Ahnenfluch - Harald Schneider - E-Book

Ahnenfluch E-Book

Harald Schneider

4,7

Beschreibung

Ein Attentat auf den Schifferstadter Kommissar Reiner Palzki mit einer historischen Armbrust führt ihn ins Barockschloss Mannheim. Hier erfährt er von einem geheimnisvollen Schriftstück, das in der Gruft der Mannheimer Schlosskirche gefunden wurde. Die Informantin, eine Studentin, wird vor Palzkis Augen ermordet. Als er in der Gruft zusammen mit einem Kunsthistoriker einen bisher unbekannten Gang entdeckt, wird auch dieser umgebracht. Palzki hingegen wird von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt …

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Harald Schneider

Ahnenfluch

Palzkis neunter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung und E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Thomas Leiss – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4186-8

Hoch! Wittelsbach!

Es ragt ein altes Königshaus,

Das breitet seine Äste aus

Nach Süd und Nord,

Als Volkes Hort.

Nach Ost und West,

»In Treue fest.«

»Wittelsbach!«

So klingt es tausendfach,

Aus dem Thal, von den Höhn,

Lieblich und schön,

»Heldenblut,

Von altem Löwenmut!

Hoch! unser edles Stammhaus Wittelsbach!«

Auszug aus dem Triotext zu dem gleichnamigen Marsch von Karl Hünn, königlich-bayerischer Musikdirektor in Reichenhall.

Franz Wisbacher (1849–1912)

Vorwort

Die meisten der im Roman beschriebenen Orte gibt es tatsächlich. Diese sind nur teilweise der Öffentlichkeit zugänglich, vieles spielt sich hinter den Kulissen ab. Damit Sie diese mystischen Orte nicht nur lesend erleben können, habe ich mir für ›Ahnenfluch‹ etwas Besonderes einfallen lassen. An bestimmten Stellen im Roman finden Sie sogenannte QR-Codes. Mit einem QR-Code-fähigen Smartphone können Sie damit sofort auf eine eigens für dieses Buch gestaltete Internetseite gelangen, auf der Sie, neben teils ungewöhnlichen Fotos, auch tiefergehende Informationen zu den von Palzki besuchten Orten finden.

Falls Sie mit den QR-Codes nicht viel am Hut haben: Über die Internetadresse www.ahnenfluch.palzki.de können Sie ebenfalls zu den einzelnen Unterseiten gelangen. Zu jedem real existierenden Ort gibt es eine eigene Seite.

Da ›Ahnenfluch‹ im Vorfeld der großen Wittelsbacher Ausstellung spielt, können Sie sich unter anderem auf Fotos des Museums im Barockschloss Mannheim, der Universität Mannheim, der rem-Museen und des Schwetzinger Schlosses freuen. Aber nicht nur Fotos, die Sie kennen! Hinter den Kulissen sieht es nicht selten gewaltig anders aus als im öffentlichen Bereich. Potemkin lässt grüßen.

Um Sie noch etwas neugieriger zu machen: Im Roman wird in der Gruft der Mannheimer Schlosskirche ein bisher nicht dokumentierter Geheimgang gefunden. Auch wenn die Handlung natürlich erfunden ist, der beschriebene Gang wurde tatsächlich erst während der Recherchetour zu diesem Buch in meinem Beisein entdeckt. Näheres finden Sie unter obiger Internetadresse sowie in der Danksagung am Ende des Romans.

Aber jetzt fangen Sie erstmal an zu lesen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit ›Ahnenfluch‹.

www.ahnenfluch.palzki.de/index.html

Kapitel 1: Die Bildungsoffensive

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

»Meine Untergebenen! So geht es nicht weiter! Die Beschwerden aus der Bevölkerung nehmen überhand! In meiner Dienststelle darf so etwas nicht passieren. Im nächsten Jahr möchte ich die Kriminalinspektion Schifferstadt bei der UNESCO als Weltkulturerbe anmelden. Ich lasse mir diese Pläne durch Sie nicht zunichtemachen. Selbst die Volkshochschule des Rhein-Pfalz-Kreises hat im letzten Jahr eine UNESCO-Auszeichnung erhalten, das müssen wir übertrumpfen.«

Der gerade angebrochene Montagvormittag war die Hölle. Wenn ich in meiner Berufsfindungsphase bereits von diesem Tag gewusst hätte, wäre ich freiwillig Lehrer geworden. Unser Dienststellenleiter KPD, der mit richtigem Namen Klaus P. Diefenbach hieß, hatte alle Mitarbeiter der Kriminalinspektion und auch der Schutzpolizei, deren kommissarischer Leiter er zusätzlich war, zu einer Notlagebesprechung in den Sozialraum befohlen. Normalerweise fand Montagfrüh die unbeliebte und unwichtige Gesamtlagebesprechung statt, die KPD stets zur Selbstbeweihräucherung nutzte und von uns mit permanenter Unpünktlichkeit konterkariert wurde. So kam es, dass ich, wie meist, als letzter Beamter dazustieß und KPD in seinem längst begonnenen Monolog störte. Dieser fixierte mich und meinte zornig: »Guten Morgen, Herr Palzki.« Das ›Herr‹ sprach er mit fünf ›r‹ aus.

Der seltsame Typ, der neben unserem Chef stand, war mir sofort aufgefallen. Mit blassem und ausdruckslosem Gesicht sowie sehr dicken Brillengläsern, mit denen er wahrscheinlich Gammastrahlen filtern konnte, blickte er mit zuckenden Habichtsbewegungen über das Heer der Beamten. So nervös wie er wirkte, musste er die Leichen Dutzendweise zu Hause im Keller horten.

KPD hatte längst weitergesprochen, wie immer hörte ich nicht richtig zu. Erst als ein paar böse Signalworte an meine Ohren drangen, die Unbill versprachen, horchte ich auf:

»… und daher habe ich beschlossen, eine Bildungsoffensive für meine Untergebenen zu starten. Um niemanden von Ihnen zu überfordern«, sein provozierender Blick ging eindeutig in meine Richtung, »fangen wir mit leichteren Lektionen an. Zunächst darf ich Ihnen einen Freund aus alten Tagen vorstellen.« Er klopfte dem untergewichtigen Kerlchen so heftig auf den Rücken, dass ihm das Brillengestell über die Nase rutschte. Gerade noch rechtzeitig konnte dieser es auffangen. Schüchtern lächelte er uns an und nickte.

»Dies ist Herr Ludwig-Wilhelm Zweier. Als Kunsthistoriker ist er eine Konifere, äh, Koryphäe und hat bereits zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Studien vorgelegt, die nicht nur in der Fachwelt für Furore sorgten. Insbesondere seine Leistungen zum Thema Kittels, äh, Witt, äh …«

»Du meinst die Wittelsbacher, Klaus«, fiel ihm sein Freund helfend ins Wort.

»Ja, ja, genau die meine ich«, beeilte sich KPD, seinen Versprecher zu überspielen. »Den Wittelsbachern hat früher hier so ziemlich alles gehört. Kurpfalz und Wittelsbacher, das ist untrennbar miteinander verbunden, wie Sie alle wissen sollten. Na ja, fast alle.« Wieder blickte er in meine Richtung.

