Schwarzkittel - Harald Schneider - E-Book

Schwarzkittel E-Book

Harald Schneider

4,2

Beschreibung

Kinderarzt Dr. Dipper wird tot aufgefunden - aufgeknüpft an einem Baum auf dem Gelände der Haßlocher Pferderennbahn. Um den Hals trägt er eine Papptafel mit der vieldeutigen Aufschrift „Auf’s falsche Pferd gesetzt“. Als kurz darauf auch noch ein Assistenzarzt der Ludwigshafener Kinderklinik ermordet wird, besteht für Kommissar Reiner Palzki kein Zweifel, dass es zwischen den beiden Fällen einen Zusammenhang geben muss. Er findet heraus, dass ein Patient Dr. Dippers erst wenige Tage zuvor durch einen Pseudokruppanfall verstorben war. Auch in der Klinik kam es zu ähnlichen Todesfällen. Palzki spürt, dass er einem ausgewachsenen Skandal auf der Spur ist …

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Harald Schneider

Schwarzkittel

Palzkis zweiter Fall

Zum Buch

TÖDLICHE DOSIS Kinderarzt Dr. Dipper wird tot aufgefunden – aufgeknüpft an einem Baum auf dem Gelände der Haßlocher Pferderennbahn. Um den Hals trägt er eine Papptafel mit der vieldeutigen Aufschrift »Auf’s falsche Pferd gesetzt«. Als kurz darauf auch noch ein Assistenzarzt der Ludwigshafener Kinderklinik ermordet wird, besteht für Kommissar Reiner Palzki kein Zweifel, dass es zwischen den beiden Fällen einen Zusammenhang geben muss. Er findet heraus, dass ein Patient Dr. Dippers erst wenige Tage zuvor durch einen Pseudokruppanfall verstorben war. Auch in der Klinik kam es zu ähnlichen Todesfällen. Palzki spürt, dass er einem ausgewachsenen Skandal auf der Spur ist …

Harald Schneider, 1962 in Speyer geboren, wohnt in Schifferstadt und arbeitete 20 Jahre lang als Betriebswirt in einem Medienkonzern. Seine Schriftstellerkarriere begann während des Studiums mit Kurzkrimis für die Regenbogenpresse. Der Vater von vier Kindern veröffentlichte mehrere Kinderbuchserien. Seit 2008 hat er in der Metropolregion Rhein-Neckar-Pfalz den skurrilen Kommissar Reiner Palzki etabliert, der, neben seinem mittlerweile 21. Fall »Ordentlich gemordet«, in zahlreichen Ratekrimis in der Tageszeitung Rheinpfalz und verschiedenen Kundenmagazinen ermittelt. Schneider erreichte bei der Wahl zum Lieblingsautor der Pfälzer den 3. Platz nach Sebastian Fitzek und Rafik Schami.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von aboutpixel.de / Ein Tropfen © Rainer Sturm

ISBN 978-3-8392-3010-7

Gedicht und Widmung

Kinder

Sind so schöne Münder

sprechen alles aus.

Darf man nie verbieten

kommt sonst nichts mehr raus.

 

Bettina Wegner

*

Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizeiinspektion Schifferstadt

1. Hoch hinaus

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

Mit einem Becher Kaffee in der Hand stand ich im durchweichten Acker und betrachtete die langsam aufgehende Herbstsonne. Nicht zum ersten Mal zuckte ich zusammen, als eine riesige Holztafel über meinen Kopf hinwegschwenkte. Das, was ich hier sah, war unglaublich. Klar, im Fernsehen wurde so etwas ab und an gezeigt. Aber das alles live zu erleben – unfassbar. Die Bilder, die sich mir in den Schädel brannten, veränderten sich von Minute zu Minute. Zeit zum Begreifen blieb mir nicht. Der Fahrer der Sattelzugmaschine stellte sich neben mich und lächelte mir entspannt und vielsagend zu. Die Ladung auf seinem Hänger war für ihn sein tägliches Brot.

Christin und Michael sowie ihre beiden Kinder liefen nervös und aufgeregt über ihr Grundstück. Ich zog zum wiederholten Male meine Digitalkamera aus der Tasche und fotografierte die vier Glücklichen zusammen mit dem bereits bestehenden Teil ihrer neuen Anschaffung. Vor einer guten Stunde stand hier nur ein Betonkeller. Inzwischen war eine Handvoll Arbeiter dabei, die Erdgeschossdecke aufzulegen.

Mit der Baufamilie waren Stefanie und ich schon seit vielen Jahren befreundet. Näher kennengelernt hatten wir uns auf einer Geburtstagsfeier von gemeinsamen Bekannten. Meine Frau war sogar die Taufpatin von Christin und Michaels Tochter Mara.

»Komm mit rein«, winkte mir Christin zu, während sie die Baueingangstür offen hielt.

Auf dem blanken Rohbetonfußboden ging ich mit ihr durch das unvollendete Haus. »Diesen Ausblick wirst du nie mehr haben«, sagte ich zu ihr und zeigte aus dem Wohnzimmer hinaus nach oben in Richtung Himmel.

»Ja, das ist schon Wahnsinn, Reiner. In einer halben Stunde wird die Decke auf unserem Wohnzimmer liegen und anschließend geht es gleich mit dem Obergeschoss weiter. Bis morgen früh sollen die Ziegel auf dem Dach liegen.«

Ich bereute es nicht, heute ausnahmsweise ein paar Stunden früher aufgestanden zu sein. Bis zum Dienstbeginn war noch ein wenig Zeit, stellte ich mit einem prüfenden Blick auf meine Armbanduhr fest. Also schaute ich mich weiter um. Selbst die Fenster waren bereits komplett mit den Rollläden in die Außenwände eingebaut. Mara und Johannes spielten in ihrer neuen Bleibe Verstecken, was die Arbeiter aber nicht im Geringsten zu stören schien. Die Routine war ihnen deutlich anzusehen.

