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Eine einzige Kugel zerstörte Dr. Jordan Petersons Träume. Nach dem Tod seines Geliebten gerät Jordan in eine endlose Spirale der Selbstzerstörung, die ihn beinahe seine Freunde, seine Karriere und sein Leben kostet. Als Jordan eng mit dem unnahbaren Lucas Conover zusammenarbeiten muss, holen ihn die mysteriöse Vergangenheit und die unerwartete Freundlichkeit des Investmentbankers zurück ins Leben und wecken Gefühle in ihm, die er für immer verloren geglaubt hatte. Der Verrat seines Pflegebruders, den er verehrte, hat Lucas Conover gelehrt, niemandem zu vertrauen oder zu glauben. Sein Leben in Einsamkeit befreit ihn nicht von dem Albtraum seiner Jugend, sondern bestärkt ihn in der Überzeugung, dass er sich niemals verlieben würde. Als der Tod eines seiner Klienten ihn zwingt, eng mit Dr. Jordan Peterson zusammenzuarbeiten, trifft er auf einen Menschen, dessen Leid sein eigenes übersteigt. Obwohl Jordan seine Bemühungen, ihm zu helfen, zurückweist, drängt etwas in Luke ihn dazu, mehr über den ersten Mann herauszufinden, der ihm je unter die Haut gegangen ist. Band 1: Der Weg durch das Feuer Band 2: After the Fire - die Feuerprobe
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Seitenzahl: 497
Veröffentlichungsjahr: 2023
Felice Stevens
Through hell and back Band 2
Aus dem Englischen von Susanne Scholze
© dead soft verlag, Mettingen 2023
http://www.deadsoft.de
© the author
Titel der Originalausgabe: After the fire – Through hell & back 2
Übersetzung: Susanne Scholze
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© juniart – stock.adobe.com
1. Auflage
ISBN 9783960895817
ISBN 9783960895824 (ebook)
Eine einzige Kugel zerstörte Dr. Jordan Petersons Träume. Nach dem Tod seines Geliebten gerät Jordan in eine endlose Spirale der Selbstzerstörung, die ihn beinahe seine Freunde, seine Karriere und sein Leben kostet. Als Jordan eng mit dem unnahbaren Lucas Conover zusammenarbeiten muss, holen ihn die mysteriöse Vergangenheit und die unerwartete Freundlichkeit des Investmentbankers zurück ins Leben und wecken Gefühle in ihm, die er für immer verloren geglaubt hatte.
Der Verrat seines Pflegebruders, den er verehrte, hat Lucas Conover gelehrt, niemandem zu vertrauen oder zu glauben. Sein Leben in Einsamkeit befreit ihn nicht von dem Albtraum seiner Jugend, sondern bestärkt ihn in der Überzeugung, dass er sich niemals verlieben würde. Als der Tod eines seiner Klienten ihn zwingt, eng mit Dr. Jordan Peterson zusammenzuarbeiten, trifft er auf einen Menschen, dessen Leid sein eigenes übersteigt. Obwohl Jordan seine Bemühungen, ihm zu helfen, zurückweist, drängt etwas in Luke ihn dazu, mehr über den ersten Mann herauszufinden, der ihm je unter die Haut gegangen ist.
Nur der Schmerz in seinem Herzen stellte den Schmerz in seinem Kopf in den Schatten. Dr. Jordan Peterson saß zusammengesunken an seinem Küchentisch und starrte mit trüben Augen in die Leere seines Hauses. Der Tisch war mit leeren Wodkaflaschen und halbvollen Behältern mit chinesischem Essen zum Mitnehmen zugemüllt.
Immer noch allein.
Jedes Mal, wenn er aufwachte, betete Jordan, dass der Albtraum, der sich ständig in seinem Kopf abspielte, aufhörte. Es war wie dieses nervige Lied, das jede Stunde im Radio lief und das man vergessen wollte, aber nicht konnte.
Es tut mir leid, Jordan, aber Keith hat es nicht geschafft.
Wie kommt man über die Endgültigkeit des Todes der Liebe seines Lebens hinweg, wenn man ihm den Rest seines Lebens versprochen hat? Nach fast neun Monaten hatte Jordan immer noch keine Antwort gefunden.
Es läutete an der Tür. Er stöhnte von der Anstrengung, die nötig war, seinen protestierenden Körper in Bewegung zu setzen – sein Kopf hämmerte aufgrund eines weiteren bösartigen Katers – weshalb er nach den Schmerztabletten auf der Arbeitsplatte griff. Er warf zwei Pillen ein, die er mithilfe einer Handvoll Wasser direkt aus dem Wasserhahn hinunterspülte. Dann schluckte er gegen seine Übelkeit an und schlurfte zur Eingangstür seines Stadthauses. Jordan rieb sich die Schläfen, spähte durch den Türspion und verzog beim Anblick seines besten Freundes Drew und dessen Partners Ash das Gesicht.
Jordans Brust wurde eng, als er sah, wie glücklich sein Freund war, als Drew Ash auf die Wange küsste, ohne zu ahnen, dass er beobachtet wurde. Er unterdrückte die Bitterkeit, die er in den letzten Monaten gegenüber Drew empfunden hatte, und riss die Tür auf, um die beiden Männer zu begrüßen.
„Verdammt, du siehst scheiße aus.“ Ash musterte ihn aufmerksam von oben bis unten. „Au.“ Er rieb sich den Arm, als Drew ihn mit dem Ellbogen anstieß. „Sei nicht sauer auf mich, Baby. Du weißt, dass es stimmt. Sieh ihn dir an.“
„Dürfen wir reinkommen, Jordy?“ Drews freundliches Lächeln sorgte dafür, dass Jordan sich, in Anbetracht der Feindseligkeit, die er verspürte, nur noch schlechter statt besser fühlte.
Schweigend zog er die Haustür für seine Freunde weiter auf und überließ es ihnen, ihm durch das Haus in die geräumige Küche zu folgen. Sonnenlicht fiel auf den Terrakottaboden und wurde von den Glasfronten der Ahornschränke reflektiert. Die Küche war sein ganzer Stolz, und als er und Keith das Sandsteinhaus gekauft hatten, war sie der einzige Raum, den einzurichten ihm wichtig gewesen war. Jordan hatte es immer geliebt, aus dem großen Erkerfenster auf den Garten und den Himmel zu schauen, wenn er sich morgens mit einer Tasse Kaffee entspannte und Keith neben ihm die Zeitung las. Jetzt sah er nichts mehr.
„Hast du eine Party gefeiert?“ Drew nickte in Richtung des Tisches, der immer noch mit Wodkaflaschen übersät war.
„Eher eine Ein-Mann-Party.“
Trotz seines pochenden Kopfes und des aufgewühlten Magens ging Jordan nach Ashs gemurmelter Bemerkung auf ihn los.
„Halt die Klappe, Davis.“ Er und Ash hatten nicht die einfachste Beziehung; der Mann ging Jordan immer noch fürchterlich auf die Nerven, egal wie glücklich er Drew machte.
„Warum, Jordan? Tut die Wahrheit weh?“ Ashs Stimme enthielt merkwürdigerweise weder Verurteilung noch Spott. Stattdessen lag Traurigkeit darin, gemischt mit Mitgefühl, was Jordan kurz innehalten ließ. „Du sitzt hier Abend für Abend und lehnst unsere Einladungen zum Essen ab, genau wie die von Rachel und Mike oder sogar die von Esther. Glaub nicht, wir wüssten nicht, was du tust und warum.“
Jordan zuckte zusammen. Scheiße. Ein freundlicher, mitfühlender Ash Davis war fast noch schlimmer als der sarkastische, übermäßig selbstbewusste Mann, den Jordan gewohnt war. „Ich bin nicht in der Stimmung für Gesellschaft, das ist alles.“
„Und das ist doch Bockmist. Du trauerst immer noch um Keith und das verstehe ich, aber das bedeutet nicht, dass du nicht weiterlebst. Wenn deine einzige Gesellschaft seit seinem Tod eine Flasche Wodka war, steuerst du auf eine Katastrophe zu.“
„Jordy“, flehte Drew und stützte sich mit den Händen auf der Kücheninsel ab. „Ich mache mir Sorgen um dich. Du hast abgenommen, hast Tage im Krankenhaus geschwänzt und mir wurde gesagt, dass du während der Operation letzte Woche –“
„Kontrollierst du mich?“ Zitternd vor Wut ballte Jordan die Hände zu Fäusten. „Was soll der Scheiß, Mann? Du bist nicht mein gottverdammtes Kindermädchen.“ Demütigung, Scham und ein Gefühl der Verzweiflung durchfuhren ihn, als er sich von seinen beiden Freunden abwandte und sich an den Küchentisch setzte. Er strich mit den Händen über das ramponierte Holz des langen Bauernhaustisches und erinnerte sich daran, wie glücklich er und Keith gewesen waren, als sie ihn in der kleinen Stadt in Pennsylvania fanden, die sie eines Samstags zufällig besucht hatten. Die Erinnerung daran, wie sie darauf miteinander geschlafen hatten, nachdem sie ihn die Treppe des Sandsteinhauses hinaufgeschleppt hatten, war für immer in sein Gedächtnis eingebrannt. Er umklammerte die Tischkante, um sich zu fangen.
