkannt und angesprochen. Er und seine bildhübsche schwangere junge Frau mussten viele Hände schütteln und Glückwünsche sowie Grüße an Professor Zeggher entgegennehmen.

Am Abend eröffnete der Veranstalter ein großes Buffet mit erlesenen Speisen, um das sich sofort eine Menschentraube scharte. Lessia erging es wie in der ersten Schwangerschaft: Sie wurde rasch satt und musste penibel darauf achten, nicht abzunehmen. Philipp musste ihr zureden, noch den einen oder anderen Happen zu probieren, den er ihr selbst brachte, damit sie sich nicht in das Gedränge stürzen musste. Er kehrte nicht allein zu ihrem Tisch zurück, sondern in Begleitung eines Herrn. Lessia begriff, dass sie vorhin keiner Täuschung erlegen war: Der Mann war niemand anderer als ihr guter Freund Doktor Roger Wilkes, mit dem sie zusammen in London studiert hatte und der vor einigen Jahren ihre beste Freundin Paula heiratete, mit der sie vor dem Medizinstudium die Ausbildung zur Krankenschwester gemeistert hatte. Seit drei Jahren hatte sie nichts von ihnen gehört. Weil Paula Nachrichten über den Kindersegen bei Zegghers und Northwoods nach mehreren Fehlgeburten nur schwer verkraftet hätte, bat sie seinerzeit, den Kontakt einschlafen zu lassen, was Lessia zwar akzeptierte, ihr jedoch viel Kummer bereitete.

Sie war beglückt über die unverhoffte Begegnung und erhob sich lächelnd, um Roger zu begrüßen. Dieser starrte zuerst auf ihren gerundeten Bauch, dann schloss er sie in die Arme, ergriff er ihre Hand und drückte sie ehrlich erfreut. „Na, das ist aber eine doppelte Überraschung, Lessia! Wie schön, euch zu treffen! Darf ich mich kurz zu euch setzen?“

„Ja, sicher! Ich freue mich riesig, dich zu sehen!“ Lessia bemerkte, dass Roger sich verändert hatte. Nach wie vor war er kräftig und sportlich gebaut, doch die Haare hatten sich gelichtet und er hatte sich einen Bart stehen lassen. Früher war er stets fröhlich und zum Scherzen aufgelegt. Heute gewahrte sie einen tiefen Ernst in seiner Miene, den sie nicht gewohnt war.

„Ich habe schon ausführlich vernommen, dass es euch ausgezeichnet geht. Euch kann man auf ganzer Linie herzlich gratulieren!“, stellte er neidlos fest.

Lessia drückte die Hand ihres Mannes. „Wir sind sehr glücklich in Arosa. Wie geht es Paula und dir? Arbeitet ihr nach wie vor in der Praxis deiner Schwiegereltern?“

Das Gesicht ihres Gegenübers verfinsterte sich abrupt.

„Noch!“, erwiderte er rau. „Weißt du, ich selbst hätte den Kontakt zu euch nie abreißen lassen. Ich richtete mich nach dem Wunsch meiner Frau. Mir ist bekannt, dass Paula dir geschrieben hat, sie werde sich im Fall einer erfolgreichen Schwangerschaft wieder melden.

Leider - hatte sie bis heute keinen Grund dazu. Dafür könnte ihr ja nun wirklich nichts und sich deswegen weiter aus dem Weg zu gehen ist hirnverbrannt. Ich muss Paula zugutehalten, dass sie eine katastrophale und Kraft raubende Zeit hinter sich hat. Die Ärzte mussten sie ein paarmal operieren, unlängst die Gebärmutter entfernen. Wir haben nicht die minimalste Chance auf ein eigenes Kind. Uns geht es ehrlich gesagt miserabel dabei. Alles stürzt den Bach hinunter.

