Erfindergeist - Harald Schneider - E-Book

Erfindergeist E-Book

Harald Schneider

4,4

Beschreibung

Kommissar Reiner Palzki kommt selbst in seinem wohlverdienten Urlaub nicht zur Ruhe: Erst wird Erfinder Jacques Bosco, den Palzki schon von Kindesbeinen an kennt, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt in seiner explodierten Werkstatt in Schifferstadt gefunden. Dann taucht auch noch eine Leiche im Holiday Park Haßloch auf. Der im Park beschäftigte Gärtnermeister wurde offensichtlich ermordet. Palzki nimmt die Ermittlungen auf. Er trifft nicht nur auf einen verdächtigen Liliputaner, sondern findet auch heraus, dass sein Freund Jacques an einem revolutionären Verfahren zur Gewinnung von Energie gearbeitet hat, an dem auch der dubiose Verein „Solarenergie forever“ äußerst interessiert zu sein scheint ...

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Harald Schneider

Erfindergeist

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2009 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst, Sigmaringen; Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: KatjaErnst/SusanneTachlinski

Umschlaggestaltung: U.O.R.G.  Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines 

»Alles, was erfunden werden kann, wurde bereits erfunden.«

Vermutlich fälschlicherweise Charles Holland Duell (1850–1920), Beauftragter des amerikanischen Patentamts (1899), zugeschrieben.

In Gedenken an Jacques, den größten Erfinder aller Zeiten

1. Abschied von einem lieben Freund

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

Kaum zu glauben, es war erst kurz vor 9 Uhr morgens und ich hatte schon fast die komplette Tageszeitung gelesen. Mit mehreren Kissen hatte ich meinen Körper an diversen Stellen gepolstert, um halb sitzend, halb liegend und ohne gefühllose Arme oder steife Gelenke das Großformat der Zeitung bändigen zu können. Regelmäßig fragte ich mich bei solchen Gelegenheiten, warum es nach wie vor so wenige Zeitungen im kleineren, wesentlich benutzerfreundlicheren Tabloid-Format gab.

Doch heute belasteten mich solche Alltagsproblemchen nicht wirklich. Stefanie war mit unseren beiden Kindern für eine Woche probeweise zu mir gezogen. Seit fast zwei Jahren lebten die drei von mir getrennt, aber jetzt wollten wir gemeinsam einen neuen Versuch starten.

Es waren Herbstferien und ich hatte Urlaub. Die ersten Tage verliefen zu unserer Zufriedenheit. Es gelang mir sogar, mit meinen Kindern Melanie und Paul einen Blitzbesuch beim Imbiss Caravella einzulegen, um so das Pommes- und Mayodefizit der beiden auszugleichen. Natürlich ohne Stefanies Wissen. Selbstverständlich bemerkte sie es trotzdem. Mir hätte vielleicht Pauls rot und weiß verschmierter Pulli auffallen sollen. Zur Strafe mussten die beiden heute Morgen nach einem ausgiebigen und zweifelsohne gesunden Frühstück mit ihrer Mutter einkaufen gehen. Ich hatte mich mit der Begründung, zwischenzeitlich die Küche aufräumen zu wollen, erfolgreich davor gedrückt. Bisher hatte ich meinen guten Vorsatz jedoch noch nicht in die Tat umgesetzt. Wann hatte ich denn schon mal die Gelegenheit, morgens in Ruhe die Zeitung zu lesen?

Leider war es mit der Ruhe nicht weit her. Seit gestern wurde auf unserem Nachbargrundstück, direkt in Verlängerung der Terrasse, eine Baugrube ausgehoben. Das ständig aufheulende und wieder abklingende Baggergeräusch konnte mich heute nicht wirklich auf die Palme bringen. Der Grund dafür lag schwarz-weiß auf dem Wohnzimmertisch. Er war quadratisch, hatte etwa zehn Zentimeter Kantenlänge und nannte sich Ultraschallbild: Stefanie war schwanger. Ihre Übernachtung bei mir, als meine Schwiegermutter kürzlich spontan die Kinder mit zu sich nach Frankfurt genommen hatte, zeigte Nachwirkungen. Und diese wurden immer größer. Ich war zurzeit der glücklichste Mensch der Welt. Stefanie empfand ähnlich. Wenn alles klappte, wollte sie mit den Kindern bis Weihnachten wieder fest bei mir einziehen.

Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Nach dem dritten Läuten hatte ich mich aus meinem gepolsterten Lager befreit und ein Großteil der Kissen und mehrere einzelne Zeitungsseiten zerstreuten sich völlig ungleichmäßig auf dem Boden.

»Palzki.«

»Be…Becker hier, Dietmar Becker. Ta…tag Herr Palzki«, stotterte der mir wohlbekannte Archäologiestudent.

»Becker? Na, das ist eine Überraschung. Ich habe ja schon seit Tagen nichts mehr von Ihnen gehört. Wie gehts Ihnen denn? Was macht die Schreiberei?«

»Äh, Herr Palzki, können wir später darüber sprechen?«

»Ja, ist schon gut. Was haben Sie denn auf dem Herzen?«

»Auf dem Herzen? Äh, wie meinen Sie das? Ach so, ich verstehe.« Becker schien hochgradig nervös zu sein. In solchen Situationen ging in seinem Kopf immer alles drunter und drüber.

»Jetzt mal ganz langsam, Herr Becker. Was kann ich für Sie tun?«

»Herr Palzki, haben Ihre Kollegen Sie schon angerufen?«

»Meine Kollegen? Warum denn? Ich habe Urlaub. Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe? Wo stecken Sie überhaupt?«

Wieder fing Becker an zu stottern. »Ja, al…alles in Ord…Ordnung. Kö…Können Sie schnell vorbeikommen? Ich bin hier im Kestenbergerweg.«

»Im Kestenbergerweg? Was machen Sie dort? Geht es Ihnen wirklich gut?«

»Ja, natürlich. Ich stehe vor dem Haus von Jacques Bosco. Ich dachte, ich rufe Sie gleich an, er war doch Ihr Freund.«

»Natürlich ist Jacques mein Freund, das wissen Sie. Aber was heißt ›war‹?« Mein Brustkorb spannte sich, als handele es sich bei meinen Rippen um Expander, die von einem Hochleistungssportler auseinandergezogen wurden. Tausende von wirren Dinge schossen mir durch den Kopf und Becker antwortete nicht.

»Sind Sie noch dran? Um Himmels willen, was ist los?«

Becker schien sich etwas gefangen zu haben. »Herr Palzki, es tut mir so leid. Ich wollte Jacques gerade besuchen, doch ich kam zu spät. Er ist tot.«

Verkrampft umklammerte ich den Hörer, während mir die Tränen in die Augen schossen. »Ist das wahr? Was ist passiert? Reden Sie!«

»Seine Werkstatt ist explodiert«, erklärte der Student nun sachlich. »Es liegt alles in Schutt und Asche. Die Feuerwehr hat gerade die letzten Brandnester gelöscht. Hier sieht es furchtbar aus.«

Ich war wie gelähmt. Zitternd fragte ich mit einem letzten Quäntchen Hoffnung nach: »Hat man Jacques schon gefunden?«

Becker zögerte zunächst etwas mit der Antwort. »Ja. Vielmehr das, was von Ihrem Freund übrig geblieben ist, und das ist wirklich nicht viel. Oh, Herr Palzki, es tut mir ja so leid.«

Was er sonst noch zu mir sagte, bekam ich nicht mehr mit. Wie in Trance stand ich da, unfähig, irgendeinen meiner Sinne zu benutzen.

J A C Q U E S  I S T  T O T!

Selbst Minuten später, während mir die Tränen über die Wangen liefen, hielt ich den Hörer immer noch fassungslos in meiner Hand. Ich wusste nicht, ob Becker noch in der Leitung war, es war mir egal.

Obwohl ich unter Schock stand, stieg ich in meinen Wagen. Ich musste unbedingt alles mit eigenen Augen sehen. Meinen Freund, den Erfinder, kannte ich schon von Kindesbeinen an. Wir waren Nachbarn gewesen und ich besuchte ihn häufig in seiner Werkstatt. Damals lebte seine Frau noch; sie ließ ihn meist allein in seinem Reich vor sich hinwerkeln. Jacques Bosco war einer der letzten Allgemeingelehrten der Menschheit. Er machte sagenhafte Erfindungen, die meist aufgrund seiner Bescheidenheit Jahre später von einem anderen ein zweites Mal erfunden und erfolgreich vermarktet wurden. Nur von wenigen Entwicklungen profitierte er selbst. Er hatte sehr zurückgezogen in seiner eigenen Welt gelebt.

Als Kind hatte ich viel Spaß mit Jacques. Er war mir in zahlreichen Dingen nicht nur ein guter Lehrer, er verhalf mir während meiner Schulzeit auch mit so manchem Spezialeffekt zu einem gewissen Renommee als Zauberer. Wenn ich im Chemiesaal mitten im Unterricht für blauen Bodennebel sorgte oder der Kopierer im Lehrerzimmer unabhängig von der Vorlage oder der bedienenden Person entweder den Text ›Sie sind nicht berechtigt, dieses Gerät zu bedienen‹ oder ›Bitte dringend Schokoladeneis nachfüllen‹ ausspuckte, wusste jeder, dass ich meine Finger im Spiel hatte.

Schlagartig nahm ich meine Umgebung wieder wahr. Ich hatte keine Erinnerung mehr an die bereits zurückgelegte Strecke und erschrak über meine geistige Abwesenheit. Dem Kestenbergerweg wurde vor rund 20 Jahren im Zuge des Wegfalls beschrankter Bahnübergänge die direkte Verbindung zur Innenstadt genommen. Seitdem musste man die neu gebaute Unterführung und damit einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, um die Sackgasse vom anderen Ende her zu erreichen.

100 Meter vor Jacques’ Haus war kein Durchkommen mehr möglich. Einsatzfahrzeuge aller Art füllten jede noch so winzige Parkmöglichkeit. Ohne lange darüber nachzudenken, hielt ich in der Hofeinfahrt eines beliebigen Hauses und lief zum Ort des Geschehens. Menschenmassen drängten sich hinter dem rot-weißen Absperrband. Von hier aus war, außer einigen sich hartnäckig haltenden Rauchschwaden, nichts weiter zu erkennen. Jacques’ Haus stand noch. Seine Werkstatt lag von der Straße aus gesehen dahinter und war nur über einen kleinen Durchgang zwischen Wohngebäude und Garage zu erreichen.

Ich duckte mich, um unter dem Band durchzuschlüpfen, was ein Beamter sofort bemerkte. Da wir uns vom Sehen her kannten, nickte er mir nur kurz zu und ließ mich passieren. In der Hofeinfahrt stand ein Drehleiterfahrzeug der Feuerwehr. Ich drückte mich am Vorgartenzaun und dem Fahrzeug vorbei und erreichte den Durchgang. Der Anblick, der sich mir nun bot, versetzte mir den nächsten Schock. Was für eine heftige Detonation musste das gewesen sein? Die Werkstatt war dem Erdboden gleichgemacht, von der Garage stand nur noch ein Meter und erinnerte mich an die Geschichte von den Potemkinschen Dörfern. Sämtliche Fensterscheiben auf der Rückseite des Hauses waren zerborsten. Etwa die Hälfte des Daches war abgedeckt. Zwei Feuerwehrleute liefen im Hintergrund immer noch umher und löschten im Acker, der sich an das Grundstück anschloss, kleinere, sich selbst entzündende Brandherde. Im Garten, oder vielmehr dem, was von ihm übrig geblieben war, entdeckte ich meinen Kollegen Gerhard Steinbeißer, der mit Dietmar Becker redete. Becker schien Verbrechen und Katastrophen magisch anzuziehen. Bei meinen Ermittlungen lief er mir ständig über den Weg. Fairerweise muss ich zugeben, dass er mir bei meinen Fällen schon das eine oder andere Mal sehr hilfreich gewesen war. Natürlich nur zufälligerweise. Sein Wissen hatte er dazu genutzt, um mittlerweile zwei einigermaßen bekannte Regionalkrimis zu schreiben.

Mir persönlich waren seine Bücher suspekt, da in ihnen häufig und detailliert die tatsächliche polizeiliche Ermittlungsarbeit beschrieben wurde und die Figur des Kommissars öfter ins Lächerliche gezogen wurde. Aber dass die Leser dieser Romane Realität als Fiktion vorgesetzt bekamen, mussten sie ja nicht unbedingt wissen.

Um sein Archäologiestudium zu finanzieren, schrieb Becker auch als freier Journalist für die hiesigen Tageszeitungen. Mit seiner Interviewmasche gelang es ihm immer wieder, Zeugen oder gar Verdächtige vor mir zu befragen.

Die beiden hatten mich fast im gleichen Moment ebenfalls erkannt und kamen auf mich zu. Becker, der Grobmotoriker mit dem knabenhaften Gesicht, stolperte fast schon obligatorisch über einen Feuerwehrschlauch. Gerhard gelang es, ihn aufzufangen, bevor er in den nassen Dreck fallen konnte.

Gerhard, mit seinen seltsam verquollenen roten Augen, war mein Lieblingskollege. Faktisch war ich zwar sein Vorgesetzter, doch das spielte keine Rolle. Wir verstanden uns prima und das galt auch für die Arbeit. Da in der Schifferstadter Kriminalinspektion der Posten des Dienststellenleiters seit fast einem halben Jahr unbesetzt war, war ich als Stellvertreter beziehungsweise kommissarischer Leiter für alles verantwortlich. Glücklicherweise konnte ich die meisten Bürotätigkeiten an meine überaus kompetenten Kollegen delegieren und so gemeinsam mit Gerhard vor Ort ermitteln. Büroarbeit war mir verhasst.

»Alter Junge, ich weiß, wie du dich fühlst. Glaub mir, mir geht es nicht viel besser.« Gerhard zog ein Taschentuch aus seiner Hose und schnäuzte. Er kannte Jacques zwar persönlich, dass ihn die Sache jedoch so mitnahm, wunderte mich. Jedenfalls bis zu dem Moment, als Gerhard sich entschuldigte: »Tut mir leid, Reiner, ich bin total verschnupft. Vielleicht solltest du mir nicht zu nahe kommen.«

Meine roten Augen hatten einen anderen Grund–ich war traurig.

Ich stand nur da und schaute mir den riesigen Schutthaufen an, der bis heute Morgen die Werkstatt von Jacques gewesen war. Ich drehte mich zu Gerhard um und fragte ihn mit leiser Stimme: »Ist es sicher, dass Jacques da drin war?«

Gerhard legte mir den Arm um die Schultern. »Es besteht nur sehr wenig Hoffnung, dass die Überreste, die wir gefunden haben, nicht von Jacques stammen. Dr. Dr. Hingstenberg hat bereits die erste Untersuchung vor Ort durchgeführt. Tut mir leid, da ist nichts zu machen.«

»Wie ist das eigentlich passiert?«

»Das wissen wir noch nicht. Die Nachbarn ringsherum haben die Explosion gehört und zuerst an einen Bombenangriff gedacht. In der näheren Umgebung wurde zu dieser Zeit kein Fremder gesehen. Vermutlich war es ein schrecklicher Unfall.«

Jacques soll seine eigene Werkstatt in die Luft gesprengt haben? Unmöglich, dachte ich sofort. Doch dann fielen mir ein paar seiner früheren Experimente ein, die recht grenzwertig waren. Warum hatte ihn heute das Glück verlassen? In diesem Moment mussten in meinem Hirn zwei Synapsen eine Querverbindung hergestellt haben. Warum war Dietmar Becker eigentlich hier? Auf diese Antwort war ich mehr als gespannt.

»Herr Becker, klären Sie mich mal auf. Woran schreiben Sie gerade?«

»Was meinen Sie, Herr Palzki? Ich schreibe im Moment an keinem Buch. Es ist gerade erst der Roman mit dem Pseudokruppfall erschienen. Ich lerne zurzeit für meine Prüfungen.«

»Aha, und dabei wollte Jacques Ihnen wohl helfen?«

Becker wand sich hin und her. »Nein, nein, natürlich nicht. Erfindungen und Archäologie passen ja nicht so ganz zusammen, oder?«

»Muss ich Ihnen alles aus der Nase ziehen? Was hatten Sie hier zu suchen?«

»Ja, also, das war so. Von einem Zeitschriftenmagazin habe ich den Auftrag bekommen, einen Artikel über ein hochaktuelles Thema zu schreiben. Das würde mir eine Stange Kohle, äh ein gutes Honorar einbringen. Zufälligerweise hatte mir Jacques nach unserer letzten Aktion in der Waldfesthalle gesagt, dass er zu dieser Problematik schon einige Experimente durchgeführt hat.«

»Aha, und hätten Sie die Freundlichkeit, mir zu sagen, woran er gearbeitet hat?«

»Neue Energien wie synthetisches Benzin.«

Ich schluckte. »Synthetisches Benzin? Was soll das für ein Quatsch sein? Benzin wird aus Öl hergestellt, basta.«

»Na ja, das stimmt schon. Es geht aber auch anders.«

»Anders? Klar doch, linksdrehendes Leitungswasser, das in Vollmondnächten den Benzingöttern geopfert wird.«

»Herr Palzki, das ist kein Humbug, sondern Chemie. Das Prinzip ist mehrere Jahrzehnte alt. Man nennt es Kohleverflüssigung. In Hydrierwerken wird daraus alltagstaugliches Benzin hergestellt.«

»Okay, von mir aus. Bloß, wo soll da der Unterschied sein, ob das Benzin aus Öl oder Kohle hergestellt wird? Beides ist auf diesem Planeten nur sehr begrenzt vorhanden.«

Becker war nun in seinem Element, was einen längeren Monolog provozieren konnte, wie ich wusste. Er nickte auch schon eifrig. »Freilich, aber überlegen Sie mal, wie viel Öl und Kohle es zum Beispiel in Deutschland gibt. Fast das komplette Öl muss importiert werden, wogegen es hier zahlreiche Kohlevorräte gibt.«

»Herr Becker, jedes Kind weiß, dass der Kohleabbau mittlerweile alles andere als rentabel ist.«

Der Student nickte erneut. »In diesem Punkt stimme ich Ihnen vollkommen zu. Wenn man das Ganze allerdings unabhängig von den Kosten betrachtet, würden sich durch den Kohleabbau Deutschland und andere Öl importierende Länder aus der Abhängigkeit von den Öl exportierenden Ländern lösen können. Bedenken Sie, wegen Öl wurden und werden immer noch Kriege geführt. Wenn man dagegen Benzin einfach aus Kohleverflüssigung herstellen würde, hätte man ein Riesenproblem weniger.«

»Ich verstehe. Das Ganze ist aber rein hypothetisch, oder? Wenn es dieses System tatsächlich bereits seit Jahrzehnten gäbe, hätte man es doch längst industriell vermarktet. Oder wollen Sie mir sagen, dass unser Jacques mit seinen Erfindungen dahintersteckt?«

»Nein, nein«, lachte der Student, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick, bevor er wieder ernst wurde. »Ich sehe schon, ich muss mit meinen Erklärungen ein wenig weiter ausholen. Im Zweiten Weltkrieg gab es allein in Deutschland rund ein Dutzend solcher Hydrierwerke. Man war damals ja vom Rest der Welt ausgeschlossen worden. Der größte Teil des Treibstoffbedarfs der Wehrmacht wurde über Kohleverflüssigung produziert. Oder nehmen Sie zum Beispiel die Ölkrise, 1973. Kurz danach wurden mehr als ein Dutzend großtechnische Anlagen geplant. Als zehn Jahre später der Sprit billiger wurde, hat man die Pläne wieder verworfen. Die letzte Pilotanlage produzierte übrigens in Essen bis ins Jahr 2004.«

»Aha, so wie ich das verstanden habe, ist die Herstellung von synthetischem Benzin weniger eine Sicherheitsfrage als eine Frage der Kosten.«

»Jawohl, Sie haben es richtig erkannt, Herr Palzki. Allerdings bleiben da noch andere Fragen offen. Das Syntheseprodukt kann zu einem Preis von ungefähr 25 Dollar pro Barrel hergestellt werden. Dazu kommen die Kohleförderungs- und eventuell Transportkosten. Der Transport würde entfallen, wenn man die Hydrierwerke direkt beim Kohleabbaulager errichten würde. Ich denke, dass Sie eine ungefähre Ahnung haben, was zurzeit ein Barrel Öl kostet.«

»Natürlich weiß ich das, man liest es ja ständig in der Zeitung.« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Und warum macht das niemand? Wie Sie vorhin selbst gesagt haben, wäre dadurch das Autofahren wesentlich billiger und die Abhängigkeit von anderen Ländern viel geringer.«

»Gute Frage, Herr Kommissar. Genau das will ich in meinem Artikel erörtern. Politik, Lobbyarbeit, internationale Vereinbarungen, das ganze Portfolio eben. Wie schon Jacques sagte: ›Ich kann erfinden, was ich will. Es gibt immer jemanden, der den Zustand ohne diese Erfindung beibehalten möchte.‹«

»Und jetzt erzählen Sie mir bitte, was Jacques mit dieser ganzen Sache zu tun hat. Vielleicht war das ja gar kein Unfall?«

»Da muss ich Sie leider enttäuschen. Jacques hat mir zwar erzählt, dass er vor längerer Zeit damit experimentiert und sogar ein günstigeres als das bestehende Hydrierverfahren entwickelt hat, es jedoch bis jetzt niemand haben wollte. Glauben Sie bloß nicht, er wäre etwa wegen seiner Entwicklung ermordet worden. Er hat das Prinzip damals öffentlich gemacht. Jeder könnte es benutzen, wenn er nur wollte.«

»Und was tun Sie nun hier?«

»Wir haben in den letzten Tagen viel über dieses Thema diskutiert und ich kam mit meinem Bericht sehr gut voran. Heute wollte ich ein paar offene Punkte mit ihm besprechen, eigentlich nur Kleinigkeiten.«

»Sagen Sie mal, Herr Becker, als Sie in den letzten Tagen bei Jacques waren, ist Ihnen da etwas aufgefallen?«

Der Student überlegte kurz, bevor er langsam seinen Kopf schüttelte. »Nein, er verhielt sich ganz normal. Aber Sie wissen ja, dass ich ihn nicht lange kannte. Er hat häufig betont, dass ihm unsere Aktion in der Waldfesthalle sehr gut gefallen hat und er sich dabei so richtig jung gefühlt hat. Dabei erwähnte er auch, dass er hoffe, noch mehr solche Abenteuer erleben zu dürfen.«

»Ja, ja, das glaube ich gerne. Unser Jacques lebte hier relativ einsam. Vor allem, seit seine Frau gestorben ist.«

Gerhard, der sich währenddessen mit einem Feuerwehrmann unterhalten hatte, mischte sich in unser Gespräch ein: »Reiner, es dürfte das Beste sein, wenn du jetzt heimgehst. Du hast Urlaub. Wir kriegen das hin. Morgen früh kommt der Bericht von Hingstenberg, danach rufe ich dich gleich an, in Ordnung?«

Ich musste meinem Kollegen beipflichten. Immerhin war er während meines Urlaubs der zuständige Chef. Da fiel mir eine weitere Frage ein: »Ist der Elektrofuzzi von der Verwaltung noch da?«

Gerhard bekam einen versteinerten Gesichtsausdruck. »Das kannst du singen, den bekommen wir so schnell nicht wieder los. Im Moment zählt er sämtliche Handys und Ladeschalen, die er in der Inspektion finden kann. Du kannst es dir nicht vorstellen, es ist die Hölle. Sei bloß froh, dass du nicht da bist.«

Puh, das nannte ich Glück. Das Präsidium in Ludwigshafen hatte uns wegen des ausufernden Stromverbrauchs unserer Dienststelle einen Prüfer geschickt, der vor Ort den Schuldigen ausfindig machen sollte. Dazu hatte man den unfähigsten Beamten weit und breit ausgewählt. Mit Ärmelschonern lief er bei uns in der Inspektion herum, nervte die Mitarbeiter und hielt alle von der Arbeit ab. Der Mann hatte nicht das geringste Verständnis für die tatsächlichen Abläufe in der Dienststelle. Bei seiner Suche nach dem Übeltäter, so hatte er sich ausgedrückt, musste ihm unser armer Hausmeister behilflich sein. Heribert Mertens, unsere gute Seele, war erst seit einem Jahr bei uns. Doch wenn das so weiter ging, war er es die längste Zeit gewesen. An meinem letzten Arbeitstag vor dem Urlaub hatte er den Stromverbrauch unseres Heißgetränkeautomaten messen müssen. Für jede Getränkesorte einzeln.

Ich verabschiedete mich von Gerhard und Dietmar Becker, blickte noch eine Weile sinnend auf den Schutthaufen, bevor ich zu meinem Wagen ging und heimfuhr.

Die Begrüßung zu Hause war, na ja, sagen wir mal, zwiespältig. Paul, mein Sohn, kam auf mich zugerannt, sprang an mir hoch und schrie in der hohen Stimmlage eines Zweitklässlers: »Papa, verdammt, mein Brüderchen ist immer noch nicht da!« Seine drei Jahre ältere Schwester bekam nur am Rande mit, dass ich zurück war. Sie saß auf dem Boden und sortierte ihreCD-Sammlung. Das Wiedersehen mit Stefanie hatte es dagegen in sich.

»Sag mal, Reiner, spinnst du? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wo warst du denn so lange? Hier in der Wohnung sieht es aus, als hättest du zwei Jahre lang allein gewohnt.« Ich bemerkte, dass sie den Tränen nah war. »Reiner, mach so etwas nie wieder. Ich hatte solche Angst um dich. Das Chaos im Wohnzimmer, die zerfetzte Zeitung, die Kissen auf dem Boden. Ich dachte, du hättest einen Herzinfarkt bekommen. Ich habe sämtliche Krankenhäuser in der Umgebung angerufen. Oh, Reiner, ich war so in Sorge.«

Ich umarmte meine Frau und setze mich mit ihr auf die Couch. Vorher schickte ich Paul in sein Zimmer. Nur murrend verzog er sich. Melanie war nirgendwo mehr zu sehen. Ich erzählte Stefanie, was ich gerade erlebt hatte. Zum Schluss heulten wir beide.

2. Das Opfer ist immer der Gärtner

Stefanie war ohne Zweifel genauso mitgenommen von Jacques’ Tod wie ich. Trotzdem dachte sie weiter. Wahrscheinlich können das in solchen Situationen nur Frauen. Sie stellte Überlegungen an, die mir noch gar nicht in den Sinn gekommen waren.

»Sag mal, Reiner, was passiert jetzt mit Jacques’ Haus und allem?«

»Was meinst du?«

»Mensch, stell dich nicht so blöd an. Wer erbt das Haus, und überhaupt, wer kümmert sich um die Beerdigung?«

»Ich denke, da dürfte nicht mehr viel für ein Begräbnis übrig geblieben sein.«

»Spinnst du?«, fuhr sie mich an. »Jacques hat es verdient, ehrenhaft bestattet zu werden. Es geht um das Andenken und nicht um eine mehr oder weniger vollständige Körperhülle.«

»Ja, natürlich, du hast recht. Ich werde mich darum kümmern. Das bin ich ihm wirklich schuldig, keine Frage. Das Erbe wird wahrscheinlich der Staat kassieren. Du weißt ja, dass Jacques keinerlei Verwandte hatte.«

»Das finde ich lieb von dir, Reiner. Weißt du was, wir organisieren eine ordentliche Trauerfeier für unseren Freund.«

»Gut, ich werde mich gleich morgen früh darum kümmern. Ist das in Ordnung, Stefanie?«

»Machs lieber morgen Abend, du hast morgen früh keine Zeit.«

Ich starrte sie an. Was meinte sie damit?

»Oh, ich sehs dir an. Du hast es vergessen. Unter diesen Umständen sei dir noch mal verziehen. Du hast den Kindern versprochen, mit ihnen nach Stuttgart in die Wilhelma zu fahren. Und ein bisschen Abwechslung tut dir in diesen Tagen bestimmt ganz gut.«

Klasse, den Zoobesuch hatte ich in der Tat ganz vergessen. Wahrscheinlich würde mir ein bisschen Ablenkung tatsächlich nicht schaden.

*

Am nächsten Morgen, es war immerhin schon kurz nach 7 Uhr, sprang Paul mit einem Hechtsprung in unser Bett. Bis dahin hatten wir friedlich und fest geschlafen. So schnell war ich noch nie wach geworden. Paul war auf mir gelandet und nicht auf meiner Frau, was ich schmerzhaft zur Kenntnis nahm.

Paul freute sich auf den Stuttgarter Zoo, Melanie dagegen war unser Ausflug ziemlich egal. Hauptsache, sie hatte genügend Ersatzakkus dabei.

Punkt 8 Uhr waren wir startklar. Diese Tageszeit hatte ihre Vorteile, denn von unserer Nachbarin, Frau Ackermann, die gerne tratschte, war nichts zu sehen. Meine Frau hatte uns Obst und Vollkornbrotschnitten eingepackt. Wer sollte das essen?

Ich musste jedoch vor der Fahrt noch Gewissheit wegen Jacques haben. Eine Viertelstunde würde reichen. Ich parkte vor der Inspektion, und weil die Kinder so bettelten, nahm ich sie mit rein. Neben der Eingangstür hing ein kleines Schild unter dem Klingelknopf, das ich noch nicht kannte: ›Bitte nur kurz auf die Klingel drücken‹. Darunter konnte man den Namen des Elektrofuzzis lesen. Ich dachte einen Moment an eine versteckte Kamera, bevor ich mich mit meinen Kindern auf den Weg in Richtung Büro machte. Wir sollten es allerdings nicht erreichen.

Ein mir fremder Mann kam mit Gerhard im Schlepptau auf mich zu. Mein Kollege sah noch schlechter aus als gestern. Er wirkte deprimierter. Hatte etwa mal wieder eine seiner zahlreichen Bekanntschaften mit ihm Schluss gemacht? Dann wäre es halb so schlimm. In wenigen Tagen würde er über den Berg sein. Gerhard genoss sein Leben.

»Ah, guten Tag, Sie müssen Kriminalhauptkommissar Reiner Palzki sein. Willkommen an Bord! Mein Name ist Klaus Diefenbach. Ich denke, wir werden prächtig miteinander auskommen.«

Er schüttelte mir die Hand. Sein fester Händedruck passte optimal zu seinem streng geschnittenen Gesicht. In seinem eleganten, vermutlich für einen Beamten viel zu teuren Anzug wirkte er wie jemand, der niemals einen Widerspruch duldete. Weder im Berufs- noch im Privatleben.

Ich wollte ihn gerade fragen, warum er hier war, doch er schnitt mir bereits bei der ersten Silbe das Wort ab.

»Na, ich gehe mal weiter, die anderen Mitarbeiter begrüßen. Lassen Sie sich bei Frau Wagner einen Termin geben, dann können wir die Einzelheiten besprechen«, stellte er klar und verschwand im Treppenhaus.

Ganz verdattert schaute ich Gerhard an. »Was war das? Oder vielmehr: Wer war das?«

Gerhard starrte auf den Boden und nuschelte: »Das warKPD.«

»Was?KPD? Was soll das? Macht der hier Parteiwerbung?«

»Nein«, antwortete mein Freund. »KPDist sein Spitzname, die Initialen seines Namens: Klaus P. Diefenbach.«

»Und für was steht das ›P‹? Vielleicht für ›Pfälzer‹?«

»Ich habe keine Ahnung, Reiner. Ich weiß nur, was er bei uns macht.«

»Aha, da kommen wir einen Schritt weiter. Was tut er hier?«

»KPDwurde wegen einiger Verfehlungen vom Präsidium in Ludwigshafen nach Schifferstadt ›aufs Land‹ strafversetzt, wie uns die Kollegen aus Ludwigshafen mitgeteilt haben.«

»Wie bitte?« Ich schrie beinahe. »Was sollen wir mit einem Beamten, der zur Bewährungsverwendung zu uns geschickt wurde? Was sollen wir mit dem anfangen?«

Gerhard nuschelte noch stärker als zuvor, sodass ich nachfragen musste. »Ich verstehe kein Wort, Kollege.«

»Er ist Kriminaloberrat.«

»Kriminaloberrat? Was soll der Scheiß?«

»Mit dem Scheiß hast du recht, Reiner. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dassKPDseit heute der neue Dienststellenleiter in Schifferstadt ist.«

»Willst du mich veräppeln? Erst der Prüfer vom Präsidium, jetzt dieser komischeKPD–Wo sind wir denn hier?«

»Harte Zeiten, ich weiß. Der Elektrofuzzi wird irgendwann wieder gehen,KPDwird uns vielleicht länger erhalten bleiben. Sag mal, Reiner, warum bist du heute eigentlich hier?«

»Unglaublich, mir wurde kein Wort davon gesagt. So etwas hätte man doch ankündigen müssen! Na ja, im Moment habe ich zum Glück Urlaub. Weswegen ich hier bin: Hat sich Hingstenberg gemeldet?«

Gerhard holte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und schnäuzte sich. »Er hat sich gemeldet. Ich hab dir das Fax in dein Büro gelegt, weil ich eigentlich auf dem Sprung zum Arzt bin. Mir geht es ziemlich übel. Ich befürchte, dass ich nicht nur eine einfache Erkältung habe.«

Ausnahmsweise interessierte mich das Wohlbefinden meines Lieblingskollegen nicht sonderlich. Ich musste Gewissheit bezüglich Jacques haben. »Was steht drin?«

»Tut mir leid, Reiner. Bei dem Toten handelt es sich eindeutig um Jacques. Laut der Gewebeproben gibt es nicht den geringsten Zweifel.«

Darauf war ich zwar gefasst, dennoch wurde mir flau im Magen. Ich hatte dank Stefanie gut und vermutlich auch gesund gefrühstückt, und trotzdem strebte mein Mageninhalt wieder nach oben. Nur mit Mühe konnte ich dagegen ankämpfen. Ich wusste nichts zu erwidern.

»Herr Steinbeißer, da sind Sie ja!«, rief eine aufgeregte weibliche Stimme durch den Flur. »Ich habe Sie überall gesucht.«

Gerhard drehte sich fragend in Richtung der Beamtin. »Jetzt haben Sie mich gefunden. Was gibt es so Dringendes?«

»Uns wurde vor ein paar Minuten ein Kapitalverbrechen gemeldet. Die erste Leichenschau attestierte einen unnatürlichen Tod mit Verdacht auf Fremdeinwirkung.«

Gerhard starrte seine Kollegin an. »Mensch, gerade jetzt. Ich bin auf dem Sprung zum Arzt. Wo ist es passiert?«

»In Haßloch.«

»Was? Schon wieder in Haßloch? Hoffentlich kein Kinderarzt?«

Die Polizistin schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, wir wissen bisher so gut wie nichts. Tatort ist der Holiday Park. Die Mitarbeiter der Spurensicherung sind bereits unterwegs.«

Gerhard setzte einen flehenden Blick auf. »Kollege, könntest du den ersten Termin für mich übernehmen? Ich würde nach dem Arztbesuch gleich nachkommen. Bitte.«

Ich war hin- und hergerissen. Natürlich hätte ich den Fall gerne übernommen. Wenn ich mir die Konsequenzen überlegte…»Warum schickst du nicht Jutta hin?«

Jutta Wagner war unser guter Geist. Meistens im Innendienst, organisierte sie unsere Besprechungen und die Einsatzkoordination.

»Weil«, Gerhard stockte einen Moment. »WeilKPDunsere Jutta in Beschlag genommen hat. Sie ist ab heute als Sachbearbeiterin Einsatz für die gesamte Inspektion tätig und mussKPDals rechte Hand zuarbeiten.«

Mir blieb der Mund offen stehen. »Jutta lässt sich das gefallen?«

»Im Moment. Ich denke, dass es nicht mehr lange gut gehen wird.«

»Okay«, sagte ich gedehnt. »Ich denke, du wirst nicht mehr als eine Stunde beim Arzt benötigen. Danach kannst du mich im Park ablösen.–Halt, meine Kinder! Wo sind die überhaupt?«

»Du hast Paul und Melanie dabei? Keine Ahnung, ich habe sie nicht gesehen.«

Jetzt geriet ich leicht in Panik. Mit Gerhard rannte ich den Flur entlang und schaute in jedes Büro. Bei Jutta wurden wir schließlich fündig. Paul und Melanie saßen auf dem Boden vor einem riesigen Plan und bemalten diesen gerade mit Filzstiften.

»Was macht ihr denn hier?«, herrschte ich die beiden an. »Hallo, Jutta«, ergänzte ich an meine Kollegin gewandt.

»Langsam, langsam, Reiner. Es ist alles in Ordnung.« Jutta stand auf und umarmte mich. »Die Sache mit Herrn Bosco hat uns alle mitgenommen. Wir sind unendlich traurig.« Sie bekam wässrige Augen und musste einen Moment warten, bevor sie weiterreden konnte. »Deine Kinder helfen uns bei einer schwierigen und langwierigen Aufgabe.«

Ich sah sie fragend an.

»Das, was du da auf dem Boden liegen siehst, ist unser Gebäudeplan. Dieser Prüfer hat tatsächlich von mir verlangt, sämtliche nicht ortsfeste elektrische Verbraucher einzuzeichnen. Vom Radio bis zum elektrischen Bleistiftspitzer, verstehst du?«

Ich verstand nicht. »Und was haben Paul und Melanie damit zu tun?«

Jutta zeigte ein leichtes, verschämtes Grinsen. »Sie zeichnen die mutmaßlichen Verbrauchsstellen ein.«

»Die wissen doch gar nicht, was wir so alles haben.«

»Das ist auch gut so«, erwiderte Jutta und grinste etwas breiter.

»Ach so, jetzt habe ich es kapiert. Passiver Widerstand! Meinst du, damit vergraulen wir den Typen?«

»Keine Ahnung, mir geht er jedenfalls unendlich auf den Geist. Genau wieKPD. Hattest du schon das Vergnügen?«

»Ich hatte.«

»Du, Jutta«, mischte sich Gerhard ein. »Kann Reiner die Kinder eine Weile bei dir lassen? Uns wurde gerade ein Mordfall gemeldet und ich müsste dringend zum Arzt.«

»Hast du nicht Urlaub?«, sprach sie mich an. »Aber wenn du meinst–von mir aus. Vorausgesetzt, Paul und Melanie wollen überhaupt hierbleiben.«

»Was ist mit euch beiden?«, fragte ich meinen Nachwuchs. »Könnt ihr es eine Weile hier aushalten, während euer Vater eine kleine Aufgabe im Holiday Park übernimmt?«

Ups, das war unüberlegt. Den Freizeitpark hätte ich besser nicht erwähnen sollen. Melanie und Paul sprangen auf. »Wir kommen mit!«, schrien sie im Duett.

»Das geht nicht«, versuchte ich, sie davon abzubringen. »Dort ist etwas passiert. Es dürfen keine Besucher rein.«

Jutta schaute auf die Uhr. »Um diese Zeit ist sowieso noch nicht geöffnet.«

»Papa, wenn der Park aufhat, holst du uns dann? Ich fahr 20-mal die Wildwasserbahn mit den Teufelsfässern. Und bei der Mörderjagd helfen wir auch.« Paul stand voller Erwartung zappelig vor mir.

»Na, klar«, beruhigte ich ihn. »Ich lasse euch ein bisschen Geld da, damit ihr euch am Getränkeautomaten etwas zu trinken holen könnt. Und wenn ich zurück bin, fahren wir vor unserem Zoobesuch zum Caravella und holen uns Pizza, einverstanden?«

»Und Pommes«, ergänzte Paul frech.

»Und Pommes«, gab ich mich geschlagen. »Aber wehe, ihr verratet das eurer Mutter«. Stefanie würde es sowieso erfahren. Ich fragte mich, ob das, was ich machte, in Ordnung war. Stefanie war schwanger und hatte vor, mit den Kindern wieder zu mir zu ziehen. Und was tat ich? Ich machte meinen Job und das trotz Urlaubs. Nein, so konnte es nicht weitergehen. Ich musste mich von meinen beruflichen Zwängen befreien. Eine Stunde Vertretung für Gerhard konnte ich noch akzeptieren, danach würde ich nur noch für meine Familie da sein.

Heute war ich ausnahmsweise einmal satt und frei von Sodbrennen, als ich über Böhl-Iggelheim nach Haßloch fuhr. Bereits östlich des größten pfälzischen Dorfes nahm ich die Umgehungsstraße, die offiziell ›Holiday Park-Straße‹ hieß. Dennoch waren es noch einige Kilometer durch den Wald, bis ich den Freizeitpark erreichte. Schon aus der Ferne waren Teile einer roten Achterbahn und eines Turms zu erkennen, mit dem Besucher im freien Fall nach unten rasen konnten. Natürlich in gesicherten Sitzen. Genauer hatte ich mir das bei meinen bisherigen Besuchen allerdings nicht angeschaut. Diese selbstmörderischen Fahr- beziehungsweise Fallgeschäfte waren nicht nach meinem Geschmack. Aber auch für reifere Erwachsene gab es genug zu entdecken. Auch wenn diese Attraktionen von meinen Kindern mit einem Gähnen kommentiert wurden. Doch heute war ich nicht zum Vergnügen hier. Kurz vor dem Park befand sich die Zufahrt zur Verwaltung. Ich stellte mich dem Parkwächter vor und dieser zeigte mir daraufhin den Weg. Ein kleines einstöckiges Häuschen diente als Mitarbeiterzugang. Gegenüber dem Eingang standen mehrere Gebäude, die mich auf den ersten Blick an Bürocontainer erinnerten. Ein Schild wies eines davon als Verwaltungssitz aus. Ein breiter Weg führte direkt in den Park. Nach 20 Metern wusste ich zwar, wo ich war, nicht jedoch, wohin ich mich wenden musste. Der Park war menschenleer. Ich warf einen Blick auf meine Uhr: Normalerweise hätte er um diese Zeit gerade geöffnet, aber das dürfte heute wohl nicht möglich sein. Glücklicherweise kam mir in diesem Moment ein kleines Elektroauto entgegen. Ich gab dem Fahrer durch Winken zu verstehen, dass er anhalten sollte.

»Guten Morgen, können Sie mir helfen, mich zurechtzufinden?«

Er schaute mich fragend an. »Sind Sie vielleicht wegen dem Wolf da?«

»Was für ein Wolf?«

»Der Wolf halt, unser Gärtnermeister.« Er deutete mit seiner Hand am Hals einen Schnitt an. »Den hats erwischt.«

Ich verstand. »Ja, ja, wo finde ich ihn?«

Er zeigte mitten in den Park. »Immer Richtung GeForce-Achterbahn, ist nicht zu verfehlen. Dort ist mächtig was los, sag ich Ihnen. Sind Sie von der Presse?«

Ich verneinte und ging in die gezeigte Richtung.

Irgendwie erschien mir der Park anders, als ich ihn in Erinnerung hatte. Klar, fiel mir ein, es war Oktober und somit bald Halloween. Dieses amerikanische Treiben wurde in Deutschland seit ein paar Jahren immer populärer. Der Park war mit Hunderten, vielleicht sogar Tausenden Kürbissen und Lampions dekoriert. Ich vermutete, dass man ihn damit so richtig gruselig beleuchten konnte. Vereinzelt entdeckte ich Skelette in den Bäumen hängen. Sogar einen kleinen Friedhof gab es. Auf den Grabsteinen standen Texte wie ›Hier ruht gut geerdet der Elektriker‹ oder ›Hier ruht die Putzfrau, sie kehrt nie wieder‹.