Oje, Geschichtsunterricht am frühen Morgen, dachte ich. Der letzte lag Jahrzehnte zurück und war im Regelfall alles andere als spaßig. An die Wittelsbacher hatte ich nur vage Erinnerungen. Wenn mich nicht alles täuschte, war auch der größenwahnsinnige Ludwig, der Neuschwanstein erbauen ließ, ein Wittelsbacher.

»Was sollen wir mit den Bayern?«, fragte ich vorlaut in die Runde, weil mein Mundwerk mal wieder schneller war als mein Gehirn. »Wir haben in der Kurpfalz genug eigene Probleme.« Als Retourkutsche starrte ich meinen Chef an.

Dieser schnappte heftig nach Luft, um mich für meine Dreistigkeit verbal in der Luft zu zerreißen. Doch Zweier kam ihm zuvor.

»Sie sind doch Herr Palzki«, sagte er. »Klaus hat Sie vorhin so genannt. Ich will Ihnen was sagen, Herr Palzki und Ihnen damit gleichzeitig Ihr mangelhaftes Halbwissen demonstrieren. Die Wittelsbacher hatten ihren Stammsitz in der Kurpfalz. Ein gewisser Kurfürst Carl Theodor, das war der, der das Mannheimer Barockschloss fertigstellen ließ, hat 1778 Bayern geerbt. Wenn er seine Residenz nicht von Mannheim nach München verlegt hätte, wäre Bayern von Mannheim aus regiert worden.«

»Genau«, lästerte ich. »Und aus dem Heidelberger Schloss wäre Neuschwanstein geworden.«

Alle meine Kollegen lachten, was Zweier empörte.

»Lassen Sie Ludwig II. aus dem Spiel. Da wurde viel Geschichtsfälschung betrieben, wie schon so oft, wenn es um die Wittelsbacher geht.«

KPD klatschte in die Hände. »Meine Damen und Herren. Sie sehen, wie groß Ihre Bildungslücken sind und wie spannend ein historisches Thema sein kann. Nur weil damals ein Mann seinen Wohnort gewechselt hat, konnte sich Bayern im Laufe der Zeit verselbstständigen.«

»Na ja, so ganz genau kann man das nicht sagen«, fiel ihm sein Freund ins Wort. Doch KPD ignorierte ihn schlichtweg.

»Kleine Dinge haben manchmal große Auswirkungen. Deutlich ist zu erkennen, dass die Geschichte der Wittelsbacher einige Parallelen zu unserer Dienststelle hat.«

Meine Kollegen Gerhard Steinbeißer und Jutta Wagner, die neben mir standen, schauten mich fragend an. Doch ich hatte auch keinen blassen Schimmer, was er damit meinen könnte. Vielleicht sah sich KPD als Wiedergeburt Ludwig II.? Die exklusive Ausstattung seines Büros wäre zumindest ein guter Anfang. Aber unser Chef war noch nicht fertig.

»Wie Sie bestimmt aus der Presse erfahren haben, startet in den nächsten Wochen die große Wittelsbacher Ausstellung in unserer Region. Wir rechnen nicht nur mit vollen Museen, sondern auch mit internationalen Gästen. Und genau hier greift der erste Teil der Bildungsoffensive. Stellen Sie sich vor, einer von Ihnen wird nach dem Weg zu den rem-Museen gefragt und Sie antworten, dass es so etwas in der Kurpfalz nicht gibt.«

»Gibt’s auch nicht«, rief eine mutige Kollegin aus der zweiten Reihe dazwischen und wieder lachten alle.

Auch dieses Mal verlor KPD nicht seine Contenance. »Hier gibt es mehr zu tun, als ich dachte.« Er nahm einen Zettel vom Tisch auf. »Natürlich kann ich Sie nicht alle auf eine externe Fortbildung schicken, das würde Unsummen kosten und schlimmstenfalls sogar meinen Lachsbrötchenetat schmälern. Daher habe ich mit Herrn Zweier diskutiert, wen wir von Ihnen als internen Bildungsberater für den Rest meiner Untergebenen schulen. Dieser Bildungsberater wird in den nächsten Tagen mit meinem Freund die Museen der Region besuchen und sich tief in die Wittelsbacher Geschichte einarbeiten. Im Anschluss werden die beiden eine auf die Polizeiarbeit angepasste Info- und Schulungsmappe in Powerpoint entwerfen. Wenn diese fertiggestellt ist, wird Herr Zweier und unser Bildungsberater Sie dann in Kleingruppen schulen. Zum Abschluss folgt neben einer Theorieprüfung auch ein Praxistest in einem echten Museum.«

Jetzt lachte niemand mehr. Jeder Anwesende hoffte, dass er nicht die arme Sau sein würde, die KPD ausgewählt hatte.

Unser Chef hielt den Zettel hoch und winkte damit. »Ludwig-Wilhelm und ich waren uns schnell einig, dass nur Herr Palzki für diesen Job infrage kommt. Kommen Sie, holen Sie Ihre Ernennungsurkunde ab.«

Man kann nicht sagen, dass die Kollegen lachten. Es war eher ein heftiges Grölen. Ich beschloss, so zu tun, als wäre dies nur ein Albtraum. Gleich nachdem ich aufwache, würde ich nach Umschulungsmaßnahmen zum Lehrer Ausschau halten. Da ich mich nicht von der Stelle rührte, kam KPD auf mich zu und drückte mir die Urkunde in die Hand. Die Realität hatte mich eingeholt.

»Kein anderer meiner Untergebenen ist so prädestiniert wie Sie für diesen Job, Herr Palzki. Bei Ihnen fällt es am wenigsten auf, wenn Sie mal ein paar Tage auf der Dienststelle fehlen.«

Na warte, dachte ich. Du wirst dein blaues Wunder erleben.

KPD klatschte in die Hände. »Die Versammlung ist hiermit aufgehoben. Ihre Schulungstermine entnehmen Sie ab nächster Woche dem Schwarzen Brett.«

Mit der Masse der Kollegen gelang es mir, mich aus dem Sozialraum zu schleichen. Was sollte ich tun? Fristlos kündigen und meine Erfahrung in eine Verbrecherkarriere investieren? Mich trotzig auf der Toilette einschließen? KPD in eine tödliche Falle locken und es wie einen Unfall aussehen lassen? Ich entschied mich für das, was ich am besten konnte: Ludwig-Wilhelm Zweier zur Weißglut bringen und ihn damit zu überzeugen, dass die Wahl meiner Person nicht die optimalste war.

Ich spürte das Damoklesschwert in meinem Rücken, dennoch sträubte sich mein Inneres und ich beschloss eine Gnadenfrist zu nehmen. Zielstrebig ging ich zu Juttas Büro, das sich in letzter Zeit als Treffpunkt für kleinere Besprechungen etabliert hatte.

Gerhard und Jutta waren bereits dort. Mein Kollege verkniff sich mit aller Gewalt ein Losprusten. Jutta hatte sich besser unter Kontrolle.

