Agnese geht in den Tod - Renata Viganò - E-Book

Agnese geht in den Tod E-Book

Renata Viganò

4,6

Beschreibung

Ihre Tarnung ist ihre stärkste Waffe: Eine einfache Frau wird zur Partisanin. September 1943: Italien atmet auf. Mussolini ist abgesetzt, das Waffenstillstandsabkommen mit den Alliierten unterzeichnet. Doch dann erklärt Italien Deutschland den Krieg und wird von den Nationalsozialisten besetzt. Als die alternde Wäscherin Agnese einen einheimischen Soldaten bei sich aufnimmt, verpfeifen die Nachbarn sie an die Besatzer. Ihr Mann wird abgeholt und stirbt noch auf dem Weg ins KZ. In einem Racheakt erschlägt Agnese einen Deutschen. Damit nimmt das Schicksal seinen Lauf: Agnese muss fliehen und schließt sich den Partisanen an. Als Botin auf dem Fahrrad übermittelt sie Nachrichten, transportiert Sprengstoff und Lebensmittel. "La Responsabile" heißt die fürsorgliche Agnese bei ihnen. Der Winter 1945 bringt schließlich die Katastrophe: Die Partisanen sind vom Eis eingeschlossen, und Agnese gerät in eine deutsche Kontrolle … Renata Viganò zeichnet in ihrem hierzulande lange vergessenen Roman von 1949 einen Lebensweg nach, der den Leser mit seiner Geradlinigkeit und Kompromisslosigkeit zutiefst ergreift.

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Zum Buch

September 1943: Italien wird von den Nationalsozialisten besetzt. Unversehens wird die alternde Wäscherin Agnese in das Kriegsgeschehen verstrickt: Weil die Nachbarn sie an die Besatzer verpfeifen, wird ihr Mann deportiert. Agnese schließt sich daraufhin den Partisanen an. Als Botin auf dem Fahrrad übermittelt sie Nachrichten, transportiert Sprengstoff und Lebensmittel. Mit schlichter Selbstverständlichkeit setzt sie täglich ihr Leben aufs Spiel.

In ihrem hierzulande lange vergessenen Roman von 1949 zeichnet Renata Viganò einen Lebensweg nach, der den Leser mit seiner Geradlinigkeit und Kompromisslosigkeit zutiefst ergreift.

Zur Autorin

Renata Viganò (1900–1976) veröffentlichte erste Werke schon als junges Mädchen. Dann wurde die ausgebildete Krankenschwester im Widerstand gegen die Faschisten und Nationalsozialisten aktiv, ihr Haus in Bologna war ein bekannter Treffpunkt für Schriftsteller, Philosophen und Partisanen. Von 1945 an schrieb sie Erzählungen und Romane über den politischen Kampf. »Agnese geht in den Tod«, auf Deutsch 1951 bisher nur beim Ostberliner Verlag Volk und Welt erschienen, ist ihr berühmtestes Werk.

Renata Viganò

Agnese geht in den Tod

Roman

Deutsch von Ina Jun-BrodaNeu bearbeitet und mit einem Nachwort von Ulrike Schimming

Band 23 der

Neuausgabe 2014

© 2014 Verlag Silke Weniger, Gräfelfing/Hamburgherausgegeben von Karen Nölle

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenaus dem Italienischen von Ina Jun-Broda,für diese Ausgabe neu bearbeitet von Ulrike SchimmingTitel der Originalausgabe L’Agnese va a morire, erschienen 1949im Verlag I coralli; 1994 bei Giulio Einaudi Editore wiederaufgelegt;deutsche Erstausgabe 1951 im Verlag Volk und Welt, Berlin, DDR.© 1972, 2005 Giulio Einaudi Editore S.p.A., Turin© Nachwort: Ulrike Schimming

Lektorat Karen NölleGestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf, Berlin

ISBN 978-3-942374-66-8

www.editionfuenf.de

Inhalt

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Dritter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Endlich wiederentdeckt!

Bisher bei uns erschienen:

Erster Teil

1

Als Agnese an einem Septemberabend einen Berg nasser Wäsche auf der Schubkarre vom Waschplatz im Dorf nach Hause schob, begegnete ihr auf dem schmalen Feldweg ein Soldat. Er war jung, klein und zerlumpt. Seine Schuhe waren zerschlissen, vorne schauten die schlammverschmierten Zehen heraus. Während Agnese ihn ansah, merkte sie, wie müde sie war. Sie blieb stehen und ließ die Holme los. Die Karre war sehr schwer.

Die Augen des Soldaten aber waren hell und fröhlich. Er salutierte und sagte zu Agnese: »Der Krieg ist aus. Ich gehe nach Hause. Ich bin schon viele Tage zu Fuß unterwegs.«

Agnese knotete ihr Tuch unter dem Kinn auf, schlug die Enden über den Kopf und fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Es ist noch sehr heiß.« Und als fiele es ihr jetzt erst wieder ein, fügte sie hinzu: »Der Krieg ist aus. Ich weiß. Neulich Abend haben sich alle betrunken, als das Radio die Nachricht brachte.«

Sie musterte das Gesicht des Soldaten, und plötzlich huschte ein unbeholfenes Lächeln über ihr wettergegerbtes Gesicht. »Ich glaube, das Schlimmste kommt erst noch«, sagte sie mit der gefassten Ungläubigkeit der Armen.

Aber der Soldat rieb sich die Hände – er war ein sehr fröhlicher Mann. Agnese beugte ihren steifen, dicken Rücken und nahm die Schubkarre wieder auf.

»Bitte …«, sagte da der Soldat und stellte sich selbst zwischen die Holme. Er riss die Karre hoch, der Wäscheberg schwankte, aber der Soldat rief: »Hopp!«, und brachte alles wieder ins Gleichgewicht. Schnell und mühelos marschierte er los und schob das Rad in der tiefen Spurrille vorwärts.

Als sie durch die Lücke in der Hecke traten, sah Agnese auf dem Hof die zwei Töchter von Minghina. Sie fütterten die Hühner, aber sobald sie den Soldaten erblickten, hielten sie inne und tuschelten miteinander.

Das Haus war alt und hätte längst repariert werden müssen, aber keiner tat etwas, weil die beiden Familien, die darin wohnten, sich nicht einigen konnten. »Weibergeschwätz«, sagte Palita, Agneses Mann, dann und rauchte einträchtig mit Augusto, Minghinas Mann, eine Pfeife. Doch wenn die Frauen stritten und sich mit schrillen Stimmen anschrien, sahen sich auch Augusto und Palita böse an und beschimpften einander.

Agnese führte den Soldaten in die Küche. Palita saß am Fenster, die schwarze Katze hockte wie gewöhnlich auf der Anrichte und schnurrte. Beide schauten zu den Eintretenden, dann schloss die Katze die grünen Schlitze im glänzenden Fell und verharrte stumm und unbeweglich wie ein Stein.

»Schwarze Katzen bringen Glück«, sagte der Soldat.