Drew und er waren seit über dreißig Jahren befreundet; der Mann kannte ihn besser als jeder andere. Die Leute mochten Drew Klein für einen netten, unbekümmerten Schwächling halten, aber Jordan kannte seinen stählernen Kern. Drew weigerte sich, klein beizugeben, wenn er dachte, dass er helfen konnte. Erwartungsgemäß ließ er sich deshalb regelrecht herausfordernd direkt auf den Stuhl direkt neben seinem fallen.
„Jordan. Sieh mich an.“
Es kostete ihn große Anstrengung, seinen Blick von der Tischplatte loszureißen, aber er atmete tief ein und lächelte Drew an. „Was gibt’s?“
Er konnte ihn nicht täuschen. „Spar dir dieses falsche Lächeln. Ich kontrolliere dich nicht. Es ist allgemein bekannt, dass du zu deiner ersten Operation nach Keiths Tod erschienen bist und dann noch eine Stunde warten musstest, weil du gezittert hast.“ Drew presste die Lippen zusammen. „Bist du verrückt, betrunken zu einer Operation zu erscheinen? Du könntest deine verdammte Zulassung verlieren, um Himmels willen.“
„Ich war nicht betrunken, sondern übermüdet und hatte seit dem Mittagessen am Tag zuvor nichts mehr gegessen.“
Hinter ihm hörte er Ash prusten. „Willst du uns verarschen, Jordan? Dir fällt bestimmt was Besseres ein.“
„Verpiss dich, Ash“, schoss er zurück. „Deine Meinung ist mir völlig egal.“
„Was ist mit meiner? Lüg mich nicht an.“ Drew sah ihn mit seinen warmen Augen weiterhin unnachgiebig an. „Ich weiß, dass es dir immer noch schwerfällt, über Keiths Tod hinwegzukommen, aber es ist bald ein Jahr her.“
„Es sind erst neun Monate. Allmächtiger, hast du erwartet, dass ich ihn schon vergessen habe?“ Entsetzt fuhr Jordan mit der Hand über den Tisch und wischte die leeren Flaschen und Essensbehälter auf den Boden. „Keith und ich waren fast vier Jahre lang zusammen. Du bist noch nicht einmal ein Jahr mit Ash zusammen; könntest du ihn so schnell vergessen? Hör auf, mich zu drängen, mit meinem Leben weiterzumachen. Für mich ist es vorbei. Es wird nie einen anderen geben.“
„Du hast also vor, dich in ein frühes Grab zu saufen und dabei deinen Job und womöglich deine Freunde zu verlieren?“ Drew legte ihm eine Hand auf den Arm. „Ich glaube nicht, dass Keith erwarten würde, dass du ewig um ihn trauerst.“
„Ich habe nicht erwartet, dass ich überhaupt um ihn trauern muss. Er sollte hier sein, bei mir.“ Die Tränen, die immer unter der Oberfläche lauerten, strömten heiß über seine Wangen. Es schien, als hätte er seit Keiths Ermordung nicht mehr aufgehört zu weinen. „Ich komme nicht darüber hinweg. Egal, was ich tue, er ist immer bei mir und ich kann ihn nicht loslassen.“ All der Kampf und die Wut sorgten dafür, dass er in sich zusammenfiel wie ein Luftballon einige Tage nach einer Party. Eine unbeschreibliche Müdigkeit überkam ihn, er verschränkte die Arme auf dem Tisch und ließ den Kopf darauf sinken. „Geht nach Hause, ihr zwei. Lasst mich in Ruhe.“
Wortlos holte Ash Besen und Kehrschaufel und begann, die Glasscherben zusammenzufegen, während Drew neben Jordan am Tisch sitzen blieb.
„Hör zu, ich verstehe, was du fühlst, aber dich selbst zugrunde zu richten, wird ihn nicht zurückbringen. Wir wissen, dass du ihn vermisst.“
„Ihr versteht das nicht.“ Jordan wehrte Drews Versuch ab, ihn zu trösten. „Ich fange an, ihn zu vergessen. Nicht nur seine Stimme, sondern auch die Art, wie sich seine Arme um mich anfühlten. Wie das Geräusch seines Atems mich beruhigt hat, sodass ich jede Nacht einschlafen konnte.“ Sein Atem stockte und ein Schauer schüttelte seinen Körper.
Das Schlimmste konnte Jordan nicht zugeben – dass er sich nicht mehr an den Druck von Keiths Lippen auf seinen oder das süße Streicheln von dessen Zunge in seinem Mund erinnern konnte. Die Wärme und Sanftheit von Keiths Haut, die einst so vertraut gewesen war wie Jordans eigene, hatte begonnen zu einer kalten und fernen Erinnerung zu verblassen. Manchmal saß er spät abends im Bett und spielte seine Sprachnachrichten ab, nur um Keiths Stimme zu hören. Was für ein verdammt treuloser Partner war er eigentlich? Es waren erst neun Monate vergangen, doch Keiths Berührung, nach der er sich jeden Tag seines Lebens gesehnt und die nie zu vergessen er geschworen hatte, war ihm entglitten wie Nebel im Sommerwind. Sanft und schnell, ohne eine Spur zu hinterlassen, dass sie jemals existiert hatte.
„Sollte ich mich nicht erinnern? Wir haben zusammengelebt und ich hab ihn mit jeder Faser meines Seins geliebt.“ Er hob den Kopf und schaute Drew in die Augen, sah das Mitleid und den Schmerz, der seit Keiths Tod darin lag. Er hasste Drew dafür und wollte nicht, dass jemand Mitleid mit ihm hatte und ihn für schwach hielt. Er bevorzugte die Art, wie Ash ihn behandelte, mit schonungsloser Wahrheit und harter Realität. So konnte er wenigstens wütend werden und fluchen. Aber wenn Drew Jordan mit Samthandschuhen anfasste, ganz süß und mitfühlend, konnte er nicht zurückschlagen.
„Das hat nichts mit Loyalität zu tun. Es ist nur die Art und Weise, wie der Lauf der Zeit uns erlaubt zu akzeptieren, was passiert ist. Nach dem Tod meiner Eltern war ich wütend darüber, dass ich ihre Sprachnachrichten nicht gespeichert hatte.“ In Drews grünen Augen schimmerten Tränen. Seine Eltern waren nun schon seit über zehn Jahren tot, gestorben bei einem schrecklichen Autounfall und Jordan wusste, dass Drew immer noch ihren sinnlosen Tod betrauerte. „Ihre Stimmen hören zu können, hätte mir vielleicht etwas Trost gebracht. Ich wusste, dass sie wirklich tot waren, als ich sie nicht mehr in meinem Kopf hören konnte. Aber in gewisser Weise hat mir das endlich erlaubt, mit meinem Leben weiterzumachen.“
Jordan beobachtete, wie Ash die Hände auf Drews Schultern legte und sich hinunterbeugte, um ihm einen kurzen Kuss auf die Wange zu drücken. Das war es, was er vermisste. Die Unterstützung, die kleinen Gesten, die ihn wissen ließen, dass jemand ihn genug liebte, um sich zu kümmern.
„Was ist, wenn ich nicht weitermachen will? Oder es nicht kann?“ Drew wusste nicht, dass er Teil von Jordans Problem war, aber Jordan brachte es nicht über sich, ihm diese wichtige Tatsache mitzuteilen. Es würde ihn vernichten. Jordan stand auf und nahm den Besen. „Es gibt nichts, was du oder irgendjemand sonst tun kann. Ich gebe mein Bestes, also lasst mich in Ruhe. Geht und belästigt jemand anderen.“
„Du bist so ein schlechter Lügner.“ Ash lehnte sich mit der Hüfte gegen den Küchentisch. „Das“ – er wies mit der Hand auf die verstreuten Abfälle – „ist das Beste, was du zu bieten hast? Tage altes Essen zum Mitnehmen und leere Schnapsflaschen? Wo ist der Dr. Jordan Peterson, den ich kannte – stilvoll, arrogant und immer Herr der Lage?“ Ash zog eine Augenbraue hoch. „Schon bevor du Keith getroffen hast, warst du ein arroganter Mistkerl. Das hier ist bei Weitem nicht dein Bestes.“
Ein Knoten bildete sich in Jordans Magen. Das war der Punkt. Er wollte nicht wieder so werden, wie er früher gewesen war. Es hatte andere Beziehungen gegeben, aber keine war von Bedeutung gewesen. Nur Keith hatte ihn von Anfang an durchschaut. Keiner wusste, wie sehr Jordan Keith als Anker gebraucht hatte. Jordan wusste, dass er nach außen hin der stolze Mistkerl, wie Ash ihn genannt hatte, sein konnte, weil er zu Hause Keith hatte, der ihn liebte, mit all seinen Fehlern. Jetzt, wo er nicht mehr da war, starb der weiche, verletzliche Teil Jordans, der sich nach Trost und Liebe sehnte.
„Verschwindet und lasst mich in Ruhe.“ Er fegte weiter den Boden, weder willig noch fähig, seinen Freunden in die Augen zu sehen. Der dumpfe Aufprall der Post, die durch den Briefschlitz fiel, lieferte ihm die perfekte Entschuldigung, sie stehen zu lassen. Als er auf dem Weg zur Haustür war, klingelte es.
Mein Gott, war ihm heute keine Ruhe vergönnt? Das Wochenende sollte doch der Erholung dienen.
