Breakfast Club 1: Dicht unter der Oberfläche - Felice Stevens - E-Book

Breakfast Club 1: Dicht unter der Oberfläche E-Book

Felice Stevens

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Beschreibung

Der 11. September ändert für Feuerwehrmann Nick Fletcher alles. Er überlebt, schwer verletzt und traumatisiert. Nicks Leben dreht sich fortan darum, Brandopfern zu helfen – bis er den Mann wiedersieht, der einst seine große Liebe war. Für den Modedesigner Julian Cornell bedeutet Aussehen einfach alles. Er hat nur flüchtige Liebschaften und sein ganzes Leben dreht sich um den Erfolg seines Unternehmens. Doch dann trifft er den Mann wieder, der ihm vor Jahren das Herz gebrochen hat. Und plötzlich steht seine Welt Kopf. Kann es eine zweite Chance für diese Liebe geben? Breakfast Club Band 1

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Seitenzahl: 408

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Felice Stevens

Dicht unter der Oberfläche

- Ein Roman der Breakfast Club Reihe -

Band 1

Aus dem Amerikanischen von Jennifer Trapp und Susanne Scholze

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2016

http://www.deadsoft.de

© by Felice Stevens

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Beyond the Surface (The Breakfast Club, Book 1)

August 2015

Übersetzung: Jennifer Trapp & Susanne Scholze

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© George Mayer – fotolia.com

© xixixing – fotolia.com

© mandritiou – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-015-7

ISBN 978-3-96089-016-4 (epub)

Widmung

Danksagung

Danke, wie immer, an meine Lektorin Keren Reed.

An Sandy und Lindsey, die mich zu dieser Geschichte gedrängt haben, seit ich die Idee zur Sprache gebracht habe. Danke dass ihr immer da wart, Tag und Nacht. An Hope Cousin, jeden zweiten Dienstag, Baby. An Denise, ich kann dir gar nicht genug danken.

An Kade – Danke für deine Freundschaft und Unterstützung.

Öffentlich danken muss ich Jessica de Ruiter – ich habe ein Wort für dich – Lederhosen. Ohne dich wäre das nie passiert.

An die Leser, danke für die Unterstützung, den Familiensinn und die Liebe. Ich bin der glücklichste Mensch, den ich kenne, weil ich euch habe.

Kapitel 1

Es war ein kalter, grauer, windiger Tag in New York City. Die Art von Tag, an dem man den bevorstehenden Schnee riechen kann und sich auf den ersten Kaffee, der einen bis auf die Knochen aufwärmt, freut. Julian Cornell stieg ohne einen Blick zurück aus dem schwarzen Auto und eilte die Stufen zum Restaurant hinauf. Obwohl es erst acht Uhr morgens war, war er bereits seit Stunden mit seinem Designerteam damit beschäftigt gewesen, die letzten Handgriffe an seiner Modenschau vorzunehmen, die die Sommerkollektion seiner Prêt-à-porter-Modelinie präsentieren sollte. Seiner Meinung nach, und das war die einzige, die zählte, war das seine bisher beste Kollektion.

Julian und seine zwei besten Freunde hatten sich als Ziel gesetzt, sich mindestens einmal im Monat zum Frühstück zu treffen, entweder in der Stadt, wo er und Marcus lebten, oder in Brooklyn bei Zach. Heute war es Brooklyn; zum Glück war das Restaurant gleich über der Brooklyn Bridge in Brooklyn Heights, somit war der Rückweg in die City kein Problem.

Als er die Tür öffnete, entdeckte er seine Freunde sofort auf ihrem Stammplatz und ein Lächeln huschte über seine Lippen. Für mindestens eine Stunde konnte er den Ärger und die Hinterlistigkeiten bei der Arbeit vergessen und mit den einzigen Menschen entspannen, denen er in dieser Welt wirklich vertraute.

„Hey, Leute.“ Er setzte sich neben Zach, der Julians dünnem, knapp 1,90m großen Körper Platz machte. „Danke, Zach. Wie geht’s deiner Mom?“

Zach schob seine Brille hoch. Seit Julian ihn das erste  Mal getroffen hatte, rutschte sie ihm auf die Nase herunter. Zach ließ sein übliches süßes Lächeln für Julian aufblitzen. „Es geht ihr besser. Danke der Nachfrage. Und sie bedankt sich für den Schal, den du ihr zum Geburtstag geschenkt hast. Sie zeigt jedem ihre original Julian Cornell Kreation.“ Zachs blaue Augen leuchteten. „Alle Frauen im Seniorenzentrum sind neidisch.“

Nicht zum ersten Mal fragte sich Julian, warum ein so netter Kerl wie Zach noch niemanden gefunden hatte. Dass Zach Tag und Nacht an seinen Computern saß, verbesserte seine sozialen Kontakte nicht gerade. Außerdem standen Männer mehr auf kleine Dreckskerle. Er grinste in sich hinein, während er an das schmollende Model dachte, das er früher am Morgen aus seinem Bett geworfen hatte und an den harten Sex, bei dem er den Kerl immer wieder gegen das Kopfende des Bettes gehämmert hatte.

„Ha, Juli, du hast einige große Oma-Fans“, feixte Marcus an der anderen Tischseite.

„Halt die Klappe, Marcus“, erwiderte Julian abwesend, als er dem Kellner, der ihm Kaffee einschenkte, einen Blick zuwarf. „Das Übliche, Peter.“

„Ja, Mr. Cornell.“ Der Kellner setzte die Kanne auf dem Tisch ab und verschwand.

„Halt die Klappe? Sprichst du so mit deinem ältesten Freund?“

Das war von Zeit zu Zeit die einzige Möglichkeit für Julian, mit einer Persönlichkeit wie Marcus Feldman umzugehen. Wie es sein Freund schaffte, seinen College-Abschluss zu machen und der Besitzer eines der beliebtesten Nachtclubs von New York City, dem Sparks, zu werden, überstieg Julians Vorstellung. Julian hatte gedacht, alles was Marcus interessierte, wäre Trinken, Feiern und den nächsten süßen Jungen zu ficken, der ihm über den Weg lief.

Aber Marcus hatte sie alle getäuscht und jetzt plante Julian seine Aftershowparty im Sparks und wusste – dank Marcus’ messerscharfem Geschäftssinn – es würde ein genauso großer Erfolg werden wie die Modenschau. Sein Puls beschleunigte sich, als er an all die Auszeichnungen dachte, die seine neuen, angesagten Designs erhalten würden.

Während er Marcus’ Erwiderung ignorierte, ging Julian eine Liste mit Fragen durch. „Alles ist für heute Abend vorbereitet, richtig? Du hast die VIP-Liste und extra Kellner für ihre Tische?“ Er hielt Marcus’ Blick. „Nichts darf schiefgehen. Ich verlass mich auf dich.“

„Beruhig dich! Wenn ich mir keine Sorgen mache, dann musst du dir auch keine machen.“

Marcus nippte an seinem Kaffee. „Ernsthaft, Juli, du weißt, ich würde dich nie hängen lassen. Ich habe das Servicepersonal persönlich ausgesucht.“ Er nahm erneut einen Schluck von seinem Kaffee und grinste über den Rand seiner Tasse hinweg.