Michael klopfte mir auf die Schultern. »Toll, was? Übrigens, Stefanie kommt nachher auch. Sie muss aber erst die Kinder zur Schule bringen.« Er sah mir mit einem Lächeln fest in die Augen. »Vor zwei Wochen scheint ihr mächtig zusammen gefeiert zu haben, wie sie mir erzählte.«

Wie recht Michael hatte. Vor fast zwei Jahren war meine Frau Stefanie mit unseren beiden Kindern Paul und Melanie aus der gemeinsamen Doppelhaushälfte im Neubaugebiet Schifferstadt ausgezogen. Sämtliche Bemühungen, sie zur Rückkehr zu bewegen, waren in der Vergangenheit stets gescheitert. Doch dann passierte es. Samstagvormittags klingelte es plötzlich an meiner Haustür. Ohne vorherige Ankündigung kam Stefanie zusammen mit Paul, Melanie und ihrer Mutter zu Besuch. Ich mochte meine Schwiegermutter nicht besonders, doch an besagtem Samstag war sie ein Segen. Sie nahm die Kinder für eine Nacht mit zu sich nach Frankfurt. Diese Nacht hatte alles verändert. Ohne näher auf die Details dieser Stunden eingehen zu wollen, verabredeten wir, dass sie mit den Kindern in den Herbstferien testweise wieder zurückkommt.

»He Reiner, ist das dein Handy, das da in deinem Wagen wie Herbert Grönemeyer vor sich hinwinselt?«, riss mich Christin aus meinen Gedanken.

Ich streckte pantomimisch ein Ohr in die Luft. »Ich höre nichts.«

»Du Spinner, klärst du deine Mordfälle auch immer so gewissenhaft auf?«, grinste sie mich an. »Du musst schon rausgehen, damit du es hörst. Vorausgesetzt, der Anrufer ist hartnäckig genug.«

Ich schritt hinaus ins Freie und ging zu meinem Wagen. Dass ich mein Diensthandy im Auto liegen ließ, war nichts Ungewöhnliches. Dass es eingeschaltet war, schon.

Der Anrufer war hartnäckig. »Palzki«, meldete ich mich, ohne vorher auf das Display zu schauen.

»Ich bins, der Gerhard«, begrüßte mich mein Freund und Kollege. »Wo treibst du dich denn herum? Normalerweise liegst du um diese Zeit doch in den Federn und träumst von besseren Zeiten.«

»Ich habe die besseren Zeiten inzwischen gefunden, deshalb bin ich jetzt Frühaufsteher«, frotzelte ich zurück. »Was gibts, Kollege?«

»Leider werden jetzt aus den guten Zeiten, schlechte Zeiten. Wenn du nicht ganz und gar unpässlich bist, wäre es schön, wenn du sofort nach Haßloch fahren würdest. Ich bin bereits vor Ort.«

»Haßloch? Um diese Zeit? Haben sie dich versehentlich im ›Holiday Park‹ eingeschlossen?«

»Nicht ganz, die Richtung stimmt aber schon. Im Südosten von Haßloch ist doch die Pferderennbahn, eigentlich nicht zu verfehlen.«

»Was machst du auf der Pferderennbahn? Ich dachte, du bist Vegetarier?«

Ich hörte Gerhard am anderen Ende der Leitung schnauben. »Klar, grundsätzlich habe ich nichts gegen Gemüse und einen schönen Salatteller.« Er machte eine kleine Pause. »Solange ein fettes Schnitzel dabeiliegt. Jetzt komme aber endlich mal in die Gänge, es ist schließlich keine Kaffeefahrt, sondern ein dienstlicher Einsatz.«

»Okay, okay, ich sitze schon im Wagen. Würdest du mich womöglich trotzdem über Sinn und Zweck der Fahrt aufklären, mein lieber Gerhard?«

»Ach so, das weißt du noch gar nicht. Es gibt eine Leiche. Auf dem Rennbahngelände wurde jemand stranguliert aufgefunden.«

»Deiner Wortwahl entnehme ich, dass vermutlich Fremdverschulden vorliegt?«

»Aber klar doch, sonst hätte ich es nicht gewagt, dich so zeitig zu wecken.«

Ich schmunzelte vor mich hin. »Was heißt hier wecken? Ich bin schon fast wieder müde. Weiß man schon was von der Täterfraktion?«

»Nein, das ist derzeit zu früh. Eines macht den Fall aber irgendwie mysteriös. Der Tote hat ein Pappschild um den Hals mit dem vieldeutigen Text ›Aufs falsche Pferd gesetzt‹.«

Ich wollte gerade etwas erwidern, als ich von drei lang gezogenen Pieptönen unterbrochen wurde. Das Handy hatte sich automatisch abgeschaltet. Vielleicht sollte ich es regelmäßiger ans Ladegerät hängen.

Ich verabschiedete mich kurz von den glücklichen Bauherren. Bevor ich nun nach Haßloch fah­ren konnte, musste ich bei mir zu Hause vorbei. Der Grund war einfach: Ich hatte noch nicht gefrühstückt.

2. Hat die Gerechtigkeit gesiegt?

Zehn Minuten später stand ich vor meinem Haus. Schnell sprang ich hinein und griff mir die auf dem Küchentisch liegende angebrochene Tüte Waffelgebäck sowie eine Handvoll Lakritzschnecken. Genaugenommen waren das die Überreste meines gestrigen Abendessens. Ich stellte fest, dass ich dringend einkaufen sollte, bevor Stefanie zu ihrer Familien-Testwoche anrückte. Im Vorbeigehen schnappte ich mir eine der mächtig überreif riechenden Bananen, die ich kürzlich von meiner Nachbarin, Frau Ackermann, geschenkt bekommen hatte. Schließlich sollte man ab und zu auch mal einen Beitrag zur gesunden Ernährung leisten.