»Komm, setz dich«, sagte sie zu mir und zeigte zum Besprechungstisch. »Lass es ruhig angehen, Reiner.«

Dankbar nahm ich Platz. »Ist in den letzten Minuten zufällig ein Kapitalverbrechen reingekommen?« Die Frage war der berühmte Griff nach dem letzten Strohhalm.

»Nicht mal ein Taschendiebstahl«, antwortete Gerhard bedauernd. »Im Schulzentrum ist es auch ruhig. Es sind Sommerferien.«

Lehrer müsste man sein, dachte ich. Dann könnte ich jetzt für sechs Wochen am Stück verschwinden. Oder sogar für acht, denn die Unterrichtsausfälle wuchsen vor den großen Ferien stets in astronomische Höhen, wie mir die Erfahrung mit meinen beiden schulpflichtigen Kindern Melanie und Paul bereits mehrfach gezeigt hatte.

Ich schaute auf die Uhr. »Und dabei hatte ich für diese Woche so viel vor. Mein Büro müsste dringend entrümpelt werden.«

»Das sagst du schon seit 20 Jahren, Reiner.«

»Ist ja jetzt egal. Lassen wir den Pizzaservice anrollen? Das haben wir seit Freitag nicht mehr gemacht.«

»Da sind Sie ja!«

Erschrocken schauten wir zur offen stehenden Tür. KPD stand im Rahmen. »Wollen Sie sich etwa von Ihren Kollegen verabschieden, Palzki? Keine Angst, Herr Steinbeißer und Frau Wagner werden Ihre Testschüler sein. Sie werden als Erstes von Ihnen und Ludwig-Wilhelm geschult.«

»Wie sind Sie überhaupt auf mich gekommen? Ich habe keinen blassen Schimmer von diesen komischen Wittelsbachern. Die Salier würde ich mir noch gefallen lassen, schließlich habe ich mit der Radarfalle in der Salierstraße so meine Erfahrungen.«

»Selbst schuld, wenn Sie in Zivil so rasen müssen«, meinte KPD. »Für unsere Dienststelle steht viel auf dem Spiel. Nehmen Sie Ihren neuen Job nicht zu leicht, Herr Palzki. Wenn wir dieses Projekt erfolgreich durchgezogen haben, kommt die Biologie an die Reihe. Immerhin wird im nächsten Jahr in Landau die Landesgartenschau eröffnet. Da sollte man als Polizeibeamter schon wissen, was der Unterschied zwischen einer Tanne und einer Kiefer ist.«

»Das ist dasselbe«, unterbrach ich seinen Redefluss und nahm mir im Geiste vor, ein Requiem für KPD zu komponieren, sobald die Lerneinheit Musik drankam.

»Ja, was ist? Wollen Sie Wurzeln schlagen?« KPD deutete auf seinen Freund, der hinter ihm im Flur stand. »Herr Zweier ist schon ganz aufgeregt, Ihnen die komplette Geschichte der Wittelsbacher mit allen Nebeninformationen erzählen zu dürfen. Kommen Sie, kommen Sie!«

Schicksalsergeben stand ich auf, drückte mich an meinem Chef vorbei, der nach wie vor im Türrahmen stand, und gab meinem Lehrer die Hand. »Palzki, angenehm.« Der Tonfall war alles andere als angenehm.

KPD brachte ein zaghaftes Lächeln zustande. »Ludwig-Wilhelm, ich habe dir bereits gesagt, dass Herr Palzki manchmal ein wenig bockig ist. Mit der Zeit legt sich das. Womit willst du heute anfangen?«

Zweier wirkte noch nervöser als vorhin im Sozialraum. »Ich denke, dass reine Vorträge nicht sehr zielführend sind. Besser ist, wenn ich Herrn Palzki gleich am ersten Tag zu verschiedenen Museen begleite, um ihm zunächst einen Gesamtüberblick zu geben. Anfangen möchte ich mit dem Heimatmuseum in Schifferstadt. Normalerweise hat es heute geschlossen, doch ich habe vorhin den Vorsitzenden des Vereins für Heimatpflege telefonisch gebeten, für uns eine Extraführung einzuschieben.«

Das Schifferstadter Heimatmuseum im Gebäude der ehemaligen Adler-Wirtschaft war mir bekannt. Das kleine, aber feine Museum bot in etwa einem Dutzend Räume mit jeweils unterschiedlichen Themen interessante heimatgeschichtliche Einblicke. Wenn auch meine Kinder das Museum mit dem Attribut ›langweilig‹ belegten, ich fand die ehrenamtlich aufgebaute Sammlung bewundernswert. Allerdings hatte ich bei meinen bisherigen Besuchen noch nie etwas von den Wittelsbachern bemerkt.

»Ins Heimatmuseum? Gleich werden Sie behaupten, dass der dort ausgestellte Goldene Hut eine Krone der Wittelsbacher ist.«

Zweier stutzte einen Moment. »Um gleich die erste Bildungslücke zu stopfen, Herr Palzki: Zwischen dem Goldenen Hut und dem Auftauchen der Wittelsbacher liegen rund 2.300 Jahre. Ihre These ist also nachweisbar falsch.«

»Das war keine These«, brummelte ich, als mir klar wurde, dass ich es mit einer Spaßbremse zu tun hatte. Ich musste meinen Resthumor ein paar Stufen zurückfahren, um weitere Missverständnisse mit KPDs Spezi zu vermeiden.

Mit einer Handbewegung verabschiedete ich mich von meinen Kollegen, KPD ignorierte ich.

»Wer fährt?«, fragte ich Zweier, während wir in Richtung Treppenhaus gingen.

»Meinen Sie mich?«

Ich blickte mich um. »Ist ja sonst niemand da. Selbstverständlich meine ich Sie.«

»Natürlich fahre ich«, antwortete er. »Klaus meinte, ich sollte unbedingt vermeiden, bei Ihnen in den Wagen zu steigen. Ein Freund, ich glaube Becker heißt er, hat Klaus über Ihre Fahrweise informiert. Ich habe ihm empfohlen, Ihnen ein Fahrsicherheitstraining zu spendieren, aber Ihr Chef hat nur abgewunken.«

Vermutlich hatte KPD noch weitere Lügengeschichten über mich erzählt. Zweier musste einen schönen Eindruck von mir haben. Na, denn.

»Hat Ihnen Herr Diefenbach auch erzählt, dass ich mich in Museen in einen Werwolf verwandle?«

Zweier blieb stehen und schaute mich an, während sich seine Stirnfalten wie eine Ziehharmonika zusammenzogen. »Nein, stimmt das denn?«

»Nur, wenn ich mich ärgere«, antwortete ich und erstarrte, da wir in diesem Moment im Hof ankamen und ich seinen Wagen sah. Es war ein Rolls Royce. »Was ist das?«

»Da staunen Sie, was? Das ist ein Silver Shadow in der Langversion von 1970. Würden Sie bitte darauf achten, dass Sie mit Ihren Schuhen keinen Schmutz in den Wagen einbringen? Ihre Hände sind doch hoffentlich sauber, oder?«

Oh Mann, dieser Typ hatte locker das Zeug dazu, KPD als skurrilste Person der Menschheit mit Ausnahme von Dieter Bohlen zu entthronen. Warum musste ich es immer mit solch seltsamen Gestalten zu tun bekommen? Konnte nicht einmal jemand dabei sein, der so normal und unauffällig wie ich selbst war?