„Oh, Gott“, stöhnte Julian. „Sag mir bitte, dass das nicht heißt, dass du jeden Einzelnen gevögelt hast! Gott, Marc. Wie wäre es mit wenigstens mit ein bisschen Selbstbeherrschung?“

Der Kellner näherte sich mit ihrem Frühstück. Julian wartete, bis der Mann ihre Teller abgestellt hatte und sie wieder verließ, bevor er weitersprach. „Ich will keine Horde unzufriedener, hübscher Jungs, die sich darüber streiten, wer dem Boss am Ende des Abends einen bläst, obwohl sie sich auf meine Gäste konzentrieren sollen.“

Zach saß zwischen den beiden, sodass sein Blick zwischen Julian und Marcus hin- und herflog wie bei einem Tennismatch. Nur selten sah Julian den normalerweise gelassenen, coolen Marcus die Beherrschung verlieren, doch das Funkeln in seinen samtgrauen Augen ließ Julian ahnen, dass einer dieser Momente gekommen war. Zach schreckte zusammen und lehnte sich in der Nische zurück, als erwarte er, dass die beiden Männer jeden Moment handgreiflich werden würden.

„Mit welchem Recht glaubst du, mir vorschreiben zu dürfen, wie ich mein Geschäft zu führen habe oder wen ich ficke?“ Marcus schlug mit der Hand auf den Tisch, so dass die Kaffeetassen klapperten und die Gäste der umliegenden Tische ihnen unbehagliche Blicke zu warfen.

„Weil ich dich dafür bezahle.“ Julian starrte seinen Freund zornig an. „Diese Nacht ist sehr wichtig für mich. Sie muss perfekt werden.“

„Und das wird sie“, sagte Marcus. „Ich verschwinde ein bisschen eher von deiner Show, um sicherzugehen, dass alles an seinem Platz und das Personal bereit ist für den Andrang deiner dich verehrenden Fans und die Scharen von Reportern, die meine Tür einrennen werden, um dich zu sehen. Ich werde dich nicht im Stich lassen.“

„Sorry, ich war noch nie so gestresst“, sagte Julian und wandte sich an Zach. „Und dir danke ich auch, dass du alles zusammengestellt hast, was ich brauche, angefangen beim Licht über die Musik bis hin zur Diashow.“

„Kein Problem, ich helfe gern.“ Zach nickte ihm zu und nahm einen Bissen von seinen Eiern.

„Bist du sicher, dass du nicht zur Show und der Party danach kommen willst?“, fragte Julian in einem freundlicheren Tonfall. Seit sie sich kennengelernt hatten, war er immer Zachs Beschützer gewesen. Damals hatte er extra Stunden in Wirtschaft und Marketing an der CUNY genommen und sie wohnten zusammen, bis er nach Europa zog. Seltsamerweise fühlte sich Julian immer noch verantwortlich für seinen Freund, der, wie er wusste, schüchtern und unbeholfen war, was soziale Kontakte anging, und der lieber zu Hause blieb, als eine ihrer vielen Einladungen zu Eröffnungen, Shows und Partys anzunehmen. „Ich habe den Platz gleich neben mir für dich reserviert.“

„Ist in Ordnung, Julian. I-Ich habe noch einiges zu tun. Vielleicht das nächste Mal, okay?“ Zach hielt seinem Blick stand und Julian lächelte dünn.

„Na klar, Zach. Das nächste Mal.“

Aber Julian wusste, dass es das nächste Mal genauso laufen würde. Er lud Zach zu jeder seiner Shows und Partys ein und es gab immer eine Ausrede oder einen Grund für ihn nicht zu kommen, oder sich hinter dem Mischpult für Beleuchtung und Musik zu verstecken.

Sein Telefon brummte, als er eine SMS von Melanie, seiner Assistentin, erhielt. Sie enthielt eine Liste mit tausend Kleinigkeiten, die bis heute Abend noch erledigt werden mussten. So sehr es Julian hasste, das Frühstück mit seinen Freunden frühzeitig zu beenden, wusste er doch, dass er sicherstellen musste, dass alles so erledigt wurde, wie er es geplant hatte. Ein Teil seines Erfolgs war sein Blick für jedes kleinste Detail. Er war kein Kontrollfreak, aber er mochte es, wenn alles so getan wurde, wie er es sich vorstellte.

Er schaufelte den Rest seiner Eier in sich hinein, leerte seine zweite Tasse Kaffee und sah sehnsüchtig die Thermoskanne auf dem Tisch an.

„Tut mir leid, Jungs.“ Er tupfte sich seine Lippen mit der Serviette ab. „Ich muss gehen und checken, ob alle Sachen am richtigen Platz und richtig geordnet sind und dann muss ich die Model-Umkleide ordentlich aufstellen.“ Er stand auf, nahm einen 20-Dollarschein aus seinem Geldbeutel und schob ihn über den Tisch. „Marcus, ich seh dich heute Abend. Zach, ich halte dir deinen Platz frei, falls du deine Meinung änderst.“

Er verließ das Diner, seine Gedanken kreisten um all die Kleinigkeiten, die seiner Aufmerksamkeit bedurften, während er sich an der Court Street ein Taxi rief, um zurück in die Stadt in seinen Showroom auf der Seventh Avenue zu fahren. Dann ging es zurück nach Downtown zum prächtigen Tribeca-Loft, das er für seine Show heute Nachmittag gemietet hatte. Dort sollte mittlerweile alles fertig sein.

Julian überließ nie etwas dem Zufall. Er ging davon aus, dass jeden Moment etwas passieren könnte, sodass alles schiefging. Deswegen bestand er auf Ablaufbesprechungen mit seinen Make-up-Artists, Models und Garderobieren. Sie beschwerten sich zwar darüber, aber es sorgte immer für eine makellose, einwandfreie Modenschau.

Das Taxi bog auf den West Side Highway ab und der Fluss rauschte zu seiner Linken vorbei, was Julian kaum wahrnahm. Er war zu sehr damit beschäftigt Anweisungen an Melanie zu tippen und den aktuellen Stand anderer Shows, die bereits liefen, nachzuvollziehen.

Einige seiner Konkurrenten, Designer, die ihn nur zu gern versagen sehen würden, hatten ihre Shows bereits hinter sich. Julian war das egal; er wusste, dass es Spione gab, die im Ankleideraum herumschnüffelten oder im Publikum saßen, die Zweifel über die Kollektion bei den Käufern und Modebloggern säten. So etwas konnte eine ganze Saisonkollektion für einen Designer, der kurz vor seinem Durchbruch stand, ruinieren. So wie er einer war.

Julian wusste, dass es diese Show war: der Höhepunkt all seiner Bemühungen, all der langen Tage und noch längeren Nächte voller Blut, seelischer Qualen, und sogar gelegentlicher Tränen. Die Entwürfe, die er verwirklichte, waren anders als alles, was er zuvor versucht hatte. Als er sie den Models angezogen hatte, sahen sie einfach umwerfend aus. Jetzt war alles, was er tun konnte, darauf zu warten, dass sie über den Laufsteg gingen, dass all die Pessimisten und Zweifler, die dachten, dass er es nie zu etwas bringen würde, an ihren Zweifeln ersticken würden.

Er wusste, dass er einige Risiken eingegangen war, aber was war das Leben ohne Risiko? Immerhin beschränkten sich die Risiken momentan auf das Geschäftliche. Er orientierte sein Privatleben an seinem Geschäft, erlaubte sich selbst niemals, etwas zu nah an sich heran zu lassen. Julian hatte auf die harte Weise gelernt, welchen Schaden es verursachen konnte, sich zu verlieben.

Ohne dass er es wollte, flogen seine Gedanken in die Vergangenheit, zurück zu den liebevollen Jahren, als alles, was zählte, ein Blick in Nicks Augen war, wenn sie einander dort berührten, wo sie niemand zuvor berührt hatte. Wunder und Unschuld brannten zwischen ihnen wie Feuer, als sie dachten, dass ihre Liebe für immer bestehen würde.