Unsere Ehe steht vor dem Aus. Paula will die Scheidung, drängt, dass ich mir eine andere Frau suche. Sie akzeptiert meine Argumente nicht, dass ich sie trotz allem liebe und es viele kinderlose Ehen gibt, in denen beide Partner gelernt haben, mit der Situation zurechtzukommen. Sie stellte mir vor ein paar Tagen nach einem Streit völlig verzweifelt die Koffer vor die Tür.

Ich bin bei meinen Schwiegereltern eingezogen. Aber das ist keine Dauerlösung. Die beiden sind völlig ratlos. Sie wollten sich langsam gen Ruhestand zurückziehen, schon aus gesundheitlichen Gründen. Paula und ich sollten die Praxis übernehmen. Der Plan funktioniert natürlich im Falle einer Scheidung nicht. Wir sind am Ende unserer Weisheit und wissen gar nicht, was wir machen sollen. Ich bin hier, weil ich mich beruflich umorientieren muss. Ich habe in Bern eine gut bezahlte Stelle in Aussicht, inklusive Dienstwohnung. Die werde ich wohl annehmen. Vielleicht erträgt sich der Gedanke dann besser, dass meine Frau mich komplett zurückweist. Außerdem versetzt dieser Schritt mich in die Lage, meine Schwiegereltern finanziell zu unterstützen. Früher oder später müssen sie jemanden zur Hilfe einstellen. Paula arbeitet derzeit nur selten, ist oft krank. Ihr Vater kommt nicht umhin ein bisschen kürzer zu treten. Doch Geld für zusätzliches Personal muss irgendwo erwirtschaftet werden.“

Lessia war zutiefst bestürzt. „Das sind ja ganz böse Neuigkeiten!“, sagte sie mutlos. „Ihr tut mir wahnsinnig leid. Ich würde gern mit Paula reden, aber ich fürchte, dass sie mich nicht anhört, weil ich mich gar nicht in ihre Lage versetzen kann.“

„Vermutlich wäre sie sogar böse, dass ich euch erzählt habe, wie es um unsere Ehe steht. - Ich würde euch gern ab und zu schreiben, wenn ich darf.“ Roger blickte Philipp fragend an.

„Kein Problem“, entgegnete Northwood. „Wir beide wünschen euch, dass alles gut wird und ihr die Krise meistert.“

„Ich würde mich freuen, wenn ich wüsste, dass es dir in Bern gut geht und es dir gelingt Fuß zu fassen“, versicherte Lessia. „Auch über ein paar Zeilen, wie Paula das alles verwindet, wäre ich dir dankbar. Hast du Hoffnung, dass zwischen deiner Frau und dir alles wieder gut wird?“

„Keine Ahnung. Sie ist traurig und verletzt, sieht wahrscheinlich nur einen Weg: Selbst zu verletzen in der Hoffnung, dass sie sich besser fühlt. Ich hoffe, sie merkt irgendwann, dass das keine gute Strategie ist.“

„Der Gedanke, dir kein Kind schenken zu können, muss sehr quälend für sie sein.“

„Ich weiß, ich muss mich in Geduld wappnen.“ Wilkes seufzte und erhob sich. „Ich will euch nicht länger stören. Ihr hört bald von mir.“ Nach diesem Versprechen drückte er beiden die Hand und ging.

Philipp bemerkte Tränen in den Augen seiner Frau, als sie Wilkes ohne ein Wort des Trostes ziehen lassen musste. Er legte die Hand auf ihren Arm, stand auf.

„Ich bin gleich zurück. Warte hier auf mich, Liebes. - Roger! Einen Moment!“, rief er.

Der Gerufene wandte sich um. Was zwischen beiden Männern bei einem Drink an der Bar gesprochen wurde, verstand Lessia aus der Entfernung nicht. Nach knapp zehn Minuten gingen sie auseinander. Roger hob noch einmal die Hand zum Gruß. Rasch war Philipp wieder an der Seite seiner Frau, die ihn fragend anblickte.

