Aggressive und sexuelle Zwangsgedanken - Thomas Hillebrand - E-Book

Aggressive und sexuelle Zwangsgedanken E-Book

Thomas Hillebrand

0,0
23,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Schätzungsweise ein Viertel aller Zwangspatientinnen und -patienten sind mit extrem scham- und schuldbesetzten aggressiven und sexuellen Zwangsgedanken belastet und stellen für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten eine große Herausforderung dar. Der Therapieleitfaden widmet sich als erste deutschsprachige Publikation ausschließlich dieser Gruppe von Betroffenen. Viele Therapeutinnen und Therapeuten sind zwar mit der Behandlung von Handlungszwängen vertraut, finden jedoch die Behandlung von aggressiven und sexuellen Zwangsgedanken sehr herausfordernd: Woran erkennt man, dass es sich tatsächlich nur um Gedanken handelt und keine kriminelle, pädophile oder andere sexuelle Neigung vorliegt? Wie geht man mit dem permanenten Zweifel um, den die Patientinnen und Patienten äußern? Wie soll bei diesen Themen eine Exposition durchgeführt werden, wenn doch kein offensichtliches Zwangsverhalten vorliegt? Der Autor geht diesen Fragen nach und ermöglicht ein Verständnis der besonderen Dynamik der aggressiven und sexuellen Zwangsgedanken, die sich in zentralen Punkten von anderen Zwangsgedanken unterscheidet. Daraus leiten sich Besonderheiten im Umgang mit dieser Patientengruppe ab. Beispielhafte Therapeut-Patienten-Dialoge illustrieren den Umgang mit typischen Fragen und Vorbehalten der Patientinnen und Patienten im Rahmen der Distanzierung von Zwangsgedanken. Ein zentrales Augenmerk gilt der Vorbereitung und Durchführung einer Exposition in sensu, die die massive Furcht der Betroffenen vor dem aggressiven oder sexuellen Zwangsgedanken an sich in den Fokus stellt. Varianten der Exposition in vivo komplettieren den konfrontativen Behandlungskanon. Eine Analyse vorhandener Diagnoseinstrumente sowie die Skizzierung des zwangsspezifischen inferenzbasierten Therapieansatzes nach O´Connor, der im deutschsprachigen Raum – trotz Aufnahme in die S3-Leitlinien – bislang kaum Berücksichtigung findet, runden den Therapieleitfaden ab.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Hillebrand

Aggressive und sexuelle Zwangsgedanken

Dipl.-Psych. Thomas Hillebrand, geb. 1963. 1984–1990 Studium der Psychologie in Münster. 1991–1995 Psychotherapeutische und wissenschaftliche Tätigkeit in der Reha-Klinik Teutoburger Wald, Bad Rothenfelde. Seit 1995 psychotherapeutische Tätigkeit (Verhaltenstherapie) in eigener Praxis mit dem Schwerpunkt in der Behandlung von Zwangsstörungen. Seit 2005 als Dozent in verschiedenen Weiterbildungsinstituten tätig. Seit 2006 ehrenamtliches Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen (DGZ e. V.).

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor:innen bzw. den Herausgeber:innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor:innen bzw. Herausgeber:innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Copyright-Hinweis:

Das E-Book einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG

Merkelstraße 3

37085 Göttingen

Deutschland

Tel. +49 551 999 50 0

Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Umschlagabbildung: © stock.adobe.com / AleksFil

Satz: Franziska Stolz, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2023

© 2023 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3162-8; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3162-9)

ISBN 978-3-8017-3162-5

https://doi.org/10.1026/03162-000

Nutzungsbedingungen:

Der Erwerber erhält ein einfaches und nicht übertragbares Nutzungsrecht, das ihn zum privaten Gebrauch des E-Books und all der dazugehörigen Dateien berechtigt.

Der Inhalt dieses E-Books darf von dem Kunden vorbehaltlich abweichender zwingender gesetzlicher Regeln weder inhaltlich noch redaktionell verändert werden. Insbesondere darf er Urheberrechtsvermerke, Markenzeichen, digitale Wasserzeichen und andere Rechtsvorbehalte im abgerufenen Inhalt nicht entfernen.

Der Nutzer ist nicht berechtigt, das E-Book – auch nicht auszugsweise – anderen Personen zugänglich zu machen, insbesondere es weiterzuleiten, zu verleihen oder zu vermieten.

Das entgeltliche oder unentgeltliche Einstellen des E-Books ins Internet oder in andere Netzwerke, der Weiterverkauf und/oder jede Art der Nutzung zu kommerziellen Zwecken sind nicht zulässig.

Das Anfertigen von Vervielfältigungen, das Ausdrucken oder Speichern auf anderen Wiedergabegeräten ist nur für den persönlichen Gebrauch gestattet. Dritten darf dadurch kein Zugang ermöglicht werden. Davon ausgenommen sind Materialien, die eindeutig als Vervielfältigungsvorlage vorgesehen sind (z. B. Fragebögen, Arbeitsmaterialien).

Die Übernahme des gesamten E-Books in eine eigene Print- und/oder Online-Publikation ist nicht gestattet. Die Inhalte des E-Books dürfen nur zu privaten Zwecken und nur auszugsweise kopiert werden.

Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Download-Materialien.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Aggressive und sexuelle Zwangsgedanken

1  Einleitung

2  Merkmale aggressiver und sexueller Zwangsgedanken

2.1  Inhalte aggressiver und sexueller Zwangsgedanken

2.2  Modale Kriterien aggressiver und sexueller Zwangsgedanken

2.3  Häufigkeit aggressiver und sexueller Zwangsgedanken

2.4  Geschlechterverteilung und weitere Merkmale von Personen mit sexuellen und aggressiven Zwangsgedanken

2.5  Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu normalen Intrusionen

2.5.1  Inhalte von Zwangsgedanken und normalen Intrusionen

2.5.2  Ich-Dystonie von Zwangsgedanken

2.5.3  Fehlender Kontextbezug von Zwangsgedanken

2.5.4  Zwangsgedanken durch Inferenzverwirrung?

2.6  Werden aggressive oder sexuelle Zwangsgedanken ausgeführt?

3  Ätiologiemodelle – Wie entstehen aggressive und sexuelle Zwangsgedanken?