Zwangsläufig mussten sie abstürzen, verbrennen, als sie auf dem Boden der Realität landeten, die Wahrheit ihnen ins Gesicht schlug: Das Leben ging jenseits der Sommernächte und dem Geflüster in der Dunkelheit weiter. Angst und Selbsthass, Vorurteile und kleinbürgerliche Werte verhinderten, dass er und Nick gemeinsam im Sonnenlicht spazieren gingen, stolz und verliebt.

Seither waren mehr als achtzehn Jahre vergangen, aber Julian würde niemals die Schönheit Nicks dunkelblauer Augen vergessen. Es war immer Nick –  wunderschöner, gequälter, nicht geouteter Nick – nach dessen zaghaften Küssen sich Julians Körper so fieberhaft sehnte. Mit 16 Jahren, als sie nackt auf der Couch im Keller von Julians Haus lagen, sie einander linkisch berührten und sich gegenseitig zum Höhepunkt ihrer wunderbaren, verschwitzten Schweinerei trieben, dachte Julian, dass sie einander für immer lieben würden.

Er, der noch nie daran gezweifelt hatte, wer er war und wen er liebte, konnte die Scham mit der Nick neben seiner Angst und Unsicherheit kämpfte, nicht verstehen. Julian hätte sich nie träumen lassen, dass Nick ihn verlassen würde, sich weigerte zuzugeben, dass das, was er und Julian gemeinsam hatten, echt und wundervoll war.

„Ich kann nicht“,flüsterte Nick gequält mit zitternder Stimme, als sie nackt auf der kratzigen Couch lagen. Julian hatte Nick einen geblasen; sein erster Blowjob und es war die aufregendste und intensivste Erfahrung aller Zeiten gewesen. Ihre Körper bebten immer noch von den Nachwirkungen ihres gemeinsamen Orgasmus.

„Du kannst was nicht?“ Julian leckte an Nicks Nippel, er liebte es, wie sie in seinem Mund hart wurden. „Du musst das nicht bei mir machen.“ Er grinste. „Jedenfalls jetzt nicht.“

„Ich kann das nicht. Meine Familie …“ Nick schluckte mühsam und drückte sich auf seine Ellbogen hoch. Weg von Julian. „Sie würden das nicht verstehen.“ Er deutete auf Julian und sich selbst. „Uns. Ich will eine Familie. Kinder.“ Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Ich kann dich nicht mehr treffen, Julian. Ich will normal sein.“

Julian rappelte sich hoch und kam auf die Füße, der beklemmende Schmerz in seiner Brust war so stark, dass er kaum atmen konnte. „Ich dachte, wir lieben uns. Ich liebe dich, Nick.“

Nick sah ihm nicht in die Augen, sagte nichts. Er sagte auch nichts, als er seine auf dem Boden verstreute Kleidung aufsammelte und sich anzog. Er sagte auch nichts, bevor er ging und die Tür hinter sich schloss.

Nach diesem Ereignis schwor sich Julian, dass er sein Leben selbst bestimmen und es in vollen Zügen auskosten würde und dass alle anderen zur Hölle fahren sollten. Er ging zur Modeschule und lernte Marcus und Zach kennen. Nach seinem Abschluss zog er nach Europa und fiel Lorenzo ins Auge, einem älteren Designer, bei dem er in die Lehre ging und den er regelmäßig durch die Matratze vögelte, bis er New York und seine Freunde vermisste und beschloss, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Er würde es sich selbst und allen, die über ihn gelacht und ihn Schwuchtel und Tunte genannt hatten, beweisen.

Und wenn ihn spät nachts die Erinnerung an Nicks traurige blaue Augen verfolgte, ihn wach hielt, und er stundenlang den endlosen dunklen Nachthimmel anstarrte, gab Julian diesen Gefühlen nicht mehr nach. Er würde nie der heimliche Liebhaber von jemandem sein, würde nie verstecken, wer er war.

Nur einmal, an diesem schrecklichen 11. September, nahm er noch mal sein Telefon zur Hand, nachdem er in seiner alten Wohnung angerufen hatte, um sich zu erkundigen, ob es Zach und Marcus gut ging. Er wählte die einzige Nummer, die er von Nick hatte: die seiner Eltern. Er versuchte es vier Tage lang, ohne jemanden zu erreichen. Julian vermutete, dass sie wahrscheinlich umgezogen waren.

Danach verdrängte er die Gedanken an Nick und verschloss sein Herz, und nach einem weiteren Jahr im Ausland entschied Julian, dass er nach Hause kommen wollte, zurück nach New York und in die Seventh Avenue. Es war an der Zeit allen zu zeigen, was er erreicht hatte; seine eigene Firma zu gründen und für sich selbst und seine Vision zu designen. Er war bereit seinen Traum zu verwirklichen.

Sein Liebesleben hingegen war im besten Fall als willkürlich zu bezeichnen. Er war glücklich damit die Models, die ihm zwischen die Finger kamen, zu vernaschen, mit ihrem zerzausten Haar, ihren aufgeworfenen Lippen und ihren ach-so-willigen feuchten Mündern, aber sein Herz verlor er nicht. Liebe war letztendlich nur schöner Schein, wie die Entwürfe, die er kreierte. Ein simples Bild ohne Inhalt.

Aber er nahm sich zu Herzen, was er über das Geschäft und in der Liebe gelernt hatte und lebte nach diesem Credo: Die Welt war ein Ozean voller Haie. Es lag bei jedem selbst zu lernen, welche Menschenfresser und welche harmlos waren.  Er war in Stücke gerissen worden und hatte es geschafft, sich wieder aufzurappeln, doch Julian vergaß nie seine Narben und was sie verursacht hatte. Von dem naiven unschuldigen Jungen, der er einst gewesen war, war nichts mehr übrig.

Das Taxi hielt vor dem Haus, das seinen Arbeitsplatz und den Showroom, zehn Stockwerke über der Fashion Avenue, beherbergte. Menschen, die keine Ahnung hatten, dachten oft, der Arbeitsplatz eines Modedesigners wäre eine stille und glamouröse Welt. Julian lachte in sich hinein, als er seine Quittung über die Taxifahrt einsteckte. In Wahrheit war es ein verrückter Ort mit herumstehenden Kleiderpuppen und Tischen, die überfüllt waren mit Mustern, Zeichnungen und Computern.

Mit wehendem Trenchcoat und hocherhobenem Kopf schritt Julian in das Gebäude, grüßte den Security-Mitarbeiter, als er an dessen Tisch vorüberging. Er schob sich die Haare aus den Augen, dachte darüber nach, ob er sie sich vor der heutigen Party noch schneiden lassen sollte und entschied sich fast im selben Moment dagegen. Er trug sein Haar gern etwas länger, sodass es sich im Nacken leicht kräuselte. Das Model von letzter Nacht, Lucien oder Louis oder wie auch immer sein Name war, mochte es ebenfalls; er hatte es genossen, daran zu ziehen und zu zerren, während sie fickten.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Hoffentlich dachte der arme Junge nicht, dass er in einer großen Show laufen durfte, nur weil er den Designer gefickt hatte. Julian hielt Arbeit und Vergnügen streng getrennt; er fickte sprichwörtlich nicht, wo er aß. Und obwohl er sich darüber geärgert hatte, dass Marcus die hübschen Kellner, die für die VIP-Tische zuständig sein würden, gefickt hatte, hatte er sich bei Gelegenheit auch schon mit einem der Angestellten im Sparks eingelassen.  Er wusste, dass er heute Abend im siebten Himmel schweben würde und er würde Dampf ablassen müssen und was wäre da besser als ein oder zwei süße Jungs.