Kapitel 2: Der geheimnisvolle Armbrustschütze

Ich stieg in das Luxusgefährt und ärgerte sofort meinen Chauffeur: »Darf ich rauchen?«

Der Spruch ›Da sind ihm die Augäpfel herausgefallen‹ traf es nur unzureichend. Zweiers Stirn sah aus wie grobes Schleifpapier, sein Hals wurde spontan rotfleckig. Bevor er reagieren konnte, ergänzte ich: »Es sind bloß Selbstgedrehte, das krümelt fast überhaupt nicht.« Ich tat, als würde ich meine Hosentasche durchsuchen. »Mist, ich habe die Kippen im Büro liegen lassen.«

Zweier atmete auf. »Meine Bronchien sind sehr anfällig auf Tabakqualm.« Auf seinen mutmaßlich sterilen Wagen ging er nicht ein.

»Kein Problem, ich verlange nicht, dass Sie aus Sympathie mitrauchen.«

Ich überlegte. Vielleicht war die Taktik zielführend, wenn ich mich als notleidender Kettenraucher ausgab. Das könnte meine gemeinsame Zeit mit Zweier minimieren.

»Es ist ein blödes Laster«, entschuldigte ich mich scheinheilig. »Herr Diefenbach hat Ihnen bestimmt erzählt, wie wenig wir zu tun haben. Aus Langeweile habe ich mir das Rauchen angewöhnt. Irgendwas muss man ja den ganzen langen Tag tun. Könnten Sie unterwegs kurz an einem Automaten anhalten?«

Zweier ignorierte diese Bitte, was durchaus in meinem Interesse war. Hätte er tatsächlich angehalten, wäre dies für mich als überzeugter Nichtraucher zum Problem geworden.

Um den zwischenmenschlichen Nervfaktor eine Nuance zu steigern, erklärte ich meinem Fahrer nicht nur an jeder Kreuzung genau den Weg, nein, ich schickte ihn zusätzlich kreuz und quer durch die schmalsten Gassen von Schifferstadt. Als Taxifahrer hätte ich für diese Fahrt zum schätzungsweise drei Luftkilometer entfernten Ziel ein Vermögen verdient.

»Da jetzt scharf links abbiegen.«

Zweier begann abzubiegen, plötzlich bremste er hart. »Da darf ich nicht rein.«

»Oh, das ist eine Einbahnstraße. Das wurde bestimmt erst kürzlich geändert.« Natürlich wusste ich, dass das letzte Stück der Klappengasse schon seit Jahrzehnten eine Einbahnstraße war.

Ohne den kleinsten Kratzer parkten wir schließlich im Adlerhof. Zweier wischte sich mit einem seidenen Tuch, auf dem sein Monogramm eingestickt war, die Stirn ab. »Ich wusste gar nicht, dass Schifferstadt so groß und verwinkelt ist.«

»Wenn Herr Diefenbach Bürgermeister wird, werden wir den Rhein-Pfalz-Kreis und Ludwigshafen eingemeinden. Die Pläne liegen fix und fertig in seinem Schreibtisch.«

Wir stiegen aus und Zweier entfernte die kaum sichtbaren Spuren, die ich beim Schließen der Beifahrertür auf dem Lack hinterlassen hatte. Stumm deutete er auf den Türgriff. Ich ignorierte diesen stillen Hinweis. Das Problem war schließlich so alt wie die Menschheit. Oder zumindest so alt, wie es Türgriffe gab. Jede leidgeplagte Hausfrau konnte ein Lied davon singen, wie schwierig Fingerspuren an Schranktüren und insbesondere an Kühlschranktüren zu entfernen sind. Türgriffe wurden generell nur zum Öffnen von Schränken benutzt, aber so gut wie nie zum Schließen. Das musste wohl ein evolutionstechnisches Problem sein, das erst in ein paar Millionen Jahren gelöst sein wird.

Ich zeigte auf das Obergeschoss des Adler-Gebäudes. »Da oben ist das Heimatmuseum. Dort war ich schon tausendmal. Können wir unser Programm nicht ein wenig abkürzen? Sie sagen mir, was Schifferstadt mit diesen Wittelsbachern zu tun hat, danach fahren wir zurück zur Dienststelle und rauchen eine zusammen. Ich kenne da sogar eine Abkürzung.«

Zweier bemühte sich um ein Lächeln. »Genauso stur, wie Sie mir von Klaus beschrieben wurden. Sie kennen doch die Anweisung Ihres Vorgesetzten, oder?«

Er ließ seine Worte wirken, ehe er fortfuhr. »Schifferstadt war nie kurpfälzisch. Das Dörfel, oder wie es früher offiziell hieß, Klein-Schifferstadt, dagegen schon.«

Ich wusste, dass in früheren Jahrhunderten, zumindest nach der Reformation, in Schifferstadt die Katholiken wohnten, in dem davon unabhängigen Klein-Schifferstadt dagegen die Protestanten. Inzwischen waren die beiden Teile längst zusammengewachsen.

Ich gähnte herzhaft mit offenem Mund, doch es half nicht.

»Klein-Schifferstadt wurde 1331 als Teil der Landvogtei Speyergau an die Pfalzgrafschaft bei Rhein verpfändet und gehörte damit zu der späteren Kurpfalz der Wittelsbacher. Das blieb so bis 1708.«

»Und zwischen den Dörfern lag dann die Grenze«, kommentierte ich lustlos.

»Wenn Sie es so wollen«, entgegnete Zweier. »Die Kurpfalz war damals ein ziemlicher Flickenteppich, da musste man ständig – ah, da vorn kommt gerade Herr Histor, der Museumsleiter. Ich erkenne ihn an der Broschüre, die er als Erkennungszeichen in der Hand hält.«

Wenn jetzt nicht ein Wunder geschah, würde ich die nächsten Stunden im Museum verbringen und meine Gehörgänge zum Märtyrer machen. Das Wunder geschah. Ich war gerade ein paar Schritte gelaufen, als ein höllischer Schmerz meinen linken Arm flutete. Und schon wurde mir schwarz vor Augen.

»Hallo, Herr Palzki!«

Etwas schlug mir leicht auf die Wangen. Es gelang mir, die Augen zu öffnen. Ich blickte geradewegs in die gleißende Sonne, da ich auf dem gepflasterten Weg vor dem Museumseingang lag. Mein Arm schmerzte in einer gigantischen Intensität und auch mein Kopf dröhnte, als wäre ein Was-weiß-ich-wie-viel-Tonner darüber gedonnert. Langsam gelang es mir, die Lage zu sondieren. Über mich beugte sich ein Notarzt, der nicht Metzger mit Nachnamen hieß. Im Hintergrund standen ein Rettungs- und zwei Streifenwagen.

»Na, alles klar?«

Der Fragensteller stand außerhalb meines Blickwinkels hinter mir. Dennoch hatte ich ihn sofort an der Stimme erkannt.