Sie setzten sich zum Abendessen, als es noch hell war. »Iss, Soldat, greif zu«, sagte Palita. Er freute sich, einen von außerhalb zu sehen, der ihm Neuigkeiten berichten konnte. Tatsächlich aber ließ er sich gar nichts berichten, denn er redete die ganze Zeit selbst, so wie es Menschen tun, die viel allein sind. Palita verbrachte seine Tage damit, dass er im Torbogen oder im Haus am Fenster saß, Besen band, Körbe flocht und Weinflaschen mit Stroh umwickelte. Das waren die einzigen Arbeiten, die er tun konnte, denn als Junge war er schwer krank gewesen. In seiner Jugend war er jeden Tag mit dem Rad dreißig Kilometer in die Stadt zur Schule gefahren, damals hätte er sich ein solches Leben bestimmt nicht erträumt. Die Krankheit hatte ihn gezwungen, die Schule aufzugeben. Später hatte er in ein Sanatorium gemusst.

»Dort bin ich gesund geworden, behaupteten die Ärzte. Soweit man eben gesund werden kann, wenn man diese Krankheit hat. Mein Vater war Bauer, dieses Haus gehörte ihm und auch das Land. Aber wir mussten das Land verkaufen und das halbe Haus, weil ich das Feld nicht bestellen konnte. Trotzdem bin ich viele Kilometer mit dem Rad gefahren, um mich mit Agnese zu treffen.«

Er lachte. Er hatte einen großen, freundlichen Mund und gutmütige Augen und sah viel jünger aus als seine Frau.

»Sie hat mich genommen, weil ich gebildeter war als die andern«, sagte er. »Hübsch war sie, groß, weißt du, Soldat, nicht so dick wie jetzt.«

Agnese warf ihm einen strengen Blick zu, aber ihre Augen lachten. »Das kümmert ihn doch gar nicht«, sagte sie, wobei sie auf den Soldaten zeigte. »Hör auf mit diesen alten Geschichten.«

Der Soldat kaute und sprach kein Wort. Ihm war anzusehen, dass er lange gehungert hatte. Mit leerem Magen hatte er in Gräben und unter Bäumen gerastet, trockenes Brot war in diesen Tagen seine einzige Verpflegung gewesen. Er schien etwas müde, aber guter Dinge zu sein: Er fühlte sich wohl und war satt, diesen Menschen konnte er vertrauen und endlich die Füße unter dem Tisch ausruhen. Bald werde ich schlafen gehen, dachte er.

Agnese ging mit dem Eimer zum Brunnen und holte Wasser. Es war dunkel geworden, ein nachtschwarzer Sommerabend, an dem man den Krieg schon nicht mehr spürte, an dem man sich sicher fühlte.

»Sie ist immer tüchtig gewesen, die Agnese«, sagte Palita mit zärtlicher Stimme. »Sie arbeitet an meiner Stelle und wäscht für das Dorf. Sie umsorgt mich wie ein kleines Kind. Ohne Agnese wäre ich nicht mehr am Leben.«

Die Brunnenwinde quietschte, dann waren Agneses Schritte zu hören und das Plätschern des Wassers, das über den Rand des vollen Eimers schwappte.

In der Küche war es bereits stockdunkel. Palita beugte sich zu dem Soldaten hinüber. Er schämte sich plötzlich, dass er immer nur von sich gesprochen hatte. »Freu dich, Soldat«, sagte er, »der Krieg ist aus.« Er wollte ihn fragen, ob er noch eine Mutter habe und ob er froh sei, nun bald nach Hause zu kommen. Aber der Soldat schlief.

Jemand klopfte an die Küchentür. Agnese löschte das Licht und öffnete. Es war Minghina, keuchend und aufgeregt.

»Ihr müsst den Soldaten sofort wegschicken. Meine Töchter haben gesagt, dass viele Deutsche im Dorf angekommen sind. Wenn sie Deserteure finden, dann nehmen sie auch die mit, die sie versteckt haben.«

»Ach, Unsinn«, unterbrach Agnese sie. »In meinem Haus beherberge ich, wen ich will. Das geht die Deutschen nichts an.«

Von der Straße drangen das dumpfe Brummen von Fahrzeugen und das Dröhnen von Lastwagen herüber, die mit laufendem Motor anhielten. Laute Stimmen ertönten, scharf wie Peitschenhiebe.

»Hört Ihr?«, flüsterte Minghina. »Meine Töchter haben gesagt, dass der Faschismus wiederkommt, und alle, die am 25. Juli gejubelt haben, werden nach Deutschland gebracht. Schickt den Soldaten weg.«

Agnese wollte die Tür schließen, aber Minghina hinderte sie daran. »Sie gehen auch in die Häuser, die abseits liegen. Das ganze Land werden sie durchkämmen. Meine Töchter haben im Haus der Faschisten geholfen und die Deutschen mit Wein bewirtet. Sie sind hergelaufen, um mich zu warnen. Wir sind in großer Gefahr.«

Agnese zuckte mit den Schultern. »Eure Töchter wissen immer alles. Sie möchten gern bei andern Leuten kommandieren. Geht lieber schlafen.«

Sie lehnte ihren dicken Körper gegen die Tür und schob Minghina mit einem Ruck nach draußen. Dann machte sie wieder Licht und schaute eine Weile nachdenklich den Soldaten an, der auf einer Matratze schlief. Er hatte nur die Jacke und die Schuhe ausgezogen und lag auf dem Bauch, starr und steif wie ein Toter. Die schwarze Katze strich behutsamen um ihn herum und leckte eine Wunde an seinem Fuß. Agnese hörte Minghina von draußen leise rufen.

»Verschwinde«, rief Agnese, und die Katze flüchtete in das Schlafzimmer, wo Palita laut schnaufte.

Als es dämmerte, kleidete Agnese sich an, stellte das Frühstück auf den Tisch, weckte den Soldaten und sagte ihm, er müsse sofort weg, weil die Deutschen im Dorf seien. Er lief an den Brunnen, um sich zu waschen, unterdessen brachte Agnese Palita seine Tasse warme Milch. Die Tür zum Hof stand offen. Tiefe Stille lag über der Landschaft, ein bleiches Septemberlicht ohne Sonne. Jemand kam barfuß angerannt. Es war ein Junge, der weiter entfernt in der Nähe der Lagune wohnte. Ohne haltzumachen rief er: »Die Deutschen. Sie kommen her.«

Der Soldat wurde blass und schlüpfte rasch in Jacke und Schuhe.

Agnese gab ihm Brot. »Du gehst diesen Pfad entlang. Weiter vorn führt ein breiter Graben unter dem Deich hindurch. Dort versteckst du dich. Heute Abend kommst du wieder. Ich werde dir Zivilkleider besorgen.«

Während er wegrannte, kam das Brummen eines Motors immer näher. Ein kleiner Lastwagen tauchte auf dem Feldweg auf, bremste auf dem Hof, und die Deutschen sprangen herunter. Ihre mechanischen Bewegungen und ihr unmenschliches Aussehen verunstalteten den Hof, die Landschaft, die ganze Welt. Haut, Brauen, Haare, alles hatte die gleiche fahle Farbe. Die zusammengekniffenen Augen waren grausam und trüb wie schmutziges Glas. Die Maschinenpistolen schienen aus dem gleichen Stoff wie sie selbst und mit ihnen verwachsen zu sein. Es waren acht Soldaten und ein Unteroffizier.

Sie gingen auf das Haus zu. Der Unteroffizier hatte einen rosa Zettel in der Hand. »Ottavi, Paolo?«, fragte er, aber aus seinem Mund klang der Name verzerrt und wie ein deutsches Wort. Palita verstand ihn nicht. Er blieb in der Tür stehen und rückte sich die Hose zurecht.