3.1  Der kognitiv-behaviorale Ansatz

3.2  Der metakognitive Ansatz

3.3  Kontroverse kognitive vs. metakognitive Theorie und Therapie

3.4  Der inferenzbasierte Ansatz

3.4.1  Die Grundbegriffe des inferenzbasierten Ansatzes

3.4.2  Die inferenzbasierte Therapie

3.5  Inferenzbasierte vs. metakognitive Therapie

3.6  Die Bedeutung von Emotionen und Wirklichkeitsanmutung in kognitiven Erklärungsmodellen

4  Diagnostische Verfahren

4.1  Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (Y-BOCS)

4.2  Dimensional Obsessive-Compulsive Scale (DOCS)

4.3  Obsessive-Compulsive Inventory – Revised (OCI-R)

4.4  Hamburger Zwangsinventar – Kurzform (HZI-K)

4.5  Multidimensionales Zwangsstörungsinventar (MZI)

4.6  Auswahl eines Diagnoseinstruments

5  Therapie aggressiver und sexueller Zwangsgedanken

5.1  Grundsätzliche Aspekte der Behandlungsrationale

5.1.1  Der Zwangsgedanke ist der zentrale Trigger

5.1.2  Das unmittelbare Zwangsverhalten ist ein mentaler Prozess

5.1.3  Auf Verhaltensebene dominiert das Vermeidungsverhalten

5.1.4  Die Bedrohung des Selbst

5.2  Therapiephase 1: Diagnostik und Differenzialdiagnostik

5.2.1  Die Zwangsgedanken ermitteln

5.2.2  Vermeidungsmotiv: Befürchtung vom Therapeuten verurteilt zu werden

5.2.3  Vermeidungsmotiv: Angstreaktion beim Aussprechen der Gedanken

5.2.4  Offene Mitteilung der Zwangsgedanken

5.2.5  Merkmale in der Schilderung aggressiver und sexueller Zwangsgedanken

5.2.6  Zwangsgedanken an den Formen der Neutralisierung erkennen

5.2.6.1  Mentale Rekonstruktion

5.2.6.2  Suche nach Rückversicherung

5.2.6.3  Paradoxe Provokation – Kontrolle genitaler Reaktionen

5.2.6.4  Das „Ungewollte“ eingestehen

5.2.6.5  Gegengedanken denken

5.2.6.6  Aktives Vermeidungsverhalten

5.2.7  Differenzialdiagnostik: Merkmale tatsächlich aggressiver oder sexuell devianter Neigungen

5.2.7.1  Differenzialdiagnostik pädophiler Zwangsgedanken

5.2.7.2  Differenzialdiagnostik von Zwangsgedanken die sexuelle Orientierung betreffend

5.2.7.3  Differenzialdiagnostik aggressiver Zwangsgedanken

5.2.7.4  Differenzialdiagnostik suizidaler Zwangsgedanken

5.2.7.5  Zwangsgedanken im Rahmen einer schizophrenen Erkrankung

5.3  Therapiephase 2: Distanzierung von Zwangsgedanken

5.3.1  Die zentralen Therapieziele

5.3.2  Klärung der Frage: „Warum habe ich diese Gedanken?“

5.3.3  Die Zwangsgedanken als harmlos einordnen

5.3.4  Disputation zentraler Bewertungsfehler

5.3.4.1  Bewertungsfehler „Weil ich das denke, bin ich ein schlechter Mensch.“

5.3.4.2  Bewertungsfehler „Weil ich das denke, tue ich es bald.“

5.3.4.3  Emotionale Beweisführung – Das Gefühl als Beweis

5.3.4.4  Der Unzulässige Analogieschluss

5.3.5  Hilfreiche Metaphern

5.3.5.1  Das Märchenland des Zwanges (O’Connor et al., 2012)

5.3.5.2  Die Zug-Metapher (Wells, 2009)

5.3.5.3  Die Wespenfalle: Fliege durch die Dunkelheit! (Weg, 2011)

5.3.5.4  Die Tankanzeige

5.3.5.5  Zuschauer beim Ringkampf

5.3.6  Stellenwert Dritter-Welle-Methoden

5.4  Therapiephase 3: Exposition in sensu

5.4.1  Ziele der Exposition

5.4.2  Empirische Befunde zur Exposition in sensu

5.4.3  Wirkmechanismen der In-sensu-Exposition

5.4.4  Aufbau der In-sensu-Geschichte

5.4.5  Formale Kriterien der In-sensu-Geschichte

5.4.6  Vorbereitung und Durchführung der Exposition in sensu

5.4.6.1  Vermittlung des Therapierationals der Exposition in sensu

5.4.6.2  Gezielte Abfrage von Erwartungen und Befürchtungen

5.4.6.3  Darstellung des Expositionsblocks

5.4.6.4  Nach der maximalen oder einer „versteckten“ Befürchtung suchen

5.4.6.5  Fragen zur Exposition in sensu

5.4.6.6  Falldarstellung „Aggressive Zwangsgedanken“

5.5  Therapiephase 4: Exposition in vivo

5.5.1  Ziele der Exposition in vivo

5.5.2  Erstellung einer Auslöserhierarchie

5.5.3  Pädophile Zwangsgedanken

5.5.4  Zwangsgedanken die sexuelle Orientierung betreffend

5.5.5  Aggressive Zwangsgedanken

5.5.6  Fragen zur Durchführung einer Exposition in vivo

5.6  Pharmakotherapie

Literatur

Anhang

Literaturempfehlungen und hilfreiche Internetadressen

Dimensional Obsessive-Compulsive Scale (DOCS)

Hinweis zur Zusatzskala „Sexuelle intrusive Gedanken“

Zusatzskala „Sexuelle intrusive Gedanken“

Hinweise zur Auswertung der DOCS und der Zusatzskala

Auswertebogen für die DOCS und die Zusatzskala

|9|1  Einleitung

„Wer sie niemals erfahren, diese Zwangsvorstellungen, der möge Gott danken und seinen guten Nerven, dass er nicht kennt diese Furien, denen gegenüber Wille und Vernunft gleich ohnmächtig sind. Was Peitschenhiebe für den Leib, das sind Zwangsvorstellungen für die Seele und das Gemüt“