»Bestens«, antwortete ich meinem Kollegen Gerhard. »Mir ist plötzlich schwarz vor den Augen geworden. Muss wohl an der Hitze liegen.«

Längst hatte ich den Verband an meinem linken Unterarm entdeckt, der sich über der schmerzenden Stelle befand.

»Ist das beim Blutabnehmen passiert?«, fragte ich. »Hat das ein Praktikant gemacht?«

»Dr. Metzger war gerade nicht greifbar«, meinte Gerhard trocken und der Notarzt ergänzte: »Ich weiß zwar nicht, wen Sie mit Dr. Metzger meinen, aber auf jeden Fall habe ich Ihnen den Pfeil gleich entfernt. Solange Sie bewusstlos waren, war das unter Schmerzgesichtspunkten das Beste. Außerdem hätte die Spitze vergiftet sein können.«

»Pfeil? Welcher Pfeil?« Ich war mir unsicher, ob ich nicht doch träumte.

Gerhard überzeugte mich, dass meine Überlegung falsch war, indem er mir einen Plastikbeutel vor das Gesicht hob, in dem sich ein fremdartiges Objekt befand. Der Pfeil war aus Holz, etwa 20 Zentimeter lang und hatte eine rotverfärbte Metallspitze.

»Steckte das Ding in meinem Arm?«

Der Arzt nickte. »Haben Sie eine Ahnung, wie das da reinkam?«

Was war das jetzt für eine blöde Frage? Ich wartete eine kurze Schmerzattacke ab, bevor ich antwortete: »Das war nur ein kleiner Selbstversuch für mein neues Tattoo.« Der Arzt blickte dämlich aus der Wäsche und Gerhard lachte. »Mein Kollege ist für seinen seltsamen Humor bekannt. Nehmen Sie ihn nicht zu ernst.«

Aufgebracht mischte ich mich ein. »Woher soll ich wissen, wie das Ding in meinen Arm kommt? Ich bin ausgestiegen, ein paar Schritte gelaufen und dann weiß ich nichts mehr.«

»Ist ja schon gut«, beruhigte mich mein Kollege. »Vermutlich stammt der Pfeil von einer Armbrust. Sagt dir das etwas?«

Ich versuchte, mich aufzusetzen.

»Lassen Sie das lieber sein«, mahnte der Arzt. »Sie sind mit dem Hinterkopf aufs Pflaster gefallen. Das muss in der Klinik genauer untersucht werden.«

Eine Armbrust? Ich hatte noch nie mit solch einer Waffe zu tun. Doch mir fiel etwas Wichtigeres ein. »Sie haben recht, mit meinem Kopf scheint etwas nicht zu stimmen. Die Untersuchung wird bestimmt ein paar Tage dauern, oder? Ein Trauma zeigt sich manchmal erst nach einer Weile.« Mit dieser Finte würde ich meinem ungeliebten Bildungslehrerjob entkommen. Ich lächelte, was mein Kopf mit einer Zunahme der Schmerzen quittierte.

»Palzki! Was haben Sie jetzt schon wieder angestellt?«

In Turbinenlautstärke tönte die Stimme KPDs zu uns, der in 50 Meter Entfernung gerade aus seinem Wagen ausstieg, den er neben dem Rathaus abgestellt hatte.

»Kann man Sie keine fünf Minuten allein lassen?« Er stapfte mit energischen Schritten auf uns zu. »Was machen Sie da unten auf dem Boden? Kommen Sie, kommen Sie, schlafen können Sie daheim.«

Er bückte sich und schnappte sich meinen Arm. Glücklicherweise meinen rechten. Er zog daran und im Affekt setzte ich mich auf. Ich ließ mir spontan noch mal mein Frühstück durch den Kopf gehen: Den Schwall Mageninhalt konnte ich gerade noch in ein Blumenbeet umlenken.

»Haben Sie etwa im Dienst getrunken?« Er blickte zu seinem Spezi Zweier. »Was ist passiert, Ludwig-Wilhelm?«

Zweier war noch blasser geworden, was ich erstaunlich fand. »Ein Unbekannter hat auf Herrn Palzki geschossen.«

»Papperlapapp, das kann nur Zufall gewesen sein«, bewertete KPD die Lage. »Warum sollte man auf Palzki schießen? Da kann es unmöglich ein Motiv geben. Ja, wenn auf mich geschossen wäre, das wäre etwas ganz anderes!« Er schmiss sich arrogant in die Brust.

Gerhard unterbrach ihn. »Vielleicht hatte es der Schütze auf Herrn Zweier abgesehen? Er hatte nach eigener Aussage direkt neben Herrn Palzki gestanden. Und so schlecht, wie der Schütze getroffen hat…«

»Danke Kollege, ich bin ganz froh darüber, dass es kein Scharfschütze war.«

»Ja, ja«, meinte KPD ungeduldig. »Stehen Sie jetzt endlich mal auf.«

Es dauerte eine Weile, bis ich von meiner Sitzposition in den Zweibeinstand gewechselt hatte. Mein Kopf pochte, als hätte man darin eine Schlagbohrmaschine eingeschaltet.

Der Arzt reichte mir eine Tablette. »Ist gegen die Schmerzen. In ein paar Minuten fahren wir Sie ins Krankenhaus.«

KPD drehte sich in Richtung Arzt und blökte diesen an. »Was faseln Sie von Krankenhaus? Meine Untergebenen sind topfit, dafür sorge ich regelmäßig. Wegen dieser kleinen Wunde am Arm geben wir Polizeibeamten bestimmt nicht auf. Solange man nicht tot ist, kann man arbeiten.«

»Ich würde gern meinen Kopf untersuchen lassen, Herr Diefenbach.«

KPD ließ seine Nasenflügel vibrieren. »Kopf? Was soll das jetzt schon wieder?« Er trat näher und betrachtete meinen Hinterkopf. »Da hängt alles voller Sand, Palzki. Waschen Sie sich eigentlich regelmäßig die Haare?«

Unglaublich, was sich da gerade abspielte. Ich war gerade so dem Tod entronnen und mein Vorgesetzter tat so, als hätte ich einen Schnakenstich.

»Kommen Sie morgen früh bei Dienstantritt kurz in mein Büro, Palzki. Ich glaube, ich muss Sie regelmäßiger kontrollieren. Weiß Ihre Frau, dass Sie es mit der Hygiene nicht so genau nehmen?«

Ich wollte gerade erbost reagieren, doch er fiel mir ins Wort. »Ist ja jetzt egal, machen Sie Ihr Programm mit Herrn Zweier weiter wie vereinbart.« Zu seinem Freund flüsterte er: »Halt den Ball flach, du weißt, was ich dir alles über Palzki erzählt habe.«

Er rollte mit den Augen, was ziemlich doof aussah, dann drehte er sich um und ging zu seinem Wagen. Die Posse war zu Ende.

»Was war das?«, fragte der Arzt, der fast die ganze Zeit mit offenem Mund daneben gestanden hatte.

»Keine Ahnung, was Sie meinen«, antwortete ich. »War da eben jemand?«

Da es mit meinem Kreislauf noch nicht zum Besten stand, setzte ich mich auf die Steinumrandung einer Blumenrabatte. Der Notarzt gab mir einen blauen Kühlbeutel für den Hinterkopf.

