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Schweiz, Mitte der siebziger Jahre des 20 Jahrhunderts. Professor Christian Zeggher lernt eine Frau kennen und lieben. Kurz darauf verschwindet er spurlos. Gelingt seinen Freunden Philipp und Lennard die Klärung seines Schicksals? Welches dunkle Rätsel verbindet die drei Männer in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Können Glaube, Liebe und Hoffnung die Schatten vertreiben? Lassen sich Sex, Arbeit und Gebet vereinen oder sind die Drei endgültig zum Scheitern verurteilt? Eine Saga über eine Männerfreundschaft.......
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Seitenzahl: 460
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Birgit Wannhoff
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After long Darkness
Der Schatten dunkler Stunden
Band I
Birgit Wannhoff
Impressum
Texte: © Copyright by Birgit Wannhoff
Frontumschlag: © Copyright by Gabi Schönemann /pixelio.de
Rückumschlag: © Copyright by Hermann Eberhard /pixelio.de
Verlag: Ohneklecks.de
Birgit Wannhoff
Lützowstr. 31;09119 Chemnitz.
Druck:epubli ein Service derneopubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-7418-6360-8
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Arosa:
Leiter der Klinik in Arosa, Chirurg, verwitwet, engster Freund von Christian Zeggher
Philipps zweite Ehefrau, gelernte Krankenschwester, arbeitet nach Medizinstudium als Ärztin in Arosa
Erbauer der Klinik in Arosa, ebenfalls ihr Leiter und Chirurg, lehrt am Kantonsspital in Zürich, forscht an Kliniken im Ausland
Arzt in Arosa
London:
Rechtsanwalt und Aufsichtsratsvorsitzender eines Londoner Krankenhauses, Philipps Schwiegervater aus erster Ehe, enger Freund Christian Zegghers und wirtschaftlicher Berater der Klinik Arosa
Sir Lennard Maydons Sekretärin
leitende Ärztin der Unfallstation im Londoner Krankenhaus, enge Freundin von Lessia Northwood
Weitere Personen:
Sohn und Schwiegertochter von Olivia Henderson
Chirurg
Chirurg mit Hündin
Freunde der Northwoods
arbeitslose Lehrerin mit kleiner Tochter
Pflegerin in der Klinik Arosa
und der
Chur, am rechten Alpenrheinufer auf einer Höhe von etwa 590 Metern über dem Meeresspiegel gelegen, gilt als älteste Stadt der Schweiz. Verlässt man sie in östlicher Richtung und wählt die steile, extrem schmale und kurvenreiche Schanfigger Straße hinauf in die Berge, erreicht man nach ungefähr fünfundvierzig Minuten Fahrzeit den Kurort Arosa. Die 1775 Meter über dem Meeresspiegel ansässige beschauliche Gemeinde im Kanton Graubünden zählt um die dreitausend Einwohner.
In der Nähe des malerischen Ortes befanden sich die Gebäude der Zeggher-Klinik. Doktor Philipp
Northwood stand am Fenster seines Büros. Es lag im Erdgeschoss der Privatklinik für Lungen- und Atemwegserkrankungen, die der aus England stammende Chirurg zusammen mit seinem langjährigen Freund Christian Zeggher leitete. Professor Zeggher war gebürtiger Schweizer.
Weder die Finsternis noch den an das Fenster schlagenden Regen nahm der Arzt in diesem Moment wirklich wahr. Er beschwor Bilder der Vergangenheit, sah seine Frau im weißen Brautkleid am Arm seines besten Freundes auf sich zuschreiten. Der Boden der kleinen Kirche war über und über mit den Blütenblättern roter Rosen bedeckt. Keine sechs Monate war das her. Er
lächelte in Gedanken versunken über die Ereignisse und Eindrücke der letzten Zeit. In diesem Jahr hatte er viel von der Welt gesehen, nicht nur auf seiner Hochzeitsreise. Das verdankte er der Tatsache, dass sein Freund und er beruflich die Rollen getauscht hatten.
Den Flitterwochen folgte eine seitens des Professors geplante längere Forschungs- und Geschäftsreise – Christians Geschenk an das junge Paar.
Northwood war Mitte dreißig, ein äußerst gutaussehender, großer und schlanker Mann mit dunklem, welligem Haar. An den Schläfen zeigte sich erstes Grau. Noch vor kurzem hätte man ihn als ernst und sehr in sich zurückgezogen, keinesfalls als glücklich beschrieben. Seine erste Frau hatte ihn schon vor Jahren verlassen und lebte in ständig wechselnden Partnerschaften. Er strengte dennoch lange keine Scheidung an. Sein Schwiegervater, Sir Lennard Maydon, zu dem er ein sehr herzliches Verhältnis aufgebaut hatte, bat ihn um die vorläufige Aufrechterhaltung der restlos zerrütteten Ehe. Seine Tochter sollte einen festen Punkt in ihrem Leben behalten, damit sie nicht völlig unter die Räder geriete. Inzwischen war sie seit mehr als einem halben Jahr tot. Die außergewöhnlich enge Beziehung zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn hielt bis heute unbeschadet. Sie verkraftete unterschiedliche Karriereansichten und den plötzlichen Selbstmord von Northwoods erster Frau. Darüber hinaus akzeptierte Maydon die nur wenige Monate nach der Tragödie stattfindende Eheschließung Philipps mit der Assistenzärztin Lessia Ferrin. Die junge Frau hatte die Krankenpflege aufgegeben und Medizin studiert. Als sie nach ihrem Abschluss in London nicht sofort eine passende Stelle fand, beschloss sie, in die Schweiz auszuwandern und die ausgeschriebene Stelle in der Zeggher-Klinik anzunehmen. Ihr Chef gewann eine tüchtige Ärztin, an die er sein Herz verlor.
Für die verantwortungsvolle leitende Position erschien Philipp Northwood bemerkenswert jung. Professor Zeggher, Erbauer der Klinik, besaß in Zürich ein kleines Wohnhaus in der Nähe des Kantonsspitals. Dort arbeitete und lehrte er. Er besuchte darüber hinaus öfter Krankenhäuser, Kliniken und Hospitäler in unterschiedlichsten Ländern und brachte stets neue wissenschaftliche Erkenntnisse - vorzugsweise über die Optimierung von Arbeits- und Behandlungsabläufen auf chirurgischen Stationen - mit nach Hause. Sobald sie die gegebenenfalls erforderlichen Genehmigungen dafür eingeholt hatten, setzten er und Philipp in ihrer Klinik um, was möglich war und ihren Patienten nutzte. In der Folge stellte der Professor die daraus resultierenden Ergebnisse Medizinstudenten und Ärzten vor, in Hörsälen, auf Kongressen oder in Fachzeitschriften oder -büchern zum Beispiel. Über sämtliche betriebswirtschaftlichen Belange wachte von London aus Rechtsanwalt Sir Lennard Maydon, der sich entsprechend auskannte. Er war Aufsichtsratsvorsitzender eines großen Londoner Krankenhauses und unterhielt
in dessen riesigem Verwaltungsgebäude seit Jahrzehnten seine Kanzlei.
Die Privatklinik unweit Arosas genoss in Fachkreisen einen hervorragenden Ruf. Solide Erlöse und Gewinne hatten kluge Investitionen ermöglicht. Dennoch: Zumindest Tuberkuloseerkrankungen waren im mitteleuropäischen Raum stark rückläufig und wurden immer seltener operativ behandelt. Antibiotika einzusetzen war das Mittel der Wahl. Obwohl dieses Gebiet der Schweiz nach wie vor allseits empfohlen war, spürte man das. Wenn man sich auskannte, fiel auf, dass etliche ehemalige Kliniken und Sanatorien in bestausgelastete Hotels umgewandelt worden waren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Arosa weniger als Genesungsort für Lungenkranke als vielmehr ausschließlich als Wintersportgebiet von sich reden machen würde.
Noch füllte sich die Klinik wegen des Klimas in den Bergen stets gut mit Tuberkulose-, COPD-und Asthmapatienten. Northwood und Zeggher widmeten sich auch Patienten mit Mehrfacherkrankungen, chronischer Bronchitis und Pneumonie, waren auf Tumore der Atemwege spezialisiert, kannten sich mit kardiologischen Beeinträchtigungen aus. Doch die aus betriebswirtschaftlichen Gründen bevorstehende Schließung zweier weiterer Häuser in der Nähe zum Jahreswechsel zeigte glasklar, dass die Privatklinik auf Dauer nicht oder nur schwer zu halten sein würde, wenn es nicht gelang, künftig sinkende Fallzahlen auszugleichen. Aus diesem Wandel heraus entstand der Gedanke des Einstiegs in die Unfallchirurgie, für den mittlerweile die Weichen gestellt waren. Mit der Materie waren beide Chirurgen notgedrungen vertraut: Unmittelbar an das Klinikgelände grenzte ein riesiges Skigebiet.