Er öffnete die Tür und fand seinen Postboten auf der Treppe vor. „Hey, Bill. Hast du was für mich?“ Jordan und sein Postbote gingen freundschaftlich miteinander um, seit er im vergangenen Jahr das Knie des Mannes mit ausgezeichnetem Ergebnis operiert hatte.
„Ja, Dr. Peterson. Ich habe ein Einschreiben, für das ich eine Unterschrift brauche.“ Er hielt ihm die grüne Karte hin, die Jordan unterschrieb und ihm zurückgab. „Danke, Doc.“
„Wir sehen uns in ein paar Monaten zu Ihrer Nachuntersuchung.“ Jordan lächelte den Postboten an und sah ihm nach, als er davonging, wobei er mit professionellem Blick den gleichmäßigen Gang und die Bewegungsfreiheit von Bills Knie beobachtete, als dieser die Stufen des Hauses hinunterging. Jordan wandte sich ab und schloss die Tür hinter sich. Ein kurzer Blick auf den Brief und er erkannte schweren Herzens, dass er von Lambert and North kam, der Finanzberatungsfirma, die Keith mit der Betreuung seiner Konten beauftragt hatte.
Die meisten Leute hatten nicht gewusst, wie reich Keith gewesen war. Der Mann hatte wirklich ein Händchen dafür, sein Geld zu vermehren und er war immer darin involviert gewesen, wie dieses Geld investiert wurde. Als Keith starb, war Jordan sein Haupterbe. Außerdem hatte er eine Stiftung für Wohltätigkeitsorganisationen gegründet, die sich für LGBT-Kinder in den Innenstädten einsetzte.
Bei der Verlesung des Testaments ungefähr einen Monat nach Keiths Tod erfuhr Jordan, dass Keith eine Stiftung gegründet hatte, um Waffengewalt unter Jugendlichen der Stadt zu verhindern. Er hatte sie mit der Polizei koordiniert, sodass die Jugendlichen nach Rikers Island gebracht wurden, um aus erster Hand zu erleben, was mit Männern und Frauen geschah, die sich für Verbrechen und illegale Waffen entschieden hatten – eine Art Knast auf Probe-Präventivpogramm für einen Tag. Aber die Stiftung beinhaltete noch viel mehr. Es sollten für Kinder Sportprogramme nach der Schule geschaffen werden, Musikunterricht, Computer – alles, um sie von der Straße fernzuhalten. Das Programm konzentrierte sich hauptsächlich auf ihren Bezirk und die Schulen in der Umgebung. Keith hatte mehrere Sponsoren aus der Wirtschaft gefunden, um den Geldfluss zu sichern, aber er hatte auf mehr private Mittel gehofft, sobald sie die Stiftung bekannt gemacht hatten.
Jordan war zum Vorsitzenden der Stiftung und Verwalter des Treuhandvermögens ernannt worden, hatte aber seit der Testamentseröffnung ein Treffen mit dem Finanzberater vor sich hergeschoben. Er brachte es nicht übers Herz und hatte auch nicht die Kraft, sich auf dieses Unterfangen einzulassen, selbst wenn Keith es gewollt hatte. Er war das alles so leid und wollte nur noch, dass man ihn in Ruhe ließ.
„Wer war das?“, fragte Drew. Er und Ash sahen vom Boden auf, wo sie mit dem Putzen weitergemacht hatten. Wie Jordan feststellte, war alles Glas zusammengefegt und in den Mülleimer geworfen worden und Drew hatte den Fliesenboden mit einigen feuchten Papiertüchern gewischt. Er hatte wirklich gute Freunde, auch wenn sie mit nervigen Partnern einhergingen.
„Der Postbote. Nichts Wichtiges.“ Jordan wusste es besser, als den beiden zu erzählen, dass er sich um das Treffen mit dem Finanzberater der Stiftung gedrückt hatte. Drews eigene Stiftung, die Klinik, die er für missbrauchte Teenager eingerichtet hatte, war sein ganzes Leben und sein und Ashs Engagement dafür war außergewöhnlich. Sie würden es nicht gut aufnehmen, dass er sich seiner Verantwortung entzog. Für einen kurzen Moment verspürte er Scham und beschloss, am Montagmorgen anzurufen und einen Termin zu vereinbaren.
„Denkt nicht, dass ihr mich babysitten müsst. Ich werde duschen und ein paar Besorgungen machen.“ Er musste seinen Barschrank auffüllen und ein paar Medikamente besorgen, aber das brauchten sie nicht zu wissen.
Ash warf ihm einen strengen, eindeutig ungläubigen Blick zu, während Drew nur den Kopf schüttelte. „Glaubst du, das ist, was wir tun? Du bist mein bester Freund, aber ich sehe dich kaum noch.“ Drews unergründliche Miene verunsicherte Jordan. Als er Drew so zurückhaltend und verletzt sah, plagte Jordan erneut das schlechte Gewissen. Keith war sein Liebhaber gewesen, aber Drew und ihr anderer Freund Mike waren im wahrsten Sinne des Wortes seine Brüder. Er hatte nie etwas vor ihnen verheimlicht. Bis jetzt.
Während der letzten Monate war er zu einem Experten darin geworden, seine Gefühle zu verbergen. Mit einem Lächeln, von dem er hoffte, dass es nicht zu aufgesetzt oder gezwungen wirkte, klopfte er Drew auf den Rücken und versuchte, die Stimmung aufzulockern. „Du hast recht. Und ich verspreche, mich zu bemühen, mehr rauszugehen und mein Leben in den Griff zu bekommen.“ Mit einem kleinen Dankgebet sah er zu, wie sich seine beiden Freunde anschickten zu gehen.
„Lass dich mal sehen. Meine Großmutter vermisst dich.“ Drew umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich vermisse dich.“ Schuldgefühle lagen Jordan wie Blei im Magen.
„Im Ernst, Jordan. Komm diese Woche zum Abendessen vorbei. Vielleicht kannst du die Mieze davon ablenken, jedes Mal meine Knöchel zu attackieren, wenn ich vorbeigehe.“ Ash verzog das Gesicht, aber seine Augen funkelten amüsiert.
Sogar Jordan lachte über Ashs ständigen Kampf mit Drews Kater Domino. Dem schien Ashs Anwesenheit in Drews Leben nicht zu gefallen und er ließ seinen Unmut bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit an ihm aus.
„Ich kann nichts dafür, dass Domino einen guten Geschmack hat, Davis.“ Jordan schmunzelte und wich Ashs freundschaftlichem Schlag aus, bevor dieser Drew durch die Haustür nach draußen folgte.
Jordan konnte nicht umhin zu bemerken, dass Ash auf halbem Weg den Block hinunter stehen blieb, Drew eine Hand in den Nacken legte und ihn küsste. Sie gingen weiter, Ash hatte Drew den Arm um die Schultern gelegt und zog ihn zu sich heran. Ein scharfer, tiefer Schmerz durchzuckte Jordan und er schnappte nach Luft. Es gab niemanden, der ihn hielt. Nicht mehr.
Voller Trauer und unwillig, weitere liebevolle Gesten zwischen seinen Freunden zu sehen, kehrte Jordan ihnen den Rücken zu und ging wieder ins Haus. Er griff sich das Einschreiben, öffnete es und überflog den kurzen Text.
Sehr geehrter Dr. Peterson,
ich habe in den letzten Monaten erfolglos versucht, Sie bezüglich der Stiftung, die der verstorbene Keith Hart gegründet hat, zu kontaktieren. Da Sie nicht geantwortet haben, gehe ich davon aus, dass Sie sich nicht an diesem der Mühe werten Vorhaben beteiligen wollen. Bitte betrachten Sie dies als förmliche Mitteilung, dass ich die anderen Mitglieder des Verwaltungsrats bitten werde, Sie von diesem Amt zu entbinden und wir mit der Suche nach einem neuen Präsidenten des Verwaltungsrats beginnen werden.
Mit freundlichen Grüßen,
Lucas Conover, Platinum Account Services
Lambert & North, LLC
Jordans Augen verengten sich, als sein Gesicht sich vor Wut rötete. Verdammter eingebildeter Mistkerl. Wer zum Teufel war dieser Conover, dass er so mit ihm sprach? Jordan stürmte ins Badezimmer und öffnete den Medizinschrank. Das Fläschchen mit den Pillen stand da und verhöhnte ihn. Jordan packte es, riss den Deckel herunter und schluckte die letzten beiden. Wenn eine gut war, waren zwei noch besser. Antidepressivum? Scheiße, es war eher ein Anti-Gefühle, so wie Jordan es mochte. Er knallte die Tür zu, betrachtete sich im Spiegel und zuckte angesichts seiner zu blassen Haut und der blutunterlaufenen, eingesunkenen Augen zusammen. Sobald die Pillen wirkten und er geduscht hatte, würde er so gut wie neu sein. Das träge Gefühl des Wohlbefindens, ausgelöst durch die Drogen, begann sich in seinem Körper auszubreiten. Er konnte es kaum erwarten, am Montagmorgen diesem kleinen Arschloch Lucas Conover gegenüberzustehen.
Montagmorgen sind scheiße. Da der Wecker unaufhörlich schrillte, rollte sich Lucas Conover mit einem Grunzen aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Er erleichterte sich, putzte sich die Zähne und stellte die Dusche an, ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen.