„Kannst du dich erinnern, wie Professor Rodriguez Doktor Fratino zu uns brachte?“, fragte er. Als Lessia nickte, setzte er hinzu: „Aurelio hat einmal ein paar vage Andeutungen gemacht über Auslandsadoption, Leihmutterschaft und dergleichen. Es klang so, als hätte er zumindest zeitweilig Kontakt mit Personen gehabt, die sich in Venezuela oder überhaupt im mittel- und südamerikanischen Raum damit auskennen.

Die Möglichkeit, ein Kind zu adoptieren, haben Paula und Roger noch gar nicht in Erwägung gezogen. Er sagt, er will versuchen, sie mit Hilfe seiner Schwiegereltern für diesen Gedanken zu begeistern. Wir haben vereinbart, dass ich Fratino darauf vorbereite, dass sie ihn vielleicht ansprechen. Vielleicht weiß er Rat für die beiden.“

„Ist lieb von dir“, flüsterte Lessia gerührt. „Es kommt ihn hart an, mit Paula kein Kind haben zu können. Er hat nicht einmal nach dem Geburtstermin unseres Babys gefragt. Früher beim Studium hat er mit nie enden wollender Heiterkeit geglänzt, mit seinen schwarzhumorigen Sprüchen die Professoren hochleben lassen, mich unermüdlich abgefragt und herumgeulkt, um meine Prüfungsängste zu zerstreuen. Manchmal hat er mit seinen Witzen regelrecht genervt. Gelegentlich schoss er über das Ziel hinaus. Und heute…?“

„Ich will nicht, dass du traurig bist, Liebes. Dein Seelenfrieden ist mir wichtig“, gab Philipp zu und legte seine Hand auf ihre. „Wenn du unbelastet bist, geht es auch unseren Kindern gut. Ich habe mich darum gekümmert und denke, wir hören bald von Roger.“ Er sah sie aufmerksam an. Sie wirkte nachdenklich, traurig und auch ein bisschen erschöpft. „Komm, lass uns gehen, Lessia. Der offizielle Teil der Veranstaltung ist vorüber. Jetzt ist es nur noch laut hier. Auf der Tanzfläche herrscht ein fürchterliches Gedränge. So macht es keinen Spaß, mit dir über das Parkett zu schweben.

Oben kannst du die Beine hochlegen.“

In ihrem gemütlichen Zimmer angekommen, zog Lessia ihr Kleid aus, setzte sich in Unterwäsche vor den Spiegel, lehnte sich zurück, löste ihre Haarspangen und begann ihre Locken zu bürsten.

Philipp bediente sich aus der Bar, genehmigte sich ein weiteres Glas Whisky. „Willst du auch etwas trinken - Wasser oder Orangensaft?“, fragte er.

„Nein, danke“, antwortete sie still.

Philipp sah ihr zu und konnte nicht verhindern, dass Begehren in ihm erwachte. Er stellte sein Glas auf ihrem Nachttisch ab, rückte einen zweiten Stuhl hinter sie, nahm ihr die Bürste aus der Hand und durchkämmte behutsam ihr üppiges, lockiges Haar. Schließlich legte er ihr die gescheitelten Strähnen über die Schultern und die Bürste beiseite, begann sanft ihren Rücken und ihre Arme zu massieren, ihren Hals zu küssen, ihre Brust zu streicheln. Durch die hauchdünne Spitze ihrer Wäsche spürte er die Brustwarze hart werden, öffnete den BH-Verschluss, vernahm ihren leisen Seufzer. Mit einem kleinen Ruck zog er ihren Drehstuhl herum, so dass er ihr gegenüber saß, und musterte sie mit hungrigen Augen. Kurz streiften seine Lippen ihre, es war nicht mehr als eine sachte Berührung. Lessias Mund öffnete sich voll sehnsüchtiger Erwartung, seine Zunge begann ihre zu streicheln. Sie legte ihre Arme um seinen Hals. Er hob sie hoch und ließ sie auf das Bett sinken. Das Licht blieb an, während er sich auszog und unbekleidet zu ihr unter die Bettdecke glitt. Er liebkoste weiter ihre Brüste, streichelte das gewölbte Bäuchlein, konnte ein lautes Stöhnen nicht unterdrücken, als Lessia begann, ihn mit Händen und Mund zu befriedigen. Philipp hatte Angst, ihr oder dem Kind weh zu tun, und unterließ es auch diesmal, während der Schwangerschaft in ihren Schoß einzudringen. Er verlor sich völlig unter den erregenden Berührungen ihrer geschickten Hände, ihres warmen Mundes und ihrer Zunge, ihren Zärtlichkeiten, vergaß Raum und Zeit über dem Hochgenuss, den sie ihm bereitwillig spendete. 