Erster Anlaufpunkt bei schweren Unfällen auf den Pisten war häufig die Klinik Professor Zegghers.
Auf Philipp Northwoods Schreibtisch stapelten sich von Sir Lennard Maydon ausgefertigte Vertragsunterlagen, die die künftige Zusammenarbeit mit dem Unfallkrankenhaus in Chur einvernehmlich regeln sollten.
Es war längst abzusehen, dass bei weiter zunehmender Anzahl von Hotels in der unmittelbaren Umgebung die Zahlen der Urlauber und damit der vorzugsweise beim Wintersport verunglückten Patienten steigen und die Kapazitäten in Chur im Winterhalbjahr nicht mehr ausreichen würden. Tatsächlich hatten Northwood und Zeggher in der Vergangenheit schon mehrfach ausgeholfen und massenweise Patienten in ihrer Spezialklinik aufgenommen und behandelt. Mitunter – bei weitem nicht immer - wurden diese dann vor Ort von Medizinern aus Chur betreut. Lag Arosa jedoch durch massive Schneefälle von der Außenwelt abgeschnitten, stand Philipp allein für Versorgung, Behandlung und Unterbringung der Unfallpatienten gerade.
Die zunehmend komplexe Zusammenarbeit bestand bereits seit langem und funktionierte zwischen den Ärzten bestens. Aus juristischer Sicht ergaben sich
jedoch manchmal bei der Abrechnung der erbrachten ärztlichen Leistungen Grauzonen. Die sich daraus ergebenden Unstimmigkeiten verhandelte Sir Lennard Maydon eisern und schlug tragbare Verfahrenswege vor, welches Haus unter welchen Umständen welche Kosten übernehmen sollte. Viele Erstuntersuchungen der Unfallpatienten oblagen den Ärzten in Arosa und fanden nicht in Chur statt. Lennard bestand auf entsprechender Rechnungslegung und Vergütung. Letztlich wurden seine Einlassungen zähneknirschend von den geschäftsführenden Verantwortlichen in Chur akzeptiert. Das Ergebnis war die vorliegende Vereinbarung zur rechtlichen Sicherheit für beide Häuser pünktlich zum diesjährigen Saisonbeginn. Auf Dauer ließ sich nicht mehr alles per Telefon oder Handschlag richten.
Der Vertrag beinhaltete außerdem Festlegungen zu Verantwortlichkeiten und Personalfragen, getrennter Unterbringung der Unfallpatienten in einem Teil des neuen Nebengebäudes in Arosa, zur Bereitstellung von Versorgungs- und Pflegematerial. Nicht zuletzt war der wesentliche Punkt verankert, dass allein das Krankenhaus in Chur die immensen Kosten für die Beförderung der Ärzte im Rettungshubschrauber zu tragen hatte, wenn die Serpentinenstraße nach Arosa im Winter nicht befahrbar war. Northwood hatte sich das Vertragswerk durchgelesen und wollte noch ein Detail mit Sir Lennard besprechen. Schließlich klingelte das
Telefon. Die Zentrale stellte Maydon zu Northwood durch.
„Hallo, Dad, wie geht es dir?“ begrüßte Philipp seinen Schwiegervater herzlich.
„Noch hat mich die Erkältungswelle verschont“, antwortete Sir Lennard. „Hier in London ist es kalt und ungemütlich. Wie steht es bei euch?“
„Bis gestern war goldener Herbst. Jetzt hat es sich abgekühlt. Bald dürfte der erste Schnee fallen. Der wird noch nicht liegen bleiben. Du kannst ihn aber schon riechen, auch wenn es draußen gerade regnet und stürmt. Die ersten frühen Touristen sind eingetroffen. Momentan ist es ruhig in der Klinik. Allerdings hatten wir bei einem Patienten im OP ein paar Probleme, so dass ich die heutige dritte Operation auf den Plan von morgen setzen musste.“
„Drei Operationen an einem Tag sind ein ziemlich straffes Programm für einen Chirurgen allein, der außerdem eine Klinik leitet, Philipp“, meinte Sir Lennard besorgt.
„Ich weiß. Wir operieren im Moment verstärkt. Wenn erst die Saison läuft, muss ich Alex Berté für ein paar Wochen zu den Kollegen nach Chur freistellen, damit er dort lernt, Frakturen zu reponieren. Das hat mir mein lieber Schwiegervater in die Vertragsunterlagen geschrieben. Außerdem ist nicht mehr nur von zwanzig, sondern von zweiundzwanzig Betten für Chur die Rede. Deshalb rufe ich an, weil ich dich fragen wollte, woher plötzlich zwei zusätzliche Betten auftauchen.“
Lennard Maydon lachte. „Richtig, ich vergaß, die Bettenzahl hat Christian nach oben korrigiert. Er hat vor langer Zeit von irgendwoher zwei defekte Krankenhausbetten geschenkt bekommen und deren Reparatur und den anschließenden Transport Richtung Arosa in die Wege geleitet. Demnächst wird dir die Lieferung zugestellt. Die Instandsetzung hat sechs Monate auf sich warten lassen, dafür ist der Rechnungsbetrag extrem niedrig. Diese Information hat er seiner letzten Spesenabrechnung an mich beigefügt. So lange er mir die per Post schickt, denkt er nicht an eine Heimkehr, wie die Vergangenheit zeigt. Du wirst ihn wohl noch eine Weile entbehren müssen, auch wenn ich in Erinnerung habe, dass er versprochen hat, künftig deutlich weniger unterwegs zu sein.“
Philipp lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück, von Vorfreude erfüllt. „Das sollte seine letzte große Reise sein, die ihn nach außerhalb Europas führte.
Nicht überall ist die Tuberkulose soweit zurückgedrängt wie bei uns. Das hat ihn veranlasst, noch einige große Krankenhäuser in den Tuberkulosehochburgen
- wie er es nennt - zum Erfahrungsaustausch zu kontaktieren. Dann ist sein Platz wieder in Zürich, und Arosa ist nicht weit. Ich freue mich riesig, wieder öfter mit ihm zusammen im OP zu stehen.“
„Hm. Du glaubst wirklich, dass er das Reisen einschränkt?“ In Sir Lennards Stimme schwang leiser Zweifel.
„Ja. Auf Christians Wort ist unbedingt Verlass, das weißt du. Außerdem rechnet er bald mit Lessias längerem Ausfall, weil wir uns doch Kinder wünschen.“
„Das klingt allerdings nach Christian“, stimmte Maydon zu. „Probleme im Vorfeld erkennen und sinnvolle Lösungen planen, so kennen wir ihn. Wie geht es Lessia?“
„Soweit gut, abgesehen davon, dass sie in letzter Zeit häufig erschöpft und müde ist. Ob sich das auf eine Schwangerschaft im Frühstadium zurückführen lässt, werden wir sehen. Ziemlich fertig sind wir jedenfalls beide am Ende eines harten Arbeitstages.“
„Kein Wunder. Pass ein bisschen auf euch auf, Philipp“, mahnte Sir Lennard.
„Das sagt mir ausgerechnet das größte Arbeitstier von ganz London!“, scherzte Northwood. „Aber du hast Recht. Ich hoffe sehr, dass Christian bald zurückkehrt und uns entlastet. Seine Unterschrift brauchen wir für den Vertrag nicht, sagtest du, weil er uns Generalvollmacht eingeräumt hat. Ich unterschreibe also allein und sende morgen jeweils ein Exemplar an dich und die Geschäftsleitung der Klinik in Chur. Das dritte lege ich in den Safe. - Ich danke dir für das alles, Dad.
Christian und ich hätten gar keine Zeit, uns solche Gedanken um eine Umstrukturierung der Klinik zu machen, geschweige denn sie rechtssicher durchzuführen und alle erforderlichen Anträge und Gesuche auszuformulieren.“
Maydon war anzumerken, dass er sich über das Lob freute. „Keine Ursache, Philipp! Ich freue mich, dass es in Arosa so gut läuft. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Ihr seid auf einem guten Weg, obwohl der Standort sehr abgelegen ist, was euch immer wieder Personalprobleme bescheren dürfte. In großen Krankenhäusern bleibt dafür manches, was man
schnell und unbürokratisch erledigen müsste, wegen festgeschriebener Verantwortlichkeiten auf der Strecke.
Am Ende wird gar nichts entschieden und alles bleibt, wie es war. Bei euch ist das anders. Du stehst im OP
und hältst die Klinik in ihrem Inneren zusammen.