Das heiße Wasser, das über sein Gesicht und seinen Körper strömte, belebte ihn ein wenig. Um Zeit zu sparen, rasierte er sich unter der Dusche und holte sich anschließend schnell einen runter, woraufhin er zwar weniger angespannt war, sich aber nicht besser fühlte als zuvor. Es war traurig, dass Sex für einen dreißigjährigen Mann inzwischen nur noch ein Duschritual war, aber wenn man bedachte, dass seine Hand jahrelang das Einzige war, was ihm in seinem Leben Vergnügen bereitet hatte, überraschte ihn das nicht. Es war besser, auf Nummer sicher zu gehen. Und sicher zu sein war das Einzige, was Luke vom Leben wollte.
Das passierte, wenn man mit Angst zum Frühstück aufwuchs und hoffte, dass der Mann, der vorgab, sein Vater zu sein, noch so betrunken von der vergangenen Nacht war, dass er wie ein Toter schlief, damit man seinen kleinen Bruder schnappen und zur Schule rennen konnte, bevor der besoffene Mistkerl aufwachte. Und dann gab es Tage, an denen Luke und Brandon nicht auf ihre Frühstücksflocken warteten, sondern lieber früher zur Schule gingen, als zu Hause herumzuhängen und ihren Vater wütend herumbrüllen zu hören. Luke wollte seinen Tag nicht mit unangenehmen und unerwünschten Erinnerungen beginnen, drückte sich das Wasser aus den Haaren und trat aus der Dusche.
Nachdem er sich abgetrocknet hatte, fuhr er mit einem Kamm durch seine nassen Locken und kehrte dann ins Schlafzimmer zurück, um sich anzuziehen. Ohne richtig hinzusehen, zog er ein hellblaues Hemd und einen marineblauen Anzug aus dem Kleiderschrank. Er suchte eine Krawatte aus, band sie aber nicht um. Schlimm genug, dass er das verdammte Ding den ganzen Tag über tragen musste, da konnte er wenigstens seinen Kaffee genießen, ohne stranguliert zu werden. Er legte sich die Krawatte um den Hals, verließ das Schlafzimmer und ging in die Küche.
Als er die Wohnung gekauft hatte, war es eine typische schmale New Yorker Pantry-Küche gewesen, aber da er das Gefühl der Enge hasste, hatte er die Trennwand zum Wohnzimmer entfernt, um einen offenen, hellen Raum zu schaffen. Dadurch fiel das Licht aus dem Wohnzimmer in die Wohnung. Der breite Tresen diente ihm als Tisch und die weißen Schränke und schwarzen Granitarbeitsplatten schimmerten, wenn das Sonnenlicht darauf fiel. Doch im Moment zog nur die glänzende Edelstahlkaffeekanne seine Aufmerksamkeit auf sich. Er nahm seinen riesigen Kaffeebecher aus dem Abtropfgestell und goss sich eine große Tasse des belebenden Gebräus ein.
Gelegentlich fragte er sich, wie es wohl wäre, sein Leben mit jemandem zu teilen, nicht jeden Tag allein aufzuwachen, aber dieser weit hergeholte Gedanke hielt nie lange an. Er nippte an seinem Kaffee, dankbar für alles, was er jetzt hatte und vergaß nie, was er durchgemacht hatte, um an diesen Punkt zu gelangen. Nach den langen, harten Jahren des Alleinseins hatte er gelernt, damit zu leben. Seit Ash – sein heißgeliebter Pflegebruder – ihn und ihren jüngeren Bruder im Stich gelassen hatte. Seit seiner letzten Nacht zu Hause bei seinem Pflegevater Munson und als er in einem Krankenhaus aufgewacht war und festgestellt hatte, dass er von seiner Familie zurückgelassen worden war. Nach einem ganzen Jahrzehnt, in dem er sich nur auf seinen Verstand verlassen konnte und lernen musste, zu überleben.
Er schloss seine Hand fester um die Kaffeetasse. Nicht schon wieder und nicht heute. Montage waren schon schlimm genug, ohne dass der Gedanke an die beiden ihm den Tag ruinierte, bevor er überhaupt begonnen hatte. Es hatte Jahre gedauert, bis er sich mit Munsons Taten abgefunden hatte und Ashs Verrat klebte an ihm wie eine zweite Haut, die er nicht ohne weiteren Schaden anzurichten entfernen konnte.
Er schüttete den kalten Rest seines Kaffees in die Spüle und füllte frischen in seinen To-go-Becher aus Edelstahl. Nachdem er ihn auf dem Tisch im Flur abgestellt hatte, stellte sich Luke vor den goldgerahmten Spiegel und band seine Krawatte. Ein kurzes Grinsen huschte über seine Lippen, als er mit den Händen über die kleinen Pu-der-Bär-Gesichter auf der dunkelblauen Seide strich.
Seine Krawatten waren immer das Gesprächsthema der Sekretärinnen. Da er stets gewissenhaft arbeitete und bei seinen Kollegen nicht gerade für seinen Sinn für Humor bekannt war, drückten seine Krawatten diesen für Luke aus. Sie waren immer mit Zeichentrickfiguren bedruckt – Bugs Bunny, Familie Feuerstein oder Pokémon-Figuren.
Er schlüpfte in seine Anzugsjacke, zog seinen gefütterten Regenmantel an und verließ seine Wohnung. Niemand wusste, dass diese Krawatten eine Art Hommage an seinen kleinen Bruder Brandon waren, den er so sehr vermisste. Die Samstagmorgen, die sie alle zusammen auf der Couch verbracht und Zeichentrickfilme geschaut hatten, gehörten zu den glücklichsten Momenten seiner Kindheit. Brandon hatte immer auf Ashs Schoß gesessen und eklige zuckerhaltige Cornflakes ausgeteilt, bis Munson aufwachte und ins Wohnzimmer stolperte, wo sie herumhingen. Dann fand Ash jedes Mal eine Ausrede, um zu verschwinden und schob Brandon neben Luke.
Schon damals hatte der Mistkerl sie sitzen lassen.
Im Aufzug warf er einen Blick auf sein Handy und sah einen Kalendereintrag für ein neues Treffen, das seine Sekretärin für elf Uhr mit dem schwer fassbaren Dr. Jordan Peterson angesetzt hatte. Sieh an, sieh an. Endlich hatte er die Ratte aus ihrem Loch gelockt. Luke konnte nicht verhindern, dass sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Es passte, dass eine Drohung der einzige Weg war, um sicherzustellen, dass der Mann nach Monaten auftauchen würde.
Keith war ein guter Mann und nach seinem sinnlosen Tod war Luke am Boden zerstört gewesen. Er hatte sich jahrelang um Keiths Investitionen gekümmert, schon bevor Dr. Peterson aufgetaucht war, und Luke und der Detective waren sich recht nahegekommen – so nahe, wie Luke eben jemanden an sich heranließ. Als Keith ihm mitteilte, dass er Peterson heiraten würde, hatte Luke versuchte, ihn davor zu warnen, dem Mann die Kontrolle über ein so großes Vermögen zu geben.
Keith hatte auf seine natürliche, gutmütige Art gelacht. Luke, mein Freund, ich vertraue Jordan mit meinem Leben. Er kontrolliert bereits mein Herz. Mein Geld bedeutet mir nicht wirklich viel, wenn er nicht an meiner Seite ist, um es mit mir zu teilen.
Lukes Brust zog sich bei der Erinnerung an den großen blonden Detective, der so unbekümmert gelacht hatte, zusammen. Keine zwei Monate später lag er in seinem Grab. Das Leben war so verdammt ungerecht. Ein Stück Scheiße wie Munson blieb am Leben, während ein so guter und anständiger Mensch wie Keith … verdammt. Luke rieb sich die plötzlich feuchten Augen und hielt dann an der Ecke 19th St. und Eighth Avenue ein Taxi an.
„Sechsundfünfzigste und Lex.“ Der Taxifahrer nickte und fuhr abrupt an, wodurch Luke in den Sitz gedrückt wurde. Vor ungefähr einem Jahr hatte Keith ihm ein Foto seines Partners gezeigt. Luke erinnerte sich an Peterson als einen unglaublich attraktiven Mann, groß und schlank, mit markanten Gesichtszügen und einem etwas arroganten Grinsen. Goldblondes Haar fiel ihm in die Stirn, konnte aber die Intensität seiner blassblauen Augen nicht verbergen. Als er Keith wegen des eleganten Aussehens seines Freundes geneckt hatte, hatte der gelacht.
Sein Ego ist schon groß genug, Luke. Sag ihm das bitte nicht, wenn du ihm begegnest. Aber ungeachtet dessen, was die Leute von ihm denken mögen, ist er der beste Freund, den ich je hatte.
Luke hatte mitgelacht, aber die offensichtliche Liebe in Keiths Stimme für Peterson nicht nachvollziehen können. Er hatte sich weitgehend von Freundschaften und grundsätzlich von Beziehungen ferngehalten. Gelegentlich ging er nach der Arbeit mit ein paar Leuten ein Bier trinken, aber er nahm nie ihre Einladungen an, am Wochenende in Clubs zu gehen oder Golf zu spielen. In den seltenen Fällen, in denen die Nächte für ihn zu einsam wurden, ging er in eine Bar, um anonymen Sex zu haben. Ein heißer Mund auf seinem Schwanz war alles, was er brauchte, um die Dunkelheit in seinem Kopf zu vertreiben, aber es war nie für länger als eine Nacht. Mehr als Gelegenheitssex war für ihn nicht drin. An den meisten Wochenenden igelte er sich in seiner Wohnung ein, oder arbeitete ehrenamtlich in einem der Obdachlosenheime an der Lower East Side. Es machte ihn fertig, die Familien mit kleinen Kindern zu sehen, deren Augen voller Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung waren. Ganz egal, wie viele die Notunterkünfte verließen, es schien immer so, als würde der Platz sofort wieder von einer anderen Hilfe suchenden Familie eingenommen werden.