Er wollte nur eines: Die innigen Gefühle, die sie ihm schenkte, festhalten, ihre Liebe, Hingabe und Anschmiegsamkeit genießen, ihren beschleunigten Atem hören, ihre lodernde Leidenschaft spüren. Sie Erfüllung finden zu lassen und selbst Befriedigung zu erlangen, empfand er noch immer als Glanzlicht ihrer lebendigen Beziehung. Niemals hatte er bereut, ihr sein Jawort gegeben zu haben.

Arosa

Am späten Abend desselben Tages - die kleinen Mädchen lagen längst im Bett - saßen Marla und Christian im gemeinsamen Arbeitszimmer im Erdgeschoss ihres Wohnhauses. Sie las einen seiner handgeschriebenen Vortragsentwürfe in englischer Sprache Korrektur, er hatte die Post durchgearbeitet und blätterte in der Zeitung. Sein Blick blieb an einer Todesanzeige hängen. „Konrad Almbacher ist heim gerufen worden. Morgen wird er in Arosa beigesetzt.“

Marla blickte auf. „Kanntest du den Mann näher?“

„Ein wenig. Sein Wort wog schwer bei den Älteren in der Gegend, er war Schweizer Urgestein, sehr konservativ eingestellt.“

„Aha. Was heißt das?“

„Nun, er war tief in alten Traditionen verwurzelt. Das heißt zum Beispiel Bildung zählte für ihn nicht unbedingt zur absoluten Lebensnotwendigkeit. Er konnte kaum lesen und schreiben weil für ihn von Kindheit an die Arbeit auf dem Hof vor allem Anderen Vorrang hatte“, erklärte Christian.

Marla staunte. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass jemand, der nicht in gewissem Maß fähig ist zu lesen und zu schreiben, führend zu kommunizieren vermag.“

„Almbacher Senior konnte umso besser rechnen, hatte ein bemerkenswert gutes Gedächtnis für Fakten und Zahlen. Wenn das nicht reichte, hat man dem alten Patriarchen vorgelesen, was ihm unklar war. Er war nicht dumm, auch wenn ihm einige Dinge schwerer zu fallen schienen als normal. Trotzdem war er mit seinen veralteten Ansichten manchmal ein nicht zu unterschätzender Hemmschuh. Sein Sohn Ludwig ist aus einem anderen Holz geschnitzt. Er denkt wesentlich fortschrittlicher als sein Vater. Ich kenne beide. Wenn ich wegen Klinikangelegenheiten in der Gemeinde zu tun hatte, liefen wir uns das eine oder andere Mal über den Weg.“ Zeggher ließ die Zeitung sinken und dachte offensichtlich nach.

„Worüber grübelst du, Christian?“, fragte Marla.

„Ich sinne darüber nach, eine private Bildungsstätte auf unserem Gelände zu errichten.“

Marla legte verdutzt ihren Stift aus der Hand. Ein solcher Gedanke war ihr neu. „Du denkst häufig in großen Kategorien, da kann ich nicht mithalten. Ich glaubte, wir geben Laurie in die Schule nach Arosa, wenn es so weit ist.“

Christian nickte. „Das wäre das Naheliegende. Doch bis vor kurzem existierte eine private Schule in Arosa.