(Hansjakob, 1895/2004)

In dieser Beschreibung von Zwangsgedanken würden sich auch heute viele Menschen mit aggressiven und sexuellen Zwangsgedanken wiedererkennen. Sind sie doch gequält von Gedanken, die sich mit abstoßenden Inhalten beschäftigen, mit Mord an den liebsten nahestehenden Menschen, sexuellen Übergriffen auf Kinder oder Verdächtigungen, eine bislang verborgene bösartige Persönlichkeit zu haben. Mit diesen Gedanken geht ein Gefühl der Angst bis hin zur Panik einher, denn diese Gedanken stehen den eigentlichen Werten und moralischen Überzeugungen der Betroffenen diametral entgegen. Umso größer sind die Verzweiflung und der Erklärungsnotstand. Denn warum sollten diese Gedanken in den Kopf kommen, wenn sie nicht doch etwas zu bedeuten hätten? Nämlich im Grunde des Herzens ein schlechter Mensch zu sein, der durch Mord, Pädophilie oder Gotteslästerung seine Berechtigung zur Teilhabe an der menschlichen Gesellschaft verwirkt hat. Der Schuld auf sich lädt, allein schon, weil er solche Gedanken in sich trägt. Der eine Gefahr darstellt, weil es bei den Gedanken vielleicht nicht bleibt und er schon kurz vor der Ausführung der schlimmsten Handlungen steht. Um es gleich vorweg klarzustellen: diese Art von Zwangsgedanken suggerieren mit hoher emotionaler Intensität eine Bedrohung, die gar nicht existiert. Diese Menschen sind genau das nicht, was sie befürchten, sondern sie sind Opfer komplexer kognitiver und emotionaler Fehlinterpretationen, die in diesem Buch eingehend beleuchtet werden.

Für die Betroffenen aber gibt es aus dieser Zwickmühle scheinbar kein Entrinnen. Die Gedanken sind im Kopf, also müssen sie aus ihrer Sicht auch eine Bedeutung haben. Entsprechend groß sind die Verzweiflung und die Angst. Nicht selten su|10|chen Patienten1, die zum ersten Mal mit diesen Gedanken und Gefühlen konfrontiert sind, eine stationäre psychiatrische Behandlung auf. Sie halten sich für allgemeingefährlich und wollen sich und andere vor sich selbst schützen. Eine 33-jährige Patientin, die im Rahmen ihrer ersten Geburt intensive Zwangsgedanken entwickelte, ihr neugeborenes Baby mit dem Kissen zu ersticken, ließ sich freiwillig für vier Monate stationär in der Psychiatrie behandeln. Zu groß war ihre Angst, allein mit dem Kind zuhause zu bleiben, nachdem ihr Mann nach dreiwöchigem Urlaub wieder zur Arbeit gehen musste.

Wie sehr kontrastiert dieses innere Erleben der Patienten mit dem Bild, das diese Menschen für ihr Umfeld und auch den Therapeuten abgeben. Vor uns sitzen Menschen, die sich durch hohe moralische Ansprüche auszeichnen, ehrlich und zuverlässig sind, besorgt, anteilnehmend, empathisch und fürsorglich, aber voller Selbstzweifel. Aus Angst und Scham behalten viele Patienten diese Gedanken zunächst für sich. Sie befürchten, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, dass ein Behandler, der mit dieser Thematik nicht vertraut ist, die Gedanken falsch einschätzt und ihnen keine Hilfe bieten kann.

Heute eröffnet die Recherche im Internet vielen Patienten die Möglichkeit, erste entlastende Informationen zu erhalten und die ungewollten aufdringlichen Gedanken als Ausdruck einer bekannten psychischen Störung einordnen zu können. So recherchierte ein 19-jähriger Patient mit aggressiven Zwangsgedanken bezeichnenderweise unter dem Satz „Gedanken, die man nicht denken will.“ und fand unmittelbar Hinweise auf die Zwangsstörung. Eine schwangere Frau mit aggressiven Zwangsgedanken fand bei der Suche nach „unpassenden Gedanken in der Schwangerschaft“ einen aufklärenden Bericht und fühlte sich ermuntert, gezielt nach therapeutischer Hilfe zu suchen. Eine insgesamt vermehrte Inanspruchnahme von Psychotherapie bei diesem Störungsbild scheint die Folge zu sein. Die große Nachfrage von Psychotherapeuten nach Fortbildungen zu diesem Störungsbild könnte ein Ausdruck dieser erhöhten Bereitschaft von Betroffenen sein, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Für den Therapeuten stellen diese Patienten jedoch unter verschiedenen Gesichtspunkten eine Herausforderung dar. Sie offenbaren ihre Gedanken mitunter nur sehr zögerlich oder gar nicht. Das Aussprechen selbst erleben sie bereits als eine mögliche Gefahr. Sie wissen nicht, wie der Therapeut auf diese vermeintlich schlimmen Offenbarungen reagiert und befürchten, auch er könnte sie für „abscheulich“ halten oder gar die Polizei informieren. Der Therapeut seinerseits möchte Sicherheit erlangen hinsichtlich differenzialdiagnostischer Einordnungen |11|der genannten Gedanken, z. B. in der Abgrenzung zu einer tatsächlichen Pädophilie. Auch wenn der Therapeut diese Sicherheit zwar in der Regel rasch erlangen kann, wird er erstaunt sein, mit welcher Hartnäckigkeit die Patienten am grundlegenden Zweifel an den Grundfesten ihrer Persönlichkeit festhalten. In Bezug auf die Behandlung besteht die nächste therapeutische Herausforderung darin, das Expositionsparadigma auf diese Patientengruppe zu übertragen. Zunächst scheint kein offenes Zwangsverhalten zu existieren, dessen Ausführung es zu unterbinden gälte wie bei einem Wasch- oder Kontrollzwang. Und wie sollte eine Exposition mit diesen derart schwierigen Themen erfolgen?