Es hatte sich nichts geändert, seit er allein und verängstigt dort gelebt hatte. Nur die Freundlichkeit und Entschlossenheit Wandas, der Leiterin des Heims, die dafür sorgte, dass er von der Straße wegkam und wieder zur Schule ging, hatte ihm das Leben gerettet.
Scheiße. In Erinnerungen zu schwelgen war ein verdammt großer Fehler. Mit einer dezenten Handbewegung wischte er jede Spur von Feuchtigkeit von seinen Wangen, sprach ein stilles Dankgebet für die schnelle Fahrt in die Stadt, zog seine Karte durch den Kartenleser und nahm die Quittung entgegen. Luke sprang aus dem Taxi, ließ mit forschen Schritten die Vergangenheit hinter sich und betrat den Wolkenkratzer aus Glas und Stahl, wobei er mit dem Wachmann ein paar freundliche Worte wechselte. Das Wissen, hierher zu gehören, löste insgeheim immer noch ein Kribbeln in seinem Magen aus.
Lambert and North, eines der führenden Finanzunternehmen, war neuer als die alten Haudegen, deren Namen in die Geschichte der Wall Street eingemeißelt waren, aber Luke hatte seine Entscheidung, dort zu arbeiten, nie bereut. Die Firma hatte eine jüngere, modernere Atmosphäre und er wusste, dass man in den älteren, etablierteren Firmen auf seine Homosexualität herabgesehen hätte, auch wenn man im einundzwanzigsten Jahrhundert lebte. Hier war es keine große Sache.
Im Aufzug begrüßte er mehrere Kollegen mit einem Nicken und hörte ihnen zu, wie sie über ihre Wochenenden sprachen. Als sich die Tür in seiner Etage öffnete, entdeckte er seine Sekretärin, die bereits an ihrem Schreibtisch arbeitete. Er liebte Valerie. Sie war effizient, organisiert und versuchte nie, übermäßig persönlich zu werden, wie einige der anderen Sekretärinnen. Vom ersten Tag an hatte er ihr klargemacht, dass sein Arbeits- und Privatleben strikt voneinander getrennt waren, und sie hatte sein Berufsleben perfekt im Griff.
„Guten Morgen, Luke.“ Sie lächelte und reichte ihm seine Nachrichten und die Post.
„Morgen.“ Er warf einen flüchtigen Blick auf die Papiere, blieb dann stehen und drehte sich um. „Wie ich sehe, hat Dr. Peterson für heute um elf ein Treffen angesetzt. Lassen Sie ihn ein bisschen warten, wenn er auftaucht.“ Klar, es war kindisch, aber der Mann machte ihn wütend. Petersons Verschleppungstaktik erwies all dem, was Keith zu erreichen versucht hatte, einen Bärendienst. Er hatte einen kleinen Dämpfer verdient.
Man musste Valerie zugutehalten, dass sie keine Sekunde zögerte. Sie blinzelte nur und nickte. „Ja, Sir.“
Er betrat sein Büro und machte sich sofort an die Arbeit. Nach dem üblichen morgendlichen Treffen mit seinem Chef begann er, sich durch die verschiedenen E-Mails, Anrufe und Fragen zu arbeiten, die seine Aufmerksamkeit erforderten. Er hob nur ein einziges Mal den Kopf, als sein Bagel mit Frischkäse geliefert wurde.
„Hey, Orlando, wie geht’s? Haben Sie und Ihre Familie sich schon in der Wohnung eingelebt?“ Orlando Hernandez, seine Mutter und seine Zwillingsschwestern waren in einem Obdachlosenheim untergebracht, als Luke sie kennenlernte. Er hatte der Familie nicht nur dabei geholfen, sich in der verwirrenden Welt von Lebensmittelmarken, Medicaid und Sozialwohnungen zurechtzufinden, sondern hatte Orlando auch einen Teilzeitjob in einem Feinkostladen in der Nähe von Lukes Bürogebäude besorgt, während er für den Zulassungstest fürs College lernte.
Es ging ihm immer darum, etwas zurückzugeben.
Er dachte zurück, erinnerte er sich an all das, was Wanda für ihn getan hatte, als er in jener kalten Nacht zum ersten Mal in die Unterkunft gestolpert war. Sie hatte ihn gewaschen, ihm warme Kleidung und eine warme Mahlzeit gegeben. Aber mehr als das, sie hatte ihm Hoffnung gegeben. Hoffnung, dass er das Trauma seiner Flucht aus Georgia überleben konnte. Hoffnung, dass er zu Höhen aufsteigen konnte, die er in der schwärzesten Zeit seiner Erniedrigung nie für möglich gehalten hatte.
Es fing mit seiner Ausbildung und Entschlossenheit an, aber der rote Faden, der sich durch alles zog, war ihre Liebe zu ihm. Er hatte geschworen, sie stolz zu machen und sie niemals zu enttäuschen.
Der junge Mann lachte hell auf, sodass seine Zähne blitzten. „Ja, Mr. Conover. Mama freut sich, wieder einen Platz zum Kochen zu haben und wollte, dass ich Ihnen sage, dass sie Sie bald einmal zum Abendessen erwartet.“
Luke nahm die Tüte mit seinem Bagel und der dritten Tasse Kaffee an diesem Morgen entgegen und stellte sie auf seinen Schreibtisch. „Ich bin sicher, sie wird Unmengen zubereiten.“
Valeries Stimme drang durch die Gegensprechanlage. „Ein Anruf für Sie. Mr. Davis noch mal.“
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Verflucht. Wann würde dieser Mistkerl endlich kapieren, dass er nicht mit ihm reden wollte? „Es läuft wie immer, Valerie. Bitte sagen Sie ihm, dass ich beschäftigt bin, und geben Sie dem Sicherheitsdienst unten Bescheid, dass er keinen Zutritt zum Gebäude bekommen soll, um mich aufzusuchen.“
„Ja, Sir.“
Er schenkte Orlando, der vor ihm stand, ein reumütiges Lächeln. „Jemand aus der Vergangenheit, den ich jetzt nicht sehen möchte. Sie wissen ja, wie das ist.“
Orlandos Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Klar doch.“
Luke bezahlte ihn, gab ihm ein saftiges Trinkgeld und sah ihm nach. Er war froh, dass er zumindest eine gute Sache in seinem bisherigen Leben vollbracht hatte. Während er seinen Bagel verschlang und seinen Kaffee trank, hörten die Anrufe und E-Mails nicht auf. An diesem Morgen schien alles seine sofortige Aufmerksamkeit zu verlangen.
Um Punkt elf Uhr meldete sich Valerie. „Dr. Peterson ist hier. Soll er hier oder im Konferenzraum warten?“
„Hier. Lassen Sie ihn zehn Minuten sitzen, dann bringen Sie ihn herein.“
„Ja, Sir.“
Luke stand auf und starrte aus dem Fenster. So ungern er es auch zugab, Ashs Anruf verärgerte ihn immer noch. Er wollte nicht, dass die Erinnerungen ständig auf seinen Verstand einhämmerten wie ein lästiger Specht. Die Vergangenheit wurde Vergangenheit genannt, weil sie vorbei und erledigt war. Es war ihm nicht möglich, Ash Davis zu vergeben. Seinem Bruder. Was für ein Witz.
Soweit es ihn betraf, war er so allein wie immer.
Ein Klopfen an der Tür holte ihn in die Gegenwart zurück. „Ja?“
Valerie öffnete die Tür einen Spalt und verhinderte damit effektiv, dass jemand von draußen hineinsehen konnte. Sie war mit Gold nicht aufzuwiegen.
„Haben Sie jetzt Zeit für Dr. Peterson, Sir?“
Er lächelte und stellte sich mit ineinander verschränkten Händen neben seinen Schreibtisch. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund überlief ihn ein nervöser Schauer. „Ja, bitte schicken Sie ihn herein.“
Luke blieb stehen, als Valerie die Tür öffnete und er erhaschte seinen ersten Blick auf Jordan Peterson.
„Mr. Conover? Ich bin Dr. Peterson.“
Der Mann begrüßte ihn mit hängendem Kopf, als wäre sein Gewicht zu schwer für seinen Körper. Alles, woran Luke denken konnte, war, wie anders er aussah als auf dem Bild, das Keith ihm letztes Jahr gezeigt hatte, auf dem Peterson in die Kamera gelacht, ein Weinglas hochgehalten und sein Gesicht vor Freude geleuchtet hatte. Die hohläugige Person, die vor ihm stand, hatte kaum mehr Ähnlichkeit mit dem Foto, auch wenn noch Spuren von Schönheit in diesem gebrochenen, emotionalen Wrack eines Mannes erkennbar waren. Das blonde Haar war nicht mehr so ordentlich gestutzt und gestylt wie früher und die Blässe seiner Haut ließ keinen Zweifel daran, dass er seit Monaten keine Sonne mehr gesehen hatte. Sein teurer, gut geschnittener Anzug hing lose an seinem nur noch aus Haut und Knochen bestehenden Körper.