Der Besitzer wurde recht wohlhabend, hat sie jedoch aus Altersgründen aufgegeben. Die Schule war bis zuletzt bestens ausgelastet, konnte zeitweise gar nicht alle Anfragen berücksichtigen. Sie wurde nicht nur von Urlaubern sehr rege genutzt, sondern auch von einem kleinen Teil unserer Patienten. Ihr Wegfall ist bedauerlich für uns. Die Zusammenarbeit funktionierte hervorragend. Seitens unserer Klinik wurden dort die nicht mehr auf Station zu pflegenden fast genesenen Kinder wohlhabender auswärtiger Eltern beschult - oder kranke Patienten brachten ihre Kinder mit hierher und nutzten für sie diese Bildungsmöglichkeit. Die daraus resultierenden Einnahmen brechen der Klinik jetzt weg. Das ist kein gigantischer, doch bedenkenswerter Verlust für uns. Das ist noch nicht alles. Ich habe läuten hören, dass die Schließung die Vermieter von Ferienwohnungen und Pensionen in Arosa etliche Stammgäste außerhalb der Saison kostet, wenn hier ohnehin nicht mehr so viel los ist. Das bedeutet Leerstand. Die finanziellen Einbußen sind für diese Leute, meist Familien, die mit jedem Franken rechnen müssen, viel bitterer zu verkraften als für die Klinik. Man bedauert jetzt, sich nicht intensiver um einen Nachfolger für den Schulbetrieb bemüht zu haben. Wir könnten erhebliche finanzielle Verluste auf beiden Seiten vermeiden, wenn wir eine neue Schule schaffen. Das ist meines Erachtens auf unserem Gelände mit wenig Aufwand machbar und nutzt nicht nur uns, sondern auch den Einwohnern Arosas.“

Marla staunte. „Unglaublich, worüber du dir Gedanken machst. Müsste man zum Erkennen solcher Zusammenhänge nicht Betriebswirtschaft studiert haben?“

„Vielleicht, ich weiß nicht. In leitender Position lernt man, unternehmerisch zu schlussfolgern und die Gegebenheiten einzubeziehen. Die Gemeinde sollte erneut über kostenpflichtige Bildungsangebote für Zureisende nachdenken, die sie sich leisten können. Ich werde es ansprechen. Vielleicht gelingt es uns, die Gruppen von derzeit für die Klinik ausfallenden Patienten wieder langfristig und gewinnbringend zu akquirieren. Wenn die Schule entsteht, wird Laurie natürlich nicht in Arosa eingeschult. Fakt ist, wir erwarten auch zukünftig riesige Gewinne im Tourismussektor. Das dürfte uns vor Ort beträchtliches Wirtschaftswachstum bescheren, wenn wir es richtig anpacken. Sinnvolle Investitionen lohnen mit Sicherheit. Trotzdem müssen wir es durchrechnen. An unserer kleinen Klinik scheint das Sterben medizinischer Einrichtungen bisher vorüberzugehen, weil wir natürlich Patienten der Häuser auffangen, die schließen mussten. Dass sich das ändern könnte, ist nicht nur meine, sondern auch Philipps und Lennards Sorge. Wir müssen stets aufpassen, wachsam sein, gegensteuern und immer wieder zusehen, woher wir unsere Patienten bekommen. Uns zunehmend auf Unfallpatienten zu spezialisieren war goldrichtig. Aber das ist nicht das Ende der Fahnenstange. Die Schule könnte das Fortbestehen der Klinik ebenfalls sichern.“

„Glaubst du, dass man dich seitens der Gemeinde unterstützt?“

„Das hoffe ich. Die Einrichtung der Schule nützt allen.“

„Würden auch Einwohner oder Bauern ihre Kinder in der Klinikschule anmelden?“

„Eher weniger“, mutmaßte Christian nachdenklich.

„Ich schätze, für die Leute in der näheren Umgebung ist meine Idee eher keine Alternative. Die ansässigen Familien sind häufig kinderreich und könnten Schulgeld nur schwer oder gar nicht aufbringen. Sie schicken ihre Kinder kostenlos in die öffentliche Schule nach Arosa. Das dürfte auch Ludwig Almbacher künftig so handhaben. Er ist nur wenige Jahre jünger als ich, hat aber einen Nachzügler, der nur wenig älter ist als unsere Laura. Eine Konkurrenz für die öffentliche Schule in Arosa werden wir nicht. Massen von Kindern können wir bei uns nicht unterbringen. Die Schule ist lediglich für einige wenige wohlhabende Urlauber gedacht, die eindeutig Privatunterricht den Vorzug geben und sich den etwas kosten lassen. Deren Mund-zu-Mund-Propaganda ist allerdings nicht zu unterschätzen. Natürlich muss ich das Vorhaben genehmigen lassen und im Vorfeld außer mit Philipp und Lennard auch mit Ludwig Almbacher sprechen. An dem komme ich nicht vorbei.“

„Gute Lehrer zu gewinnen dürfte sich so schwierig gestalten wie seinerzeit unsere Suche nach einem Arzt“, gab Marla zu bedenken.

„Nicht unbedingt. Bertés Frau und seine Mutter unterrichten. Bisher arbeiten sie nur sporadisch in Arosa beziehungsweise als Hauslehrerinnen. Häuslicher Unterricht durch einen diplomierten Lehrer ist in der Schweiz anerkannter Bildungsweg. Wenn die beiden Frauen regelmäßig besser verdienen, wären die anstehenden Modernisierungen, die Alex bald an seinem Elternhaus vornehmen lassen will, schneller bezahlt.

Wir täten ihnen einen Gefallen und binden Doktor Berté weiter an die Klinik.“

„Ich finde die Idee ganz toll, ehrlich gesagt! Du denkst groß, berücksichtigst bedeutsame Kleinigkeiten und findest Vorteile für die Beteiligten heraus, von denen ich nie etwas ahnen würde.“

„Du kommst aus einer unübersichtlichen Millionenstadt, deine nächsten Nachbarn sind dir häufig fremd.

Hier auf dem Dorf kennt jeder die Bedürfnisse seiner Nachbarn über die Generationen hinweg. Hindernisse schafft man gemeinsam aus dem Weg. Der Nachteil: Gibt es unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten, verhärten die Fronten wesentlich schneller als in der Anonymität der Großstadt. - Mal sehen, was Philipp zu meinem Plan meint. Immenser bürokratischer Aufwand darf uns nicht abschrecken.“ Christian lehnte sich zurück. „Lennard müsste das Ganze fiskalisch durchspielen. Vielleicht kriege ich Ludwig Almbacher dazu, sich dafür einzusetzen, dass sich die Gemeinde finanziell beteiligt. Wenn sowohl die Klinik als auch die Kommune je fünfzig Prozent der Kosten schultern und beiden Seiten die künftig eingehenden Schulgelder hälftig zufließen, könnte es funktionieren. Ich würde es auch allein versuchen, aber der Hausbau hat meine privaten Rücklagen deutlich schmelzen lassen.“

Marla schlug vor: „Wenn man die Lagerräume im hinteren Flügel des großen Nebengebäudes auf Vordermann bringt, in denen wir unsere Möbel vor dem Umzug eingemottet hatten, könnten sie vielleicht als Unterrichtsräume dienen.“

Christian stutzte, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Deine Idee ist hervorragend, mein Mädchen!

Wir brauchten keinen Neubau, wenn wir die Erlaubnis für den Schulbetrieb im hinteren Flügel erhalten! Im