»Antworten!«, brüllte der Unteroffizier. »Wo sein Ottavi, Paolo?«

»Das bin ich«, antwortete Palita. Hinter ihm tauchte Agneses starres und erschrecktes Gesicht auf.

»Hier Deserteure, italienische Soldaten?«, fragte der Deutsche. Er wollte ins Haus treten, aber Agnese stellte sich in die Tür. Im Vorbeigehen stieß er sie leicht mit dem Kolben der Maschinenpistole. Er sah sich in der Küche und im Zimmer um, die Soldaten durchsuchten währenddessen Heuschober, Hühnerhaus und Schweinekoben. Agnese und Palita drückten sich dicht an die Hauswand und folgten ihnen mit den Blicken. Ein Soldat ging auf die verschlossene Tür von Minghinas Wohnung zu.

»Nein«, sagte der Unteroffizier, und der Soldat machte kehrt.

»Ihr, Ottavi, Paolo, mitkommen«, befahl der Deutsche schließlich.

Da trat Agnese zu ihm. Sie war aus ihrer Starre erwacht, rasch und entschlossen ging sie auf ihn zu, wie immer, wenn sie sich zu einer außergewöhnlichen Anstrengung durchgerungen hatte. »Wo bringt Ihr ihn hin?«, fragte sie streng. »Was hat er Euch getan?«

»Arbeiten – lavoro«, erwiderte der Unteroffizier und drehte ihr den Rücken zu. Agnese packte ihn am Arm, aber der Mann wich zurück und riss sich los.

»Er ist krank«, sagte Agnese, »er kann nicht arbeiten.«

»Raus!«, befahl der Deutsche ungeduldig.

Palita nahm Jacke und Hut und ging zwischen zwei Soldaten zum Lastwagen.

Agnese stürzte ihm nach und schlang ihm die Arme um den Hals. Einer der Deutschen versuchte, sie von ihm wegzuziehen, aber sie stieß ihn mit einem Ruck zur Seite.

Da drückte der Soldat ihr den Lauf seiner Maschinenpistole in den Rücken und wiederholte barsch: »Raus!«

Blass und zitternd entfernte sich Palita. Er drehte den Kopf nach hinten und rief: »Schon gut, Agnese, schon gut. Sonst wird es nur noch schlimmer. Gib auf das Haus acht und pass auf, dass sie dir das Schwein nicht stehlen.«

Die Deutschen kletterten auf den Lastwagen und zogen Palita an den Armen hinauf. Agnese war mit erhobenem Gesicht mitten auf dem Hof stehen geblieben. Sie hörte, wie der Motor ansprang, der Lastwagen fuhr los, bog in den Feldweg ein und holperte über die Spurrillen. Sie rannte hinterher.

»Sie sagen, dass wir im Dorf an der Schule halten werden«, rief Palita, »bring mir Essen und Wäsche. Ich werde mich bei der Untersuchung ausmustern lassen …«

Atemlos und mit klopfendem Herzen schleppte Agnese ihren schweren Körper weiter. Sie wollte schreien: ›Addio, Palita!‹, aber sie schaffte es nicht. Sie sah der geliebten, jugendlichen Gestalt nach, die dort zwischen Gewehren und lachenden deutschen Gesichtern auf dem Lastwagen stand.

»Bleib stehen, Agnese«, rief er. »Pass auf die Katze auf …« Es waren die letzten Worte, die sie von ihm hörte. Die anderen verschluckte das immer lauter werdende Dröhnen des Motors.

Nach diesem wahnwitzigen Lauf keuchte Agnese noch eine ganze Weile heftig. Sie hatte Seitenstiche. Schlurfend kehrte sie zum Haus zurück und setzte sich in die Küche, damit das Herzklopfen verging. Sie schaute sich um und hoffte, es würde sein wie in manchen Nächten, wenn man von einem Berg zu fallen glaubt und dann im Bett aufwacht. Agnese schloss die Augen und öffnete sie wieder, um Palita über den Haufen aus Weidenruten gebeugt zu sehen. Doch sie sah nur die schwarze Katze, die aufrecht und wach an ihrem gewohnten Platz auf der Anrichte saß.

Agnese kochte in einem kleinen Topf Nudeln und machte einen Korb mit Lebensmitteln und ein Bündel Wäsche zurecht. Dann wechselte sie das Kleid und schlüpfte in die Schuhe. Schwitzend und bepackt kam sie im Dorf an. Alle beobachteten sie, doch keiner wagte es, sie anzusprechen. Auf der Piazza standen einige Frauen und weinten. Im verlassenen Schulgebäude stieß Agnese auf zwei Wachsoldaten.

»Männer abgereist«, sagte der eine, als er sie mit dem Korb eintreten sah.

»Wo sind sie hin?«, fragte sie atemlos.

»Ich nicht wissen«, antwortete der Deutsche.

Da ging sie wieder zurück. Vor dem Haus der Faschisten räusperte sie sich, sammelte Speichel im Mund und spuckte aus. Auf der Hälfte des Feldwegs stellte sie Korb und Bündel auf den Boden, setzte sich ins Gras und zog die drückenden Schuhe aus. Erst jetzt merkte sie, dass sie seit dem Morgen nichts gegessen hatte. Sie nahm den kleinen Topf und den Löffel und aß die Nudeln. Palita kommt nicht wieder, dachte sie. Palita stirbt. Palita ist tot. Sie fing an zu weinen, und die Tränen fielen auf jeden vollen Löffel.

2

Agnese wartete. Sie glaubte nicht mehr, dass Palita zurückkehren würde. Die Deutschen lassen keinen entkommen, dachte sie. Und wenn doch einer entwischen konnte, so war das gewiss nicht Palita, der schwach und unentschlossen war. Aber der Soldat, der sich im Graben unter dem Deich versteckt hatte, würde wiederkommen, um die Zivilkleidung zu holen, die sie ihm versprochen hatte, oder zumindest, um zu erfahren, was geschehen war.

Die schwarze Katze war ihr lästig. Sie strich im Hause herum, als suchte sie jemanden, und sprang ihr auf den Schoß, aber Agnese stieß sie unwirsch hinunter.

»Schschsch«, zischte sie und klatschte in die Hände. Die Katze machte einen Satz, lief auf die Wiese, hockte sich ins Gras und starrte Agnese, die auf der Türschwelle saß, aus weit geöffneten grünen Augen an.

Ein Dröhnen in der Luft durchschnitt die Mittagsstille. Es waren vier schnelle, funkelnde Flugzeuge. Kaum hatte Agnese sie erblickt, stießen sie mit irrsinnigem Heulen herunter, als stürzten sie ab. Sie bombardierten die Brücke. Drei, vier Einschläge waren zu hören, und dann aufs Neue das hellere Singen der Motoren, während die Flugzeuge wieder an Höhe gewannen. Auf der anderen Seite des Flusses zogen sie einen weiten Bogen und kamen im Sturzflug zurück. Agnese rührte sich nicht. Die Brücke haben sie nicht getroffen, dachte sie, gleich kommen sie wieder. Doch vorher vernahm sie Stimmen und Schritte von vielen Menschen, die angerannt kamen. Die Dorfbewohner flüchteten auf die Felder. Sie warfen sich in die Gräben und hinter die Hecken. Doch dann schien ihnen der Platz nicht sicher genug, sie rappelten sich hoch und rannten weiter. Viele hatten sich keuchend auf dem Hof zusammengedrängt und schauten nach oben. Die Jagdbomber kamen zurück, flogen eine weite Kurve, wobei sie einen weißen Streifen hinter sich herzogen, und heulten im Sturzflug heiser auf. Wieder krachten Bomben, ganz in der Nähe knatterten vier oder fünf übermütige Maschinengewehrsalven.

»Sie schießen!«, schrien alle und warfen sich auf den Boden, obwohl das zwecklos war, denn so ausgestreckt waren sie auf dem leeren Hof weithin sichtbar.

»Ins Haus, ins Haus!«, schrie einer.

Agnese ließ sie ein, und im Nu waren Küche und Zimmer gedrängt voll. Auch zwei deutsche Soldaten waren dabei.

»Keine Angst, keine Angst!«, sagte der eine.

Doch sein Kamerad war blass. Er hockte sich in eine Ecke, blickte zu Boden und wiederholte unablässig mit schüchternem, verzagtem Lächeln: »Krieg nicht gut.«

Die verspäteten Schüsse der Flak füllten den Himmel mit runden Wölkchen. Aber die Flugzeuge hatten ihren Angriff beendet und flogen davon. Ihr Dröhnen war bald nur noch ein undeutliches Gemurmel. Schließlich ertönte sechsmal das quälende Heulen der Sirene auf der Zuckerfabrik. Den Alarm schlugen sie immer erst, wenn die Bomber längst weg waren, weil sie auf die Warnmeldung aus der Stadt warten mussten. Daher betrachteten die Leute das Sirenengeheul als Entwarnung. Sofort liefen viele hinaus auf den Hof. Vom Dorf her hörte man Schreien und Jammern. Dort, wo die Brücke war, stand unbeweglich eine hohe Rauchsäule wie ein großer, weißer Baum. Offenbar waren einige Häuser getroffen worden.

»Hinaus, hinaus mit euch«, rief Agnese und stieß die Leute an den Schultern. Auch die beiden Deutschen drängte sie hinaus und drei oder vier Frauen, die gern geblieben wären.

Die eine drehte sich um. »Meinen Mann haben sie auch mitgenommen«, sagte sie, »und Ivo und Silvio, Cencios Sohn, und Ottavio aus der Mühle …« Bei jedem Namen zeigte sie auf eine der Frauen. Da brachen alle in Tränen aus und drückten sich die Taschentücher vor die Gesichter.

Agnese stand einen Augenblick still und sah die Frauen an, dann holte sie Stühle. »Setzt euch.« Eine Woge aus Jammern, Klagen und flehenden Rufen erhob sich, wie der Chor einer griechischen Tragödie.

Agnese blieb stumm und starrte die Frauen mit leerem Blick an. »Unsere Männer kommen nicht wieder«, sagte sie unvermittelt. »Könnte man doch nur alle Deutschen töten.«

Während des Luftangriffs waren auch Minghina, ihr Mann und ihre Töchter wieder aufgetaucht. Sie sprachen aber mit niemandem und schlossen sich in ihrer Wohnung ein. Die Leute brachen auf und kehrten ins Dorf zurück. Es war der erste Luftangriff, den sie mitgemacht hatten, und alle liefen zur Brücke, um die getroffenen Häuser anzusehen. Als die Letzten, die von den Feldern kamen, vorbeigezogen waren, trat Augusto bei Agnese ein. Er wollte offenbar über Palita sprechen, aber er wusste anscheinend nicht, was er sagen sollte. So blieb er unentschlossen stehen und zog nur kräftig an seiner kalten Pfeife. Agnese dachte daran, wie oft er und Palita mit ihren Pfeifen zusammen auf der Gartenmauer gesessen hatten, und ihr kamen die Tränen.

»Palita lässt Euch grüßen«, sagte sie und ging sofort hinaus, wobei ihre müden, dicken Füße in den ausgetretenen Pantinen schlurften.

Agnese folgte dem Weg auf dem Deich bis zum Graben, der darunter hindurchführte. Der Soldat war nicht mehr da. An dem niedergedrückten Gras erkannte sie die Stelle, an der er viele Stunden lang gesessen und voller Angst vor den Deutschen zu dem Haus hinübergesehen haben musste. Er ist aufgebrochen, dachte Agnese, trotz der Uniform, nur um nach Hause zu kommen. Er ist in sein Dorf zurückgekehrt. Denn bei all den Flugzeugen und dem Durcheinander auf den Straßen wird ihn keiner beachtet haben. Und jetzt ist er zu Hause bei seiner Mutter. Er klopft an die Tür, seine Mutter öffnet und erkennt ihn. Und unterdessen haben die Deutschen Palita mitgenommen.

Der Abend senkte sich kühl auf die dunkle Feuchtigkeit der Landschaft, der erste von vielen Abenden ohne Palita. Die Welt schien fremd und verändert. Eine neue Welt, in der es keine Arbeit mehr für Agnese gab: Ihre alte Bauernkraft war zu nichts mehr nütze. Aber sie verfluchte den verschwundenen jungen Soldaten nicht, der den Weg nach Hause suchte, und sie bereute es auch nicht, ihm geholfen zu haben. Es war nicht seine Schuld. Er hatte im Krieg gelitten, er war hungrig und müde gewesen, und es war richtig, ihm Essen und Unterkunft zu geben. Allerdings stieg in Agnese ein ausgewachsener Hass, zwar gezügelt, aber erbarmungslos, gegen die Deutschen hoch, die sich als Herren des Landes aufspielten, und gegen ihre faschistischen Diener, die untereinander verfeindet waren, aber geschlossen gegen arme Leute wie sie vorgingen, die ein mühsames und schutzloses Leben führten.

Sie kehrte rechtzeitig ins Haus zurück, um das Schwein zu füttern. Auf dem ungemachten Bett fand sie die Katze; sie hatte sich auf Palitas Hemd zusammengerollt und schlief.

Agnese machte weiter, niedergedrückt von ihrer Unfähigkeit zu hoffen. Nach einigen Tagen kam ein Brief von Palita, nur ein paar mit Bleistift geschriebene Zeilen. Agnese konnte nur wenig davon lesen, die Worte waren fast verwischt, und sie verstand nicht genau, was das alles bedeuten sollte. Sie faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Geldbörse, ohne es jemandem zu zeigen. Oft betrachtete sie es und weinte: Die Schrift verschwand immer mehr unter den Tränen, die darauftropften.

Eines Abends besuchten drei Männer Agnese. Toni und Mingúcc, die in der Nähe des Dorfes wohnten und alte Freunde von Palita waren, und ein ihr unbekannter junger Mann. Sie traten in die Küche, als Agnese gerade eine Jacke flickte, um sie in die Kommode zu Palitas anderen Kleidungsstücken zu legen, die sie bereits in Ordnung gebracht hatte.

»Guten Abend«, sagte einer der beiden Alten. »Wir wollten Euch besuchen.«

Agnese bot ihnen Platz an, und der Jüngere legte rasch die Sicherheitskette an der Tür vor.

»Ihr wisst bestimmt, dass Palita in unserer Partei ist«, sagte Mingúcc. Er zeigte auf den jungen Mann, der am Tisch saß und ein nettes, knabenhaftes Gesicht hatte. »Ihr könnt ruhig sprechen. Der da ist auch ein Genosse, einer der führenden Genossen aus der Stadt. Er kennt Palita und weiß, wie tüchtig er ist.«

Agnese sah sie an, einen nach dem anderen, und in ihrem runden, verwirrten Gesicht stand aufmerksame Verwunderung, als strengte sie sich an, genau hinzuhören und aus diesen Worten das Echo von Palitas ferner Stimme zu vernehmen.

»Mein Mann hat davon erzählt, aber Politik und Partei, das ist Männersache. Ich habe mich nie darum gekümmert. Ich weiß nur, dass er die Faschisten immer gehasst hat und später auch die Deutschen. Er sagte, dass die Kommunisten sich um alle kümmern, auch um die Herren, die uns ausbeuten, und dass sie reinen Tisch machen würden.« Der kaum sichtbare Schatten eines Lächelns huschte über ihre Augen. »Genau das hat er gesagt: reinen Tisch machen.«

Die drei nickten. »Dafür müssen wir arbeiten«, sagte der Jüngste. »Palita ist ein guter Genosse. Er hat viel für die Sache getan …«

»Wenn es etwas gibt, was ich tun kann …«, unterbrach Agnese ihn. Sie wurde rot, als hätte sie sich zu viel herausgenommen, und knotete das Kopftuch unter dem Kinn fester. »Wer weiß, ob ich dazu tauge«, fügte sie hinzu.

Da erklärten sie ihr, was sie tun sollte, und Agnese sagte Ja, erstaunt, dass es so leicht war. Man sah, dass sie sich freute und allen Mut zusammennahm. Sie wagte sogar, ihre eigene Meinung zu äußern, und die Genossen stimmten ihr zu.

»Also, wir haben uns verstanden«, sagte der Jüngste, alsalles besprochen war. »Aber seid vorsichtig. Wenn die Euch erwischen, ist es aus mit Euch.« Er lächelte mit seinem Knabengesicht. »Palita soll Euch doch antreffen, wenn er zurückkommt.«

Agnese holte eine Flasche und Gläser. »Ich werde mich von denen schon nicht erwischen lassen, aber Palita kommt nicht wieder«, sagte sie, während sie den Wein einschenkte. Die Tränen zeichneten zwei Streifen auf ihr rundes, starres Gesicht. Sie wischte sie mit den Zipfeln ihres Kopftuchs weg, verärgert, dass sie vor den anderen geweint hatte. Die Genossen klopften ihr auf die Schulter und schimpften sie wegen ihrer Worte aus. Dann zeigten sie dem Unglück lachend die Hörner, um es zu vertreiben.

Die drei Männer brachen auf. »Wer, glaubt Ihr, hat den Faschisten den Namen Eures Mannes verraten?«, fragte Toni, bevor er die Tür öffnete. Dabei zeigte er mit dem Daumen auf die Wand, hinter der Minghinas Wohnung lag.

»Ja«, antwortete Agnese, »das habe ich mir gleich gedacht. Wenn ich es genau wüsste …« Sie drückte ihre großen, abgearbeiteten Hände heftig gegen die Tischkante. Ein volles Glas fiel um.

»Prost«, sagten die Genossen, als sich der Wein über den Tisch ergoss. »Seid unbesorgt, wir finden es heraus. Und wer es war, den machen wir fertig.«

Und der Jüngste machte eine Handbewegung, als drehte er einem Huhn den Hals um. Agnese verstand die Worte nicht, wohl aber die Geste. Und dieses Mal lächelte sie plötzlich fröhlich.

Nach dem Unglück mit Palita änderte Agnese allmählich ihre Lebensweise. Anfangs hatte sie beschlossen, nicht mehr waschen zu gehen. Sie hatte etwas Geld beiseitegelegt und glaubte, sie werde allein mit wenig auskommen und es sei sinnlos, weiter zu arbeiten, wenn Palita nicht mehr da war. Doch dann kehrte sie zum Waschplatz zurück, schlug wieder die Laken auf den glatten Stein und goss Kübel voll kochender Lauge über die Wäsche, die im Kessel schwamm. Auf der Wiese flatterten wieder den ganzen Tag große Leinentücher zum Trocknen an langen Drähten. Gegen Abend nahm Agnese die trockene, nach Seife duftende Wäsche ab. Sie löste die Klammern, zog flink ein Stück nach dem anderen herunter und warf es sich über die Schulter. Wenn sie damit fertig war, ging sie nach Hause. Ihr Kopf verschwand hinter der schwankenden Wäsche. Es sah aus, als trüge sie einen kleinen Schneeberg auf dem Arm. Aber die schwere Arbeit machte ihr nichts aus. Nur ihre angespannten, kräftigen Beinmuskeln ließen erahnen, wie sehr sie sich anstrengte.

Die Jungen, die zum Fischen in der Lagune gingen, riefen ihr lachend zu: »Gute Nacht, Panzer.«

Normalerweise holte Agnese mit ihrer Schubkarre die schmutzige Wäsche im Dorf ab und brachte die saubere wieder zurück. Nun aber kamen viele Leute, Männer und Frauen, Fremde, anscheinend Flüchtlinge, zu ihr ins Haus. Mit Körben und Bündeln kamen sie den Feldweg entlang und riefen: »Wäscherin, Wäscherin!«

»Ist Agnese da, die Wäscherin?«, fragten sie, wenn sie Minghina oder ihre Töchter vor dem Haus antrafen.

Manchmal antworteten die Mädchen: »Nein, sie ist nicht zu Hause. Wenn Ihr die Sachen hierlassen wollt …«

Aber die Leute lehnten immer ab. »Danke, nein, ich muss die saubere Wäsche mitnehmen«, sagten sie oder: »Ich wollte bezahlen. Ich werde auf sie warten.«

Dauerte es zu lange, nahmen sie ihre Bündel wieder mit. »Ich komme lieber morgen noch mal wieder.«

Minghina und die Mädchen hätten zu gern gesehen, ob es feine Wäsche aus der Stadt war, und die Stücke gezählt, um auszurechnen, was Agnese wohl verdiente. Agneses unverhoffter Lohn ließ ihnen keine Ruhe. »Wer weiß, wie viel sie beiseitelegt. Sie ist allein und gibt fast nichts aus. Sie wird wohl eine reiche Dame werden«, sagten sie.

Manchmal ließen sie ihr gegenüber eine Bemerkung fallen. Denn allmählich hatte sich die nachbarschaftliche Beziehung durch das tägliche Leben Tür an Tür, die gemeinschaftliche Benutzung von Backofen, Schweinekoben und Hof fast wieder normalisiert. Doch Agnese antwortete kurz und bündig nur das Notwendigste, kein Wort zu viel. Die Neugierde der aufgeregten Nachbarn prallte an ihrer Gleichgültigkeit ab wie ein Erdklumpen, den man an eine Wand wirft.

Eines Tages hatte Agnese ihre Karre zu schwer mit sauberer Wäsche beladen. Kräftig schob sie die Holme, steif vorgeneigt, wie ein abgesägter Baum, der umzufallen drohte. Sie schwitzte trotz des schon winterlichen Abends. Die Luft war feucht vom Regen, der gerade aufgehört hatte. Das Rad stieß an einen Stein, die Karre neigte sich zur Seite und kippte um. Die Wäsche fiel in den Schlamm: Nun musste sie die ganze Arbeit noch einmal machen. Agnese brummte wütend, zog die Karre unter dem Wäscheberg hervor und richtete sie auf.

Minghina kam und fragte: »Sollen wir Euch helfen? Soll ich die Mädchen rufen?«

»Ich schaff das schon allein«, entgegnete Agnese.

Aber Minghina ließ nicht locker und trat näher. »Ich möchte mit Euch reden«, sagte sie leise. »Ich denke schon lange darüber nach. Weil doch meine Große jetzt nichts zu tun hat, könnte sie Euch nicht helfen und für Euch arbeiten? Nur damit sie sich etwas verdient.«

Agnese kämpfte mit der Last der feuchten, schlammbedeckten Wäsche. Es war so kalt, dass ihre roten Hände wie gehäutet erschienen, sie konnte sie nicht mehr zusammenballen. Sie waren steif wie Totenhände, und die Wäschestücke, die Agnese bereits aufgehoben hatte, fielen wieder zu Boden. Ihr Gesicht war mit Schweiß bedeckt, den der Wind trocknete.

»Habt Ihr mich verstanden?«, fragte Minghina.

Agnese streckte den Rücken und keuchte. Sie konnte nicht sprechen und schüttelte nur den Kopf.

Es war schon Nacht, als sie mit der Wäsche fertig wurde. Das Feuer in ihrer Wohnung war ausgegangen, und sie hatte keine Lust, es wieder anzufachen. So aß sie einen Teller kalte Nudeln und ging zu Bett. Bei Tagesanbruch taten ihr die Hände noch immer weh.

3

Im Winter trafen im Dorf die ersten Karten der Deportierten aus Deutschland ein. Sie waren alle gleich: Viel Platz für den Absender und die Anschrift des Empfängers, verschiedene Stempel, Siegel und Symbole der Macht des Reiches und nur wenige Zeilen für die Mitteilung. Doch die Familien weinten jedes Mal vor Freude, wenn Post eintraf. Ihnen genügte der Name, den ›er‹ – noch am Leben – geschrieben hatte. Er war zwar unvorstellbar weit weg, eingesperrt in einem Konzentrationslager, aber er lebte. Die Karten waren einen Monat alt, und in einem Monat konnte wer weiß was geschehen sein, aber daran dachte niemand. Unter Tränen küssten die Frauen diese Karten und steckten sie an die Türen der Küchenschränke, zwischen Glasscheibe und Rahmen, um sie immer vor Augen zu haben. Die Karten bewahrten ein Gefühl der Nähe.

Agnese bekam nichts. Sie glaubte weiterhin, dass Palita tot war, wie sie es vom ersten Augenblick an getan hatte. Tagsüber lenkte sie sich durch die gewohnte Arbeit und die neuen Pflichten ab. Ihr wacher, aber einfacher Verstand konnte nicht mehreren Dingen gleichzeitig folgen. Solange sie mit anderen Gedanken beschäftigt war, nahm sie Palitas Verlust nur als unablässigen Druck auf dem Herzen wahr. Abends aber fiel alles andere von ihr ab, und dann wurde ihr das Unglück schmerzlich bewusst. Sie weinte. Die schwarze Katze lag am Fußende des Bettes auf Palitas Seite. Agnese schlief wenig und weinte viel. Doch am Morgen dachte sie wieder an die anderen Dinge des Lebens, eines harten Lebens zwischen Mühsal und Gefahr für sie, die fast schon alt war und allein.

Eines Abends besuchte sie der Unbekannte vom ersten Mal wieder. Er sah sehr abgemagert und müde aus, stellte einen Korb auf den Boden und setzte sich mit einem tiefen Seufzer hin. An seinen schlammbedeckten Schuhen erkannte Agnese, dass er einen weiten Weg zurückgelegt hatte. Sie hatte ihn seit dem ersten Mal nicht wieder getroffen, aber sie wusste, dass er ihr die Körbe und die Bündel mit der Wäsche für die Genossen schicken ließ, in denen ›das Zeug‹ versteckt war und die genauen Anweisungen, zu wem es gebracht werden musste. Sie wunderte sich, ihn zu sehen, und wurde rot aus Angst, etwas falsch gemacht zu haben.

Aber er streckte ihr die Hand über den Tisch entgegen. »Du bist eine gute Genossin, Agnese.« Dann erhob er sich, um die Kette an der Tür vorzulegen. Sie schwiegen eine Zeit lang. Draußen lag dichter Nebel über der Lagune. Das Haus schien wie ausgestorben, verloren in einem Meer grauer Wellen.

»Ich gehe jetzt«, sagte der junge Mann schließlich, »noch heute Nacht muss ich in der Stadt sein. Es gibt hier noch eine gefährliche und riskante Aufgabe. Aber ich schaffe das nicht rechtzeitig. Ich dachte, du könntest mir helfen.«

»Wenn ich dazu tauge…«, antwortete Agnese. Das sagte sie immer, wenn sie zur Mitarbeit aufgefordert wurde.

Der Mann zog ein Paket aus dem Korb. »Das muss nach San P. gebracht werden, fünfundzwanzig Kilometer von hier. Nimm das Fahrrad. Kennst du den Weg?«

Agnese nickte. Sie war ganz aufmerksam, stützte die Hände auf die Tischkante und kniff die Augen zusammen, um alles genau zu verstehen.

»Auf keinen Fall darfst du über die Brücke fahren. Dort sind die Deutschen und kontrollieren alles. Fahr am Fluss entlang über die Felder, ungefähr einen Kilometer, dann kommst du an einen Steg. Du fährst durch das Dorf bis zu Magòn, dem Schmied. Er wohnt im letzten Haus, einem roten Haus. Frag nach ihm und sag ihm, Tarzan schickt dich.«

Er öffnete das Paket. Es enthielt in gelbes Papier eingewickelte Würfel, die wie Waschseife aussahen. »Aber pass auf«, fügte er hinzu. »Das Zeug kann explodieren.«

»Ich verstehe«, sagte Agnese. Sie stand auf, schenkte Wein ein, legte ein Tischtuch auf. »Jetzt müsst Ihr essen«, sagte sie, schnitt Salami und Brot in Scheiben und sah zu, wie der Genosse große Happen abbiss.

»Seit heute früh bin ich unterwegs«, erklärte er mit vollem Mund, als wollte er sich entschuldigen.

»Da ist noch etwas anderes«, wagte Agnese mit glühenden Wangen zu sagen. Den Genossen gegenüber war sie schüchtern und wurde ohne jeden Anlass rot. »Ich habe in den letzten Monaten mit dem Wäschewaschen viel verdient und möchte Euch etwas Geld geben.« Sie knöpfte die Bluse auf, zog ein Päckchen hervor und öffnete es. Drei Tausendlirescheine waren darin. »Ich weiß, ihr braucht viel davon, für all die versteckten Jungs und für alles andere. Ich allein, ohne Palita, brauche das Geld nicht.« Sie starrte auf einen hellen Fleck, eine Lichtspiegelung in einem der halbgefüllten Weingläser. »Ich gebe es Euch, ohne Euch beleidigen zu wollen«, schloss sie.

Der Genosse leerte das Glas, nahm das Geld, steckte es in die Tasche und drückte Agnese die Hand. »Ich gehe jetzt«, sagte er und lächelte ihr zum ersten Mal zu. »Und Dank für alles, Agnese.«

Als er die Tür öffnen wollte, drehte er sich noch einmal um. »Wenn sie dich unglücklicherweise erwischen…« Er legte den Zeigefinger auf die Lippen.

»Sie können mich totschlagen, wenn sie wollen«, sagte Agnese und spuckte aus.

Der Mann trat hinaus und wurde sofort vom Nebel verschluckt. Sie blieb am Türspalt stehen und lauschte seinen gedämpften Schritten im Schlamm des Feldwegs.

Am frühen Morgen zog Agnese ihre Schuhe und den Wintermantel an, der sie noch dicker machte, und hängte den vollen Korb an den Lenker des Fahrrads. Zufrieden stellte sie fest, dass die Fenster im Haus geschlossen waren. Bei Minghina schliefen noch alle. Sie fuhr los und schwankte beängstigend auf dem gefrorenen Boden. Auf der Landstraße ging es dann etwas besser. Es war eisig kalt, doch vor lauter Anstrengung merkte Agnese es nicht.

Sie radelte durch das Dorf, das öde und verlassen schien. Die Deutschen waren fort, nur ein kleiner Trupp residierte noch im Haus der Faschisten. Sie tranken und spielten ununterbrochen mit den Faschisten des Ortes und gingen spät zu Bett. Bestimmt war zu dieser Stunde noch keiner auf. Agnese trat in die Bar und ließ sich von dem verschlafenen Besitzer, der übrigens auch ein großer Faschist war, einen Espresso mit Schuss geben. Bevor sie trank, stellte sie den Korb auf die Theke.

»Guten Morgen, Agnese«, grüßte der Barmann. »So früh schon unterwegs?«

»Ich fahre zur Chiavica, die Wäsche holen«, antwortete Agnese.

»Habt Ihr Nachricht von Palita?«, fragte er.

»Palita ist tot«, erwiderte Agnese fast zornig. Und doch musste sie, als sie wieder auf das Rad stieg, lachen bei dem Gedanken, dass sie mit dem ›Zeug, das explodieren kann‹, in der Bar gewesen war.

Der Weg war sehr mühevoll und beschwerlich. Agnese musste häufig absteigen und das Rad schieben, wenn es im Schlamm stecken blieb. Die Strecke über die Felder, mit der sie die Brücke umging, legte sie zu Fuß zurück. Schwankend wagte sie sich auf den Steg und nahm das Rad auf die Schulter. In der Mitte fürchtete sie, ins Wasser zu fallen, denn die Bohlen wankten, und die schnelle Strömung darunter machte Agnese schwindlig. Doch sie behielt das Gleichgewicht und erreichte das andere Ufer. Sie schob das Rad den steilen Deich hinauf und auf der anderen Seite hinunter. Endlich war sie wieder auf der Straße. Sie hatte viel Zeit verloren, vom Turm der Dorfkirche schlug es Mittag.

Zumindest schien es Agnese so. Doch als sie näher kam, merkte sie, dass es eine Totenglocke war. Sie war nun schon mitten im Dorf und fuhr auf die Piazza, die sie so rasch wie möglich überqueren wollte. Aber da hielt sie so unvermittelt an, dass sie beinahe gestürzt wäre, denn wütendes Herzklopfen hatte sie überkommen und raubte ihr den Atem.

Auf der Piazza drängte sich eine Menschenmenge. Alle blickten in eine Richtung, wo am Ende des Platzes an einem kahlen Baum ein Hingerichteter hing. Unnatürlich lang schien er, wie aus Holz. Die Zehen seiner riesigen Füße zeigten zur Erde, auf seiner Brust prangte ein weißes Schild. Um den Baum standen drei oder vier Deutsche und einige Soldaten der Republikanischen Nationalgarde. Sie lachten und stampften mit den Füßen, um sich aufzuwärmen. Einer von ihnen schlug mit einem Knüppel regelmäßig gegen die Knie des Toten, so dass er hin- und herschwang, im Takt der Glocke. Und die anderen johlten im Chor: »DING-DONG, DING-DONG.«

Aus dem Haus gegenüber drangen spitze Schreie. Jemand weinte verzweifelt. Dann aber wurden Fenster und Tür geschlossen, und nichts war mehr zu hören.

»Glocke genug«, sagte einer der Deutschen.

Sofort lief ein faschistischer Milizionär zur Kirche, und nach einer Minute schwieg die Glocke.

Die Menschen auf der Piazza standen noch immer stumm und reglos in der feuchten Luft, als wären sie aus Stein. Die Deutschen sangen ein Kampflied in ihrer Sprache und zusammen mit den Faschisten die Giovinezza. Schließlich schrie einer mit hoher, brüchiger, fast weiblicher Stimme: »So machen wir es mit Spionen und Verrätern!«, und schoss eine Salve aus seiner Maschinenpistole in die Luft.

Eine Frau aus der Gruppe machte einen Schritt und sank bewusstlos zu Boden, schlaff wie ein Lumpen. Schwarz lag sie da, im Schlamm. Alle sahen einander unschlüssig an, keiner wagte es, ihr zu helfen. Der Deutsche ging auf die Menge zu, drängte sie zurück, so dass eine Gasse zwischen den entsetzten bleichen Gesichtern entstand. Er stieß leicht mit dem Fuß gegen den Körper am Boden. »Schafft sie weg! Weg, weg!«, schrie er.

Alle rannten wild durcheinander, wie eine Schafherde.

Agnese drehte sich langsam um und schob ihr Fahrrad in eine Gasse zwischen zwei Häusern. Zuvor aber entzifferte sie mühsam aus der Ferne das Wort, das in großen Buchstaben auf das Schild des Hingerichteten geschrieben war: ›Partisan‹.

Agnese umrundete das Dorf von außen und fand das rote Haus. Fenster und Türen waren geschlossen, ebenso die Werkstatt des Schmieds. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und hustete, um sicherzugehen, dass sie noch einen Ton hervorbringen konnte. Bis jetzt war sie so angespannt gewesen, dass ihr der Hals wehtat. Sie klopfte. Eine Frau öffnete die Tür, aber nur ganz wenig, und spähte durch den Spalt.

»Ich suche Magòn«, sagte Agnese.

Die Frau machte die Tür etwas weiter auf, und ein eingefallenes, aber doch hübsches Gesicht kam zum Vorschein. »Wer schickt Euch?«, fragte sie.

»Tarzan schickt mich.«

Offenbar hatte die Frau diese Antwort bereits erwartet. »Kommt herein«, sagte sie und half Agnese, das Fahrrad in den Flur zu schieben, und schloss sofort die Haustür hinter ihr. Dann öffnete sie die Küchentür. Drei Männer saßen an der Feuerstelle und drehten sich abrupt um.

»Die Staffetta von Tarzan ist da«, sagte die Frau.

»Guten Tag«, murmelte Agnese. Sie zitterte so sehr, dass ihre Worte kaum zu hören waren.

Aber die drei antworteten: »Seid gegrüßt.«

»Was habt Ihr angestellt, dass Ihr so zittert?«, fragte der eine. Er war klein, hatte muntere Augen und das gleiche magere, aber hübsche Gesicht wie die Frau. »Haben Euch die da Angst eingejagt?« Er zeigte zum Fenster und spuckte in die Asche.

Agnese wurde rot, zuckte mit den Schultern und ließ sich auf den erstbesten Stuhl fallen. Schließlich sagte sie mit fester Stimme: »Die Füße tun mir weh. Ich kann nicht mehr. Entschuldigt, wenn ich die Schuhe ausziehe.« Sie reichte den Korb hinüber, den sie noch immer in der Hand hielt. »Das hat mir Tarzan gegeben. Aber geht damit nicht zu nah ans Feuer. Er hat gesagt, dass es explodiert.«

Alle sprangen auf.

»Gehen wir rüber«, sagte der, der zuvor gesprochen hatte.

Nur die Frau blieb. Sie sah Agnese an. »Inzwischen bereite ich Euch was zu essen. Macht es Euch nur bequem.«

Agnese bückte sich, zog Schuhe und Strümpfe aus und stellte die breiten, platten Füße auf die kalten Steinfliesen. »Ah…«, seufzte sie und starrte ihre Füße an: Sie waren dunkel und unförmig, die knotigen, krummen Zehen sahen aus wie die freigelegten Wurzeln eines alten Baumes.

Gleich nachdem sie etwas gegessen hatte, brach Agnese wieder auf, denn in dieser Jahreszeit und bei dem Nebel wurde es früh dunkel, und sie musste noch mehr erledigen, bevor der Tag endete. Magòn, der magere Mann, erklärte ihr, was sie zu tun hatte. Auf dem Heimweg sollte sie einige Genossen verständigen, dass sie sich in der Nacht und auch am nächsten Tag in Acht nehmen sollten. Es könnte nämlich sein, dass die Deutschen eine große Durchkämmungsaktion in der Gegend machen würden.

»Aber in meinem Dorf sind nur noch wenig Deutsche«, sagte Agnese und zog missmutig die Schuhe wieder an.

»Heute Abend werden alle Dörfer und Ortschaften an der Straße voll von deutschen Soldaten sein. Es kommt eine ganze Division, die auf dem Weg zur Front ist«, sagte Magòn.

Einer der drei Männer begleitete Agnese ein Stück mit dem Rad. Sie überquerten die Piazza, wo der Tote noch immer einsam an dem Baum hing. Agnese fuhr langsamer.

»Kann man ihn nicht herunternehmen?«, fragte sie und wandte sich ab, um den Körper, der zu einem langen, braunen Stock zusammengeschrumpft war, nicht ansehen zu müssen.

»Nein, noch nicht«, antwortete der Genosse. »Vom Haus der Faschisten aus bewachen sie ihn. Drei Tage soll er hängen.« Schweigend radelte er weiter, bis sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten. Dann fügte er hinzu: »Heute Nacht holen wir ihn.«

Als die Brücke in Sicht kam, verabschiedete er sich. Da der Korb nun leer war, brauchte Agnese den Wachtposten nicht zu umgehen. Sie musste nicht einmal absteigen, denn die beiden Soldaten, die vor Kälte fast erstarrt waren, hatten keine Lust, sie zu kontrollieren. Bis zum nächsten Dorf traf sie keinen Menschen. Dort machte sie bei einem Genossen halt und überbrachte ihm Magòns Botschaft. Das Gleiche musste sie noch zwei- oder dreimal tun. Sie war müde und fuhr keuchend weiter.

Der Nebel senkte sich, und es wurde dunkel. Hin und wieder begegnete sie deutschen Autos und Lastwagen. Sie sah sie auf den Piazzen der Dörfer stehen: Es war die eintreffende Division, von der Magòn gesprochen hatte. Mit einfältiger Freude stellte Agnese fest, dass die Genossen außerordentlich gut informiert waren.

Müde radelte sie weiter. Sie konnte die Straße nur noch schlecht erkennen und hatte Angst zu stürzen. Einmal kam ihr unvermittelt eine Lastwagenkolonne mit lautem Getöse entgegen. Sie konnte gerade noch rechtzeitig nach rechts ausweichen, um nicht überfahren zu werden. Sie musste absteigen und lehnte sich einen Augenblick gegen eine Mauer, um auszuruhen. Bei dem Lärm ringsum war sie nicht imstande weiterzufahren. Die Lastwagen brausten vorbei, und erst ganz allmählich stellten Nebel und Dunkelheit die zerrissene Stille über der Landschaft wieder her, die nun tiefer und schwärzer erschien als zuvor. Dann hörte sie ein Dröhnen, als stürzte der Himmel ein. Es schien in großen Sprüngen auf die Lagune zuzukommen, das Echo brach sich an der weiten, unbewegten Wasserfläche und verklang allmählich wie ein sommerlicher Donnerschlag. Agnese lauschte angestrengt, aber sie hörte keinen Flugzeugmotor. Und wieder legte sich die Stille breit und drückend über das Land.

Agnese stieg auf ihr Rad, trat kräftig in die Pedale und gelangte in eine Ortschaft, die letzte vor ihrem Dorf. In einer deutschen Lkw-Kolonne, die vor den Häusern stand, glaubte sie eine gewisse Aufregung zu bemerken. Es sah aus, als hätte die Kolonne gehalten, um dort über Nacht zu bleiben, nun aber schien ein unerwarteter Befehl sie zur Weiterfahrt zu zwingen. Die Soldaten redeten laut miteinander, kletterten wieder auf die Lastwagen und machten mit all dem Zeug, das sie am Leib trugen, einen Höllenlärm. Dann stieß ein Vorgesetzter einen jener abgehackten, unmenschlichen, besessenen Schreie aus, die alle Welt sofort als deutsch erkennt. Die Kolonne setzte sich in Bewegung.

Agnese war vor dem Haus angelangt, in dem Toni und Mingúcc, Palitas Freunde und Genossen, wohnten. Sie klopfte auf eine bestimmte Art, die Magòn ihr gezeigt hatte, an ein dunkles Fenster neben der Tür, und gleich darauf kam Toni und öffnete.

»Ich bin Palitas Agnese«, sagte sie. »Magòn schickt mich und lässt Euch sagen, ihr sollt Euch vorsehen, denn die Deutschen sind zurückgekehrt und wollen das ganze Land durchkämmen.«

»Haben die Genossen schon die Brücke gesprengt?«, fragte der Mann. »Wir haben nichts gehört.«

Da begriff Agnese, was das Donnern kurz zuvor zu bedeuten hatte und wozu das viereckige ›Zeug‹ diente, das sie Magòn gebracht hatte.

»Ich habe den Knall unterwegs gehört. Etwa vor einer halben Stunde. Das muss eine starke Explosion gewesen sein, wenn man sie so weit hören konnte.« Agnese kam nicht mit ins Haus, sondern stieg mit großer Anstrengung wieder auf ihr Rad. »Gute Nacht«, sagte sie.

Als sie endlich ihr Dorf erreichte, bemerkte sie eine große Unruhe, bevor sie in die Gasse einbog, die zu ihrem Haus führte: Die Leute traten aus den Häusern und verschwanden wieder, sie versammelten sich in der Dunkelheit und sprachen leise miteinander. Agnese fuhr weiter, ohne anzuhalten, aber einer erkannte sie und rief: »Agnese, Agnese!«

Er lief neben ihrem Fahrrad her. »Cencios Sohn ist aus Deutschland zurückgekehrt, er sucht Euch. Ich glaube, er ist zu Eurem Haus gegangen.«