Nun wurde es noch schräger. Aber es hatte sich tatsächlich so abgespielt, da gibt es nichts zu beschönigen.

Ein nicht zuordenbar, aber offensichtlich humanoides Wesen schlurfte in den Bereich des Adlerhofes, der zum Großteil als Parkplatz ausgebaut war. Das Wesen schob einen Rollator vor sich her, auf dessen Sitzfläche ein Kasten Exportbier verankert war. Den Typ hatte ich aufgrund seiner Einmaligkeit auf dieser Welt sofort erkannt. Sein extrem wucherndes und ungepflegtes Barthaar ging nahtlos in die ebenso wilde Kopfbehaarung über, die erst tief über seinen Schultern endete. Von seiner Gesichtspartie war nichts, aber auch absolut nichts zu erkennen. Keine Ahnung, wie er seine Umwelt optisch wahrnahm. Vor gut einem Jahr hatte ich ihn Waldschrat getauft, als er mir bei meinen Recherchen zu einem toten Erntehelfer über den Weg lief. Auch bei den Ermittlungen des Serienmörders in der S-Bahn an Fasnacht machte ich seine Bekanntschaft. Nicht genug, war neben der Erscheinung sein Dialekt das Herbste, was man sich vorstellen konnte, vom Sächsischen mal abgesehen. Und schon legte er los, als er mich erkannte. Sein Goldzahn blitzte durch den haarigen Dschungel.

»Oh, servus, du bischt doch de Bolizischt wu blos Pilsbier sauft, odär? Wie siehschten du aus? Gans dreckisch, bischt higfalle? Des kummt defu, wenn ma schunn morjens afangt zu saufe.«

Er griff in den etwa halbleeren Kasten und reichte mir eine Flasche Export.

Ich winkte ab. »Ich trinke nur Pilsener.«

»Des haw ich domols an Fasnacht in de Bahofskneip schunn mitkriggt. Ich hab awer nix anneres. Warum is do alles voller Bulle? Laaft mol widder ähn Deifel Amok? Oder hot des was mit derre Armbrust zu due, wu der Kerl do vorhin rumgetrage hot?«

Der Waldschrat schob seinen Rollator näher zu mir und setzte sich neben mich auf die Steinmauer.

»Sie haben eine Person mit einer Armbrust gesehen?«

Der Waldschrat nahm einen Schluck aus der Flasche und rülpste dermaßen laut, dass er damit die gerade läutenden Glocken der nicht weit entfernten St. Jakobus-Kirche übertönte. Der sich verbreitende Geruch leerte meinen Magen vollends.

»Eijo«, begann er schließlich. »Der Kerl hot ausgesehe, als wär er nimmi gans sauwer. Der iss do in alte Klamotte rumgeloffe.« Er machte eine Wischbewegung vor seinem Gesicht.

»Was meinen Sie mit alten Kleidern?« Diese Frage kam von Zweier. Der Waldschrat schaute kurz zu ihm, dann zu mir. »Ghert der zu dir? Iss des a ähn Bulle?«

Ich nickte, auch wenn es nicht stimmte.

»Ich meen so richtisch alte Kleeder, wie aussem Museum halt.«

»Sie wissen, was ein Museum ist?« Mist, die Frage war mir spontan herausgerutscht. Hoffentlich sah er sie nicht als Beleidigung an.

»A her ämol, ich war johrelang in Ludwigshafe Stammgast im Biermuseum. Bis es halt zugemacht hot.«

Ich wusste, dass das Biermuseum kein Museum war, sondern eine Kneipe, in der es über 100 Sorten Bier aus aller Welt gab.

»Haben Sie gesehen, wie er mit der Armbrust schoss?«

Die Vorderseite des Haar-Dschungels schaute links am Adlergebäude vorbei zur Kirchenstraße. Ein kleiner Streifen Büsche trennte die Straße vom Parkplatz des Hofes. Mit der Flasche in der Hand zeigte er in diese Richtung.

»Do driwwe war er gstanne, direkt hinner dem große Busch. Ich hab gsehe, wie er die Armbruscht in ähn Beitel gsteckt hot. Dann iss er fortgerennt.«

»Haben Sie gesehen, wo er hingerannt ist? Wie hat er ausgesehen?«

»Ihr Bulle wollen es awer a immer ganz genau wisse. Der hot ganz normal ausgsehe, ah wenn er nimmi normal war mit seine Kleeder. Der ist do vorne um die Eck gerennt, wus zum Caravella geht. Vielleicht iss er was esse gange?«

Da war ich anderer Meinung. Der Name Caravella aktivierte allerdings meine Magensäure. Zusammen mit einem leeren Magen war das fatal. Mein Magen knurrte und das nicht gerade leise.

»Trink halt doch mol ä Export«, forderte mich der Waldschrat auf. »Des helft mer a immer, wenn ich Hunger hab.«

Im Augenwinkel hatte ich beobachtet, wie Gerhard zwei Streifenbeamte zu dem Busch beorderte. Viel mehr Informationen würden wir nicht von ihm erfahren.

Gerhard hatte noch eine Frage: »Wo haben Sie eigentlich Ihren schönen Schäferhund?«

»Mein Zeus? Der hot heit deheem bleiwe misse, ich muss uffs Rothaus niwwer. Do gibt’s ä paar, die hän Angst vor meim liewe Zeus. Bloß weil ich mei Hundl ämol im Rothaus rumrenne hab losse.« Er zeigte auf seinen Rollator. »Seit die Bahofskneip mit de Preise so uffgschlage hot, geh ich nur noch zwee mol am Tag hi. Fer de Rest vum Tag laaf ich mit meim Export-Porsche rum. De Kaschte Bier langt grad fer bis zum Rothaus unn widder zurick.«

Im Hintergrund sah ich Zweier, wie er sich angeregt mit Histor, dem Leiter des Museums, unterhielt. Unter allen Umständen musste ich verhindern, dass ich mir heute noch das Museum anschauen musste.

Der Waldschrat stand auf und verabschiedete sich: »Wenn noch was is, du wescht jo, wu ich wohn. Falls ich net deheem bin, de Schlissel liggt immer unner de Fusmatt. Dann kannscht der gern ä Bier aussem Kihlschrank hole, bis ich widder zurick bin.«

Gerhard und ein Streifenbeamter hatten sich schon vor Minuten abgewandt, weil sie sich vor Lachen beinahe einnässten.

Nun kam der Arzt zu mir und wischte im Reflex mit der Hand die Luft zur Seite. »Boah, stinkts hier. Was ist, Herr Palzki, wollen Sie jetzt mit ins Krankenhaus? Wir haben nicht ewig Zeit.«

Da die Tablette inzwischen halbwegs wirkte und ich wieder von meiner Unsterblichkeit überzeugt war, winkte ich ab. »Lassen Sie mal. Ich fahr noch kurz ins Büro, dann mach ich Feierabend. Bis morgen geht’s bestimmt wieder besser.«

»Wie Sie meinen«, antwortete er. »Überprüfen Sie bitte dringend zu Hause anhand Ihres Impfpasses den Tetanusschutz. Gerade Männer in Ihrem Alter sind da meist sehr nachlässig.«

Ich nickte. Zufällig wusste ich, dass dieser gerade kürzlich nach dem Attentat auf mich im Ludwigshafener Pfalzbau aufgefrischt worden war.