Wider besseres Wissen hatte er Mitleid mit dem Mann und setzte ein, wie er hoffte, mitfühlendes Lächeln auf. So schwer es Luke auch fiel, Gefühle zu zeigen, so hatte ihn Keiths Tod doch hart getroffen. Er konnte Petersons Qualen nicht einmal erahnen.
„Mein aufrichtiges Beileid. Keith war ein wunderbarer Mann.“
Jordan hörte auf, auf den Fußboden zu starren, hob den Blick und schaute Luke direkt in die Augen. Sein Blick war leer, traurig, die Augen blutunterlaufen und die Verzweiflung in ihnen traf Luke wie ein Schlag ins Gesicht. Wie wäre es wohl, jemanden so sehr zu lieben? So wie Peterson aussah, war Luke besser dran, es nicht zu wissen.
„Ja, das war er und ich weiß nicht, warum Sie es für nötig hielten, mir zu drohen. Wer zum Teufel glauben Sie zu sein, dass Sie mir so einen Brief schreiben?“ Das gut aussehende Gesicht verzog sich höhnisch.
So viel zum Thema Mitgefühl. „Ich habe monatelang versucht, Sie zu kontaktieren und Sie haben mich ignoriert. Jeder würde dasselbe denken wie ich, nämlich dass sie an der Position kein Interesse haben.“
„Blödsinn.“ Petersons offensichtliche Empörung ließ seine blasse Haut erröten. „Ich habe den Tod meines Verlobten betrauert, verdammt noch mal. Können Sie das verstehen? Haben Sie noch nie jemanden verloren, der Ihnen alles bedeutete, sodass nichts anderes mehr zählte?“
Lukes Gesicht wurde heiß, während sein Herz in seiner Brust hämmerte. Verdammt, ja, das hatte er. Keinen Geliebten, niemals einen Geliebten. Aber Gott, Brandon. Wohin zum Teufel bist du verschwunden? Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, als Peterson auf ihn zukam. Der verzweifelte Mann stand so nah vor ihm, dass sein heißer Atem Lukes Wangen streifte.
Und dann roch er es. Der Geruch war schwach, aber er würde ihn überall erkennen. „Sie haben getrunken, nicht wahr?“
Der Atem des anderen Mannes stockte kurz, was ihn verriet. „Sie haben keine Ahnung, wovon zum Teufel Sie reden.“
Luke grinste Peterson spöttisch an. „Ich bin mit einem Säufer aufgewachsen. Ich weiß, was ich rieche. Es ist erst elf Uhr morgens und Sie haben schon genug getrunken, dass es mir auffällt.“ Dann kam ihm ein Gedanke. „Operieren Sie heute? Mein Gott, so sollten Sie besser nicht ins Krankenhaus gehen.“
Immerhin hatte Peterson den Anstand, beschämt auszusehen. „Ich hatte heute früh am Morgen nur Visite. Keine Operationen oder Sprechstunde.“
Luke atmete erleichtert aus. „Gott sei Dank, wenigstens das.“ Seine Augen verengten sich. „Vielleicht sollten Sie wirklich nicht in das Projekt involviert sein. Ich bin sicher, Keith würde nicht wollen …“
„Wagen Sie es nicht, mir einen Vortrag darüber zu halten, was er gewollt hätte. Sie sind ein verdammter Niemand in unserem Leben. Ich habe mit ihm zusammengelebt. Wir wollten heiraten. Sie haben ihn kaum gekannt.“ Petersons Stimme wurde mit jedem Wort lauter, bis er Luke ins Gesicht schrie. Die Tür wurde geöffnet und Valerie sowie Dave, ein Analytiker, dessen Büro neben Lukes lag, schauten herein. Luke winkte sie weg, ohne den Mann vor ihm aus den Augen zu lassen.
„Hören Sie, Peterson. Warum gehen Sie nicht nach Hause und schlafen sich aus?“
„Nach Hause gehen?“ Petersons Lachen klang bitter und hohl. „Es ist kein Zuhause mehr. Die Wände erdrücken mich. Überall, wo ich bin, sehe ich ihn oder höre seine Stimme.“ Peterson packte seinen Arm und Luke war überrascht, wie kräftig sein Griff war. „Ich glaube, ich werde verrückt.“
Da er Berührungen von Menschen nicht gewohnt war, zwang sich Luke, den sengenden Druck von Petersons Hand, den er durch sein Sakko hindurch spürte, zu ignorieren und hörte dem Mann zu, der einem totalen Zusammenbruch so nahe war, wie er es noch nie bei jemandem gesehen hatte.
„Ich muss das tun, um zu beweisen, dass ich seiner Liebe würdig war. Nehmen Sie mir nicht das Letzte, worum er mich je gebeten hat.“ Petersons lange Finger legten sich um Lukes Bizeps und gruben sich in seinen Hemdsärmel. „Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass ich ihn enttäusche.“
Mist. Er hatte nicht erwartet, Peterson gegenüber Mitleid zu empfinden. Er war bereit gewesen, den Mann zu hassen und doch geriet etwas tief in ihm, das jahrelang zu Eis gefroren war, in Bewegung und bekam Risse, legte einen weichen Kern frei, der nicht mehr zu sehen gewesen war, seit er sein Zuhause verlassen hatte. Luke musste etwas Abstand zwischen sich und diesen aufgewühlten Mann bringen, dessen bloße Anwesenheit so verwirrende Signale an seinen Verstand und seinen Körper sendete.
Er riss sich von der Hand auf seinem Arm los und wartete, bis sich seine eigene Atmung verlangsamte und sein Herzschlag wieder in seinen normalen Rhythmus zurückfand. „Dann benehmen Sie sich nicht wie ein Arschloch. Wenn Sie diese Verantwortung übernehmen wollen, dann reißen Sie sich zusammen. Wir werden eng zusammenarbeiten und ich werde es nicht dulden, mit jemandem zu arbeiten, der ständig betrunken ist.“ Er verschränkte die Arme und übernahm so wieder die Kontrolle.
Peterson hatte sich auf einen Stuhl vor Lukes Schreibtisch fallen lassen, er war blass und sah niedergeschlagen aus. „Ich hatte nie mehr als ein oder zwei Drinks – bevor es passiert ist. Ich schaffe das schon.“
Luke konnte sehen, wie viel Mühe es ihn kostete, sein Versagen einzugestehen. „Das werden Sie müssen.“
„Ich sagte, ich würde es tun.“ Wut blitzte in Petersons Gesicht auf und ein Hauch der anfänglichen Arroganz schlich sich wieder in seine Stimme. „Sie müssen mir nicht im Nacken sitzen.“ Er musterte ihn kühl und abweisend mit seinen blassblauen Augen. Der Mistkerl wagte es, ein Urteil über ihn zu fällen?
„Ich höre, was Sie sagen.“ Luke setzte sich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Stellen Sie sicher, es auch zu tun.“ Der empörte Ausdruck auf Petersons Gesicht war unbezahlbar. „Lassen Sie mich Ihnen jetzt erklären, womit wir es hier zu tun haben.“
Er überreichte ihm das dicke Buch mit dem Geschäftsplan und begann, die Einzelheiten all dessen darzulegen, was sie bisher getan hatten, um die außerschulischen Programme und die Trips in die Gefängnisse auf die Beine zu stellen. Nach ungefähr einer Stunde legte er den Stift beiseite. „Ich denke, wir können hier aufhören. Sie haben jetzt ein grundlegendes Verständnis davon, was wir erreicht haben und was noch getan werden muss.“
Peterson nickte. „Ja. Wie sehr wollen wir uns um die Teenager und Kinder in den Unterkünften kümmern? Sie müssen vor Menschen geschützt werden, die sie ausnutzen wollen.“ Er presste die Lippen zusammen. „Ich will so viele Waffen wie möglich von der Straße haben.“
„Das wollen wir alle, Peterson.“
„Ich denke, mittlerweile kannst du mich Jordan nennen.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem müden Lächeln. „Du heißt Lucas, richtig?“
Scheiße. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er seinen Namen aus Jordans Mund hörte. Vielleicht wurde er krank.
„Ja.“ Er räusperte sich. „Tja, äh, ich habe noch einen anderen Termin, also …“ Er verstummte, die lahme Ausrede hing zwischen ihnen, während er Jordan nicht in die Augen sehen konnte.
„Kein Problem.“ Jordan stand auf und schüttelte Luke die Hand. „Wir sprechen uns bald.“ Er drehte sich um und ging zur Tür hinaus. Der schwache Geruch seines Eau de Cologne lag noch in der Luft, nachdem er gegangen war.
Für den Rest des Tages, egal, ob in Besprechungen, während Telefonkonferenzen mit wichtigen Kunden oder auf der Taxifahrt nach Hause, schweiften Lukes Gedanken immer wieder zu Dr. Jordan Peterson ab. Die höfliche, kultivierte Stimme, die stechend blauen Augen und der feste Mund überraschten ihn nicht; er wusste von Keiths Bildern, dass Jordan ein äußerst attraktiver Mann war. Seine körperliche Reaktion auf den Mann beunruhigte Luke und er schwor sich, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die sie zu erledigen hatten. Es sollte ihm nicht allzu schwerfallen. Luke hatte es sich zum Prinzip gemacht, niemanden zu nahe an sich heranzulassen. Mit Jordan würde es nicht anders sein.