Christian kennt eine Unmenge Leute um den ganzen Erdball und bringt von außen immer wieder neue Gedanken, Impulse und Ideen herein, was sich sogar auf die Motivation des Personals positiv auswirkt. Außerdem habt ihr ein glückliches Händchen beim Erkennen und Berücksichtigen betriebswirtschaftlicher Zusammenhänge, seid in gesundem Maß auch einmal risikobereit. Bei alldem steht ihr beide euch nicht im Mindesten im Weg, obwohl ihr begnadete Chirurgen seid, die sich eigentlich wegen fachlicher Meinungsverschiedenheiten öfter in den Haaren liegen müssten. Ich habe in meinem ganzen langen Arbeitsleben noch
nicht gesehen, dass eine solche Form der Zusammenarbeit bei jemand anderem so perfekt harmoniert hätte wie bei euch.“
„Das liegt sicher zum einen daran, dass Christian mir alles Fachliche selbst beigebracht hat und du uns zum anderen in allen betriebswirtschaftlichen, steuer- und vertragsrechtlichen Belangen treu zur Seite stehst. Du hast uns ganz sicher schon vor etlichen kostspieligen Fehlern und Versäumnissen bewahrt. Damit fallen zwei ernst zu nehmende Punkte weg, die unser Verhältnis belasten könnten.“
„Mag sein. Aber alle Entscheidungen liegen allein bei euch. Ich kann euch nur beraten und euch auf Konsequenzen hinweisen, die einmal getane Schritte mit sich bringen. Hier in England laufen die Dinge auch ein bisschen anders als bei euch in der Schweiz. - Dass sich Christians umfangreiche Reisetätigkeit noch nie zum gravierenden Personalproblem ausgewachsen hat, sondern der Klinik ökonomisch solch immensen Nutzen beschert, nötigt mir viel Respekt und Bewunderung ab. Apropos Personal: Im Moment hat eher das Personalbüro hier ein Problem auf der Unfallstation, hörte ich. Marla hat sich krank gemeldet. Aber das sage ich dir ganz privat.“
Doktor Marla Adams war eine enge Freundin von Philipps Frau und Stationsärztin der Unfallstation des Londoner Krankenhauses, in dem Maydon den Aufsichtsratsvorsitz innehatte. Sie fungierte bei der Hochzeit der Northwoods als Trauzeugin.
„Oh, das tut mir leid. Ich hoffe sehr, dass es nichts Ernstes ist“, erwiderte Philipp mitfühlend. „Du erinnerst mich daran, dass heute ein Brief von ihr an Lessia in der Post lag. Den darf ich nicht vergessen ihr zu geben. Ich nehme ihn gleich mit in die Wohnung. Gibt es sonst noch etwas zu besprechen?“
„Nicht dass ich wüsste. Machen wir Schluss für heute.
Bestell Lessia einen Gruß von mir. Gute Nacht, Philipp.“
„Schlaf gut, Dad.“
Wenig später betrat Northwood die neben dem Büro gelegene Wohnung. Das Abendessen war längst aus der Krankenhausküche heraufgeschickt worden. Lessia hatte Tee gekocht und wartete schon auf ihren Mann.
Philipp zog sie in die Arme und spürte, wie sich die Anspannung des vergangenen Arbeitstages in ihm langsam lockerte. Sich hundertprozentig von der Klinik zu lösen, gelang weder ihm noch seiner Frau. Hier lagen ihre Wohnräume. Sie waren praktisch rund um die Uhr erreichbar. Sir Lennard, der in London Tag für Tag einen kurzen Fußmarsch zwischen seinem Haus und seinem Büro zurücklegte, wertete dies als großen
Nachteil. Schon mehrfach hatte er vorgeschlagen, dass Northwood und Zeggher sich in der Nähe eine Wohnung nehmen oder zusammen ein Haus bauen sollten.
Doch sie hatten ihm versichert, dass sie es genauso haben wollten, um kurze Wege zu ihren Patienten zu haben. Auch gegenüber dem Arzt Alex Berté, der ebenfalls in der Klinik arbeitete und ein Zimmer bewohnte, mochte sich keiner von beiden besser stellen.
„Der Zustand des Patienten, den du heute operiert hast, ist weiter stabil“, teilte Lessia ihrem Mann mit, als er sie wieder freigab.
„Das ist erfreulich“, entgegnete Philipp und hielt ein Kuvert hoch. „Schau, ein Brief von Marla ist für dich gekommen.“
Lessia lächelte. „Das ist auch erfreulich.“
Sein Gesicht wurde ernst. „Ich weiß nicht, ob sie gute Neuigkeiten schreibt. Dad meinte, dass sie sich krank gemeldet hat.“
„Marla war noch nie ernstlich krank, seit wir uns vor mehr als sechs Jahren angefreundet haben.“ Lessia nahm den Brief, öffnete und las ihn, reichte das Blatt mit besorgter Miene schließlich wortlos ihrem Mann.
Marla Adams teilte ihnen kurz und sachlich mit, dass sie nach länger andauernden gesundheitlichen Problemen mehrere Ärzte konsultiert hatte. Sobald ihr alle Befunde vorlagen, wollte sie Urlaub nehmen und zu
ihnen nach Arosa kommen. „Falls ihr mich saisonbedingt nicht mehr privat unterbringen könnt, nehme ich auch eins von den Gästezimmern in der Klinik. Das wäre mir sowieso das liebste. Mit jemandem muss ich reden, egal was sich herausstellt, aber nicht gerade mit meinen Kollegen und Bekannten hier in London. Den Termin meiner Ankunft teile ich euch noch mit“, schloss der Brief. „Liebe Grüße an Christian Zeggher.
Marla.“
„Das klingt wirklich nicht gut“, stellte Lessia fest.
„Trotzdem, ich freue mich herzlich auf ihren Besuch.
Schade, dass Christian im Moment nichts von ihren Grüßen erfahren kann. Die Beiden schienen sich bei unserer Hochzeit recht gut zu verstehen.“
„Das ist mir aufgefallen“, nickte Northwood.
„Der Professor war niemals verheiratet, nicht wahr?“
vergewisserte sich Lessia.
„Doch, war er“, entgegnete Philipp zu ihrer Überraschung. „Aber nur wenige Jahre. Als ich ihn traf, war er am Boden zerstört, weil – ach, lass gut sein. Ich glaube nicht, dass er jemals ganz verkraften wird, was damals geschah.“ Er machte eine hilflose Handbewegung, seine Miene hatte sich verdüstert.
Lessia sah ihren Mann erschrocken an, hakte allerdings nicht nach. Sie kannte den Professor noch nicht lange, jedoch als einen tatkräftigen, lebensfrohen Menschen.
Für Probleme jeglicher Art suchte er kluge und manchmal überraschende Lösungswege. Für das Personal war er fast ein Heiliger. Wenn er in der Klinik zugegen war, tickten die Uhren anders.
Philipp schüttelte die Gedanken an Zegghers Vergangenheit ab, überlegte. „Aber Marla und er? Sie wohnt im eigenen Haus in London, ist geschieden, lange allein, leitet eine Unfallstation. Er lebt hier in der Schweiz, ist ebenfalls Besitzer einer Immobilie und an die Kliniken in Zürich und Arosa gebunden. Zwei Alphatiere also – schwierige Ausgangslage für einen gemeinsamen Lebensweg. Marla müsste ihre Arbeit in London aufgeben. Will sie das? Zumindest ich hatte seinerzeit echte Probleme, meine Frau von Arosa zu überzeugen. Am Ende hatte ich es meinem Schwiegervater zu verdanken, dass sie nachgab. Ihm war meine Karriere von Anfang an wichtig; er wollte seine Tochter versorgt wissen. So innig er sie liebte, in solchen Situationen stellte er sich dankenswerterweise stets hinter mich. Dad wusste: Normalerweise übernimmt kaum ein Mediziner meines Alters die Leitung einer Klinik. Dazu braucht es mindestens zwei Jahrzehnte mehr Erfahrung. – Übrigens, er hat gefragt, wie es dir geht und lässt dich grüßen.“
„Wie lieb von ihm! Ich weiß nicht, womit ich es verdient habe, dass er mich so freundlich angenommen hat. Das ist nicht selbstverständlich, vor allem nicht so kurz nach dem Tod seiner Tochter.“
Philipp Northwood nickte. „Nichts ist eine Selbstverständlichkeit, vor allem du in meinem Leben nicht.“ Er trat vor sie, seine Arme umfingen sie wieder, seine Lippen trafen ihren Mund. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als sie sich an ihn lehnte und seine Küsse erwiderte. „Ich bekomme gerade einen Riesenhunger“, gestand er lächelnd. „Aber nicht auf das Abendessen, sondern auf dich.“ Behutsam löste er ihre Spange. Als ihre Haare sich locker um ihre Schultern ringelten, drückte er sein Gesicht hinein und atmete tief ihren Duft. Dann hob er seine Frau hoch und entführte sie ins Schlafzimmer. „Der Tee ist sicher noch viel zu heiß.“
Lessia lachte. „Er ist schon jetzt nur noch lauwarm.“
Northwood wirbelte seine Frau ausgelassen durch die Luft. „Nun, vielleicht brauchen wir ihn nachher ja zur Abkühlung.“ Er stellte sie auf den Boden, blickte ihr tief in die Augen, seufzte und presste sie fest an sich.
„Ich liebe dich so sehr“, flüsterte er und drückte seine Lippen auf ihren Mund. Zunächst zarte Küsse wurden rasch leidenschaftlich. Lessia drängte sich an ihren Mann, spürte sein Begehren. Er ließ sie los, lehnte sich an den Schrank. „Komm, zieh dich aus!“
Sie folgte seiner Aufforderung, er sah ihr gebannt zu.
Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die sich den Schambereich rasierte. Ihre helle Haut schimmerte verheißungsvoll. Allein das steigerte seine Erregung.
Als er die Knöpfe seines Hemdes öffnen wollte, bat Lessia, das für ihn tun zu dürfen, streifte ihm das Hemd ab und freute sich am Anblick seines unverhüllten Oberkörpers. Ihre Hände glitten zum Gürtel seiner Hose. „Nicht so schnell!“ Philipp zwang sich zu ruhigem Atmen und umfasste ihre Handgelenke. Seine Lippen berührten ihre Handflächen, wanderten weiter.
Sie fühlte seine Zärtlichkeit an ihren Armen, dem Hals, hörte ihren beschleunigten Atem, vernahm ihren eigenen leisen Seufzer und warf erschauernd den Kopf nach hinten. Quälend langsam wanderten seine Lippen beginnend an ihrem Hals abwärts, erreichten schließlich ihre Brustwarze, saugten, leckten, knabberten.
Lessia schloss die Augen, genoss sichtlich Mund und Hände ihres Mannes auf ihren Brüsten, ihrem Leib, dem Rücken und spürte verlockende Wärme und
Feuchtigkeit in ihrem Schoß. Dann hielt er inne und sie begann, seinen schlanken Körper zu streicheln und mit Küssen zu bedecken. „Jetzt zieh mir die Hose aus!“, stöhnte er schließlich. Sie beeilte sich, wissend, dass er bereit war. Sie fielen auf das Bett. Lessia spreizte die Beine. Sie wollte ihren Mann in sich aufnehmen, sein Begehren spüren, auffangen, was er ihr gab.
An einem Freitagnachmittag holten Philipp und seine Frau Marla Adams vom Flughafen in Zürich ab. Beide erschraken über ihr Aussehen. Marla wirkte erschöpft, war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen.
Das schulterlange braune Haar hatte seinen früheren Glanz verloren.
Philipp nahm ihre Koffer, lud sie ins Auto und schlug vor, gemeinsam in Zürich oder Chur zu Abend zu essen.
„Führt mich bloß nicht in ein Restaurant!“ stöhnte Marla entsetzt. „Ich behalte derzeit so gut wie nichts bei mir. Bringt mich bitte schnell nach Hause! Ich bin froh, dass ich mich im Flieger nicht übergeben musste.“
„Du siehst ja schlimm aus!“, meinte Lessia teilnehmend. „Was ist mit dir?“
„Kein Kommentar!“ blockte Marla rasch ab. „Das erfahrt ihr früh genug. Danke, dass ihr mich mit dem Wagen holt. Jetzt noch eine Bahnfahrt nach Arosa durchzustehen wäre mein Untergang! Reden wir lieber von euch. Alles in Ordnung?“ Auch wenn sie gesundheitlich angegriffen wirkte, ihre direkte Art hatte sie sich bewahrt.
Philipp lächelte. „Über Mangel an Arbeit können wir uns wahrlich nicht beklagen. Demnächst bekommen wir saisonbedingt noch mehr zu tun. Aber das haben wir im Griff, wenn Christian endlich aus dem Ausland zurückkehrt.“
Marlas Schritt stockte. „Was?! Professor Zeggher ist noch gar nicht hier?“ fragte sie.
„Nein. Seine Reise scheint länger zu dauern als geplant.
Wir haben keine Information, was ihn aufgehalten hat“, antwortete Philipp. „Aus dem Grund rechnen wir stündlich mit seiner Rückkehr.“ Die schon längst hätte stattfinden müssen, überlegte er insgeheim, doch den Gedanken sprach er nicht aus.
In den kommenden zwei Wochen erholte sich Marla.
Dennoch wirkte sie traurig und niedergeschlagen. Sie machte oft weite Spaziergänge, fuhr mit dem Bus und der Bahn, besuchte Arosa und Chur, dehnte ihre Ausflüge sogar bis Zürich aus. Lessia bedauerte sehr, ihre Freundin nicht wenigstens ab und zu begleiten zu können. Es ließ sich wirklich nicht einrichten, da Professor Christian Zeggher wider Erwarten noch immer nicht zurückgekehrt war. Nur die beiden zusätzlichen Betten wurden angeliefert. Unterschwellig wurde Lessia zudem manchmal das Gefühl nicht los, dass Marla ihr auswich. Doch dann sagte sie sich, dass sie sich täuschen müsse, denn schließlich hatten sie kaum Zeit füreinander. So oft wie möglich leistete Marla ihnen jedoch beim Essen Gesellschaft. Über ihre gesundheitlichen Probleme schwieg sie sich aus. In dem Brief, in dem sie ihren Besuch angekündigt hatte, stand ja, dass sie mit jemandem reden müsse, aber zumindest mit
Philipp und Lessia hatte sie bisher kein Gespräch gesucht.
Am Freitagabend vierzehn Tage nach ihrer Ankunft saß Marla wie so häufig bei den Northwoods zum Abendessen in der Küche. „Nun“, meinte sie, „da ich leider aus finanziellen Gründen nicht ewig Urlaub nehmen kann, werde ich in den nächsten Tagen nach London zurückreisen. Ich hatte natürlich gehofft, dass…“ Sie brach ab.
„Was hattest du gehofft?“ wollte Lessia wissen.
„Ich…“
Lessia legte ihrer Freundin die Hand auf den Arm.
„Was ist los, Marla? Du wirkst so niedergedrückt, seit du hier bist. Es tut mir leid, dass ich mich nicht um dich kümmern kann, aber…“
„Das geht schon in Ordnung“, beschwichtigte Marla sie rasch. „Mit dir hat es nichts zu tun. Es ist nur… Na gut, ihr erfahrt es irgendwann ja doch.“ Sie schien sich einen Ruck zu geben. „Ich wollte weniger mit euch sprechen als vielmehr – mit Professor Zeggher.“ Sie lächelte traurig, als die beiden sie erstaunt anstarrten.
„Während eurer Hochzeitsreise und eurer darauffolgenden Geschäftsreise haben er und ich uns gegenseitig besucht“, erzählte sie. Ein warmer Glanz trat jetzt in ihre Augen. „Es war eine wundervolle Zeit. Ich war ein paar Mal bei ihm in Arosa und Zürich, wenn ich
ein langes Wochenende frei hatte. Er besuchte mich umgekehrt zwei oder drei Mal in London. Hier standen wir sogar gemeinsam im OP. Ich assistierte ihm.
In London führte er mich aus. Wir stahlen uns diese Stunden, telefonierten insgesamt wohl mehr miteinander als dass wir uns sahen.“ Sie schwieg kurz, hing ihren Gedanken nach und fuhr fort: „Stundenlang haben wir gesprochen. Die Telefonleitung muss geglüht haben! Schließlich hat Christian mir – einen Heiratsantrag gemacht.“ Verschämt sah sie zu Philipp hinüber.
Northwood reagierte überrascht. „Oh! Das – das hat er noch gar nicht erwähnt. Ich finde das wunderbar, dass ihr…“
Marlas Stimmung schlug um. Sie grub die Zähne in die Unterlippe. „Nein!“ unterbrach sie ihn unerwartet heftig. „Daran ist nichts Wunderbares! Weiß Gott nicht!“ In ihren Augen schimmerte es verdächtig. „Ihr habt ja keine Ahnung!“ Sie schlug die Hände vor das Gesicht, erhob sich schließlich. „Wartet kurz, ich muss etwas aus meinem Zimmer holen. Ich kann euch das nicht einfach so erklären…“ Sie eilte hinaus.
Philipp und Lessia sahen sich bestürzt an. Es gehörte einiges dazu, die allzeit sachliche Marla dermaßen aus der Ruhe zu bringen. „Ich wusste auch nichts davon“, räumte Lessia mit leiser Stimme ein. „Ich habe meine
Freundin kaum gesprochen, seit sie hier ist. Das tut mir so leid.“
Marla kehrte sehr eilig mit ihrer Handtasche zurück.
Sie entnahm ihr einen großen Stapel Papiere und legte ihn auf dem Tisch ab. „Hier. Ihr müsst nicht alles genau lesen. Es reicht, wenn ihr das überfliegt. Ihr wisst in einer Minute Bescheid.“ Sie lehnte sich an den Schrank und wartete.
Die Schreiben waren ausnahmslos älteren Datums. Es handelte sich um schriftliche Stellungnahmen verschiedener Ärzte, die aufzeigten, dass umfangreiche Unterleibsuntersuchungen und sogar Operationen bei Marla durchgeführt worden waren, sowohl wegen krankheitsbedingter Befunde als auch, um eine Schwangerschaft zu erreichen.
„Da hast du einiges hinter dir“, stellte Philipp teilnehmend fest. Er zitierte: „Endometriose, starke Entzündungsreaktionen, Vernarbungen, Verklebungen, Ovarialzysten, Infertilität und letztlich die Entfernung eines Eierstocks senken die Wahrscheinlichkeit auf ein Kind nach menschlichem Ermessen auf ein absolutes Minimum.“
„Ja, dieser Satz hat mich letzten Endes meine Ehe gekostet“, entgegnete Marla. „Mein Mann ließ sich vor mittlerweile etlichen Jahren scheiden, heiratete eine andere und hat heute das Kind, das er sich so sehnlichst wünschte.“
„Das tut mir leid, Marla. Ich kann nur nicht sehen, was das mit deiner Beziehung Christian zu tun hat.“
Marla ließ sich auf ihren Stuhl sinken. „Ich sagte euch doch, er hat mich in London besucht. Nach unserem letzten gemeinsamen Abendessen brachte er mich nach Hause und wollte ein Taxi zu seinem Hotel bestellen. Ich bat ihn nicht zu gehen. Er vergewisserte sich, ob ich wirklich wolle, dass er über Nacht bliebe.
Weil dein Freund, Philipp, ein umsichtiger Mann ist, hat er sich vorher in gewissen Fragen entsprechend abgesichert. Ich habe ihm erklärt, was ihr jetzt wisst, und dass ich über meine Kinderlosigkeit einigermaßen hinweg sei. Wir landeten in meinem Schlafzimmer und hatten Sex - ein einziges Mal.“ Die Bitterkeit in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Was geschah dann?“ fragte Lessia.
„Na, was schon? Im Nachhinein bekam ich Angst. Er machte mir den Antrag, aber es ging so schnell zwischen uns. Christian war verständnisvoll, hat mich nie unter Druck gesetzt. Vor seiner Abreise haben wir uns nicht mehr gesehen. Wir wollten das Ende seiner Reise abwarten und uns einigen, wie es mit uns weitergeht.“
„Ihr habt euch voneinander zurückgezogen?“ fragte Philipp.
„Ja. Zumindest zunächst.“
„Und sonst hat er nichts gesagt?“
„Nein.“
„Ihr habt euch nicht hier in Arosa fest verabredet?“
vergewisserte Philipp sich, schien plötzlich beunruhigt.
„Nein, nein, Christian hat keine Ahnung, dass ich hier bin.“
„Wann hast du zum letzten Mal etwas von ihm gehört?“
„Er hat mir drei Mal geschrieben und seinen Briefen immer eine Postkarte der jeweiligen Stadt beigefügt, in der er sich gerade aufhielt. Im letzten Schreiben führte er aus, dass er mich zu nichts drängt, sich aber herzlich auf unser Wiedersehen freut. Da das schon etliche Zeit her ist und ich nichts mehr von ihm gehört habe, dachte ich natürlich, er sei längst wieder da.“
Philipp und seine Frau wechselten einen bestürzten Blick. Zeggher war kein Mann, der einer Frau seine Zuneigung bekundete und sich danach nicht mehr meldete.
„Ihr hattet schon bei meiner Ankunft durchblicken lassen, dass ihr ihn umgehend erwartet. Das ist zwei Wochen her. Ich – bin beunruhigt. Könnte ihm auf so einer Reise etwas zustoßen?“ hörten sie Marla fragen.
Philipp schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht.
Er meidet das Hinterland und besucht ausschließlich renommierte Kliniken großer Städte, die etwa gleichwertig ausgestattet sind wie unsere Krankenhäuser.
Experimente hat er nie gemacht oder sich in irgendwelche Abenteuer verstrickt. Er ist quasi ständig von Ärzten umgeben. Wir hätten es erfahren, wenn ihm etwas passiert wäre.“
Ahnungsvoll blickte Lessia ihre Freundin an. „Du wirktest ernsthaft krank bei deiner Ankunft. Hast du wieder Probleme wie in den Briefen beschrieben, Schmerzen? Wolltest du darüber mit Christian sprechen?“
Marla sah sie lange an, griff wieder in die Tasche und zerrte fahrig einen zweiten kleinen Papierstapel heraus, den sie ihrer Freundin reichte. „Lies!“, forderte sie sie auf und stürzte aus dem Zimmer.
Lessia schaute ihr entgeistert nach, zog mehrere Schreiben heraus, glättete sie und las. Sie schlug die Hand vor den Mund, wurde bleich bis in die Lippen und blickte zu ihrem Mann. „Mein Gott, das glaube ich nicht! Sie – bekommt ein Kind!“
„Was?!“ entfuhr es Philipp. „Das ist bei der Vorgeschichte nahezu unmöglich!“
„Doch, hier steht es schwarz auf weiß! Drei Gynäkologen bestätigen die Schwangerschaft unabhängig voneinander! Jetzt erschließt sich mir Marlas Verhalten erst richtig, ihre Niedergeschlagenheit und Traurigkeit.“
„Aber - nach ihrem Leidensweg und dem unerfüllten Kinderwunsch ist das doch keine Katastrophe“, sagte Philipp nüchtern und blätterte die Schreiben durch.
„Für Marla ist es eine!“
„Wieso denn?“
„Verstehst du nicht? Sie und Christian haben sich vor dem letzten Schritt miteinander in Sachen Verhütung ausgetauscht, damit ihr Zusammensein folgenlos bleibt! Marla glaubte völlig zu Recht unfruchtbar zu sein, wie die älteren Briefe beweisen. Nichts von dem, was sie und ihr Mann damals unternahmen, führte zu einer Schwangerschaft. Und dann kommt Christian und erreicht in einer einzigen Nacht, was unmöglich schien und was beide gar nicht wollten. Sie schämt sich in Grund und Boden. Mir wäre das an ihrer Stelle auch – ganz einfach nur entsetzlich peinlich.“
Northwood drückte seine Frau an sich und lächelte.
„Lessia, für mich besteht eher Grund zu der Annahme, dass Christian sich darüber riesig freut!“
Seine Reaktion schien Lessia unbegreiflich. Sie löste sich von ihm. „Was!? Sag Marla bloß nicht, dass du so denkst, Philipp! Sie würde dir wahrscheinlich wütend vorwerfen, dass du versuchst, die Sache für deinen
Freund herunterzuspielen! Bitte halte dich zurück. Wie der Professor urteilt, ist für uns alle reine Spekulation.
Das müssen er und Marla selbst klären. Bedenke: Christian ist ein bekannter Chirurg, eins mit der Klinik und mit seiner Arbeit. Außerdem wird er bald fünfzig Jahre alt! Das letzte, was er aus Marlas - und meiner - Sicht brauchen kann, ist ein Kind von einer Frau, die er nur ein paarmal gesehen hat!“
„Der er einen Heiratsantrag gemacht hat!“, erinnerte Philipp eindringlich. „Das macht er nicht einfach so!
Aber in Ordnung, ich kann deinen Ausführungen folgen. Nur bin ich vom Gegenteil überzeugt. Du hast jedoch Recht in dem Punkt, dass das zu klären allein ihre Angelegenheit ist. Wir mischen uns nicht ein, können höchstens Hilfe anbieten, wenn sie uns fragen.
– Seine lange Verspätung wird damit natürlich zu einem echten Problem.“
„Was meinst du, Philipp, ob die beiden sich gestritten haben?“
„Eigentlich hörte sich Marla nicht so an. Wer weiß?
Beide müssen einander entscheidende Zugeständnisse einräumen, wenn die Beziehung funktionieren soll.
Wenn ein Kind unterwegs ist, gestaltet sich die Sache noch schwieriger. Ach, Liebes, hoffentlich ist Marla bei all dem bewusst, dass auch Männer Gefühle haben, die tief verletzt werden können…“
Lessia sammelte die Briefe ein. „Ganz bestimmt! Sieh sie dir an. Niemals hätte sie so etwas gewollt! Ich gehe zu ihr, bevor sie völlig durchdreht.“
Kurze Zeit später klopfte Lessia bei Marla. Diese wirkte sichtlich erleichtert, als sie sah, dass Lessia ohne ihren Mann vor der Tür stand, und bat ihre Freundin einzutreten.
„Mit der Situation hätte ich auch meine Schwierigkeiten“, gestand Lessia ein, reichte ihr die Papiere zurück und umarmte Marla mitfühlend.