Meine ersten Gehversuche verliefen in einigermaßen geordneten Bahnen. Mein Unterarm war etwas lahm, was ich auf den dicken Verband schob. Ich entdeckte einen Streifenbeamten, der gelangweilt an der Hauswand lehnte und rauchte. Einem spontanen Gedankenblitz folgend, ging ich zu ihm und verwickelte ihn in ein kurzes Gespräch. Zum Schluss gab ich ihm einen Geldschein.

»Was war das?«, fragte mich Gerhard, als ich lächelnd zurückkam. »Kleiner Bestechungsversuch?«

Ich grinste so breit ich konnte. »Lebensverlängernde Maßnahmen, sonst nichts.«

Da mein Kollege einiges von mir gewohnt war, hakte er nicht nach. Ich ging zu Zweier, der nach wie vor mit dem Museumsleiter diskutierte.

»Ich hoffe, Sie sehen ein, dass ich heute nicht mehr weiter arbeiten kann.«

Zweier nickte. »Natürlich, ganz klar, Klaus hat vorhin die Situation missverstanden. Gehen Sie heim und ruhen Sie sich aus. Wann können wir weitermachen, was denken Sie?«

Fast wäre ich in Versuchung geraten, ihm unrealistische 30 bis 40 Jahre zu nennen, doch das wäre nicht zielführend gewesen.

»Morgen früh geht’s weiter. Was unternehmen wir dann zusammen?«

Herr Histor meldete sich. »Morgen kann ich Ihnen leider das Museum nicht zeigen.«

Zweier hatte die Idee, die uns alle zufriedenstellte. »In Anbetracht der Lage, lasse ich mir jetzt von Herrn Histor das Museum zeigen und werde für uns die wichtigen Sachen fotografieren. Dann können wir morgen mit einer Theoriestunde auf der Dienststelle beginnen.«

»So machen wir es«, sagte ich erleichtert. »Finden Sie allein zurück? Wo müssen Sie überhaupt hin?«

»Ich werde das Navi bemühen. Übrigens, das habe ich Ihnen noch nicht gesagt, Herr Palzki. Ich arbeite bei der SSG, dahinter steht die Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg. Wir kümmern uns unter anderem um die bald beginnende Wittelsbacher Ausstellung. Normalerweise arbeite ich in der Zentrale in Bruchsal, doch im Moment habe ich in Speyer ein Zimmer angemietet, um näher in der Region zu sein. Die rem-Museen und das Mannheimer Barockschloss sind wichtige Orte der Ausstellung. Da muss ich regelmäßig vor Ort sein.«

Ich schöpfte Hoffnung. »Da kommt Ihnen doch bestimmt die Idee von Herrn Diefenbach sehr ungelegen, oder? Sie haben sicher massig viel zu tun. Und vor allem Wichtigeres, als mit einem einfachen Polizeibeamten wie mir auf Museumstour zu gehen.«

»Darüber habe ich mit Klaus natürlich gesprochen. Irgendwie packen wir das aber schon. Wenn ich beruflich in Mannheim bin, kann ich Sie einfach mitnehmen, das ist fast keine Mehrbelastung für mich. Das mit dem Schifferstadter Heimatmuseum war nur als kleiner Einstieg gedacht. Außerdem tut mir die Auffrischung der historischen Daten gut. Manche Jahreszahlen sind mir nicht mehr so präsent.«

»Oh, da kann ich Ihnen helfen. Ich kann alle Jahreszahlen von eins bis 2013 auswendig.«

Histor lachte, Zweier verzog als inzwischen sattsam bekannte Spaßbremse keine Miene.

»Dann viel Spaß im Museum«, leitete ich die Verabschiedung ein. »In Schifferstadt steht übrigens das Original des Goldenen Huts. Das darf aber niemand wissen.«

Der Museumsleiter sah überrascht aus. »Woher wissen Sie das? Das ist doch streng geheim!«

Ich hob meine Mundwinkel an. »Erfahrung, meine Herren. Genauso, wie die Hinweistafel am Fundort nicht an der richtigen Stelle steht. Die neue ICE-Neubautrasse ist an dieser kleinen Änderung schuld. Auch das darf die Bevölkerung niemals erfahren.«

Während ich in Gerhards Wagen stieg, fuhr der Notarztwagen mit Sondersignal davon. Wahrscheinlich war irgendwo etwas passiert.

»Hast du gesehen, wie der Pfeil in meinem Arm steckte?«, fragte ich meinen Kollegen auf der Rückfahrt.

»Nur eine oberflächliche Fleischwunde«, antwortete dieser kurz und knapp. »Du hattest großes Glück. Hast du den Schützen wirklich nicht gesehen?«

»Du bist gut. Ich hatte mein Gehirn längst auf Sparflamme gestellt. Da schau ich mir doch nicht auch noch die Botanik an. Ich gehe sowieso davon aus, dass der Pfeil für KPDs Kumpel gemünzt war. Ein Typ in musealer Kleidung und eine Armbrust, das passt irgendwie zu einem Kunsthistoriker, was meinst du?«

Gerhard nickte. »Wir werden seine Daten mal durch den Computer jagen. Aber ohne dass es KPD bemerkt.«

»Was machst du hier, Reiner?« Jutta war erstaunt, als wir in ihr Büro eintraten.

»Hat sich die wilde Schießerei im Adlerhof noch nicht herumgesprochen?« Ich setzte mich an den Besprechungstisch und stürzte mich auf die offene Keksdose. Mein Kopfweh war verschwunden, nur der Arm tat nach wie vor weh. Doch für mich als Rechtshänder waren die Kekse kein Problem.

»Selbstverständlich. KPD kam vorhin hereingestürzt und schlug beide Hände über dem Kopf zusammen. Stellen Sie sich mal vor, Frau Wagner, was Palzki wieder angestellt hat. Lässt sich einfach von einem Fremden einen Pfeil in den Arm schießen. Und wie er ausgesehen hat! Können Sie bitte als Frau mal darauf einwirken, dass Ihr Kollege regelmäßig auf seine Körperhygiene achtet?«

»Das hat er zu dir gesagt?«

»Wortwörtlich. Und dass er dir die Leviten gelesen hat, weil du im Dienst Alkohol getrunken und dich zum Schlafen auf einen öffentlichen Platz gelegt hast.«

»Der spinnt doch.«

»Klar, das wissen wir schon lang. Jetzt erzähl mal, was wirklich passiert ist.«

Die rothaarige Jutta Wagner war bei uns sehr beliebt. Sitzungen leitete sie effizienter als jeder männliche Kollege. Wiederholungen wurden von ihr sofort geblockt.

Im Schnelldurchgang berichtete ich ihr das gerade Erlebte. Wie zum Zeichen, dass ich fertig war, klopfte es an der Tür. Ein Beamter trat ein und hielt eine Plastiktüte in der Hand.