Jordan stürmte in das Stadthaus und warf seine Schlüssel auf den Tisch im Flur, verfehlte ihn aber und sie rutschten über den Holzboden. Er blieb nicht stehen, sondern ging weiter, bis er die Küche erreichte. Die letzten Stunden waren eine Tortur gewesen. Um sich für die Visite anzuziehen und präsentabel zu machen, hatte er eine Pille gebraucht. Die Visite im Krankenhaus und dann das Treffen mit Keiths Finanzberater zu überstehen, war anstrengend gewesen. Was sollte es also, wenn er vorher ein paar Drinks hatte, um seine Nerven zu beruhigen und den Schmerz zu betäuben? Das Xanax, das er am Morgen genommen hatte, hatte nicht gewirkt; sein Körper summte und stand unter Spannung wie ein Hochseil. Er brauchte eine weitere Pille oder einen weiteren Drink, was auch immer helfen würde. Es half sowieso nichts wirklich.
„Scheiß auf ihn“, murmelte er vor sich hin. Er goss etwas Wodka in ein Glas, nahm dann eine Flasche Tonic Water und eine Limette heraus, um ihn damit zu mischen. „Gegen einen Drink zum Mittagessen ist nichts einzuwenden.“ Oder auch zwei. Verdammt, er nahm an, dass diese Hedge-Fonds-Typen das ständig machten.
Dass Conover ihm einen Vortrag hielt, war lächerlich. Diese Wall-Street-Bonzen waren Schmarotzer, die nichts zur Welt beitrugen. Er war ein Arzt, Herrgott noch mal. Er half Menschen. Was machte es da schon, wenn er seinem Leben manchmal mit einem Drink oder einer seiner Glückspillen die Schärfe nahm? Der Stress war gewaltig und er verdiente ein wenig Entspannung.
Der eisgekühlte Wodka rann durch seine Kehle und beruhigte ihn. Es war ja nicht so, dass er den Drink oder sonst was brauchte. Ein weiterer Schluck und das Glas war leer. Er sollte lieber etwas essen, bevor er wirklich betrunken war. Kurzerhand drückte er eine Kurzwahltaste an seinem Telefon und bestellte ein Roastbeef-Sandwich mit Pommes, das vom Diner um die Ecke geliefert werden sollte. Als er auf die Uhr sah, stellte er fest, dass er noch einige Stunden Zeit hatte, bis er zu Drews Klinik aufbrechen musste.
Drew hatte ein Behandlungszentrum für missbrauchte junge Erwachsene eingerichtet und er, sowie Ash und ihr anderer Freund Mike arbeiteten dort ehrenamtlich mit, so oft sie konnten. Drews Schwester, die zudem auch Mikes Freundin war und einen Doktortitel in Jugendpsychologie hatte, leitete die Selbstmordpräventionshotline. Ash half zusammen mit zwei anderen Anwälten bei den rechtlichen Problemen und Mike, der Zahnarzt, kümmerte sich um die zahnmedizinischen Probleme. Inzwischen bekamen sie so viel Publicity, dass ihre Fördergelder gesichert waren und sie andere Ärzte, Anwälte und Zahnärzte zur Unterstützung eingestellt hatten, aber weder er, Drew noch Mike hatten je daran gedacht, ihre Arbeit dort aufzugeben. Jordan glaubte, dass Keith sich ausgemalt hatte, dass die Stiftung, die er gründen wollte, den gleichen Erfolg haben würde.
Es klingelte an der Tür und er nahm sein Essen vom Lieferdienst entgegen. Zum ersten Mal seit einiger Zeit knurrte sein Magen vor Hunger und er stürzte sich auf seine Pommes. Mit Bierteig umhüllt und knusprig, waren sie genau so, wie er sie mochte. Nachdem er ein paar Bissen vom Sandwich gegessen hatte, nahm er eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und trank sie schnell aus.
Abgesehen von ein paar sporadischen Besuchen war er seit Keiths Tod nicht mehr in der Klinik gewesen, um Patienten zu empfangen. Beim Gedanken, diesen Nachmittag dort hinzugehen, wurde ihm die Brust eng, aber er wusste, dass er weder Drew noch die Kinder, die zur Behandlung kamen, im Stich lassen konnte. Sie brauchten ihn und seine Fähigkeiten und egal, wie wütend er war, er würde da sein, um ihnen zu helfen. Als er in die zweite Hälfte seines Sandwichs biss, brach der Groll, der unter der Oberfläche brodelte, aus ihm heraus und durchbrach den Schutzschild, den er in den letzten neun Monaten aufgebaut hatte. Wie sollte er seine Wut auf seinen besten Freund erklären? Wer würde ihn verstehen?
Irritiert über sich selbst, warf er das Sandwich beiseite. Eines Tages, wenn er seine Gefühle geordnet und besser unter Kontrolle hatte, würde er mit Drew reden. Heute jedoch würde er sein Pokergesicht aufsetzen und tun, was er tun musste. Ein Geräusch aus dem Garten erregte seine Aufmerksamkeit und er stand vom Tisch auf, um nachzusehen.
Ein Hund hatte irgendwie den Weg in seinen Garten gefunden. Anstatt zu knurren oder zu bellen, wie er es erwartet hätte, hing dem Tier die Zunge aus dem Maul und es wedelte wild mit dem Stummelschwanz. Das kurze, glänzende Fell leuchtete in der Sonne. Der Hund sah aus wie ein Rottweiler-Schäferhund-Mischling und hätte normalerweise wohl einen kräftigen, muskulösen Körperbau. Stattdessen hob das Sonnenlicht die Konturen seiner Rippen hervor.
Jordan hatte sich immer einen Hund gewünscht, aber wegen Keiths Allergien hatte er diesen Wunsch verdrängt. Das Tier machte einen sanftmütigen und überhaupt nicht bösartigen Eindruck, als Jordan sich ihm vorsichtig näherte. Es saß mit schräg gelegtem Kopf und einem fragenden Ausdruck im Gesicht da und schien ihn ebenfalls abzuschätzen. Jordan kniete sich hin und während in seinem Kopf die Alarmglocken schrillten, streckte er die Hand aus.
„Hey, du.“ Das war dumm, das war ihm klar, denn wenn der Hund auf seine Hand losging, wäre es mit seiner Karriere als Orthopäde vorbei. Der Hund stand auf und kam langsam näher, bis er mit seiner warmen, feuchten Zunge über Jordans Finger leckte. Jordan streichelte das Tier, das sich sofort auf den Rücken rollte, um sich den Bauch streicheln zu lassen.
„Braves Mädchen … liebes Mädchen.“ Er gab ihr ein paar Streicheleinheiten und konnte spüren, wie dünn sie war. Das Fehlen eines Halsbandes machte deutlich, dass sie eine Streunerin war und wahrscheinlich noch dazu eine hungrige. „Komm mit.“ Er stand auf und sie folgte ihm auf den Fersen, als er zum Küchentisch und seinem übrig gebliebenen Sandwich zurückkehrte. Ein leises Winseln kam aus ihrer Kehle. „Ist schon gut, Mädchen. Nimm es.“ Er legte es ihr hin und mit zwei Bissen war es weg.
Keith hatte ihm immer gesagt, er sei zu impulsiv und treffe zu schnelle Entscheidungen, aber er wollte diesen Hund mit jeder Faser seines Seins. Etwas zum Lieben, das ihn vielleicht auch lieben würde. Als sie mit Fressen fertig war, kam sie zu ihm, legte ihre Schnauze auf sein Knie und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Das Gefühl ihres warmen, glatten Fells unter seiner Hand, als er sie streichelte, linderte seine frühere Wut. „Willst du bei mir bleiben, Süße?“ Ihre Antwort bestand darin, ihm die Hand zu lecken.
Jordan sah auf die Uhr und stellte fest, dass er nur noch ungefähr eine Stunde Zeit hatte, bis er im Center sein musste. Nicht genug Zeit, um mit ihr zum Tierarzt und in die Tierhandlung zu gehen. Er musste sie im Garten zurücklassen, da er nicht wusste, wie sie darauf reagieren würde, ohne ihn in einem fremden Haus eingesperrt zu sein.
Da er sich entschlossen hatte, sie zu behalten, holte er eine Schüssel und füllte sie mit kaltem, frischem Wasser. Sobald er sie neben der Glastür, die zur Küche führte, auf den Boden gestellt hatte, trank sie so enthusiastisch, dass das Wasser über den Rand der Schüssel schwappte. Als sie fertig war, legte sich die Hündin auf einen Platz in der Sonne und schloss die Augen.
„Ich muss zur Arbeit, Mädchen, aber ich bin in ein paar Stunden zurück. Bleib hier, okay?“ Jordan kraulte sie hinter den Ohren und sie wedelte mit dem Stummelschwanz, dann streckte sich aus, ein Abbild der Zufriedenheit. Er ging hinein, duschte und zog sich an. Als er bereit war zu gehen, warf er einen Blick nach draußen, um zu sehen, ob sie noch da war. Sein Herz wurde schwer, als er sah, dass der sonnenbeschienene Platz, wo der Hund gelegen hatte, nun leer war. Scheiße. Nichts in seinem Leben lief glatt. Selbst ein streunender Hund wollte nicht bei ihm bleiben. Seine Hände zitterten, als ihn schmerzhafte Einsamkeit überkam.
Er kehrte ins Badezimmer zurück und schüttelte zwei Pillen aus der Flasche. Ohne sich die Mühe zu machen, ein Glas zu benutzen, schluckte Jordan sie mit einer Handvoll Wasser aus dem Wasserhahn hinunter. Er konnte sich nicht im Spiegel anschauen, daher kniff er die Augen zusammen und hielt sich am Rand des Waschbeckens fest. Es dauerte einige Minuten, bis sich die vertraute, durch die Pillen verursachte Trägheit in ihm ausbreitete und er sich entspannen konnte.
Das Bild, das sich ihm im Spiegel bot, nachdem er die Augen geöffnet hatte, zeigte ihm einen glücklichen und sorglosen Mann, der alles unter Kontrolle hatte – den Mann, der er früher gewesen war. Nur die Dunkelheit in seinen Augen und die Anspannung um seinen Mund deuteten auf den Schmerz hin, den er in sich trug. Was auch immer es war, er würde sichergehen, es besser zu verstecken, wenn er im Center ankam. Andernfalls, das wusste er, würde Drew ihm auf die Pelle rücken und Mike ebenso.
Er wünschte, die Leute würden ihn verdammt noch mal in Ruhe lassen.
Nachdem er ein Taxi angehalten hatte, das ihn zur Klinik in Red Hook, Brooklyn, bringen sollte, wanderten seine Gedanken zu dem Treffen mit Keiths Finanzberater Lucas Conover. Keith war immer ein guter Menschenkenner gewesen, also musste er etwas in dem Mann gesehen haben, dass er ihm die Leitung der Stiftung anvertraut hatte. Um ehrlich zu sein, ging er ihm mit seiner Besserwisserei und seinem scheinheiligen Gerede auf die Nerven. Aber der leere Ausdruck in Lucas Conovers Augen schien Jordan im Widerspruch zu dessen knallhartem Verhalten zu stehen. Bevor er sich auf eine so enge Zusammenarbeit mit einem Fremden einließ, wollte er ein wenig mehr über ihn herausfinden.
Einem plötzlichen Impuls folgend zückte er sein Handy und rief Keiths ehemaligen Partner Jerry Allen an. Sie waren nach Keiths Tod in Kontakt geblieben und Jordan vertraute darauf, dass der Detective diskret und ehrlich war.
„Allen hier.“ Die tiefe Stimme klang forsch und effizient.
„Hey, Jerry. Ich bin’s, Jordan. Wie geht’s dir?“
„Jordan.“ Jerrys Stimme wurde weicher und er konnte hören, wie Allan jemandem sagte, er solle warten, er müsse den Anruf entgegennehmen. „Wie geht es dir? Ich wollte schon lange mal vorbeikommen, aber wir arbeiten an diesem Fall mit dem illegalen Waffenring und die Zeit läuft einem davon.“
Jordan schätzte Jerrys Direktheit. „Ich verstehe das. Ich habe mich ja auch nicht bei dir gemeldet. Aber hör mal, ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“ Er erläuterte, was er von dem Polizeibeamten wollte.
„Es sollte nicht allzu schwer sein, schnell etwas herauszufinden. Wer ist dieser Kerl noch mal?“
„Keiths Finanzberater, derjenige, mit dem ich zusammenarbeiten werde, um seine Stiftung zu gründen, die Waffen von den Straßen und den Kindern fernhalten soll.“ Das Taxi fuhr die Rampe zur Brooklyn Bridge hinauf. Jordan blinzelte im Sonnenlicht, als er die Weite des East River und die Skyline von Downtown Brooklyn betrachtete. Die Tabletten, die er vorhin genommen hatte, dämpften die Nervosität, die sich normalerweise bei dem Gedanken einstellen würde, das Center zu betreten und sich seinen Freunden stellen zu müssen. Er nahm sich vor, sich von seinem Therapeuten ein neues Rezept ausstellen zu lassen, wenn er im Zentrum eintraf.
„Warum überprüfst du ihn dann, wenn Keith mit ihm gearbeitet hat?“ Eine ehrliche Frage, auf die Jordan keine wirkliche Antwort hatte.
„Na ja, du weißt doch, dass Keith viel vertrauensseliger war als ich. Und er mag den Kerl gekannt haben, aber ich habe ihn heute zum ersten Mal getroffen. Ich bitte dich nicht, etwas Falsches zu tun, oder? Erzähl mir nur etwas über ihn, mehr will ich nicht.“ Jordan musterte stirnrunzelnd das Handy, als er plötzlich Lucas Conovers Gesicht vor Augen hatte. Sein kastanienbraunes, lockiges Haar und die tiefliegenden haselnussbraunen Augen waren so ganz anders als Keiths goldblondes Aussehen. Nicht unattraktiv, aber nicht Keith. Er schluckte hart, hatte einen Kloß im Hals. Was zum Teufel kümmerte es ihn, ob der Mann gut aussah oder nicht?
„Kein Problem, ich besorge dir die Infos und vielleicht kommst du ja bald mal zum Abendessen vorbei? Ich weiß, dass Marie dich vermisst.“ Jerrys ruhige, gelassene Art lenkte Jordans Gedanken wieder auf das Telefonat und weg von Conover.
„Sehr gerne. Deine Frau ist nicht nur wunderschön, sondern macht auch die beste Auberginen-Parmigiana.“ Er schmunzelte. „Wenn ich nicht schwul wäre, würde ich sie dir ausspannen.“
„Wenn du nicht schwul wärst, wäre sie sofort weg.“
Sie lachten und vereinbarten ein Datum und eine Uhrzeit für ein Abendessen in der nächsten Woche, bevor sie das Gespräch beendeten. Jordans gute Laune blieb dank des Gesprächs und seiner Glückspillen erhalten, bis er die Klinik betrat. Er nickte Marly, dem Mädchen am Empfang, zu und lächelte schwach, als sie ihn umarmte und flüsterte: „Ich bin froh, dass du wieder da bist.“
Jordan ließ das Hallo und die Willkommensgrüße des restlichen Personals über sich ergehen. Ihre Freude über seine Rückkehr berührte ihn, aber seine Realität war eine ganz andere. Überall, wo er hinging, hinter jeder Ecke, lauerte die Erinnerung an Keith. In seinem Büro stellte er sich Keith vor, wie er sich in seinem Stuhl zurücklehnte, die Augen vor Verlangen funkelnd, die kräftigen Beine weit gespreizt, ein verführerisches Lächeln auf den Lippen. Liebe, Bedauern und Verlust trafen ihn mit einer solchen Wucht, dass er ins Schwanken geriet und sich am Türrahmen festhielt.
„Das war eine verdammt schlechte Idee“, murmelte er vor sich hin. „Wie soll ich das nur durchstehen?“
„Wir helfen dir, Mann.“
Er drehte sich um und sah Mike und Drew hinter sich stehen, ihre ernsten Gesichter waren blass und angespannt. Unfähig zu sprechen, streckte er seinen Arm aus, Mike packte ihn und zog ihn in eine bärenhafte Umarmung. Drew nahm seinen anderen Arm und, wie sie es schon als Kinder auf dem Spielplatz getan hatten, hielten sie sich gegenseitig, um ihre Wunden zu heilen.
„Es wird alles gut werden. Jeder Tag mag unmöglich erscheinen, aber sieh nur, wie weit du gekommen bist.“ Drew wischte sich die Feuchtigkeit von den Wangen. „Geh es so langsam an, wie du es brauchst, aber ich glaube, wenn du wieder einen Terminplan hast und dich beschäftigst, wird dir das mehr helfen, als du denkst.“
Jordan wollte unbedingt glauben, dass Drews Worte der Wahrheit entsprachen. Er musste es glauben, weil seine Trauer ihm langsam das Leben aussaugte. Realistisch betrachtet verstand er es. Das Leben ging weiter. Keith würde nicht wollen, dass er ewig trauerte und er war jung genug, um vielleicht einen anderen Menschen zu treffen, mit dem er sein Leben teilen konnte.
Das war die Realität.
Emotional jedoch brachte ihn der Gedanke, einen anderen zu berühren und die Lippen eines anderen Mannes auf den seinen zu spüren, dazu, sich in Embryonalstellung zusammenrollen zu wollen. Keiths unerwartete brutale Ermordung und die Tatsache, dass er nie die Chance gehabt hatte, sich zu verabschieden, lähmten Jordan. Aber er konnte nicht länger so weitermachen. Nur das Wissen, dass es seine Eltern umbringen würde, hielt Jordan davon ab, abends vor dem Schlafengehen eine ganze Flasche seiner Pillen zu schlucken. Und das, wo er immer derjenige gewesen war, der sich über übermäßig emotionale Menschen lustig gemacht und sie als schwach und Versager bezeichnet hatte. Keith hatte ihn immer auf seinen hochmütigen Snobismus und seine Gefühlskälte hingewiesen und ihm gesagt, dass Menschen Kämpfe ausfochten, die er nicht verstehen konnte, weil er das Glück gehabt hatte, ein Leben zu führen, das von Not und Schmerz unberührt geblieben war.