„Ich habe mich Christian Zeggher gegenüber schlimmer verhalten als das dämlichste Schulmädchen“, resümierte Marla schonungslos. „Der Meinung schließt sich dein Mann sicher vorbehaltlos an.“
„Das tut Philipp ganz und gar nicht! Er hat die Sache nicht weiter kommentiert. Dich trifft keine Schuld. Er meinte nur, eure Beziehung zu klären sei allein deine und Christians Angelegenheit. Bitte glaub mir, er würde sich nie dazu versteigen, die Frau zu verurteilen, die sein Freund liebt. Die beiden stehen sich so nahe, dass Philipp alles tun würde, um euch zu unterstützen, bei welcher Art von Problemen auch immer. – Was wirst du jetzt machen?“
„Das weiß ich nicht“, gab Marla ratlos zu. „Obwohl ich an mir alle klassischen Symptome registrierte, Übelkeit, ausbleibende Blutung, Spannungsgefühl in den Brüsten, habe ich eher mit einer Krebserkrankung gerechnet und tausend Ängste ausgestanden. Niemals dachte ich an eine Schwangerschaft! Mich hat fast der Schlag getroffen, als ich es erfuhr! Ich rechne mit ganz erheblichen Konsequenzen für mich. In meinem Krankenhaus in London werde ich spätestens nach der Geburt nicht mehr arbeiten können. Wo sollte ich das Kind lassen, wenn man mich zum Nachtdienst einteilt?
Ihr Nachwuchs ist schon bei verheirateten Ärzten ein Problem, ich bin allein. Ich denke nämlich nicht, dass Christian Zeggher noch etwas von mir wissen will, wenn er erst informiert ist, in welch fatale Situation ich ihn gebracht habe! Er hat meinem Wort vertraut! Es wirkt jetzt so, als würde ich mich ihm wieder annähern wollen, weil ich sein Kind bekomme, für das er zahlen soll. Das Ganze ist einfach völlig verfahren. Mir wollen keine Worte einfallen, die ihm das erklären könnten!“
„Liebst du ihn?“
„Lessia, ich würde nie mit einem Mann ins Bett gehen, den ich nicht liebe und dem ich mich nicht anvertrauen könnte. Ich hatte fürchterliche Angst in jener Nacht. Aber er hat mir unbegreiflicherweise kein einziges Mal wehgetan. Ich wusste gar nicht, dass es mir möglich sein würde, mich ohne Schmerzen einem Mann hinzugeben. Er war ausgesprochen verständnisvoll, zärtlich und besorgt, sehr geduldig und grenzenlos rücksichtsvoll. Ich will ihn nicht zwingen, sich an mich zu binden, nur, weil dieses Desaster passiert ist. Niemals würde ich ihm das antun!“
„Christian würde sich bestimmt nicht drücken. Nach dem, was du gesagt hast, empfindet er doch auch sehr tiefe Gefühle für dich, Marla. Warum hätte er dir sonst einen Heiratsantrag machen sollen?“ Lessia bemühte sich nach Kräften, ihre Freundin zu ermutigen.
„Das löst das Problem nicht. Ich brauche ihn hier. Er muss es erfahren. Möglichst bald, denn ich muss zurück nach England. Nach meiner Ansicht passt es nicht zu ihm, dass er sich plötzlich gar nicht mehr meldet, nicht einmal bei euch!“
„In dem Punkt stimme ich dir zu. Das wundert mich auch – vor allem nach dem, was sich zwischen ihm und dir ereignet hat, erscheint es rätselhaft, warum er plötzlich den Kontakt abreißen lassen sollte.“
„Ich habe Angst. Kann man ihn nicht suchen lassen, über Interpol vielleicht?“
„Keine Ahnung, ob das wirklich nötig ist. Philipp wirkte bis vorhin nicht beunruhigt. Wer weiß, welcher harmlose Grund Christians Ankunft verzögert. Weißt du, wenn er auf Reisen ist, gibt es Zeiten, in denen die beiden wochenlang gar keinen Kontakt pflegen. Sie überwachen sich nicht gegenseitig, vertrauen einander
bedingungslos. Im Büro liegen alle Anschriften und Telefonnummern der Krankenhäuser parat, die Christian weltweit besucht hat. Mein Mann könnte ihn also auch selbst kontaktieren, wenn nötig. Wir haben eine Kopie des Reiseplans, den Christian mit sich führt. Wir finden damit leicht heraus, wo er steckt. Direkt nach unserer Hochzeitsreise haben Philipp und ich die von ihm geplante und vorbereitete Geschäftsreise angetreten. Deshalb kennen wir ein paar der Einrichtungen, die er früher besuchte. Wir fühlten uns jederzeit sicher und waren stets wunderbar untergebracht. Von großartigen Ärzten haben wir wahnsinnig viel gelernt! Wir sind glücklich, dass Christian uns diese gemeinsame Zeit des Erforschens fremder Arbeitsabläufe in anderen Einrichtungen ermöglichte! Das war sein Hochzeitsgeschenk für uns. Miteinander telefoniert haben Philipp und er damals nie. Wir hatten seinen akribisch ausgearbeiteten Plan dabei, der wirklich keine Fragen offen ließ. Nach unserer Rückkehr lief alles genauso reibungslos. Christian hat Philipp die Leitung der Klinik wieder übertragen und brach kurz darauf zu seiner eigenen Reise auf.“
„Also sollte ich mir gar keine Sorgen um Christian machen?“ fragte Marla erleichtert. „Vielleicht gelingt es Philipp, ihn zu erreichen? Ich gehe ohnehin davon aus, dass ich ihn verliere und werde mich nicht über Gebühr aufdrängen. Aber ich freue mich auf das Kind.
Spätes Mutterglück soll ja auch Vorteile bieten. Meine Gynäkologin hat mir auf meine Fragen, wie es trotz
der schlechten Prognose zu einer Schwangerschaft kommen konnte, erklärt, dass sich mein Zustand insgesamt verbessert hat. Der menschliche Körper unterliegt fortwährend Veränderungen. Trotz Endometriose kann man Kinder bekommen. Die Krankheit ist jedoch häufig schmerzhaft, vor allem während der Periode und beim Geschlechtsverkehr. Nach Wegfall des psychischen Drucks, in meinem Fall nach meiner Scheidung, kämen unerwartete Schwangerschaften immer wieder einmal vor. Zwar selten, aber es passiert.“
Die beiden Frauen unterhielten sich noch eine Weile angeregt. Ihr Gespräch wäre nur sicher ganz anders verlaufen, wenn sie gewusst hätten, wie Northwood sich während dieser Zeit verhielt.
Nachdem Lessia ihre Freundin aufgesucht hatte, kehrte Philipp in sein Büro zurück. Er verharrte mitten im Raum, überlegte, öffnete dann rasch einige Schränke und Schubladen, suchte aufgestört Papiere heraus, legte sie nebeneinander. Er blätterte in älteren Aufstellungen, verglich Zahlen, machte sich Notizen. Am Ende heftete er alles sorgfältig wieder ein, blätterte im Schreibtischkalender. Schließlich schüttelte er den Kopf, ging nachdenklich auf und ab. „Das kann nicht wahr sein!“ murmelte er. Er schaute auf die Uhr. Die Zeit war fortgeschritten. Dennoch hob er nach kurzem Zögern den Hörer ab und bat, mit seinem Schwiegervater verbunden zu werden. Während er auf das Gespräch wartete, fühlte er es in seinem Inneren eiskalt werden und wusste bereits jetzt, dass er eine schlaflose Nacht vor sich hatte. Seine kurzen Aufzeichnungen ergaben, dass Christian Zeggher definitiv überfällig war, im günstigsten Fall zwei bis drei Wochen, im ungünstigsten mehr als doppelt so lange. Endlich klingelte das Telefon.
„Na, Philipp, hast du etwas von Christian gehört? Ist er zurück?“ fragte Lennard Maydon statt einer Begrüßung.
Der Fakt, dass sein Schwiegervater mit dieser Hoffnung regelrecht herausplatzte, traf Philipp wie ein Keulenschlag und ließ ihn eine Entschuldigung für die späte Störung vergessen. „Nein, leider, Dad“, sagte er.
„Ich bin etwas ratlos, ehrlich gesagt. Christian hat sich nicht nur bei uns nicht gemeldet, sondern bei keinem seiner Bekannten und Freunde, soweit ich orientiert bin. Ich spioniere ihm sonst nicht hinterher, jedoch habe ich gerade seine Schreibtischschublade aufgezogen. Ganz obenauf lag der fertige Nachbereitungsplan der gegenwärtigen Reise, den er getreulich abarbeiten würde. So einen Plan zu erstellen ist eine Wissenschaft für sich; du kennst Christians Gründlichkeit. Es gibt wichtige Ansprechpartner im Ausland, die für ihn nicht immer erreichbar sind. Um dadurch nicht unter Druck zu geraten, baut er stets großzügige Zeitreserven ein.