Je mehr, desto besser.

Der Rest des Tages verging wie im Flug mit Kleiderproben, Make-up-Artists und Interviews. Seine Aufregung stieg exponentiell mit jeder verstreichenden Stunde. Als er hinter der Bühne beobachtete, wie die Models den Catwalk hinunterliefen, vibrierte er vor beinahe orgastischem Entzücken.

Am Ende der Show ging er selbst den Laufsteg hinunter, den Widerhall des Applauses in seinen Ohren. Julian befand sich auf dem Höhepunkt seines Lebens – ein überglücklicher Mann. Er erspähte Marcus in der ersten Reihe, der ihm applaudierte. Sein Freund hob mit einem breiten Grinsen beide Daumen, und verließ wie versprochen die Show, um in den Club zu fahren.

Sechs Stunden später saß Julian bei aus Lautsprechern dröhnender Musik und flackernden Lichtern zusammengesunken in seinem Stuhl im Sparks, und starrte wie benebelt auf die Berichte in den verschiedenen Modekolumnen.

„Styling Trittbrettfahrer.“

„Frisch von der Stange? Wohl eher veraltet.“

„Unbedeutend, mittelmäßig.“

Und die vielleicht gemeinste Rezension kam von einem Blogger, dessen Namen Julian als einen erkannte, dem er kein Interview gewährt hatte.

„Julian Cornells Show ähnelte einem unbeholfenen Jungen, der niemals ein Date für den Abschlussball bekam. Er versucht zu sehr die coolen Kids zu kopieren und denkt, dass er es dieses Mal geschafft hätte, nur um wie immer zu stolpern und zu versagen.“

Die Stimmung am Tisch war düster, nicht die erwartete Ausgelassenheit einer erfolgreichen Kollektion. Eigentlich sollte er in diesem Moment erste Bestellungen von Käufern erhalten. Aber beide Telefone, seines und das von Melanie, blieben unheilverheißend still.

„Ich versteh das nicht. Die goldenen Pullover sahen an den Jungs fantastisch aus.“ Melanie wedelte mit ihrem Handy herum, auf dem Bilder der Models waren, wie sie auf dem Laufsteg liefen. „Wie können die behaupten, dass sie zu mädchenhaft aussehen? Und was soll das überhaupt bedeuten?“

Falls sie eine Antwort von ihm erwartete, Julian hatte keine. Er dachte, diese Pullover seien fabelhaft und kombiniert mit den Hosen mit den seidenen Knöpfen am Hosenschlitz und dem passenden kurzen Trenchcoat – Julian hatte erwartet, dass allein diese Teile den Abend retten würden.

Stattdessen wurde er in einem Artikel verhöhnt, in dem behauptet wurde, er wäre nicht mehr als ein One-Hit-Wonder des mittelmäßigen Durchschnitts des Vorjahres und seine diesjährigen Entwürfe seien nur eine blasse Nachahmung eines anderen jungen Designers – Devon Chambers.

Fast zehn Jahre. So lange hatte es gedauert, bis er an diesem Punkt war, an dem er dachte, er wäre endlich dazu bereit es zu tun: den Durchbruch zu schaffen und seinen Platz unter den Stars der Mode-Industrie einzunehmen. Nicht in der ersten Reihe, aber beinahe auf der gleichen Höhe. Momentan war er sich nicht mal sicher, ob er die Erlaubnis hätte ein Ticket für die Show zu kaufen.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Scheiß auf die, Juli. Alles wird gut. Das wird alles vorübergehen und morgen wirst du von Aufträgen überschwemmt. Die Klamotten waren großartig. Verdammt“ – Marcus strich sich eine Strähne seiner glatten schwarzen Haare hinter die Ohren – „Ich bestelle die ganze verdammte Kollektion.“ Marcus sank auf seinen Platz neben Julian und stellte sein Champagnerglas vor sich auf den Tisch.

Und während Julian wusste, was Marcus tat – und es zu schätzen wusste – konnte er nicht weiter hier herumsitzen und das Opfer mitleidiger Blicke und falscher, beruhigender Lächeln sein. Es nagte an seinem Inneren und erinnerte ihn an jedes Versagen und wie er am Ende wieder allein zurückblieb. Er liebte seinen Freund, aber niemand wusste, wie fertig Julian wirklich war. Er lieferte der Welt eine Show, ließ sie alle nur die Oberfläche sehen und nie jemanden tief in sein Inneres blicken; es war ein hässlicher Platz, voller Schmerz, Betrug und Verlust. Er war ein Meister darin, sein wahres Ich zu verbergen. Eine weitere Lehre aus seinem vergangenen Leben.

„Ich muss gehen.“ Er stellte das Champagnerglas ab und stand plötzlich auf. „Bleibt bitte alle hier und seid heute meine Gäste.“ Mit diesen Worten schritt er davon, bahnte sich seinen Weg durch die Absperrung, die den hinteren Bereich als VIP-Zone abgrenzte. Was für eine verdammte Farce, dachte er, während er sich in Gedanken selbst brutal heruntermachte. Unbedeutendes Arschloch. Das war es, was er war.

Die Garderobiere lächelte mitfühlend, als er ihr seine Marke gab. Verdammt, sogar sie hatte gehört, wie schlimm es gelaufen war. Das ergab Sinn: Die Hälfte der Leute, die in solchen Clubs arbeiteten, waren angehende Models oder Schauspielerinnen. Sie wussten Bescheid.

„Juli, warte bitte.“ Marcus hielt ihn am Arm zurück.

Julian schüttelte seine Hand ab. Das Letzte, was er brauchte, war Mitleid, wie gut es auch immer gemeint war.

„Bleib doch noch“, beharrte Marcus. „Wir sindʼs. Wir sind für dich da.“

Er drehte sich, um Marcus ins Gesicht zu sehen. „Ich kann nicht. Ich kann nicht hier rumsitzen und so tun, als ob alles gut wäre. Ich habe alles in diese Kollektion gesteckt. ALLES. Ich habe Kredite aufgenommen, weil ich dachte, ich könnte sie mit den Bestellungen zurückzahlen. Es wäre kein Problem. Und jetzt?“ Er stieß wütend ein bitteres Lachen aus.

„Vielleicht sollte ich mir einen Job bei Wal-Mart suchen, um meine Schulden bei der Bank bezahlen zu können. Denn eines ist klar, mit der Kollektion verdiene ich dieses Geld nicht. Nicht nach diesen Kritiken.“

Er nahm seinen Mantel von dem Mädchen entgegen und drängelte sich ohne ein weiteres Wort an den Türstehern und den wartenden Menschen vor den samtenen Kordeln vorbei.

Feiner Regen fiel mittlerweile vom Himmel, die Kälte des Abends passte zu Julians Laune. Mit eingezogenem Kopf ging er den Block hinunter und überquerte die Straße, ignorierte die hupenden Taxis und den auf seine 500-Dollar-Schuhe spritzenden Regen. Alles – einfach alles – war eine Farce.

Fröstelnd und klitschnass, weil es seit ein paar Blocks immer stärker regnete, entdeckte Julian einen kleinen Pub gegenüber einer Feuerwache, eingezwängt zwischen einer Sushibar und einer Reinigung. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand an einem Ort wie diesem wüsste, wer er war. Er öffnete die Tür. Wohltuende Wärme schlug ihm entgegen, als er direkt im Eingang stand und den Raum überblickte. Eine lange, für Pubs typische, auf Hochglanz polierte Bar verlief entlang der Wand. An dieser Bar stand ein Mann in der Nähe des Barkeepers und wartete auf sein Bier. Für einen Moment war sich Julian unsicher, ob er bleiben oder gehen sollte.