Mit vollgekrümelten Hosen fuhr ich in Richtung Haßloch. Die Obstfliegen auf der Banane schienen sich sogar während der Fahrt weiterhin zu vermehren. An der Tankstelle bei Iggelheim machte ich einen Zwangsstopp, um die Banane zu entsorgen. Ich nahm mir vor, auf dem Rückweg zu schauen, ob aufgrund der zu erwartenden Faulgasbildung die Tankstelle noch existierte.

Bis nach Haßloch hatte ich mich mit geöffneten Fenstern von dem restlichen Mückenzeug befreit. Einen grippalen Infekt musste ich als potenzielle Nebenwirkung in Kauf nehmen.

Statt eines Wegweisers hieß innerhalb der Haßlocher Bebauung die erste Querstraße ›Rennbahnstraße‹.

Trotz dieses missverständlichen Namens blieb ich mit meiner Geschwindigkeit im individuellen Toleranzbereich des innerstädtischen Tempolimits. Ich musste nicht lange suchen. Der Zugang zur Pferderennbahn war mit Einsatzwagen aller Art zugeparkt. Während ich mir eine Parknische herbeisehnte, fuhr aus dem Gelände ein Leichenwagen heraus. Der Fahrer winkte mir freundlich zu und machte mich mit schauspielerischer Gestik auf einen Parkplatz am hinteren Ende aufmerksam. Dabei ließ er mehrmals knallrote Kaugummiblasen vor seinem Mund zerplatzen. Entweder musste der Kerl ziemlich abgebrüht sein oder im Bestattungswesen werden neuerdings Ein-Euro-Jobber auf Ecstasy beschäftigt. Na ja, seine Kunden werden sich nur recht selten persönlich beschweren.

Nachdem ich meinen Wagen zwischen einen Kleinbus und einen Nussbaum gezwängt hatte, machte ich mich auf zur Fundstelle der Leiche. Absperrbänder zeigten mir den mutmaßlichen Weg. Nachdem ich halb um ein Vereinshaus gegangen war, konnte ich die Rennbahn in ihrer kompletten Ausdehnung vor mir sehen. Ich schätzte, dass das Gelände mindestens acht bis zehnmal so groß wie ein Fußballfeld war. Als sportlich nur schwer zu begeisternde Person hatte ich solche Arenen bisher nur im Fernsehen gesehen. Was mich hier stutzig machte, war das kahle Ambiente der großen Fläche. Ohne Zuschauer und ohne die tierischen Protagonisten war dieser Platz wirklich kein optischer Leckerbissen.

An der Stirnseite der Rennbahn in Richtung Ortsbebauung sichtete ich meine Kollegen bei der Arbeit. Ein halbes Dutzend Nussbäume standen verstreut zwischen der Bahn und einem kleinen Erdwall, der offensichtlich als Tribüne für Stehplatzzuschauer genutzt wurde. Die Spurensicherung war eifrig bei der Sache. Das freigegebene Terrain war sehr begrenzt, was ich an dem speziellen Absperrband der Spurensicherung erkannte.

In diesem Moment hatte mich Gerhard auch schon erkannt. Mit seiner behänden Leichtigkeit kam der Marathonläufer, der zugleich mein Lieblingskollege war, angesprungen. Gerhard war zurzeit mal wieder im siebten Himmel. Seit zwei Wochen war er mit seiner Maria zusammen. Die Dauer der Beziehung war schon fast rekordverdächtig lang. Erst gestern hatten ihn die Kollegen mit Fragen nach seinen Heiratsplänen konfrontiert. Doch davon wollte Gerhard bisher nie etwas wissen. Ich wunderte mich jedes Mal, wie er es trotz seiner unaufhaltsam zurückgehenden Haarpracht schaffte, ständig die schärfsten Bräute an Land zu ziehen.

»Na endlich. Bist du mit dem Fahrrad gekommen?«, begrüßte er mich.

»Mit was denn sonst?«, konterte ich. »Mit meinem Gehalt kann man sich keinen Führerschein leisten.«

»Na, dann komm mal mit, mein alter Radfahrer. Hier drüben, der zweite Baum von links. Dort hat man ihn gefunden. Seine Leiche wurde gerade abtransportiert, eigentlich müsstest du das noch mitbekommen haben.«

Ich nickte. »Gibt es inzwischen einen Namen?«

»Der Mann hieß Karlheinz Dipper. Doktor Karlheinz Dipper. Übrigens war er hier im Dorf ein sehr beliebter Kinderarzt.«

Gerhard schien zu wissen, dass Haßloch trotz seiner knapp 21.000 Einwohner nach wie vor als Dorf galt und sich bis heute nicht um die Stadtrechte bemüht hatte.

»Wer hat ihn entdeckt?«

»Das ist ziemlich tragisch. Ausgerechnet seine Frau Elli musste ihn finden, als sie mit ihrem Hund Gassi war. Die Arztfamilie wohnt hier gerade um die Ecke im Föhrenweg. Wir mussten die Frau mit einem Schock ins Krankenhaus bringen lassen.«

Gerhard zeigte auf einen fast waagerechten Ast in etwa drei Meter Höhe. »Auch ohne das Pappschild ist die Sache eindeutig. Wir haben keine Leiter oder Ähnliches gefunden und der Stamm ist zu mächtig, um daran hochzuklettern. Außerdem haben wir keinerlei Spuren daran gefunden.«

»Das Opfer wurde also mit fremder Hilfe dort aufgehängt? Ist die Todesursache eindeutig?«

»Der Notarzt vermutet die Strangulation als einzige Ursache. Näheres wird erst die Obduktion zeigen.« Gerhard winkte einen Kollegen herbei, der ihm eine in einer Plastiktüte konservierte Papptafel übergab. »Schau her, das ist das ominöse Schild.«

»Aufs falsche Pferd gesetzt«, las ich den mir bereits bekannten Text laut vor. »Hat der Herr Doktor manchmal gewettet? Weiß man davon schon etwas?«

»Tut mir leid, Reiner, das ist alles noch zu früh. Seine Frau konnten wir darauf derzeit nicht – was ist denn da vorne los?« Eine extrem tiefe Bassstimme im Schmerzbereich ließ uns aufhorchen. Ein Mann mit gewaltigem Bauch und wirren grauen Haaren stand in etwa 20 Meter Entfernung von uns auf der Laufbahn und fuchtelte mit den Armen. Mit seinen billigen und ausgewaschenen Drei-Euro-Shorts wirkte er wie eine der Nebenfiguren aus ›Einer flog über das Kuckucksnest‹.

»Die Gerechtigkeit hat endlich gesiegt! Das Böse wurde eliminiert! Der Menschenfeind hat für seine Taten gebüßt!«

Jetzt kniete er nieder und küsste den Boden. Zwei Beamte hatten ihn in diesem Moment erreicht. Gerhard und ich gingen ebenfalls zu dem mysteriösen Fremden, der sich gerade wieder erhob.

»Guten Tag, mein Name ist Reiner Palzki«, stellte ich mich vor. »Mit wem habe ich die Ehre?«

»Namen! Was sind schon Namen auf dieser Welt! Freue dich, freut euch alle, das Böse ist besiegt!«

Aha, also doch. Ein Verwirrter. Jetzt hieß es, besonnen vorzugehen. Ein falsches Wort und er würde sich sperren. Ich versuchte es mit Trick 17, dem berühmten Honig ums Maul schmieren.

»Wunderbar, Ihre Antwort, geschätzter Freund. Sie haben recht, Böses muss bestraft werden.«

Seine Augen glupschten wie große Murmeln und er strahlte über beide Wangen.

»Leider bin ich eben erst angekommen und habe die Sanktionierung verpasst. Können Sie mir das alles beschreiben?«

»Oh ja, ich habe alles gesehen. Doktor Dipper wurde bestraft.« Er fing wie ein kleines Kind an zu kichern. »Ich habe sogar nachgeschaut, ob er wirklich tot ist. Dann habe ich ihm noch einen Schubs gegeben, damit er schön wackelt.«

»Haben Sie ihm den Karton umgehängt?« Ich versuchte, ihm eine Falle zu stellen.

Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sich mit seinem Kichern wieder unter Kontrolle hatte.

»Der war schon da. Dort steht, dass er böse ist.«

Erneut wurden wir durch lautes Rufen unterbrochen, diesmal von einer weiblichen Stimme.

»HAGEN! HAGEN, WO BIST DU?«

Die zur Stimme gehörende Rothaarige, die in einem grasgrünen Jogginganzug steckte, hatte den Gesuchten bei uns gefunden.

»Hagen, was machst du hier? Ich habe dich überall gesucht!« Eben erst bemerkte die Frau, dass neben Gerhard und mir weitere Personen anwesend waren.

»Was ist hier los?«, fragte sie erstaunt.

»Kriminalpolizei, wir sichern gerade einen Tatort. Würden Sie uns bitte sagen, wer Sie sind und wer Hagen ist?«

»Sie kennen Hagen nicht? Demnach sind Sie nicht aus Haßloch. Hagen ist mein Neffe und wohnt bei mir. Bei seiner Geburt gab es Probleme, dadurch war kurzzeitig die Sauerstoffversorgung seines Gehirns lahmgelegt. Das hat sich leider auf seine geistige Reife ausgewirkt. Aber keine Angst, Hagen ist harmlos und war noch nie gewalttätig. Hat er etwas angestellt?«

»Nein, nein, das heißt, wir glauben es nicht. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?«

»Ach so, das habe ich ganz vergessen. Mein Name ist Amelie Schäfer. Ich wohne direkt neben dem Vereinsheim.«

Gerhard machte sich gewissenhaft Notizen. Das war mir recht, Papierkram hält nur auf.

»Läuft Ihr Neffe öfters auf der Rennbahn herum?«

»Das lässt sich kaum vermeiden, wir wohnen schließlich hier. Nur im Moment ist das ungewöhnlich. Eigentlich sollte er jetzt am Kiosk vom alten Berendorf sein. Da darf er kleine Handlangerdienste machen. Sachen, die seiner Auffassungsgabe gerecht werden, Zeitungen sortieren oder Pfandgut stapeln.«

Frau Schäfer drehte sich zu Hagen, der die ganze Zeit teilnahmslos zugehört hatte.

»Warum bist du nicht beim Berendorf? Ich habe dich überall gesucht, Hagen!«

Dieser kicherte erneut. »Hier war es spannender, Tante. Der Doktor Dipper wurde für seine Taten bestraft. Ihm wurde sogar ein Schild umgehängt. Da steht drauf, dass er böse ist!«

Frau Schäfer wandte sich uns zu: »Stimmt das, was Hagen erzählt? Sie müssen wissen, dass seine Fantasie gerne mit ihm durchgeht. Ist Doktor Dipper hier gewesen?«

Verwundert sahen Gerhard und ich sie an. Klar, die Frau hatte bisher nichts mitbekommen.

»Wie man es nimmt, Frau Schäfer. Wir haben Doktor Dipper an einem Nussbaum erhängt aufgefunden. Es könnte sein, dass Hagen etwas von der Tat mitbekommen hat.«

»Der Kinderarzt wurde doch nicht etwa ermordet? Oje, das ist ja furchtbar!« Sie schlug sich mit der flachen Hand an die rechte Wange. Hagen fing zeitgleich wieder an, wie wild zu kichern.

»Lass das, Hagen«, fuhr ihn seine Tante heftig an. »Das macht man nicht. Immerhin ist der Doktor tot.«

»Genauso tot wie die Kinder«, kicherte Hagen weiter, ohne sich um die Zurechtweisung zu kümmern.

»Welche toten Kinder?«, platzten Gerhard und ich gleichzeitig heraus.

»Das brauchen sie nicht so ernst zu nehmen. Das hat er am Kiosk vom Berendorf aufgeschnappt. Dort versammeln sich täglich die Haßlocher Lebertester, im Dorfjargon auch die ›Zweipromiller‹ genannt. Da wird viel geredet, bis der Tag rum ist. Im Übrigen hat Doktor Dipper einen sehr guten Ruf im Ort.«

Ich sah Gerhard kurz an und er verstand. Um diese Sache sollten wir uns später intensiver kümmern. Mein Kollege notierte die Adresse der guten Frau, bevor er sie entließ.

»Wo hat der Doktor eigentlich seine Praxis?«, wandte ich mich nach einiger Zeit des Nachdenkens an Gerhard.

»Im Föhrenweg, gleich hier um die Ecke, kann man nicht verfehlen. Sie befindet sich im Erdgeschoss des Privathauses.«

Mit einem prüfenden Blick auf meine Armbanduhr fasste ich einen Entschluss. »Ich werde mal rübergehen und schauen, ob jemand dort ist. Wahrscheinlich hat das Personal bisher keine Ahnung.«

Ich musste nicht lange suchen, das Praxisschild war nicht zu übersehen. Dippers Anwesen war ein ziemlich verwinkeltes Architektenhaus mit mehreren kleinen Erkertürmchen, das wahrscheinlich zum Zeitpunkt seines Baus vor 30 Jahren ganze Busladungen mit Architekturstudenten angezogen hatte. Inzwischen hatte der Zahn der Zeit am Klinker genagt, er war vergraut und unansehnlich geworden. Der Vorgarten war zum Großteil mit den zeitgeisttypischen Waschbetonplatten ausgelegt, auf denen einige bepflanzte Terrakottatöpfe standen. Ich war mir durchaus bewusst, und auch Stefanie warf es mir in regelmäßigen Abständen vor, dass meine Geschmackssicherheit nicht unbedingt sehr ausgeprägt war. Das Bild, das ich hier sah, stammte bestimmt nicht von einem Gartengestalter, sondern zeugte eher von zahlreichen Zufallskäufen in diversen Baumärkten. Und wenn das sogar mir auffiel, musste etwas dran sein.

Zwischen zwei besonders hässlichen Amphorennachbildungen stand ein verzinkter Fahrradständer. Auf einem der größeren Metallhalbkreise saß eine junge blonde Frau mit dem Rücken zu mir. Ich sprach sie an. Keine Reaktion. Verwundert ging ich einen Schritt auf sie zu. Unbeweglich saß sie da. Ich berührte ihre Schultern. Wie vom Blitz getroffen, sauste sie in die Höhe und schrie ungefähr doppelt so laut wie vorhin Hagen. Beinahe wäre ich rückwärts in einen der Tontöpfe gefallen. Ich konnte mich gerade noch am Rand einer der pseudoantiken Amphoren halten, die zwar bedrohlich wackelte, aber glücklicherweise recht standsicher war.

Die Frau stand mit offenem Mund vor mir und starrte mich an.

»Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken«, versuchte ich sie zu beruhigen.

Keine Reaktion, sie stand weiterhin mit offenem Mund da.

Plötzlich entspannten sich ihre Gesichtszüge und sie zog zwei Ohrstöpsel aus ihren Gehörgängen, die wohl mit einem dieser modernen Musikabspielgeräte verbunden waren. Ich kannte das Phänomen des Nicht-gehört-Werdens, beziehungsweise des Nicht-hören-Wollens zur Genüge von meiner eigenen Tochter.

»Können Sie mich jetzt verstehen?«, fragte ich die sicherlich noch nicht volljährige Dame bewusst langsam und überdeutlich.

»Ja, ja«, stotterte sie im ersten Moment vor sich hin. »Mann, haben Sie mich aber erschreckt.«

»Es tut mir leid, das wollte ich nicht. Sind Sie eine der Angestellten der Praxis?«

»Ja, ich bin im zweiten Lehrjahr. So etwas passiert heute zum ersten Mal. Weder der Chef noch die Chefin machen auf. Dabei kommen doch gleich die ersten Patienten.«

Hm, wie sollte ich es ihr nur beibringen, dass die Praxis heute und wohl auch in Zukunft geschlossen blieb?

»Sind Sie die einzige Angestellte bei Doktor Dipper?«

»Nein, seine Frau macht die Praxisleitung. Außerdem gibt es noch die Petra, die hat schon ausgelernt.« Sie blickte kurz auf ihre Uhr. »Die müsste eigentlich auch schon da sein.« Erst in diesem Moment schien sie sich zu fragen, was ich eigentlich von ihr wollte.

»Sie sind aber kein Patient bei uns? Ich habe Sie hier noch nie gesehen und ein Kind scheinen Sie auch nicht dabeizuhaben.«

»Nein, ich bin kein Patient. Ich –«

Ich wurde von einer weiteren Blondine unterbrochen, schätzungsweise Anfang 20 und mit Modelmaßen ausgestattet, die eben gerade von ihrem Fahrrad stieg.

»Morgen, Nicole, was stehst du um diese Zeit hier draußen herum? Gleich kommen die ersten Patienten.«

»Morgen, Petra«, antwortete die Auszubildende. »Ich kann leider nicht rein, es macht keiner auf.«

»Wie bitte? Das kann doch nicht sein.« Petra ging zur Klingel und drückte diese mehrfach. »Was soll das denn jetzt schon wieder?«, fragte sie sich selbst. In diesem Moment bemerkte auch sie, dass neben Nicole ein ihr fremder Mann stand.

»Wissen Sie, wo Doktor Dipper und seine Frau sind?«, sprach sie mich an.

»Ja. Mein Name ist Palzki, ich bin Polizeibeamter. Sehe ich das richtig, Sie beide kommen nicht in die Praxis hinein?«

»Doch, doch«, stotterte die Ältere. »Ich habe einen Schlüssel. Manchmal muss Doktor Dipper gleich morgens zu einem Notfall. Und seine Frau ist zuweilen ebenfalls verhindert, das kündigt sie aber immer vorher an. Sie sind von der Polizei? Ist was passiert?«

»Langsam, können wir vielleicht erst einmal hineingehen?«

Ohne sich von mir Dienstmarke oder Ausweis zeigen zu lassen, fummelte die junge Dame den Praxisschlüssel aus den Tiefen ihrer Handtasche und schloss auf.

Ich dirigierte die beiden ins Wartezimmer.

»Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Chef am frühen Morgen verstorben ist, mein herzliches Beileid.«

Ich hasste die Szenen, die darauf regelmäßig folgten. Zuerst ungläubiges Staunen, schließlich das obligatorische ›Das kann doch nicht sein‹, danach meist ein heftiges Heulen. Ich ließ die Sprechstundenhilfen im Wartezimmer zurück und schaute mich ein wenig in der Praxis um. Alles war blitzblank und modern eingerichtet. Die Theke und die Behandlungsräume schienen erst kürzlich renoviert worden zu sein. Da mein Diensthandy wie üblich im Auto lag und sowieso mit leerem Akku ausgestattet war, ging ich zu Petra und Nicole zurück, die sich inzwischen gegenseitig getröstet und sich dadurch ein wenig gefasst hatten.

»Entschuldigen Sie, hier wird gleich die Spurensicherung kommen. Bitte verlassen Sie das Wartezimmer nicht, bis Ihre Personalien aufgenommen worden sind. Dürfte ich freundlicherweise von einem Ihrer Handys aus telefonieren? Den Apparat an der Theke möchte ich wegen eventueller Fingerabdrücke nicht benutzen.«

»Spurensicherung?« Petra blickte erstaunt auf. »Was ist mit unserem Chef denn passiert?«

»Tut mir leid, es gibt Anzeichen, dass Doktor Dipper ermordet wurde. Genaueres kann ich Ihnen derzeit nicht sagen. Ist Ihnen eigentlich in den letzten Tagen etwas Ungewöhnliches an Ihrem Chef aufgefallen?«

Petra schaute mich mit feuchten Augen an und schüttelte den Kopf. »Nein, er war wie immer. So nett und fröhlich. Und jetzt ist er tot.« Sie fing an zu schluchzen.

Nicole, die Auszubildende, kämpfte ebenfalls gegen ihre Tränen an. »Ich finde, er war in den letzten Tagen schon etwas nachdenklicher als sonst.«

»Wissen Sie, woran das gelegen haben könnte?«

»Ich vermute, dass es wegen des kleinen Jakobs war, der kürzlich gestorben ist.«

»Hör auf, solch einen Blödsinn zu erzählen«, mischte sich Petra ein. »Da kann doch Doktor Dipper nichts dafür. Ein bedauernswerter Schicksalsschlag, aber unser Chef hat alles Menschenmögliche getan.«

»Aha«, schaltete ich mich ein. »Würden Sie mir bitte die ganze Geschichte erzählen? Es muss zwar nicht zwangsläufig etwas mit der Tat zu tun haben, aber Polizeibeamte sind von Natur aus neugierig.«

»Na ja, da gibt es nicht viel zu erzählen«, begann Petra. »Er wurde spätabends, es war längst nach Praxisschluss, von Jakobs Eltern angerufen. Jakob war zwei Tage vorher mit seiner Mutter wegen Verdacht auf Pseudokrupp in der Praxis gewesen. An diesem Abend muss der Kleine jedoch schlimme Atemnot bekommen haben. Auf jeden Fall konnte Doktor Dipper die Anfälle unter Kontrolle bringen. Eine Einweisung ins Krankenhaus hielt er deshalb nicht für nötig. Und am nächsten Morgen war Jakob tot.«

»Wer hat Ihnen das erzählt? Sie hatten doch längst Feierabend.«

»Seine Frau hat uns das am nächsten Tag mitgeteilt. Da kam auch die Polizei in die Praxis und hat den Doktor befragt.«

»Haben Sie vielen Dank. Oh, ich sehe gerade durch das Fenster, dass die Kollegen von der Spurensicherung vorfahren. Folglich brauche ich auch nicht mehr anzurufen.«

Wenige Augenblicke später kam neben dem Leiter dieser Einheit auch mein Partner Gerhard zur Tür herein. Ich stellte die beiden Damen vor und informierte meinen Kollegen kurz über das Erlebte. Wir vereinbarten für heute Nachmittag um 14 Uhr unsere erste Teamsitzung im Büro. Danach verabschiedete ich mich von ihm und den beiden Arzthelferinnen.

3. Eine tückische Krankheit

Ich schaute flüchtig auf die Armbanduhr, bevor ich in mein Auto stieg. Es war erst kurz nach neun. Es kam nicht häufig vor, dass sich um diese Uhrzeit die Ereignisse bereits derart überschlugen. Zuerst der beeindruckende Hausbau meiner Bekannten, anschließend der Tote auf der Rennbahn, nicht zu vergessen Hagen sowie die Szenen, die sich eben in der Praxis abgespielt hatten. Ich brauchte jetzt erst einmal ein wenig Ruhe, um meine Eindrücke und Gedanken zu verarbeiten. Ab dem Ortsausgang Haßloch hatte ich das Vergnügen, einem extrem langsam vor sich hintuckernden Möbellaster folgen zu dürfen. Entweder hatte er rohe Eier geladen, die höchstwahrscheinlich lose in einer Wanne lagen, oder es war ein Verwandter des bekifften Leichenwagenfahrers von vorhin. Eigentlich muss ich es gar nicht extra erwähnen, denn selbstverständlich gab es keine Überholmöglichkeit bis zur Ortseinfahrt Iggelheim. Vor mir der rote Was-weiß-ich-wie-viel-Tonner, hinter mir die gefühlte Hälfte der in der Rheinebene zugelassenen Fahrzeuge. Direkt am Ortseingang gab es den inzwischen obligatorischen Verkehrskreisel, der aufgrund einer lediglich kleinen einmündenden Nebenstraße nicht wirklich Sinn ergab. Unbelehrbare Raser erreichten wegen der Schikane in Richtung Ortsmitte erst nach ungefähr der vierten Häuserreihe wieder ihr innerörtliches Sollgeschwindigkeitslimit. Erst dort hatte ich eine Gelegenheit, den Möbellaster zu überholen. Am Ortsausgang nahm ich die wohlerhaltene Tankstelle wahr, bevor ich eine Viertelstunde später in Schifferstadt in meinem Büro ankam.

Kaum saß ich, kam mein Jungkollege Jürgen herein und überreichte mir eine Klarsichthülle mit diversen ausgedruckten Zetteln.

»Guten Morgen, Reiner«, begrüßte er mich. »Jutta hat mich schon vor einer ganzen Weile angerufen und mich gebeten, für dich alles über den Pseudokruppfall in Haßloch zu recherchieren. Da steckt übrigens viel mehr dahinter als bisher vermutet. Ich denke aber, mit diesen Ergebnissen kommst du erst mal über die Runden.«

Ich bedankte mich artig und wartete, bis er mein Büro wieder verlassen hatte. Dann widmete ich mich Jürgens Rechercheergebnissen.

Zuoberst lag der Wikipedia-Artikel über Pseudokrupp. Demnach handelt es sich bei dieser Krankheit um eine Schleimhautentzündung der oberen Atemwege im Bereich des Kehlkopfes, die fast ausschließlich Säuglinge und Kleinkinder bis zum sechsten Lebensjahr betrifft. Die Entzündung verursacht ein Anschwellen der Schleimhaut und dadurch bedingt häufig eine schwere Atemnot. Diese Symptome werden hauptsächlich mit Cortison behandelt. Mit dessen Verabreichung kann der Verengung der Atemwege entgegengewirkt werden, wodurch die Symptome gemildert werden.

Meine bisherigen Erfahrungen mit Pseudokrupp beschränkten sich glücklicherweise aufs Hörensagen. Paul und Melanie, meine Kinder, waren Gott sei Dank gesund. Ich schnappte mir das nächste Blatt, ein etwa drei Wochen alter Zeitungsartikel aus der ›Rheinpfalz‹.

›Ermittlungen im Fall »Heiliger Leo« eingestellt‹. Interessiert las ich den ganzen Bericht. Zwei an Pseudokrupp leidende Kleinkinder waren innerhalb weniger Tage als Notfälle in die Kinderklinik ›Heiliger Leo‹ in Ludwigshafen-West eingeliefert worden, wo sie bald darauf verstarben. Die besorgten Eltern hatten Strafanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung, falscher Medikamentierung und anderer Verfehlungen gestellt. Der verantwortliche Chefarzt Professor Doktor Zynanski wies alle Schuld von sich. Der Staatsanwalt hatte nach umfangreichen Ermittlungen das Verfahren eingestellt. Hm, dachte ich mir, das kann alles, aber auch nichts bedeuten. Zufall oder nicht, ich nahm mir vor, den Professor zu besuchen.

Mit den beiden beiliegenden Obduktionsberichten konnte ich nicht viel anfangen. Der Pseudokrupp schien alleiniger Verursacher der Todesfälle zu sein. Eine bei dem kleineren Kind gleichzeitig vorhandene Mandelentzündung schien nicht zum Tode geführt zu haben. So viel konnte ich dem medizinischen Kauderwelsch entnehmen.

Ein Handvermerk von Jürgen besagte, dass für Doktor Dipper bisher kein Eintrag im Polizeicomputer vorlag und auch sonst keine Unregelmäßigkeiten erkennbar waren. Die Obduktion des jüngsten Pseudokruppopfers ergab keine Besonderheiten.

Ich wurde unruhig. Ich fühlte, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Ein Blick auf die Wanduhr verriet, dass es noch drei Stunden bis zur Teamsitzung waren. Genügend Zeit für erste eigene Ermittlungen. In der Zentrale meldete ich mich mit meinem Ziel ab. Der Tank meines Wagens war voll, meine Energiereserven dagegen im Keller. In der Hoffnung, mich mit etwas Nervennahrung in Schwung bringen zu können, machte ich einen Stopp beim Discounter. Dabei fielen mir die vielen gesunden Dinge ein, die ich besorgen musste, bevor der Rest meiner Familie zum Probewohnen kam. Ich dachte auch an die vielen ungesunden Dinge, die ich für Paul und Melanie kaufen musste, ohne mich von Stefanie erwischen zu lassen. Ich finde, Kinder fast ausschließlich mit Salat und Gemüse vollzustopfen, ist schon fast ein Fall für das Jugendamt. Als Kind habe ich auch viele Süßigkeiten ›geschnegt‹, wie der Pfälzer sagt, und es hat mir keine Nachteile gebracht. Gut, ganz so beweglich wie früher war ich nicht mehr, auch die ersten Rundungen im Bauchbereich traten merklich hervor. Was solls, sagte ich mir und legte zwei Packungen Softcakes, eine Tüte Gebäckmischung, meine Lieblingssorte Schokolade sowie eine Flasche Cola light in den Einkaufswagen.

Bis Ludwigshafen lagen etwa 15 Kilometer Wegstrecke vor mir, nach zwei Kilometern hatte ich bereits die Hälfte meines Einkaufs verschlungen und war dem Tod durch Sodbrennen nahe. Die Cola verschlimmerte das Ganze beträchtlich. Bezüglich der Effekte falscher Nahrungsaufnahme zum falschen Zeitpunkt konnte ich zwar auf jahrelange Erfahrenswerte zurückgreifen, schlauer war ich dadurch allerdings nicht geworden. Vor mich hin leidend, fuhr ich den Rest der Strecke bis zu meinem Ziel.

4. Wiedersehen mit einem Studenten

Die Klinik ›Heiliger Leo‹ lag makabererweise direkt neben dem städtischen Hauptfriedhof im Stadtteil West. Die weiträumig verteilten Gebäude wurden von einer großzügig bemessenen Halteverbotszone umschlossen. Um mir einen beträchtlichen Fußweg zu ersparen, parkte ich direkt neben dem Eingang in einer Haltebucht für Taxen. Als Legitimation legte ich die entsprechende polizeiliche Ausnahmegenehmigung, die ich immer im Handschuhfach hatte, auf das Armaturenbrett. Dass ich wahrscheinlich wegen meines scheinbaren Parkvergehens gleich von einer Patientenherde, die am Eingang in einer Gruppe stehend vor sich hin paffte und wahrlich kein schmückendes Aushängeschild der Klinik war, angemacht werden würde, war mir egal.

Die Kinderklinik, eine der Abteilungen des aus den 50er-Jahren stammenden Krankenhauses, lag zentral direkt hinter dem Hauptgebäude. Der Zugang wurde überwacht; die große mausgraue Tür war verschlossen. Direkt neben ihr war ein gewaltiger roter Pfeil angebracht, dessen Spitze auf eine kleine, unscheinbare Klingel deutete. Kurz nachdem ich sie betätigt hatte, öffnete eine Schwester mit riesiger Oberweite und sah mich fragend an. Sie trug kurze blonde Haare mit blauen Strähnchen und eine Brille mit bierdeckelgroßen Gläsern. Ich konnte problemlos das Namensschildchen lesen, das auf ihrem Kittel in Brusthöhe befestigt war, was normalerweise nicht der Fall war. Der in unserem Kulturkreis übliche Abstand zwischen zwei gegenüberstehenden Personen von einem guten Meter passte bei mir dioptrienmäßig nicht zu der gängigen Schriftgröße auf den Schildchen. Hier war es anders. Der Abstand zwischen uns beiden war zwar kulturkonform, ihr Namensschildchen befand sich aber aufgrund ihrer Oberweite fast in der Mitte zwischen uns. ›Frauke Hohlmann – Schwester‹ konnte ich ohne Schwierigkeiten entziffern.

»Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«

»Entschuldigen Sie bitte, guten Tag. Mein Name ist Reiner Palzki, Kriminalpolizei. Ich würde gerne Herrn Professor Doktor Zynanski sprechen.«

»Oh, das tut mir leid. Der Herr Professor ist unser Chefarzt und im Moment im OP. Haben Sie einen Termin vereinbart?«

»Nein, ich bin spontan vorbeigekommen. Ich wollte auch nur ein paar kurze Fragen stellen. Ab wann ist Professor Doktor Zynanski denn wieder frei?«

»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Vielleicht kann Ihnen Herr Windeisen weiterhelfen, er ist Assistenzarzt und hat im Moment gerade Bereitschaftspause.«

Ich nickte ihr zu und gab mein Bestes, sie nicht anzustarren. Frau Hohlmann bedeutete mir, ihr zu folgen, lief durch einen langen Gang und bog zwei oder dreimal ab. Schließlich klopfte sie an eine Tür und öffnete diese sofort.

»Basti, hier ist jemand, der den Prof sprechen will. Kannst du mal bitte übernehmen? Ich habe gerade Pfortendienst.«

Frau Hohlmann machte mir Platz, sodass ich in das Zimmer eintreten konnte. Hier erwartete mich der nächste Schock. Und das lag nicht an Herrn Windeisen. Neben ihm an einem Besprechungstisch saß Becker, Dietmar Becker. Diesen stets glatt rasierten und knabenhaft wirkenden Studenten der Archäologie mit seinen schlaksigen Beinen und seiner unbeholfenen Grobmotorik hätte ich niemals hier erwartet. Bei dem letzten Mordfall in der Vorderpfalz vor drei Monaten hatte Becker eine tragende Rolle gespielt. Kurzzeitig war er sogar tatverdächtig gewesen, hatte er doch das erste Opfer gefunden, und tauchte anschließend bei der Ermittlungsarbeit immer bei recht verdächtigen Gelegenheiten auf. Dabei wollte er nur seinen Traum verwirklichen und einen Krimi schreiben. Ich persönlich mochte Becker wegen seiner ehrlichen und offenen Art.

Bevor einer von uns jedoch etwas sagen konnte, war Herr Windeisen aufgestanden und schüttelte mir die Hand. Er machte auf mich einen zwiespältigen Eindruck. Zwar sah er genau so aus, wie man sich einen Assistenzarzt vorstellte: jung, athletisch, dynamisch, modisch gekleidet und auch sonst ohne Auffälligkeiten, wenn man von seinen wulstigen und zusammengewachsenen Augenbrauen, die mich sofort an Theo Waigel erinnerten, absah. Dennoch schien er Sorgen zu haben. Irgendetwas bedrückte sein Gemüt. Um das zu erkennen, musste man wirklich kein Psychologe sein.

»Sebastian Windeisen ist mein Name, ich bin hier Assistenzarzt, wie kann ich Ihnen helfen?«

Ich begrüßte ihn ebenfalls, stellte mich vor und deutete anschließend auf den Studenten.

»Ich wollte aber nicht Ihr Gespräch mit Herrn Becker stören. Ich kann gerne warten.«

»Ach, Sie kennen sich?«

Dietmar Becker war inzwischen ebenso aufgestanden. »Nein, Herr Palzki, Sie stören überhaupt nicht. Ich bin für heute sowieso fertig mit Herrn Windeisen. Entschuldigen Sie mich bitte.«

Der Student ging zurück zum Besprechungstisch und schnappte sich einen dort liegenden Schreibblock nebst Kugelschreiber. »Bis morgen, Herr Windeisen, gleiche Uhrzeit wie heute?«

Der Angesprochene nickte und wartete, bis wir alleine waren.

»Wieso sitzen Sie hier mit Herrn Becker zusammen?«, wollte ich wissen. »Soweit mir bekannt ist, studiert er doch Archäologie und nicht Medizin.«

Der Assistenzarzt zögerte, er schien nicht zu wissen, wo er anfangen sollte. »Ich bin verwirrt«, fand er schließlich seine Sprache wieder. »Ich hoffe nicht, dass er sich hier unter einem Vorwand rechtswidrig eingeschlichen hat. Ein Haftbefehl scheint nicht vorzuliegen?«