Die prinzipielle Bereitschaft zu einer Exposition setzt aber zunächst voraus, dass der Therapeut die Zwangsgedanken nicht ausschließlich als „Epiphänomen“ einer zugrundliegenden Problematik sieht, die es zu bearbeiten gilt und in deren Folge sich die Gedanken auflösen: „Wenn wir Ihre Kernangst bewältigt haben, werden die Gedanken verschwinden.“ So schildern viele Patienten, dass im Rahmen einer Psychotherapie eine nähere Beschäftigung mit den Zwangsgedanken gar nicht stattgefunden habe. Die Bearbeitung anderer Themen wird vorgezogen und ist in vielen Fällen sicherlich hilfreich, die aggressiven und sexuellen Zwangsgedanken mit ihren spezifischen belastenden emotionalen Konsequenzen bestehen aber weiter.

Im Fokus dieser Veröffentlichung stehen daher therapeutische Strategien, die es Patient und Therapeut ermöglichen sollen, gemeinsames Vermeidungsverhalten im Sinne einer „Phobie à Deux“ (Moritz et al., 2019) zu unterbinden und sich mit den bedrohlichen Gedanken aktiv und direkt auseinanderzusetzen. Hierzu ist ein differenziertes Verständnis über die Dynamik der Zwangsgedanken notwendig und Sensibilität in der Gesprächsführung wichtig, um den Patienten in diesem Prozess zu unterstützen.

So werden im Folgenden zunächst Merkmale aggressiver und sexueller Zwangsgedanken dargestellt sowie differenzialdiagnostische Kriterien aufgeführt, um Zwangsgedanken von Gedanken zu unterscheiden, denen tatsächlich kriminelle oder sexuell deviante Motive zugrunde liegen. Großer Wert wird auf die Darstellung verschiedener Formen des kurzfristig angstreduzierenden Zwangsverhaltens gelegt, das sich sowohl auf gedanklicher Ebene als auch in Form von Vermeidungsverhalten äußert. Anschließend werden Modelle vorgestellt, die versuchen, das Auftreten von Zwangsgedanken zu erklären und den Patienten zu helfen, ein alternatives Erklärungsmodell für das Auftreten ihrer Zwangsgedanken zu entwickeln. Daraus leiten sich Interventionen ab, die es dem Patienten ermöglichen, die Zwangsgedanken nicht mehr als Beleg für eine Gefahr zu erleben, sondern sie als harmlose Gedanken ohne Bedeutung für die persönliche Lebensrealität einzuordnen. Diese Methoden, mit dem Ziel einer Zwangsdistanzierung bilden die kognitive Vorbereitung für die Durchführung der Expositionstherapie, die schließlich eine direkte Konfrontation mit dem angstauslösenden Stimulus – dem Zwangsgedanken – anstrebt. Die Exposition in sensu, d. h. in der Vorstellung, führt |12|konsequenterweise zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Auslöser auf gedanklicher Ebene. Die Exposition in vivo zielt auf die Reduktion von Vermeidungsverhalten und die bewusste Annäherung an befürchtete Auslösesituationen ab. Dieses indikationsspezifische Vorgehen verlangt vom Patienten eine aktive und anstrengende Auseinandersetzung mit den am meisten gefürchteten gedanklichen Inhalten. Vom Therapeuten verlangt es eine klare Haltung zur Bedeutung der Zwangsgedanken und eine behutsame Begleitung des Patienten, um diese belastende und hartnäckige Störung erfolgreich zu behandeln.

1

Zugunsten einer besseren Lesbarkeit wird im Text in der Regel das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen alle Geschlechter (m/w/d). Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung. Wenn möglich, wurde eine geschlechtsneutrale Formulierung gewählt.

|13|2  Merkmale aggressiver und sexueller Zwangsgedanken

Vorab eine Bemerkung zur mitunter mehrdeutigen Verwendung des Terminus „Zwangsgedanken“. Sind mit Zwangsgedanken alle Arten von Zwangsgedanken gemeint oder nur die aggressiven, sexuellen oder religiösen Zwangsgedanken? Die in der angloamerikanischen wissenschaftlichen Literatur verwendeten Begriffe zur Beschreibung dieser Untergruppe der Zwangsgedanken bringen den Aspekt der inhaltlichen Ablehnung aus Sicht des Betroffenen deutlich zum Ausdruck:

„Widerwärtige Gedanken“ (Moulding, Aardema & O’Connor, 2014),

„Unakzeptierbare Gedanken“ (Abramowitz et al., 2010),

„Tabu-Gedanken“ (Pinto et al., 2008) oder

„Verbotene Gedanken“ (Bloch, Landeros-Weisenberger, Rosario, Pittenger & Leckman, 2008).

In der deutschsprachigen Literatur findet sich eine derartige begriffliche Spezifikation in der Regel nicht. Die aggressiven und sexuellen Zwangsgedanken werden häufig unter dem Oberbegriff „Zwangsgedanken“ subsumiert. Schließlich werden diese auch in der verbreiteten Y-BOCS Symptomliste (Goodman et al., 1989a, b) neben anderen Zwangsgedanken wie Kontaminationsbefürchtungen, körperbezogenen Gedanken oder Gedanken hinsichtlich Symmetrie und Ordnung aufgeführt. Diese Zwangsgedanken weisen aber beim Betroffenen keine problematische Beziehung zu moralischen Werten auf und entwickeln daher in entscheidenden Punkten nicht die für die aggressiven und sexuellen Zwangsgedanken typische Dynamik, wie später noch ausgeführt wird. Erst im Rahmen der deutschen Übersetzung und Validierung der „Dimensional Obsessive-Compulsive Scale (DOCS)“ von Fink-Lamotte und Kollegen (2021) wird der Begriff „unakzeptierbare Gedanken“ eingeführt, der auch im Folgenden neben der Bezeichnung „aggressive und sexuelle Zwangsgedanken“ genutzt wird, um diese Untergruppe zu spezifizieren.

|14|2.1  Inhalte aggressiver und sexueller Zwangsgedanken

Aggressive und sexuelle Zwangsgedanken zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Inhalte dem Wertesystem des Betroffenen diametral entgegenstehen und sich auf moralisch und sozial inakzeptable Handlungen beziehen. Moulding, Aardema und O’Connor (2014) unterteilen in ihrer Übersichtarbeit über „Repugnant Obsessions“ (dt. abstoßende Zwangsgedanken) vier Arten von Zwangsgedanken:

aggressive,

selbstverletzende,

die sexuelle Orientierung betreffende und

pädophile Zwangsgedanken.

Davon ausgehend lassen sich folgende zentralen Inhalte festlegen:

Inhalte aggressiver Zwangsgedanken

Andere Menschen, häufig nahe Angehörige, zu verletzen oder zu töten,

sich selbst zu verletzen oder zu töten,

Haustiere zu verletzen oder zu töten.

Eine weitere Differenzierung bezieht sich auf die Frage, ob die aggressiven Handlungen mit Absicht oder ohne Absicht durch Unachtsamkeit erfolgen könnten. Im letzteren Fall steht der Zweifel an der moralischen Integrität nicht so sehr im Vordergrund. Der Inhalt ist zwar aggressiver Natur, aber die Dynamik einer grundsätzlichen moralischen Bedrohung fällt nicht so sehr ins Gewicht.

Inhalte sexueller Zwangsgedanken

Eine sexuelle Devianz aufzuweisen, häufig Pädophilie, Inzest, andere Paraphilien wie Zoophilie, Nekrophilie, seltener Gerontophilie,

eine andere sexuelle Orientierung zu haben als die bislang gelebte.

Die inhaltliche Ausgestaltung ergibt sich im zweiten Fall somit aus der ursprünglichen sexuellen Orientierung. Ein heterosexueller Zwangspatient hat die Befürchtung, er könne homosexuell sein, ein homosexueller Mensch hat den Zwangsgedanken, er könne heterosexuell sein. Weitere Ausprägungen enthalten die Befürchtung, transsexuell oder bisexuell sein zu können.

|15|2.2  Modale Kriterien aggressiver und sexueller Zwangsgedanken

Die Kriterien für aggressive und sexuelle Zwangsgedanken entsprechen zunächst einmal der allgemeinen Definition für Zwangsgedanken nach ICD-11. Auf Besonderheiten und konkrete Beispiele für aggressive und sexuelle Zwangsgedanken wird in der nachfolgenden Beschreibung der einzelnen Kriterien genauer eingegangen. Die ICD-11 (World Health Organisation [WHO], 2022) definiert Zwangsgedanken im Rahmen einer Zwangsstörung wie folgt:

Kriterien für Zwangsgedanken nach ICD-11

“ … Obsessions are repetitive and persistent thoughts, images, or impulses/urges that are intrusive, unwanted, and are commonly associated with anxiety. The individual attempts to ignore or suppress obsessions or to neutralize them by performing compulsions. …” (Auszug aus 6B20 Obsessive-compulsive disorder, WHO, 2022)

Übersetzung: „Zwangsgedanken sind wiederkehrende und beharrliche Gedanken, Bilder oder Impulse, die intrusiv, ungewollt und gewöhnlich mit Angst assoziiert sind. Die Betroffenen versuchen, diese Gedanken zu ignorieren oder zu unterdrücken oder durch die Ausführung von Zwangshandlungen zu neutralisieren.“

Zwangsgedanken sind wiederkehrend und beharrlich.

Ein typisches Merkmal aller Zwangsgedanken ist das beharrliche und stete Auftreten, das in seinem Umfang von täglich mehrmals bis zu ständig reichen kann. Ein Patient mit sehr ausufernden Zwangsgedanken beschrieb es so: „Meine Zwangsgedanken sind wie eine Flüssigkeit im Gehirn, sie dringen in mein ganzes Denken ein.“

Zwangsgedanken können als Gedanken, Bilder oder Impulse auftreten.

Diese Differenzierung trägt dem Umstand Rechnung, dass Zwangsgedanken nicht ausschließlich in Form von Gedanken auftreten. Einige Patienten schildern lebhafte bildliche Vorstellungen bis hin zu kurzen bewegten Szenen, die sich vor ihrem inneren Auge abspielen. Dies verunsichert Patienten häufig in besonderem Maße, da sie diese Szenen mitunter für einen Beleg einer vermeintlichen Erinnerung halten. Letztlich ist diese Form des Erlebens Ausdruck einer ausgeprägten Fähigkeit zu bildhaften Vorstellungen. Ebenso ist der gefühlte Drang, impulshaft und unkontrolliert etwas gegen den eigenen Willen ausführen zu können, für Betroffenen sehr belastend. Sie wähnen sich unmittelbar vor einer ungewollten Tatausführung, was die Angst noch weiter antreibt und das subjektive Dranggefühl erhöht.

|16|Zwangsgedanken sind intrusiv.

Ein zentrales Charakteristikum in der Erlebnisqualität stellt das intrusionsartige Auftreten der Zwangsgedanken dar. Dieser Begriff beschreibt das plötzliche und unerwartete Einschießen des Gedankens, der damit deutlich aus der vorangegangen gedanklichen Beschäftigung (stream of consciousness) herausfällt und diese unterbricht (Julien, O’Connor & Aardema, 2007). Ein Patient mit einem Kontrollzwang verglich dies mit einem spontanen Einfall, der sich plötzlich und unerwartet in den Vordergrund schiebe. Patienten mit aggressiven oder sexuellen Zwangsgedanken nutzen häufig drastischere Metaphern und unterstreichen damit den Schock, den der Gedanken unmittelbar auslöst: „wie ein Meteoriteneinschlag auf der Seele“ oder „wie ein Blitzschlag“.

Zwangsgedanken sind ungewollt.