„Komm nur rein, Kollege, und trink was. Du siehst aus, als könntest du einen Drink vertragen.“ Der Barkeeper schenkte das Bier fertig ein und der Mann nahm dieses und ein weiteres mit zu einem Ecktisch, an dem seine Freunde saßen und sich eine große Platte Chickenwings und andere Vorspeisen teilten.

Julian hängte seine Jacke auf, setzte sich und bestellte sich einen Grey Goose on the Rocks. Er leerte sein Glas bis zur Hälfte in einem Schluck und wischte sich den Mund ab. Der Barkeeper hob eine Augenbraue.

„Harte Nacht?“

Julian grinste leicht. „Das kannst du laut sagen.“ Er trank nun ein wenig langsamer und sah sich in der Bar um. Die Männer am Ecktisch trugen alle Uniform; Feuerwehr, erkannte er an ihren schweren FDNY-Jacken, die über den Stuhllehnen hingen. Fünf von ihnen saßen an dem Tisch und während er an seinem Drink nippte, beobachtete er sie beiläufig.

Einer hatte ihm den Rücken zugewandt, aber seine breiten Schultern und sein  kräftiger Nacken gefielen Julian. Er hatte kurzes, gewelltes braunes Haar, das in alle Richtungen abstand, als wäre er mit den Händen hindurchgefahren. Julian streckte seinen Hals und erhaschte einen flüchtigen Blick auf kräftige Oberschenkel.

Die Models, die Julian für gewöhnlich vernaschte, waren dünn und schmalhüftig, doch obwohl sie definierte Muskeln hatten, waren sie keine so überwältigend männliche Erscheinungen wie dieser Kerl. Julian spürte, dass der Feuerwehrmann nicht um das bitten musste, was er wollte – er befahl.

Ein beinahe elektrisches Kribbeln lief über seine Wirbelsäule. Sein Geschäft war vielleicht am Ende, aber Julians Libido war lebendiger denn je und sein Schwanz versteifte sich. Der Fremde hatte die Ausstrahlung eines Machos und Julian konnte nicht aufhören, an Sex zu denken. Daran, wie es sich wohl anfühlte diesen nackten Körper zwischen seinen Beinen zu spüren. Er sollte diese Schwärmerei besser lassen; hier war nicht der richtige Ort, um beim Anstarren eines anderen Kerls erwischt zu werden.

Er leerte seinen Drink und bestellte beim Barkeeper einen weiteren. Am Ende würde er betrunken nach Hause gehen mit einer Fantasie, die ihm helfen würde, einzuschlafen. Morgen konnte er immer noch darüber nachdenken, was er mit den Trümmern seines Unternehmens anfangen sollte.

„Was machst du?“ Der Barkeeper nahm das leere Glas weg und ersetzte es durch ein neues.

„Ich bin Modedesigner, ich entwerfe Kleidung für Männer.“ Hoffentlich stimmte das auch noch.

Der Mann hob beide Augenbrauen. „Kein Scheiß?“ Als Julian nickte, fügte er hinzu: „Ich hätte es erraten sollen, so wie du aussiehst. Du hast definitiv mehr Stil als alle anderen hier.“

„Jo, Jimmy“, rief einer der Männer vom Ecktisch herüber. „Bring uns mal noch ʼne Runde und sag in der Küche, dass wir mehr Wings wollen, ja?“

„Halt die Klappe, Carlos. Ich unterhalte mich gerade. Ich habe dem Mann hier eben erzählt“ – er zeigte auf Julian – „Wie sagtest du, ist dein Name?“

„Ich habe nichts gesagt“, sagte Julian mit einem leichten Grinsen, „aber ich heiße Julian.“ Er war selbst überrascht, dass er das Gespräch und die Bar im Allgemeinen genoss. Es war so anders als Marcusʼ schicker Club, komischerweise intimer und echter.

Jimmy, der Barkeeper, fuhr fort: „Ich habe Julian hier gerade erzählt, dass er der bestangezogenste Kerl ist, der hier je reinkam. Neben ihm seht ihr alle aus wie Penner.“

Julian zuckte zusammen, wohl wissend, dass diesen Kerlen die Bemerkung nicht gefallen würde.

„Wir brauchen uns eben nicht so anzuziehen, wenn wir im Dienst sind.“ Der Mann namens Carlos ließ seinen Blick über Julian wandern, ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. „Wir sind damit beschäftigt Leben zu retten. Wir dinieren nicht mit der Queen, weißt du.“ Alle am Tisch lachten, obwohl Julian bemerkte, wie steif der Mann, auf den er ein Auge geworfen hatte, geworden war; er zog sich in sich selbst zurück, über seinen Drink gebeugt.

Der abwertende Ton in Carlosʼ Stimme ging Julian durch Mark und Bein. Und die Queen-Bemerkung – war das ein subtiler Seitenhieb darauf, dass Julian schwul war? Nach der schlimmsten Nacht seines Lebens war das Letzte, was er brauchte, von jemandem angepöbelt zu werden, der aussah, als kaufe er seine Kleidung bei Home Depot und der mit Sicherheit den Unterschied zwischen einer Heimwerker-Zeitschrift und GQ nicht kannte.

„Entschuldige bitte, dass mein Job nicht in dein Weltbild von richtiger Arbeit passt.“ Er strich seinen Kaschmirpullover glatt und warf sein Haar zurück.

„Du musst verstehen, Freundchen, wir haben keine Zeit uns Sorgen zu machen, ob unsere Socken zu unserer Unterwäsche passen, wenn wir ein Feuer löschen.“ Ein großer, grauhaariger Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wandte sich an den Mann, der Julian seinen Rücken zugedreht hatte. „Sag, hab ich recht?“

Julian beobachtete, wie der Mann mit den Achseln zuckte, konnte seine Antwort aber nicht hören.

In ihm sträubte sich alles, sein Blut begann zu kochen. „Nicht jeder kann ein Lebensretter sein. Und du hast recht: Ich rette keine Menschen. Aber ich helfe ihnen auf andere Art und Weise. Manchmal lässt gutes Aussehen einen Menschen sich besser fühlen, auch wenn alles andere in seinem Leben scheiße ist.“ Julian griff in seine Hose und zog seine Brieftasche hervor. „Danke für deine Gastfreundschaft, Jimmy.“ Er reichte ihm zwei Zwanzig-Dollar-Scheine. „Behalt den Rest.“

Er stand auf, nahm ohne einen Blick zurück seinen Mantel vom Haken an der Tür und verließ den Pub. Diese verfluchten Arschlöcher besaßen wahrscheinlich nicht mal einen Anzug. Julian knöpfte seinen Mantel zu und zog wieder seine Schultern gegen die Kälte hoch, als er Richtung U-Bahn ging. Heute gab es keine Limo für ihn. Sein Telefon vibrierte, als eine SMS eintraf. Er schaute nach und sah, dass sie von Zach war.

Herzlichen Glückwunsch zur Show! Ich weiß, dass du sie gerockt hast.

Julian lachte so heftig, dass ihm Tränen in die Augen stiegen.

Kapitel 2

Die besten Tage seiner Woche verbrachte Nick Fletcher nicht bei der Arbeit. Er mochte es, taktischer Trainer des FDNY zu sein; wenn auch nicht so sehr, wie er den aktiven Dienst als Feuerwehrmann gemocht hatte, aber gerade jetzt war Nick dankbar, dass er morgens aufstehen konnte und einen Platz hatte, an dem er gebraucht wurde. Das war mehr als einige seiner Kumpels leisten konnten. Dennoch waren die Kinder auf der Intensivstation für Verbrennungen die wahren Helden waren, dachte Nick, als er sich einen Kaffee eingoss.

Sein Telefon klingelte und er sah, dass seine Mutter anrief. Er drückte den Lautsprecher, damit er nebenbei die Küche aufräumen und seinen Kaffee trinken konnte, während er mit ihr sprach.

„Hi, Mom.“

„Kommst du zum Frühstück hoch?“ Ihre laute Stimme erfüllte den ganzen Raum und er konnte im Hintergrund den Geschirrspüler arbeiten hören. „Es gibt Waffeln und Bacon und Katie ist hier. Sie will dich sehen.“

„Klar, ich bin gleich da.“ Er lächelte, da er seine Schwester eine Weile nicht gesehen hatte und sie vermisste.

„Gut.“

Nick trank seinen Kaffee aus und ging nach oben. Er lebte in der Erdgeschosswohnung seiner Familie, in einem Zwei-Familien-Haus in Brooklyn. Die Einteilung funktionierte für Nick perfekt; er war nahe bei ihnen, aber seine Eltern respektierten, dass er Privatsphäre brauchte.

Als er das Obergeschoss seines Elternhauses betrat, wurde er vom Aroma des besagten Bacon und dem Gelächter seiner Schwester empfangen. Nick fühlte sich unmittelbar in seine Jugend zurückversetzt, als er und Katie am Fenster gesessen hatten und hinausschauten, während sie auf ihren Vater warteten, der von seinem Dienst als Feuerwehrmann nach Hause kam und sie darüber stritten, wer seine Ausrüstung anziehen durfte.

Das Sofa mit den gobelinbestickten Kissen war immer noch dasselbe, obwohl es mittlerweile durch die Sonne und das Alter ausgeblichen war. Die Fotos an der Wand waren anders platziert worden, um den Bildern von seinem Abschluss an der Akademie, seiner Vereidigung als Feuerwehrmann und dem Tag, als er als Frischling die Stelle auf seiner Feuerwache antrat, Platz zu machen. Das waren die letzten Bilder.

Nick fuhr mit den Fingern über das Foto von sich selbst, zusammen mit seinen Eltern am Tag seiner Vereidigung. Sein Vater konnte nicht aufhören zu lächeln – er war so stolz darauf, dass Nick in seine Fußstapfen trat. Nicks Hals schnürte sich zu und Tränen traten in seine Augen.

„Nicky? Bist du das?“

Es hatte keinen Sinn in der Vergangenheit zu verweilen. Es war absolut nichts mehr übrig von dem jungen, sorgenfreien Mann. Letzte Nacht hatte er kaum Schlaf gefunden, weil er sich die ganze Zeit gefragt hatte, ob der Mann in der Bar Julian gewesen war, sein Julian.

Heftig blinzelnd, um alle verräterischen Anzeichen von Gefühlen zu verbergen, antwortete er seiner Mutter: „Ja, ich komme.“

Der Anblick, der ihn erwartete, zauberte ihm ein Lächeln auf das Gesicht. Seine Mutter stand am Ofen und sein Vater saß an dem runden Holztisch und las die Zeitung. Das Bild der beiden war beruhigend und erinnerte ihn ebenfalls an bessere Zeiten. Aber es war seine Schwester Katie, die sein Herz zum Strahlen brachte. Obwohl sie fünf Jahre jünger war als er, hatte sie sich in ihrer Kindheit nahtlos in seinen Freundeskreis eingefügt und sie standen sich noch immer sehr nahe. Sie war seine Stütze, sein bester Freund und die Einzige, mit der er reden konnte.

Katie blickte von ihrem Teller auf und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht.

„Nicky!“ Ihre Umarmung war herzlich und wie immer spürte er ihre Liebe darin. „Du Riesenidiot! Warum hast du mich nicht angerufen?“

Er schob die dunklen Locken aus ihrem Gesicht. „Es tut mir leid. Ich hatte viel zu tun mit meinen Extraschichten und der Verbrennungsstation.“

Sein Vater legte die Zeitung beiseite. Die Sonne schien durch das große Küchenfenster herein und ließ die silbernen Strähnen in seinem schwarzen Haar glänzen. Sie hatten alle sein irisch-dunkles Aussehen geerbt, mit ihren tiefschwarzen Haaren und den erstaunlich blauen Augen.

„Wie geht es dir damit? Ist es schwer für dich, bei all den Kindern zu sein?“

Nick setzte sich neben Katie und spielte mit einer gefalteten Serviette. Seine Mutter schob ihm wortlos einen Teller mit Waffeln und Bacon hin, ließ sich neben seinem Vater nieder und sah ihn erwartungsvoll an.

Nick zögerte, überlegte, wie er die Emotionen ausdrücken sollte, die ihn jedes Mal überkamen, wenn er ein leidendes Kind in den Armen hielt. Das Einzige, was es erleichterte, war sein Wissen, dass es ihnen half, und in gewissem Maße auch seinen eigenen Heilungsprozess unterstützte. Er wusste, dass seine Kollegen, die es nicht geschafft hatten, gewollt hätten, dass er das tat. Er drehte den Ring, den ihm Maryann OʼReilly gegeben hatte, an seinem Finger. Sie war die Ehefrau von Brian, einer seiner Kumpels, der es nicht zurück geschafft hatte. Nick hatte ihn nicht annehmen wollen, aber sie bestand darauf, bis er schließlich nachgab. Er hatte geschworen, dass er ihn nie ablegen und immer dafür sorgen würde, dass Brian auf ihn stolz sein könnte.

„Es hilft mir manchmal mehr als ihnen, wenn das überhaupt Sinn macht.“ Den Schmerz langvergangener Qualen würde er immer spüren, ungeachtet dessen, dass es schon Jahre her war. „Es hilft ihnen zu sehen, dass es ein Leben außerhalb des Krankenhauses, der Hautlappen und der Schmerzmittel gibt.“

„Solange es nicht zu viel für dich ist. Ich will nicht, dass du denkst, ich sei unsensibel.“ Ängstliche Besorgnis grub noch mehr Falten in die helle Haut seiner Mutter. „Ich finde es toll, wie du eine Leidenschaft für etwas gefunden hast, der du dich hingibst.“

„Es ist keine Leidenschaft und ich gebe mich ihr auch nicht hin.“ Er schnitt sein Essen. „In der Lage zu sein zu arbeiten und diesen Kindern etwas zu geben, die denken, dass das Leben nichts mehr für sie bereit hält, gibt mir jeden Morgen einen Grund aufzustehen.“

Anstatt dass seine Worte die Sorgen seiner Mutter milderten, sah Nick Tränen in ihren Augen glitzern.

„Mom, mir gehtʼs gut.“

Und es ging ihm gut, aus seiner Sicht zumindest. Das Leben hatte die Beständigkeit, die er nun brauchte: aufstehen, zur Arbeit gehen, helfen. Es ergab für ihn Sinn und das war es, was er brauchte. Sinn in der Sinnlosigkeit des Lebens. Aber dann war da letzte Nacht und wenn er richtig lag, und es Julian gewesen war, dann brachte ihn das jetzt ziemlich durcheinander.

„Oh Mann, das ist schrecklich.“ Katie scrollte stirnrunzelnd durch ihre Benachrichtigungen.

„Was?“ Er verteilte mehr Sirup auf seinen Waffeln.