Ich bin die Abläufe durchgegangen und musste feststellen, dass er sämtliche Termine weit, weit überzogen
hat! Sogar die Zeitpuffer sind nahezu aufgebraucht, ohne dass er Gründe für Verzögerungen genannt oder überhaupt irgendwie reagiert hätte! Das ist nicht normal! Ich bin alarmiert und geschockt. Die Nachbereitungspläne der letzten Reisen sind hier im Büro fein säuberlich abgeheftet. Es ist keine Kunst, sie mit dem aktuellen zu vergleichen. Christian hielt sich – im krassen Gegensatz zu jetzt - in der Vergangenheit eisern an seine Vorgaben!“
„Irrtum ausgeschlossen?“
„Dad, den Nachbereitungsplan meiner Geschäftsreise mit Lessia habe ich mit ihm gemeinsam erstellt! Ich weiß zumindest ungefähr, worauf es ankommt. Dass etwas nicht stimmt, siehst du zum Beispiel daran, dass ich von den letzten beiden Reisestationen noch keine vollständigen Adressen und Telefonnummern von ihm bekommen habe. So etwas würde er nie versäumen durchzugeben! Die Konsequenz ist, dass ich ihn jetzt nicht kontaktieren kann. Dass er weder dich noch mich anruft, ist für mich nicht mehr länger erklärbar.
Er hat am eigenen Leib verspürt, wie es ist, wenn man händeringend auf jemandes Nachricht wartet und keine bekommt! - Andererseits will ich nicht panisch erscheinen: Alex Berté beginnt erst in einer Woche seine Arbeit in Chur. Ein paar Tage hätten wir noch Luft. Die Reisenachbereitung lässt sich auch ganz leicht nach hinten verschieben, das kostet lediglich ein paar Anrufe. Christian würde aber niemals grundlos
derart von seinen Gepflogenheiten abweichen, ohne uns Bescheid zu geben. Ihm ist bewusst, dass er uns in eine heikle Personalsituation manövriert, wenn er nicht auftaucht, bevor Berté geht. Er hätte seinem aktuellen Plan zufolge allerspätestens vor zwei, drei Wochen zurück sein müssen, im Normalfall schon vor vier bis sechs Wochen! Kannst du dir einen Vers darauf machen? Ich verstehe das nicht!“
„Was? Du willst sagen, er ist länger als einen Monat überfällig? Das weißt du genau?“ vergewisserte sich Maydon erschrocken.
„Ja. Er braucht eine Zeit, um sich zum Beispiel mit den Verlagen abzustimmen bezüglich seiner Publikationen und der Artikel und Reiseberichte für Fachzeitschriften, die er zuarbeitet. Daran hängen unter anderem künftige Veranstaltungstermine, bei denen er als Redner eingebunden wird. Die könnte er aus dem Ausland selbst telefonisch abgesprochen haben, hat er aber nicht. Die Verantwortlichen haben teilweise nämlich schon nachgefragt und um seinen Rückruf gebeten. Er müsste bereits eine Unmenge von Leuten hier in der Schweiz kontaktiert, teilweise besucht oder ihnen geschrieben und endlose Telefongespräche geführt haben. Christian ist kein Mensch, um den man sich sorgen müsste. Wenn es ein Problem gibt, löst er es. Dieses Aufgabengebiet der öffentlichen Arbeit obliegt ihm allein, ich kümmere mich in den seltensten Fällen darum. Deshalb habe ich mir bis heute keine
nennenswerten Gedanken gemacht und allen versprochen, dass Christian sich meldet. Nun kriecht langsam wahnsinnige Angst in mir hoch. Herrgott, warum merke ich erst heute, dass etwas aus dem Ruder gelaufen sein muss?! – Nach Caracas standen als letztes die Besuche zweier Krankenhäuser in Brasilien auf dem Plan. Dort könnten wir nachfragen. Die fehlenden Kontaktdaten kriegen wir zur Not selber heraus. Nur wage ich zu bezweifeln, dass er dort ist.“
Am anderen Ende der Leitung blieb es etliche Sekunden still. Sir Lennard überlegte. „Also gut“, entgegnete er endlich ruhig. „Dann sind wir schon einmal zwei, die sich Sorgen machen. Christians neueste Spesenabrechnung fehlt auch. Die ist unter Berücksichtigung selbst des längsten Postweges genauso überfällig wie er selbst, nicht wirklich tragisch eigentlich. Aber dein Bericht lässt die Sache in einem ganz anderen Licht erscheinen. Außerdem fügt er der Briefsendung immer ein paar Informationen bei, so wie letzthin die betreffs der zwei Krankenhausbetten. Dadurch wussten wir immer, was er macht und dass alles okay ist. Du hast Recht, Philipp. Dass Christian ohne ein Wort ausbleibt, ist nie vorgekommen. - Oh, oh, nach dem, was du schilderst, ist die Sache sehr ernst. Wir werden umgehend etwas unternehmen!“
„Ich würde die Polizei einschalten.“
„Nein! Bitte lass mich erst von hier aus einen Versuch starten, seine Spur aufzugreifen. Ich telefoniere die Telefonnummern der Spesenabrechnungen ab und bemühe ein paar Kontakte, die mir diskret weiterhelfen werden. Gib mir ein paar Tage Zeit, ein bisschen nachforschen zu lassen, auch wegen der fehlenden Adressen in Brasilien. Der Name Zeggher ist kein unbeschriebenes Blatt, wie du weißt. Ich will vermeiden, dass alte Sachen aufgerührt werden, die Christian nur schaden, wenn sie erst in der Presse landen. Wenn ich nicht erfolgreich bin, kannst du kommende Woche immer noch die Polizei bemühen.“
„Dein Einwand ist nicht von der Hand zu weisen. In Ordnung, warten wir noch ein paar Tage. Was mache ich solange?“
„Deine Aufgabe wird in der Zwischenzeit sein, Ruhe zu bewahren und verschwiegen ein paar Dinge zu entscheiden oder zu korrigieren, damit der Ruf des Hauses keinen Schaden nimmt. Dass wir nicht wissen, weshalb Christian ausbleibt, sollte nicht publik werden.
Wir müssen Vorsicht walten lassen! Juristisch betrachtet haben wir einen unbefristeten Vertrag zur Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen der Klinik in Chur geschlossen, um langfristig unser Haus in Arosa zu erhalten. Intern gab es dort etliche Gegenstimmen, völlig normal. Nur: Wenn du ohne hieb- und stichfeste Begründung die Abmachung einseitig änderst, begibst du dich auf dünnes Eis. Wobei die Ärzteschaft keine
Probleme machen dürfte, wenn Doktor Berté zu einem späteren Zeitpunkt seinen Einsatz ableistet, sehr wohl aber einzelne Mitglieder der Geschäftsleitung, des Aufsichtsrates und unter Umständen einige Aktionäre.
Deine Partner könnten die pünktliche Erfüllung aller Punkte, für die wir verantwortlich zeichnen, gerichtlich einklagen. Mit etwas Pech wirst du zur Zahlung einer hohen Konventionalstrafe verurteilt. Ich könnte versuchen, eine Terminänderung zu erreichen. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge ein nutzloses Unterfangen, wenn du mich fragst, denn welchen neuen Termin könntest du verbindlich zusagen? Keinen! Die Frage ist, willst du überhaupt den Termin verlegen oder erfüllst du die Zusage trotz zu erwartender schwerer Personalprobleme, falls Christian ausbleibt? Was immer du tust, alles hat Konsequenzen, die du berücksichtigen musst. Berate dich mit deiner Frau und Berté.
Sollte einer von uns beiden Nachricht von Christian erhalten, verständigt er den anderen, egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit.“
„Einverstanden, Dad. Ich danke dir, wie immer.“
„Philipp, da ist noch etwas. - Ich weiß nicht, wie du mit Situationen umgehst, in denen dir die Hände gebunden sind, die dir Geduld und Vertrauen abverlangen, in denen du Angst haben musst, gar nichts tun kannst… was machst du dann?“
„Ich steige den steilen Pfad hinter der Klinik hinauf, meist nachts, genieße die Aussicht und überlege mir Lösungen – oder warte dort, dass ich müde werde und ins Bett kriechen kann. In den letzten Monaten war ich fast gar nicht oben und wenn, dann mit Lessia. Wie überstehst du solche Krisen?“
Die Antwort Sir Lennards überraschte, widerspiegelte aber auch seine tiefe innere Betroffenheit und Unruhe.
„Ich spreche meist ein Gebet. Jetzt würde ich das gern tun. Du musst mir nicht zuhören, wenn du nicht willst.“
„Ich höre dir gern zu. Wenn du meinst, es sei vielleicht wichtig, für die gesunde Rückkehr Christians zu beten, dann werde ich mich dem nicht verschließen, Dad.“
„Also gut. - - Himmlischer Vater, es ist wieder einmal so weit, dass ich gesenkten Hauptes vor Dich trete und Dir das Ende meiner Weisheit eingestehen muss. Aber Du, der Schöpfer aller Dinge, weißt schon, warum ich komme und schenkst mir kleinem Menschlein unverdiente Gnade und Beachtung. Deine Größe, Deine Weisheit und Deine Güte reichen weiter als das Meer, der Wind, die Wolken und die unendlichen Weiten des Weltraums. Nur allzu gern verdränge ich, dass Du unseren Lebensraum geschaffen hast. Ich kehre mich von Dir ab, vergesse Dich im Alltag und greife zum Rotstift, um Dank, Lobpreis und Gebet, die ich Dir schuldig wäre, drastisch einzukürzen auf der Jagd nach
anderen Dingen. Bitte vergib, dass wir Menschen so gestrickt sind. Hilf uns, von unseren sündigen Irrwegen und der Suche nach Freiheit zu Dir zurückzufinden, und das nicht nur dann, wenn wir merken, dass wir bei Problemen Deine Nähe brauchen und ohne Hoffnung auf eine Lösung nicht leben können. Nicht wir sind die Herren, sondern Du bist der Herrscher! Es ist so wichtig, dass Du uns Grenzen setzt. Damit schenkst Du uns Licht und Orientierung, damit wir am Ende unseres Lebens auch am Ende des Weges stehen, der uns ‚Näher, mein Gott, zu Dir‘ führte, wie wir es in dem bekannten Kirchenlied singen. Wir danken Dir für das Wissen, dass Du in Stunden der Angst und der Sorge unsere Gebete hörst und bei uns bist, wenn wir Dir aus der Tiefe unserer Herzen zugewandt sind so wie Philipp und ich in diesem Moment. Ich bitte Dich im Namen Deines Sohnes Jesus um die Gnade, unserem Freund Christian Segen für sein Leben, seine Gesundheit und seine baldige Rückkehr zu gewähren. Ich bin sicher, dass Du meine Worte aufnimmst, und ich vertraue darauf, dass Du weißt, wo er ist und wie es ihm geht. Philipp und ich können sein langes Schweigen nicht deuten. Die Stille schreckt uns. Bitte hilf Christian, falls er in Schwierigkeiten steckt. Umgib ihn mit verständnisvollen Mitmenschen. Erinnere ihn daran, dass wir ihm stets zur Seite stehen und für ihn da sind, in welcher Angelegenheit auch immer. Wir sind dankbar für seine treue Freundschaft, Zuverlässigkeit und Offenheit. Bitte segne und behüte Christian, lasse Dein Angesicht leuchten über ihm und sei ihm gnädig. Bewahre ihn vor Krankheit und Einsamkeit. Schenke ihm das Gefühl, dass wir an ihn denken in der Hoffnung auf ein schnelles Wiedersehen. Bitte lass ihm, Philipp und mir in dieser Nacht Deine Allgegenwart spürbar werden, schenke uns Zuversicht und erholsamen Schlaf. Ich danke Dir in Jesu Namen. Amen.“
Northwoods Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
„Oh, Dad, das klang so – weihnachtlich. Ich wusste gar nicht, dass du…“
„Dass ich beten kann, meinst du?“ Sir Lennard war ein Lächeln abzuspüren. „Das Gebet zum allmächtigen himmlischen Vater scheint derzeit nicht salonfähig und siedelt sich sehr fern vom üblichen Tagesgeschäft an - leider. Du weißt, wie ich Anfang des Jahres in die Knie ging, als ich gezwungen war, mein Kind in die kalte Erde eines Friedhofs betten zu lassen. Ich musste mich in dieser – inneren Eiszeit – neu besinnen und mich klar entscheiden, ob ich im Gebet Gottes Gegenwart suche und mich auf ihn einlasse oder nicht.“
„Du hast es getan.“
„Ich weiß nicht, wie ich den Tod meiner Tochter sonst hätte überstehen sollen. Gebete helfen einfach Kraft zu tanken für den nächsten Tag. Glaube mir, wenn niemand weiß, wo Christian ist, Gott weiß es.“
„Deine Worte tun mir unheimlich gut. Sprechen wir uns morgen wieder?“
„Gern. Sagen wir um neun?“
„Einverstanden. Ich rufe dich an. Schlaf gut, Dad.“
Als Philipp in seine Wohnung zurückkehrte, lag Lessia schlafend im Bett. Er zog sich aus und legte sich, so geräuschlos er konnte, neben sie. Doch bei ihm wollte sich die Ruhe nicht einstellen. Zu viele erdrückende Gedanken rasten ihm durch den Kopf: die plötzliche Ungewissheit um Christian Zeggher, Marlas Schwangerschaft, die Zusammenarbeit mit dem Krankenhaus in Chur. Als besonders schlimm empfand er, dass sein Schwiegervater, sonst praktisch der Fels in der Brandung und nie um einen Rat verlegen, „nur“ ein Gebet gesprochen hatte und ebenfalls zutiefst betroffen und ohnmächtig wirkte.
In Philipp Northwood machte sich ein dunkles, nicht näher zu definierendes beunruhigendes Gefühl breit.
Professor Zeggher handelte stets klar und strukturiert, hinterließ niemals Ungereimtheiten, beseitigte Unklarheiten, wo immer er konnte, schon im Vorfeld, galt als teamfähiger Problemlöser. Wer mit ihm zusammenarbeitete, hatte einen absolut zuverlässigen Partner an seiner Seite, mit dem man in kritischen Situationen Pferde stehlen konnte. Zeggher half nicht nur, sondern scheute sich auch nicht, selbst Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn er sie brauchte. Eine unangenehme Sache einfach zu ignorieren oder auszusitzen hatte nie
zu seinen Stärken gehört. Was er tat, war logisch, durchdacht und berechenbar. Philipp kannte ihn seit seiner Studentenzeit und wusste, dass er nie einen treueren Freund als ihn finden würde. Seine Erinnerungen kreisten und suchten in der Vergangenheit nach einem Hinweis, einem Misston, der Christians Schweigen erklären konnte. Doch da war nichts. Sie hatten sich am Flughafen mit einer Umarmung verabschiedet wie immer. „Wir sehen uns“, hatte der Professor gesagt.
Und Marlas Schwangerschaft? Würde er, Philipp, sich selbst unter gleichen Umständen uneingeschränkt freuen über eine solche Neuigkeit? Lessia hatte Recht, die Nachricht war ein Hammer! Letztlich wusste auch er nicht sicher, ob Christian sie freudig aufnehmen würde. Ruhelos wälzte sich Philipp hin und her. Das Grübeln führte zu nichts. Seufzend stand er Stunden später auf, zog sich an, griff zum Mantel und verließ so leise wie möglich die Wohnung. Er stieg zur Anhöhe hinter der Klinik hinauf. Oben angekommen, lehnte er sich an die Brüstung, die das Plateau begrenzte, und sah in die Nacht hinaus. Der auffrischende Wind störte ihn nicht. Hier versteckte sich die Oase, in der er abschalten, Kraft schöpfen oder nachdenken konnte, wenn er kurze Zeit Abstand brauchte. Keuchender Atem und leichte Schritte zeigten ihm nur ungefähr fünfzehn Minuten später an, dass seine Frau zu ihm unterwegs war. Er drehte sich um. „Ich habe dich also doch gestört, entschuldige. Komm her“, bat er sie,
streckte ihr die Arme entgegen. „Du solltest doch eigentlich schlafen, Liebes.“
„Du auch“, entgegnete Lessia. „Du musst doch todmüde sein.“
„Das bin ich. Aber schlafen kann ich im Moment nicht.“ Philipp seufzte und drückte seine Frau zärtlich an sich.
Sie sah zu ihm auf. „Was macht dir Sorgen? Etwa Christians Ausbleiben?“
Er nickte. „Irgendetwas stimmt da nicht.“
Lessia blickte ihn fragend an. „Vorhin gelang es mir, Marla in der Hinsicht zu beruhigen, weil du noch ziemlich gelassen schienst.“
„Der springende Punkt ist, dass wir Christian ohne festen Termin täglich zurück erwarten und gar nicht merken, wie die Zeit verrinnt. Deine Freundin sagte, dass wir ihr genau das schon bei ihrer Ankunft gesagt hätten. Da wurde ich hellhörig, denn das ist bereits zwei Wochen her. Ich habe vorhin seinen Schreibtisch und seine Aufzeichnungen unter die Lupe genommen, was ich sonst nie tue. Er hängt mit seinen jetzigen Terminen wochenlang hinterher, während er bei früheren Reisen generell einen Vorlauf hatte, das habe ich verglichen! Dass er nicht wenigstens anruft und uns bittet, seine Geschäftspartner zu informieren, macht
mich völlig fertig! Ich konnte nicht anders, ich habe trotz der vorgerückten Stunde in London angerufen.