Auf der inhaltlichen Ebene ist ein herausstechendes Merkmal der aggressiven und sexuellen Zwangsgedanken die Unverträglichkeit der Inhalte mit dem Wertesystem des Betroffenen. Der Aspekt, dass die Gedanken als ungewollt erlebt werden, trifft somit in besonderem Maße für diese Untergruppe zu. Setzen wir den Begriff „ungewollt“ mit Ich-Dystonie in Beziehung, so finden sich jedoch Unterschiede in der Gruppe der verschiedenen Zwangsgedanken. Ein Zwangsgedanken mit Bezug zu einer Kontamination wird nicht unmittelbar als ungewollt oder ich-dyston erlebt. Er weist auf eine mögliche Gefahr hin, die in der Folge Angst auslöst. Daher breiten sich Kontaminationsideen häufig über längere Zeit aus, bevor ein Patient, oft erst durch Rückmeldungen aus seinem Umfeld, zu der Einsicht kommt, dass seine Befürchtungen übertrieben und unrealistisch sind. Ein Patient mit dem aggressiven Zwangsgedanken, er könne sein Kind töten, erlebt diesen Gedanken sofort als ungewollt und ich-dyston. Aardema und Kollegen (2013) konstatieren folgerichtig: „Ich-Dystonie scheint in der Tat ein einzigartiger Prädiktor für aggressive und sexuelle Zwangsgedanken (repugnant obsessions) zu sein, während sie sich nicht so stark auf andere Symptomsubtypen der Zwangserkrankung bezieht.“

Zwangsgedanken sind gewöhnlich mit Angst assoziiert.

Ein wesentliches Merkmal der aggressiven und sexuellen Zwangsgedanken ist die damit einhergehende intensive emotionale Reaktion primär in Form von Angst oder einem Gemisch aus Angst und Schuldgefühlen. Diese intensive emotionale Reaktion lässt den Betroffenen die Inhalte der Gedanken immer wieder als hochbedrohlich und scheinbar wirklichkeitsrelevant erleben. Im weiteren Verlauf der Erkrankung berichten einige Patienten auch einen unmittelbar dysphorisch-depressiven Stimmungseinbruch in Verbindung mit dem Auftreten des unakzeptierbaren Zwangsgedankens. Ist nach einer gewissen Zeit der Zwangsgedanke „bekannt“, so ist dies Ausdruck einer zusätzlichen Frustration und Niedergeschlagenheit, noch |17|immer darunter zu leiden und sich erneut mit dem belastenden Gedanken und anschließenden zermürbenden Grübeleien konfrontiert zu sehen.

Die Betroffenen versuchen, diese Gedanken zu ignorieren oder zu unterdrücken oder durch die Ausführung von Zwangshandlungen zu neutralisieren.

Insbesondere für die unakzeptierbaren Zwangsgedanken trifft es zu, dass Patienten versuchen, diese Gedanken zu unterdrücken oder nicht zu denken. „Zwangshandlungen“, die eine Reduktion der Angst oder der Schuldgefühle bewirken sollen, finden in verschiedenen Variationen auf gedanklicher Ebene statt, auf Handlungsebene dominiert das Vermeidungsverhalten.

Abschließend zeigt ein Blick in die Historie der Beschreibung von Zwangsphänomenen, dass wesentliche Bestimmungsmerkmale schon von Westphal treffend erkannt und für den deutschsprachigen Raum 1877 erstmals formuliert wurden:

Unter Zwangsvorstellungen verstehe ich solche, die bei übrigens intakter Intelligenz und ohne durch einen Gefühls- oder affektartigen Zustand bedingt zu sein, gegen oder wider den Willen des betreffenden Menschens in den Vordergrund des Bewusstseins treten, sich nicht verscheuchen lassen, den normalen Ablauf der Vorstellungen hindern und durchkreuzen, welche der Befallene stets als abnorm, ihm fremdartig anerkennt und denen er mit gesundem Bewusstsein gegenübersteht. (S. 669)

Wann sind es keine Zwangsgedanken?

Wenn ein Gedanke nicht ungewollt ist, sondern sogar willkommen und gewünscht ist, kann er nicht als Zwangsgedanke bezeichnet werden. Ebenso wenig genussvolle Ideen, Bilder oder Impulse, die eine Person willentlich denkt. Aber auch Ideen oder Impulse, die zwar unerwünscht und aufdringlich sind, aber vom Betroffenen leicht kontrolliert oder verbannt werden könne, werden nicht als Zwangsgedanken bezeichnet. Dieser Umstand lässt diesen Gedanken einen alltäglichen „ungewollten intrusiven Gedanken“ sein, dem die typische Anhaftung eines Zwangsgedankens fehlt (Rachman & Hodgson, 1980).

2.3  Häufigkeit aggressiver und sexueller Zwangsgedanken

Exakte Prävalenzzahlen für aggressive und sexuelle Zwangsgedanken sind rar, Schätzungen nennen übereinstimmend, unter zusätzlicher Berücksichtigung religiöser Zwangsgedanken, einen Anteil von 20 bis 30 % an der Gesamtheit der Zwangspatienten (Reinecker, 1994; Moulding et al., 2014). Die Studie zur Ge|18|sundheit Erwachsener in Deutschland (Jacobi et al., 2014) beziffert die 12-Monatsprävalenz der Zwangsstörung insgesamt auf 3,6 % und errechnet eine Anzahl von 2,3 Millionen Erwachsenen. Überträgt man die Schätzungen von 20 bis 30 % auf diese Zahlen könnten in Deutschland um die 460.000 bis 690.000 Menschen betroffen sein, Jugendliche nicht inbegriffen. Die Angaben zur Häufigkeit von aggressiven und sexuellen Zwangsgedanken sind uneinheitlich und abhängig vom verwendeten Messinstrument. So erhoben Förstner, Külz und Voderholzer (2011) bei einer Stichprobe von 75 stationär behandelten Patienten einen Anteil von 46,7 % mit aggressiven Gedanken, Pinto und Kollegen (2007) fanden bei 293 Zwangspatienten eine vergleichbare Häufigkeit von 45,4 %. In beiden Studien wurde die Y-BOCS Symptom-Checkliste (Goodman et al., 1989a, b) eingesetzt, deren Unterskala „Aggressive Gedanken“ aufgrund mangelnder Konstruktschärfe auch Zwangspatienten ohne aggressive Zwangsgedanken im engeren Sinne erfasst (vgl. Kap. 4.1). Diese Zahlen können daher nicht zur Einschätzung des Anteils aggressiver Zwangsgedanken herangezogen werden. An den gleichen Stichproben wurde auch die Häufigkeit von Patienten mit sexuellen Zwangsgedanken erhoben. Im Unterschied zur Skala „Aggressive Gedanken“ ist die Skala „Sexuelle Zwangsgedanken“ der Y-BOCS Symptom-Checkliste mit vier konkreten Aussagen sehr spezifisch und kann daher als inhaltlich valide eingestuft werden. Förstner und Kollegen (2011) erhoben eine Anzahl von 9,3 %, Grant und Kollegen (2006) erfassten eine Anzahl von 13,3 % der Patienten, die aktuell unter sexuellen Zwangsgedanken litten (unter Verwendung der gleichen Stichprobe wie Pinto et al., 2007). 24,6 % dieser klinischen Stichprobe gaben an, jemals im Laufe ihres Lebens unter sexuellen Zwangsgedanken gelitten zu haben. Diese Resultate geben einen brauchbaren Hinweis auf den Anteil an Patienten mit sexuellen Zwangsgedanken von mindestens 9 bis 13 % an der Gesamtheit der Zwangspatienten im erwachsenen Alter. Die Untersuchung von Fernández de la Cruz und Kollegen (2013) an einer Stichprobe von 383 jugendlichen Zwangspatienten im Alter zwischen 7 und 18 Jahren macht jedoch deutlich, dass die Häufigkeit bei Kindern und Jugendlichen mit 26,6 % deutlich höher liegt. Die Autoren betonen zunächst, dass sexuelle Zwangsgedanken schon im Kindesalter auftreten können. Eine Analyse der Anzahl der jugendlichen Patienten mit sexuellen Zwangsgedanken zeigte jedoch einen sprunghaften Anstieg ab einem Alter von 15 Jahren. Dieser Befund passt zu den Resultaten der Untersuchung von Grant und Kollegen (2006) an erwachsenen Zwangspatienten. Sie fanden einen signifikanten Unterschied im Störungsbeginn bei erwachsenen Zwangspatienten mit sexuellen Zwangsgedanken in einem durchschnittlichen Alter von 15 Jahren im Vergleich zu einem Störungsbeginn im Alter von 19 Jahren bei den übrigen Zwangspatienten mit Wasch- oder Kontrollzwängen. Es erscheint offensichtlich, dass sexuelle und psychische Entwicklungsprozesse im Rahmen der Pubertät einen Einfluss auf die Entwicklung sexueller Zwangsgedanken nehmen. Dies sollte bei der Behandlung von Jugendlichen immer in Betracht gezogen werden.

|19|Insgesamt scheinen die Schätzungen, dass 20 bis 30 % der Zwangspatienten Patienten mit unakzeptablen Zwangsgedanken sind, nach diesen Daten durchaus eher in der Region um 30 % angesiedelt zu sein. Eine differenzierte Erhebung an einer hinreichend großen Stichprobe steht noch aus.

2.4  Geschlechterverteilung und weitere Merkmale von Personen mit sexuellen und aggressiven Zwangsgedanken

Hinsichtlich der Geschlechterverteilung sexueller Zwangsgedanken fanden weder Fernandez de la Cruz und Kollegen (2013) bei jugendlichen Patienten noch Grant und Kollegen (2006) bei erwachsenen Patienten einen signifikanten Unterschied zwischen Männern und Frauen. Dieser Befund steht im Widerspruch zu früheren Studien, in denen ein vermehrtes Auftreten bei Männern festgestellt wurde. Grant und Kollegen (2006) führen dies auf methodische Mängel zurück. Sie problematisieren die Besonderheit in der Erfassung schambesetzter sexueller Zwangsgedanken und den Einfluss auf das Befinden in einer Interviewsituation sowie die in zahlreichen Studien ausgeübte Praxis, aggressive, sexuelle und religiöse Zwangsgedanken nicht isoliert, sondern als ein gemeinsames Cluster zu erfassen. Dies könnte verhindert haben, dass die Spezifika von Patienten mit sexuellen Zwangsgedanken korrekt erfasst wurden. Diese scheinen sich nämlich insgesamt nur wenig von den übrigen Zwangspatienten zu unterscheiden. Hinsichtlich sämtlicher demographischer Variablen und der meisten klinischen Merkmale zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen. Patienten mit sexuellen Zwangsgedanken wiesen keine signifikant erhöhten Anteile komorbider Störungen auf, zeigten keine geringere Einsicht in das Störungsgeschehen, berichteten kein schlechteres Ansprechen auf verhaltenstherapeutische oder medikamentöse Behandlung und zeigten auch keine Unterschiede hinsichtlich Beeinträchtigungen sexueller Funktionen oder Zufriedenheit. Signifikante Unterschiede bestanden im früheren Beginn der Zwangsstörung, einem früheren Behandlungsbeginn und dem gleichzeitigen Vorkommen von aggressiven oder religiösen Zwangsgedanken. Tendenziell erhöht war die depressive Symptomatik, dies fand sich auch bei Grant und Kollegen (2006), sowie eine längere Behandlungsdauer.

Untersuchungen zur Geschlechterverteilung bei ausschließlich aggressiven Zwangsgedanken sind kaum vorhanden. Labad und Kollegen (2008) fanden bei einer Stichprobe von 114 männlichen und 72 weiblichen Patienten mit einer Zwangsstörung keine Geschlechtsunterschiede hinsichtlich aggressiver Zwangsgedanken. Diese wurden allerdings mit der Skala „Aggressive Gedanken“ der Y-BOCS Symptom-Checkliste erhoben, die mit Kontrollzwängen konfundiert ist. Die hohen prozentualen Werte von 69,3 % für Männer und 70,8 % für Frauen weisen dar|20|auf hin, dass hier mehr als nur aggressive Zwangsgedanken im engeren Sinne erfasst wurden. Die meisten Studien erfassen aggressive Zwangsgedanken gemeinsam mit den übrigen „unakzeptierbaren Gedanken“. Hasler und Kollegen (2005) fanden in einem Cluster von aggressiven, sexuellen und religiösen Zwangsgedanken, körperbezogenen Zwängen und Kontrollzwängen einen höheren Anteil männlicher Patienten sowie weitere Merkmale wie früherer Störungsbeginn und zusätzlich mehr komorbide depressive und Angsterkrankungen. Brakoulias und Kollegen (2013) zeigten mittels Regressionsanalysen bei einer Stichprobe von 134 Zwangspatienten, dass neben dem männlichen Geschlecht ein höheres Maß an Stresserleben, höhere Werte in der Skala „Zwangsgedanken“ der Y-BOCS, eine erhöhte zeitliche Beschäftigung mit Zwangsgedanken und eine höhere Überzeugung über die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Kontrolle von Gedanken signifikant höhere Werte auf dem Cluster „Tabu-Gedanken/Unakzeptierbare Gedanken“ vorhersagten. Dieses Cluster enthält aggressive, sexuelle und religiöse Zwangsgedanken sowie mentale Rituale und erlaubt somit ebenfalls keine spezifische Aussage zu ausschließlich aggressiven Zwangsgedanken. Als ein weiterer Prädiktor erwiesen sich erhöhte Werte der Skala „Feindseligkeit“ der Symptom-Checkliste SCL-90-R (Derogatis, 1994). Bevor hier ein psychodynamisches Erklärungskonzept für aggressive Zwangsgedanken wiederentdeckt worden zu sein scheint, sollte kritisch hinterfragt werden, ob die erhöhten Werte nicht lediglich die Tatsache widerspiegeln, dass aggressive Zwangsgedanken vorhanden sind. Ein Blick auf die Item-Ebene zeigt, dass z. B. die Frage „Hatten Sie den Drang, jemanden zu schlagen, zu verletzen oder ihm Schmerz zuzufügen?“ diese Patienten mit Bezug zu ihren ich-dystonen Zwangsgedanken mit hoher Zustimmung bejahen. Auch die Frage „Leiden Sie unter Gefühlsausbrüchen, gegenüber denen Sie machtlos waren?“ wird ein Zwangspatient mit Bezug zu seinen Ängsten und Schuldgefühlen bejahen.

Die Frage, ob pädophile Zwangsgedanken vermehrt bei männlichen Patienten auftreten, ist noch nicht empirisch geklärt. Diese Annahme scheint aus einer sachlogischen Argumentation, dass eine tatsächliche Pädophilie vornehmlich mit Männern in Verbindung gebracht wird, nachvollziehbar. Dennoch zeigt die Erfahrung des Autors, dass auch Patientinnen mit dieser Thematik keine Seltenheit sind. Dies spiegelt die grundlegende psychologische Dynamik unakzeptierbarer Zwangsgedanken wider, die dem Betroffenen eine Bedrohung durch einen bislang verborgenen und unentdeckten Persönlichkeitsanteil unterstellt. Dieser repräsentiert das Schlimmste, das sich die betroffene Person vorstellen kann und das am weitesten von ihren moralischen Grundsätzen entfernt ist. Die Befürchtung, pädophil sein zu können, erfüllt dieses Kriterium sowohl für Frauen als auch für Männer.

Eine spezielle Form aggressiver Gedanken, für deren Häufigkeit einige Daten vorliegen, sind ungewollte intrusive Gedanken während der Schwangerschaft und nach der Geburt, dem ungeborenen oder neugeborenen Kind einen Schaden zuzufügen. Fairbrother, Collardeau, Woody, Wolfe und Fawcett (2022) setzten be|21|sondere Maßnahmen der Vertrauensbildung ein, um eine Selbstöffnung hinsichtlich der schuld- und schambesetzen Fragen zu ungewollten aggressiven Gedanken gegenüber dem Kind zu ermöglichen. Es gaben 46 % der Frauen derartige Gedanken an, damit wurden bereits in anderen Studien gefundene Häufigkeiten zwischen 32 % und 46 % repliziert. Nicht alle Frauen entwickeln anschließend eine Zwangsstörung. Modulierende Faktoren, wie die überhöhte Bedeutung, die Gedanken beigemessen wird, tragen erst zur Entstehung einer Zwangsstörung bei. Bei den meisten Frauen verschwinden diese Gedanken wieder. Dennoch ist das Risiko von Frauen, nach der Geburt eine generelle Zwangsstörung (Zwangshandlungen und Zwangsgedanken) zu entwickeln, erhöht. Dies zeigen die Auswertungen im Rahmen der gleichen Untersuchung von Fairbrother und Kollegen (2021). Sie erhoben Daten im Rahmen einer Longitudinalstudie an 763 Frauen vor und nach der Geburt und fanden die DSM-5-Kriterien für eine Zwangsstörung 6 Wochen vor der Geburt bei 2,6 %, 10 Wochen nach der Geburt bei 8,3 % und 20 Wochen nach der Geburt bei 6,1 % der Frauen bestätigt. Insbesondere der postpartale Wert von im Durschnitt 7 % liegt deutlich höher als der Wert von 1,7 %, der im Rahmen einer Meta-Analyse, in die 16 Studien eingingen, errechnet wurde (Fawcett, Fairbrother, Cox, White & Fawcett, 2019). Die Autoren führen dies neben der Anwendung der neueren DSM-5-Kriterien auf die zu geringe Berücksichtigung kindbezogener Aspekte bei Standardfragen zur Erfassung der Zwangsstörung zurück. Sie vermuten, dass viele Frauen in anderen Studien keinen Bezug zu ihrer konkreten Schwangerschaft- und Geburtssituationen hergestellt hatten. In ihrer Untersuchung wurden die Fragen zu wiederkehrenden Gedanken und zwanghaftem Verhalten daher zweimal gestellt: einmal in der allgemeinen Variante und ein zweites Mal mit einem expliziten Hinweis auf kindbezogene Themen, wie ungewollte Gedanken, dem Kind durch Nachlässigkeit oder Absicht Schaden zuzufügen, oder übertriebene Befürchtungen, das Kind könnte sich mit Keimen infizieren.