„Meine Freundin Melanie arbeitet für diesen Designer und letzte Nacht wurde seine Show von den Kritikern verrissen. So schlimm, dass sie sich nicht sicher ist, ob sie Ende der Woche noch einen Job haben wird.“

„Das ist übel.“ Er kaute und trank einen Schluck von seinem Kaffee. „Woher kennst du sie?“

„Sie wurde vor ein paar Jahren ausgeraubt, als ich das erste Mal auf dem Revier Nachtschicht hatte.“ Immer noch ihren Text lesend, biss sich Katie auf ihre Lippe. „Ich habe ihren Fall bearbeitet und wir wurden Freunde.“

„Ich bin so froh, dass du keine Diebstähle mehr bearbeitest, Liebling.“

Katie grinste, als sie ihr Telefon schließlich weglegte. „Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob es in dieser Hinsicht so viel besser ist, dass ich jetzt Sexualstraftäter verfolge, Mom.“

Nick wusste, dass seine Eltern außerordentlich stolz auf die Arbeit seiner Schwester als Assistentin des Bezirksstaatsanwalts waren. Sie hatte zwar Fälle, die weniger Aufsehen erregten, aber viel wichtiger war, dass sie ihren Job gern machte und darin verdammt gut war. „Ich steh drauf, die Bösen hinter Gitter zu bringen“, antwortete sie immer gutgelaunt, wenn Leute sie nach ihren Überstunden und ihrer Berufswahl fragten.

Nick dachte an den Mann, den er letzte Nacht in der Bar gesehen hatte. „Ich habe gehört, wie ein Typ gestern Abend sagte, er sei Designer für Männermode. Er erschien mir ziemlich unausstehlich. Sehr von sich selbst eingenommen.“

„Das sind die meisten von denen.“ Ein überraschter Ausdruck trat in ihr Gesicht. „Wo warst du, dass du einen Modedesigner getroffen hast?“ Sie schnappte sich ein Stück Bacon von seinem Teller und räumte ihr leeres Geschirr in die Spüle. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie du in einem trendigen Club rumhängst.“

„Er kam ins Backdrafts. Er hat sich mit Jimmy unterhalten, dann hatten er und Carlos eine Meinungsverschiedenheit darüber, was sein Beitrag für die Gesellschaft ist. Er war ziemlich abwehrend.“ Fairerweise musste er zugeben, dass sein Kumpel ein wenig schroff dem Typen gegenüber war.

„Oh, Nicky. Was hat Carlos gesagt?“

Er zuckte mit den Achseln. „Nichts, das nicht der Wahrheit entspricht. Er sagte ihm, dass man das Designen schicker Klamotten nicht damit vergleichen kann, wenn jemand Leben rettet. Das ist alles. Und wir haben alle zugestimmt.“

Katie gaffte ihn an. „Das hat er nicht!“

Gleichgültig kaute er seine Waffeln und schluckte sie hinunter. „Jap.“

„Das war nicht sehr nett, Nicholas. Menschen haben verschiedene Fähigkeiten und Talente.“ Seine Mutter warf ihm über den Rand ihrer Kaffeetasse einen missbilligenden Blick zu.

Lächerlich. Es war ja nicht so, als würde er Carlos und Jensen nicht zustimmen. Wer hatte schon die Zeit, über ihre Klamotten nachzudenken? Vielleicht waren sie ein wenig barsch gewesen, aber zur Hölle damit. Es nagte an ihm, dass er zu feige gewesen war, sich umzudrehen und zu sehen, ob es nach all den Jahren tatsächlich Julian war. Natürlich wusste er, warum er es nicht getan hatte.

Hätte er sich umgedreht und es wäre Julian gewesen, hätte er sich dann von ihm abgewendet? Nick schämte sich dafür zuzugeben, dass er das wahrscheinlich getan hätte. Er hatte den Mann flüchtig gesehen, wie er die Bar verlassen hatte. Er war groß und schlank, mit vollem, goldenem lockigen Haar. Das hieß aber immer noch nicht, dass es sein Julian war. Es gab bestimmt haufenweise Designer mit diesem Namen. Und wer konnte schon wissen, ob er seinen Traum verwirklicht hatte?

Aber Nick wusste, dass es Julian gelungen war. Er erinnerte sich, wie sie beieinander gelegen hatten, Julians Kopf auf seiner Brust. Julian hatte mit Leidenschaft in der Stimme erzählt, wie er ein berühmter Designer werden und Nick als sein Model seine Sachen präsentieren würde.

Nick hatte gelacht, dann küssten sie sich wieder und vergaßen, worüber sie gesprochen hatten.

Diese geheimen Nachmittage und Nächte am Wochenende mit Julian waren die einzigen Momente, in denen Nick er selbst sein konnte; wo er seine Angst vergessen und in einer Blase aus Hoffnung, Hormonen und Verlangen leben konnte. Bis alles einstürzte. Dieser letzte Tag, an dem er beobachtete, wie sein Penis ein ums andere Mal in Julians Mund glitt, er Julians lustvolles Stöhnen hörte, schlug ihm die Realität ins Gesicht und er erwachte aus der Traumwelt, in der er lebte. Er wusste, dass er seiner Familie niemals sagen könnte, dass er auf Männer und nicht auf Frauen stand. So war er nicht erzogen worden.

Das Schlimmste war, dass er wusste, wie sehr er Julian wehgetan hatte. Dennoch hatte er kein Wort gesagt. Nick hatte die Tränen in Julians Augen gesehen und beobachtet, wie er sich auf seine volle, zitternde Unterlippe biss. Diese Lippe, die nur Minuten zuvor seinen Schwanz berührt und dieser Mund, der Nicks Namen gestöhnt hatte.

Warum zur Hölle dachte er darüber nach, und das ausgerechnet in der Küche seiner Eltern? Es erschien ihm unanständig an Sex, egal ob schwul oder hetero, an dem Ort zu denken, an dem er und seine Schwester früher gesessen, ihre Hausaufgaben erledigt und ihre Snacks nach der Schule genascht hatten. Vielleicht lag es daran, weil es Monate her war, seit Nick Sex gehabt hatte. Manche Menschen mochten denken, heutzutage wäre es einfacher, schwul zu sein, aber nicht wenn man eine Uniform trug und schon gar nicht, wenn man es sein gesamtes Leben geheim gehalten hatte. Um fair zu sein, er hatte keine Ahnung, wie seine Eltern diese Neuigkeit auffassen würden. Aber nach allem, was sie die letzten Jahre durchmachen mussten, sah er keine Notwendigkeit darin, es ihnen zu erzählen. „Oh und ratet mal, ich bin auch noch schwul.“

Nick war so daran gewöhnt, Dinge über sich zu verschweigen, dass er sich manchmal fragte, ob er selbst noch wusste, wer er war.

„Für mich wirkt es oberflächlich. Das ist alles. Sich auf einen Knopf zu fokussieren oder ob eine Krawatte die richtige Farbe hat.“ Er krümmte sich innerlich unter der Rüge seiner Mutter.

Von der Spüle aus tat Katie ihre Meinung dazu kund: „Melanie sagt, dass ihr Boss irrsinnig viele Stunden arbeitet und kaum schläft. Er geht an seine Grenzen. Aber er ist nett zu ihr und spendet viel für wohltätige Zwecke.“

„Ja, ja“, grummelte er. „Ihr Boss ist perfekt und ich liege falsch.“ Er stand auf und brachte sein eigenes Geschirr zur Spüle wie zuvor Katie. „Der Mann, den ich gestern Abend gesehen hab, sah nicht so aus, als interessiere ihn irgendetwas anderes außer sein eigenes und das Aussehen anderer. Und das ist für mich oberflächlich.“ Nick spülte schnell seinen Teller und seine Tasse. „Ich muss mich beeilen. Ich habe versprochen gegen Mittag im Verbrennungszentrum zu sein.“

Katie stellte ihre Tasse in den Geschirrständer und trocknete ihre Hände ab. „Was machst du heute Abend?“ Ihre blauen Augen bohrten sich in seine. „Möchtest du mit mir zusammen ausgehen? Ich treff mich mit Melanie und wir gehen zu einer Party.“

Gott, nein. Als er seinen Mund öffnete, um abzulehnen, spürte Katie dies und beeilte sich ihm das Wort abzuschneiden.

„Bitte, Nicky! Das ist eine Wohltätigkeitsveranstaltung um junge schwule Ausreißer zu unterstützen.“ Sie drückte seinen Arm. „Es findet in einem Club statt, aber ich verspreche dir, dass du nicht tanzen musst oder so. Ich will wirklich gern etwas Zeit mit dir verbringen.“

Obwohl er bei dem Gedanken an all die heißen Körper, die sich in der dunklen Umgebung an seinen pressten, zusammenzuckte, schuldete er Katie mehr, als er ihr jemals zurückzahlen konnte. Deshalb war so ein Abend, an dem er in der Ecke sitzend an einem Drink nuckelte und gekünstelte Gespräche führte, ein geringes Opfer.

„Klar, was sollʼs.“ Das Vergnügen, das in ihren Augen aufflammte, war für ihn Grund genug, seine Bedenken abzulegen und mitzugehen. „Sag mir wann und wo.“

Er speicherte sich die Informationen auf seinem Telefon. „Sparks. Ist das nicht einer dieser angesagten Clubs in Tribeca?“

„Ja, aber der Besitzer ist ein großer Unterstützer der LGBT-Gemeinschaft und organisiert diese Spendenveranstaltung heute Abend. Ich habe die Eintrittskarten, also treffen wir uns vorher, sagen wir so gegen zehn?“

„Das passt mir.“ Er küsste seine Mutter zum Abschied und klopfte seinem Vater auf die Schulter. „Danke fürs Frühstück, Mom. Ich seh dich morgen, Dad. Dann können wir das Haus winterfest machen, wie wir besprochen haben.“

Zurück in seinem Apartment suchte Nick seine Schlüssel, die Brieftasche und den Parkausweis für die Garage zusammen, den er zu Beginn seines Ehrenamts von der Krankenhausverwaltung bekommen hatte. Er fuhr aus der Einfahrt hinaus in Richtung Stadt. An der Ecke grüßte ihn die Nachbarin von Gegenüber.

„Hab einen schönen Tag, Nicky. Grüß die Kinder von mir.“

„Das werde ich, Mrs. OʼKeefe.“ Dank seiner Mutter wussten alle Nachbarn über seine ehrenamtliche Arbeit im Krankenhaus Bescheid. Deshalb, und weil in diesem Arbeiterviertel im Marine Park in Brooklyn jeder Nachbar wusste, was der andere tat.

Die Fahrt dauerte fast 45 Minuten von dem Moment an, als er das Haus verließ, bis er einen freien Parkplatz im Krankenhaus gefunden und seine Parkerlaubnis in die Windschutzscheibe gelegt hatte. Er grüßte den Sicherheitsbeamten und ging zu den Aufzügen. Er weigerte sich wie ein Irrer auf die geöffneten Türen zuzuhetzen. Lieber wartete er auf den nächsten.

Die Kinder-Verbrennungsstation wäre ein noch deprimierenderer Ort gewesen, wenn die Schwestern und Ärzte, die dort arbeiteten, nicht immer sicherstellten, dass es Ballons, frische Blumen und bunte Bilder an den Wänden gab. Sie waren besondere Menschen, die die Kinder trotz langer Arbeitszeiten und unzähliger Überstunden hingebungsvoll pflegten.

„Hallo, Nick. Schön, dass du da bist.“ Hannah, die Oberschwester, kam mit ihren üblichen langen, zielgerichteten Schritten auf ihn zu. Nick hatte sie noch nie untätig gesehen. Er fragte sich, ob sie jemals eine Pause machte.

„Hi, Hannah. Ja, ich habe Jamal versprochen, dass ich heute da sein werde, wenn er seinen Kompressionsverband bekommt. Und ich will natürlich auch die anderen besuchen.“

Sie gingen zusammen den Flur hinunter zu den Zimmern und Mitgefühl erschien auf der Miene der Schwester. „Es ist so schwer für die jüngeren. Sie können sich nicht vorstellen, dass es für sie irgendwann wieder besser wird.“

Wer sagt, dass es das wird? Nick wusste, dass er hier war, um Worte der Aufmunterung zu finden und zwang sich zu einem Lächeln. „Vor ihnen liegt ein langer und steiniger Weg.“ Wie aufs Stichwort scheuerte der Stoff seines dünnen T-Shirts auf seiner Brust und es juckte ihn in den Fingern, die Hand auf die Haut zu pressen. „Nichts kann jemanden wirklich darauf vorbereiten, was vor einem liegt, wenn so etwas passiert.“

„Du weißt, dass wir dir für alles, was du tust, dankbar sind, Nick. Die Kinder brauchen jemanden wie dich.“ Seit fünf Jahren arbeitete Nick ehrenamtlich auf der Station und Hannah wusste, dass sie ihm keine persönlichen Fragen stellen brauchte.

Sie blieben vor einem Zimmer stehen. „Jamal ist hier drin.“ Das Mitgefühl in ihren Augen wurde zu Traurigkeit. „Es fällt ihm schwer, sich an die Einschränkungen durch seine schweren Verletzungen zu gewöhnen. Und die Kompressionsverbände an seinem Arm und Bein …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist einfach zu viel für einen einzelnen Menschen, besonders für ein Kind, das zu ertragen. Und er ist noch ein Kind, obwohl er schon siebzehn ist.“

Schmerz, Angst und kalte Einsamkeit, wenn du nachts allein im Bett liegst und das Salz deiner Tränen schmeckst, das Wissen, dass du nie wieder derselbe sein wirst. Dass du nie wieder ein kompletter Mensch sein wirst.

„Lass mich sehen, was ich tun kann“, sagte Nick grimmig.

Hannah warf ihm einen besorgten Blick zu und wandte sich ohne ein Wort zu sagen ab. Nick betrat Jamals Zimmer, in dem der junge Mann auf dem Bett lag und an die Zimmerdecke starrte. Sein Blick bewegte sich kaum, als Nick sich neben sein Bett setzte.

„Hi.“

Sekunden vergingen, ohne dass er eine Antwort erhielt. „Jamal. Du musst nichts sagen. Hör einfach zu. Es ist Scheiße. Es tut weh. Du fühlst dich, als ob dein Leben nie wieder gut sein könnte. Und ich stimme dir zu.“

Darauf reagierte er. Falls Jamal erwartete, dass Nick seine Situation beschönigen würde, würde er ihn enttäuschen müssen. Dafür war er nicht hier.

„Es tut so weh, Nick. Muss ich diesen Mist tragen? Es ist so verdammt hässlich und es juckt überall und ist Scheiße.“ In einer sinnlosen Gesten zupfte Jamal, so gut er konnte, mit steifen Fingern an den Verbänden, die seine Finger und seine Hand bedeckten. Und Nick wusste, dass sie seinen gesamten Arm umschlossen.