»Wir haben da was gefunden, das ich euch zeigen soll, bevor es ins Labor geht. Habt ihr so etwas schon mal gesehen?«

Er legte die versiegelte Tüte auf den Tisch. Wir schauten auf den rostigen Gegenstand. Es handelte sich um einen jahrhundertealten Buntbartschlüssel in 5-XL.

»Was kann man damit aufsperren?«, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten. »Der muss für ein gigantisches Tor sein.« Ich hob den Fund hoch. »Das Stück wiegt bestimmt ein Kilo.«

»Kilogramm«, sagte Gerhard.

»Was?«, fragte ich zurück.

»Es heißt Kilogramm«, klärte mich mein Kollege auf. »Kilo ist nur die Abkürzung für 1000 und hat erstmal nichts mit einer Gewichtsangabe zu tun.«

»Mit deiner Klugscheißerei bringst du mich ganz aus dem Konzept. Den Schlüssel muss der Schütze verloren haben. Alte Kleider und ein alter Schlüssel.«

»Vielleicht ein Zeitreisender?«, fragte Gerhard.

»Das ist hier kein Science-Fiction-Roman. Es liegt doch auf der Hand, dass die Geschichte mit diesem Zweier zu tun hat. Jutta, würdest du ihn nachher mal gründlich checken? Wo ist eigentlich Jürgen?«

Jürgen, unser Jungkollege, der noch bei seiner Mutter wohnte, gehörte zu unserem Team. Er war ein Experte für Internetrecherchen. Was er nicht fand, das gab es nicht. Hinzu kam, dass er auf die einige Jahre ältere Jutta stand, aber jedes Mal, wenn er ihr imponieren wollte, in ein riesiges Fettnäpfchen trat.

»Der hat heute frei«, sagte Jutta mit einem frechen Grinsen im Gesicht. »Seine Mama hat Geburtstag und da muss er mit ihren Gästen ›Bingo‹ und ›Elfer Raus‹ spielen.«

Unterdessen schaute ich mir den Schlüssel im Detail an.

»He, schaut euch das mal an. Da sind zwei Buchstaben drauf.«

Gerhard zog mir das Stück aus der Hand und ging zum Fenster. »Das sind eindeutig ein ›C‹ und ein ›T‹. Was könnte das nur bedeuten?«

»Computertomografie«, antwortete ich vorschnell, da Stefanie während ihrer kürzlich zu Ende gegangenen Schwangerschaft mehrfach damit zu tun hatte.

»Genau«, sagte Jutta. »Mit dem Schlüssel schaltet man den Computer ein.«

»Hast du eine bessere Idee?«, entgegnete ich beleidigt.

Gerhard fragte den Beamten, der den Fund gebracht hatte: »Wurden auf dem Pfeil auch Buchstaben gefunden?«

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Wir haben einen Kollegen, der im Sportverein Armbrust schießt. Er meinte, dass das Stück durchaus 200 Jahre alt sein könnte.«

Ich gab ihm die Tüte mit dem Schlüssel. »Dann ab mit dem Schlüssel ins Labor. Und die Ergebnisse bitte an Jutta Wagner. Keinesfalls an KPD.«

»Ist schon klar«, antwortete dieser verschmitzt.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich in die Runde, als der Kollege verschwunden war.

»Auf jeden Fall keine Kekse mehr essen«, argumentierte Jutta bissig. »Du hast die ganze Dose leergefuttert.«

»Da waren nur noch ein paar drin, höchstens 200 Kalorien«, verteidigte ich mich.

»Kilokalorien«, fuhr mir Gerhard ins Wort.

»Hä?«

»Du meinst Kilokalorien, Reiner. Genaugenommen müssten es Kilojoule sein.«

»Noch mal Klugscheißer. Egal ob Kalorien oder Joule, ich hab Hunger.«

»Dann habe ich einen tollen Vorschlag«, säuselte Jutta. »Du machst aufgrund deiner Verletzung für heute Feierabend und lässt dir zu Hause eine schöne Gemüsesuppe machen.«

Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse. »Deine Vorschläge waren auch mal brauchbarer.«

Dennoch stand ich auf. Grundsätzlich hatte sie recht. »Wenn die Ergebnisse aus dem Labor vorliegen, reden wir erstmal im kleinen Kreis darüber. Dieser Ludwig-Dingsbums Zweier muss nicht alles wissen. Wahrscheinlich müssen wir sogar wegen ihm ermitteln. Stellt euch mal vor, der Schütze hätte ihn heute tödlich getroffen. KPD hätte mir sofort eine Mordanklage auf den Hals gehetzt.«

Gerhard ergänzte: »Stell dir lieber nicht vor, dass der Schütze auch dich hätte tödlich treffen können.«

Ich verabschiedete mich von Gerhard und Jutta, ohne zu wissen, dass mir die eigentlichen Probleme noch bevorstanden.

Kapitel 3: Eine persönliche Notlage

Voller Erwartung schloss ich zu Hause auf. Sofort würde wie üblich mein 9-jähriger Sohn Paul wie ein Torpedo angeflogen kommen. Doch nichts geschah. Es blieb alles ruhig. Verdammt ruhig. Irgendetwas stimmte nicht. Dass man von Melanie nichts hörte, war normal. Meist saß sie in ihrem Zimmer vor dem Computer und hörte mit dem Kopfhörer seltsame Musik. Doch wo war Stefanie? Und vor allem unsere vor wenigen Wochen geborenen Zwillinge Lisa und Lars? Es war noch nie der Fall, dass beide gleichzeitig schliefen, als ich heimkam. Hatten sie endlich den Tag- und Nachtrhythmus gefunden, den wir so sehr herbeisehnten? Das wäre mal eine tolle Nachricht. Dennoch, mein Bauch sagte mir, dass an der Sache etwas faul war. Möglichst leise stellte ich meine Tasche ab und schlich ins Wohnzimmer: leer. Ein Blick in die angrenzende Küche endete mit dem gleichen Resultat. Schlafzimmer und Kinderzimmer im Erdgeschoss waren ebenso verlassen. Panik stieg in mir hoch, ich rannte die Treppe ins Obergeschoss und riss die Türen von Melanies und Pauls Kinderzimmer auf. Vergebens. Nun setzte ich auf meine kraftvolle Stimme und rief nach dem Rest meiner Familie. Ich erhielt keine Antwort.

Es klingelte an der Tür. Fast segelte ich die Treppe hinunter, so eilig hatte ich es, die Eingangstür zu öffnen. Es standen keine Polizeibeamten vor mir, die die traurige Pflicht hatten, eine schlimme Nachricht zu übermitteln. Es war nur Frau Ackermann, unsere Nachbarin. Was heißt nur? Frau Ackermann beziehungsweise ihre Stimme konnte man sich als Tonbandgerät vorstellen, wenn man den Motor der Bandspule gegen eine Bohrmaschine austauschen würde. Ein Ungeübter würde ihre Sprache als babylonisch deuten. Als Nachbar wusste ich es besser: Es war die ungeheure Redegeschwindigkeit, gegen die Dieter Thomas Heck wie ein einschläfernder Rumstotterer wirkte. Und schon begann mir das Blut aus den Ohren zu laufen: