Weinrausch - Harald Schneider - E-Book

Weinrausch E-Book

Harald Schneider

4,9

Beschreibung

Palzkis Chef Klaus Pierre Diefenbach lädt einen Teil seiner Mitarbeiter auf den Bad Dürkheimer Wurstmarkt ein. Ein Todesfall mit vergiftetem Wein am benachbarten Schubkarchstand katapultiert Palzki mitten hinein in die für ihn fremde Welt des Weingenusses. Weitere spektakuläre Todesfälle im Geilweilerhof, dem Institut für Rebenzüchtung, und in einer Nudelfabrik sorgen für Ungemach. Und als Palzki schwer verletzt und von seinen Aufgaben entbunden wird, recherchiert er undercover weiter …

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Harald Schneider

Weinrausch

Palzkis elfter Fall

Zum Buch

Mörderische Weinidylle Palzkis Vorgesetzter Klaus Pierre Diefenbach, der von allen nur KPD genannt wird, lädt einen Teil seiner Mitarbeiter anlässlich der Vollendung seines ersten Dienstjahres in Schifferstadt auf den Bad Dürkheimer Wurstmarkt ein. Ein Todesfall mit vergiftetem Wein am benachbarten Schubkarchstand katapultiert Palzki mitten hinein in die für ihn fremde Welt des Weingenusses. Weitere spektakuläre Todesfälle im Geilweilerhof, dem Institut für Rebenzüchtung, und in einer pfälzischen Nudelfabrik sorgen für weiteres Ungemach, bei dem Palzki schwer verletzt wird. KPD entbindet Palzki von seinen Aufgaben, doch dieser recherchiert undercover weiter. Störfeuer durch den verschrobenen Notarzt Dr. Metzger, den neuerdings auf Lyrik eingestellten Studenten Dietmar Becker und einen mysteriösen Cartoonisten lassen ihn mehr oder weniger unbeeindruckt. Nach rasanten Ermittlungen und skurrilen Erkenntnissen kommt er einem Geheimnis auf die Spur, das die internationale Weinszene nachhaltig verändern wird.

Harald Schneider, 1962 in Speyer geboren, wohnt in Schifferstadt und arbeitete 20 Jahre lang als Betriebswirt in einem Medienkonzern. Seine Schriftstellerkarriere begann während des Studiums mit Kurzkrimis für die Regenbogenpresse. Der Vater von vier Kindern veröffentlichte mehrere Kinderbuchserien. Seit 2008 hat er in der Metropolregion Rhein-Neckar-Pfalz den skurrilen Kommissar Reiner Palzki etabliert, der, neben seinem mittlerweile 21. Fall »Ordentlich gemordet«, in zahlreichen Ratekrimis in der Tageszeitung Rheinpfalz und verschiedenen Kundenmagazinen ermittelt. Schneider erreichte bei der Wahl zum Lieblingsautor der Pfälzer den 3. Platz nach Sebastian Fitzek und Rafik Schami.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © WG Herxheim am Berg

ISBN 978-3-8392-4648-1

Zitat

Im Wein sind Mühe, Winzers Fleiß.

Im Wein sind Sonne, Sorg’ und Schweiß.

Im Wein ist Erde neu erstanden.

Im Wein ist Geist aus Väters Landen.

Im Wein sind Schöpfung, Hoffen, Bangen.

Im Wein sind Jahre eingefangen.

Im Wein sind Wahrheit, Leben, Tod.

Im Wein sind Nacht und Morgenrot

und Jugend und Vergänglichkeit.

Im Wein der Pendelschlag der Zeit.

Wir selbst sind Teil von Wein und Reben.

Im Weine spiegelt sich das Leben.

Roland Betsch, 1888 – 1945

Vorwort

Guten Tag. Es freut mich, dass Sie wieder dabei sind und sich für das neueste Abenteuer unseres Kommissars Reiner Palzki interessieren. Ich verspreche Ihnen die eine oder andere Überraschung.

Falls Sie zum ersten Mal einen Palzki-Roman in den Händen halten: Seien Sie gewarnt! Wenn Sie der Titel oder das Cover angesprochen haben und Sie in diesem Buch tiefgründiges Fachwissen rund um den Wein erwarten, vergessen Sie es. Schließen Sie das Buch und verschenken Sie es. Sie machen damit gleich zwei Menschen eine Freude. Das Gleiche gilt, wenn Sie das Stammpersonal der Palzki-Reihe unsäglich finden oder sich in der Vergangenheit an angeblichen Rechtschreibfehlern gestört haben (Thema Rote Bete in Tote Beete).

Ich will damit aber nicht sagen, dass Wein in all seinen Formen nur oberflächlich eine Rolle spielt. Nein, dieser Krimi ist tief darin verwurzelt. Er bietet gewisse Einblicke in die Weinbranche, allerdings nicht aus Sicht eines Fachbuches. Dennoch bin ich mir sicher, dass nicht nur Reiner Palzki in den folgenden Ermittlungen den einen oder anderen Aha-Effekt erleben wird, sondern auch Sie. Als Wein-Laie konnte ich völlig unbedarft in die Materie eintauchen und das komplexe Thema Wein mit seiner unendlichen Vielfalt und meiner unendlichen Fantasie anreichern. Vielleicht halten auch Sie nach der Lektüre inne und überlegen, wo die Realität aufhört und die Fantasie beginnt. Die Übergänge sind fließend, die Wahrheit wird erst die Zukunft zeigen.

Das, wie oben schon beschrieben, komplexe Thema Wein konnte ich auch dieses Mal nur mit zahlreichen Helfern meistern. Ich bin überwältigt, wie intensiv ich unterstützt wurde. In der Danksagung am Ende des Romans finden Sie Details. Nur mithilfe dieser Personen gelang es, sämtliche Orte und viele Informationen zum Wein in diesem Buch authentisch zu beschreiben. Und vielleicht fällt Ihnen die eine oder andere Ähnlichkeit der handelnden Personen mit tatsächlich existierenden Menschen auf, selbst wenn der Name verfremdet wurde. Sie wissen ja: Die obligatorische Mitteilung vor dem Roman, dass sämtliche Personen frei erfunden sind, trifft auf die Palzki-Reihe nicht immer zu.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß.

Harald Schneider

Kapitel 1 Ein Jahr KPD

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

Ich verfluchte den Plan von der ersten Sekunde an. Vor ein paar Jahrmilliarden war es in der ersten Sekunde mit einem Urknall und ein paar chemischen Reaktionen getan. Eben gab es auch einen Knall, doch der tat höllisch weh. Die Scheibe war um mehrere Härtegrade stabiler als meine Stirn, die es sich gerade überlegte, aufzuplatzen oder mit einer optisch entstellenden Beule zu reagieren. Das gleichzeitig einsetzende Geräusch war ähnlich schmerzhaft und hatte die gleiche Wirkung wie eine komplette Schulklasse, die mit ihren Fingernägeln über die Tafel quietschte. Mein Kopf versuchte, sich wie ein Pullover umzustülpen, was evolutionsbedingt nicht trivial war.

Weitere Bewegungen übelster Art kamen hinzu: So musste das Leben einer Sprungfeder sein. Meine Gleichgewichtsorgane stellten ihren Dienst ein und schickten ein Notsignal an das Gehirn, das unaufgefordert einen Halskloß in Medizinballgröße produzierte. Jeden Moment würde mir die vorhin gegessene Pizza »Mit allem ohne Fischzeug« noch mal durch den Kopf gehen.

Erneut knallte ich mit voller Wucht an die Scheibe, und unmittelbar danach wurde ich zurück in den Sitz geworfen.

Ein diabolisches Lachen ertönte. »Ah, jetzt habe ich den Gang gefunden.«

Ich schielte mit letzter Kraft nach links und sah, wie sich ein Fuß nicht darüber einig war, welches das Gas- und welches das Bremspedal war.

Ein letzter Ruck und der Polizeitransporter schoss wie eine Rakete vom Parkplatz hinter unserer Dienststelle auf den viel befahrenen Waldspitzweg.

KPD, wie wir unseren Dienststellenleiter Klaus P. Diefenbach nannten, saß auf dem Fahrersitz des Polizeitransporters. Dem nicht genug, musste er ihn auch noch selbst fahren. Das Schlimmste aber: Ich saß in dem Transporter und war dem fahrerischen Unvermögen meines Vorgesetzten hilflos ausgeliefert. Nie im Leben würden wir diesen Höllentrip überstehen, auch wenn wir kürzlich erst eine Fahrt mit ihm mit knapper Not überlebt hatten. Mein seit Jahrzehnten persönlich ausgeheckter Plan, in vielen Jahren an Altersschwäche zu sterben, wurde nahezu undurchführbar. KPD schien dies wenig zu beeindrucken. Er begann zu singen.

»Mir sinn die Tramps vun de Palz, uns steht des Wasser immer bis zum Hals.«

Während er singend zum zweiten Mal den Verkehrskreisel am Ende des Waldspitzwegs umrundete, blickte er nach hinten, zu den ebenfalls durchgeschüttelten Kollegen. »Singen Sie zur Einstimmung ruhig ein wenig mit. Sie kennen doch den Text dieses fröhlichen Liedes von Tony Marshall?«

Inzwischen hatte er einen Ausgang des Kreisels gefunden. Aus dem Fond meldete sich meine Kollegin Jutta Wagner.

»Wie wäre es, wenn ich das Steuer übernehme, Herr Diefenbach? Dann können Sie ungestört Ihren musikalischen Neigungen frönen.«

KPD drehte sich schwerfällig auf seinem Sitz herum, ohne das Gaspedal zu entlasten.

»Das geht nicht, Frau Wagner«, beschied er ihr. »Wie sieht das aus, wenn ich eine Frau fahren lasse und untätig danebensitze? Ich bin halt mal ein guter Chef.«

In letzter Sekunde konnte ich das Lenkrad herumreißen, sonst hätte der Kirchturm der Gustav-Adolf-Kirche ein statisches Problem davongetragen. Wegen meiner mutigen Reaktion ließ es sich allerdings nicht vermeiden, die hinter der Kirche befindliche Ampelanlage bei Rot zu überfahren. Glücklicherweise gab es keinen Querverkehr aus der Lillengasse.

KPD hatte diesen Beinahe-Crash nicht einmal bemerkt. Zornig fuhr er mich an: »Lassen Sie das, Herr Palzki. Heute fahre ich!«

Während unser Chef seinen Gesang wieder aufnahm, atmete ich tief durch und schloss die Augen. Die Wahrscheinlichkeit lag hoch, dass ich dieses das letzte Mal in meinem Leben tat.

Wie hatten wir es nur fertiggebracht, den Dienststellenleiter der Schifferstadter Kriminalinspektion ein ganzes Jahr lang zu ertragen, ohne uns wie in der Legende der Lemminge geschlossen über eine Klippe zu stürzen?

Tatsächlich war es erst ein Jahr her, seit KPD an unsere Dienststelle strafversetzt wurde und das Regiment übernahm. Nichts war mehr wie vor einem Jahr. Nur zwölf Monate, gefühlt dauerte diese, nach meiner Schulzeit zweitschrecklichste Lebensepisode, mindestens das Zehnfache.

Ein Jahr Dienststellenleiter, das musste natürlich gefeiert werden. In wenigen Tagen fand die offizielle Feier statt, zu der KPD nicht nur das Palatinum in Mutterstadt, ein großes Veranstaltungshaus, mietete, sondern sämtliche, ihm habhafte A-, B- und C-Prominente der Region eingeladen hatte. Da er ständig damit angab, welch guter Chef er sei, kam ihm die Idee, auch seinen Mitarbeitern etwas Gutes anzutun. Statt uns mit einer Woche Sonderurlaub wirklich zu überraschen, beschloss er, einen Ausflug mit uns zu unternehmen. Da ihm dieser Ausflug für alle Mitarbeiter zu kostspielig geworden wäre, die Mietpreise und das Catering für das Palatinum waren schließlich nicht ohne, lud er für den heutigen Samstag nur eine Handvoll Beamte ein, die danach ihren Kollegen von dem Abend berichten sollten. Da sich niemand freiwillig meldete, um an KPDs zweifelhaftem Ausflug teilzunehmen, deutete er ein paar seiner Untergebenen heraus. Neben Jutta Wagner und Gerhard Steinbeißer war auch ich einer der betroffenen Beamten.

»Herr Palzki«, sagte er bei der Besprechung, auf der er seine Pläne bekannt gab, »Sie dürften am meisten davon profitieren, mal einen ganzen Abend in meiner Nähe zu sein. Da können Sie viel lernen.«

Als er am Ende der Salierstraße wegen des Verkehrs auf der Speyerer Straße nicht schnell genug abbiegen konnte, schaltete er kurzerhand das Sondersignal ein und fuhr los. Die quietschenden Reifen des gegnerischen Wagens waren nur zu erahnen.

»Sind die Transporter nicht schallgeschützt?«, fragte KPD. »Der Lärm ist infernalisch.« Er schaltete das Signal aus, und meine Ohren begannen zu klingeln wie früher die Schrotthändler, die durch die Straßen fuhren und ständig ›Lumpe, alt Eise‹ riefen.

Wie durch ein Wunder erreichten wir die A 61 ohne weiteres Eingreifen meinerseits. KPD hatte sich an den großen Transporter, der ganz anders auf der Straße lag als sein luxuriöser Dienstwagen, ein wenig gewöhnt. Die drei oder vier Sachschäden an parkenden Autos und Verkehrsschildern würde er morgen irgendwie vertuschen oder einer Person, die er nicht leiden konnte, in die Schuhe schieben.

Jeder weiß, dass es auf der Autobahn andere Gesetze gab. Hier galt das Recht des Stärkeren, das Recht des Ichs, das Recht der Fahrzeuglenker, die zu Beginn ihrer Fahrt nicht in ihr Auto stiegen, sondern es anzogen. Sie verschmolzen mit ihrem Statussymbol und eigneten sich die mutmaßlich übermenschlichen Fähigkeiten ihres Wagens an. Was oft genug schiefging. Die Friedhöfe sind voll mit Menschen, die sich im Verkehr überschätzten, und leider auch mit ihren Opfern.

Ein einzelner Polizeiwagen auf der Autobahn setzte dieses Gesetz außer Kraft. Das mag in vielen Fällen daran liegen, dass die Zielgruppe, die auf Autobahnen generell auf das Recht des Stärkeren pochte, in Flensburg ein Punktekonto pflegte, das in schriftlicher Form nur noch durch DIN A3 in Querformat zu überblicken war. Verkehrspsychologen hatten sogar einmal vorgeschlagen, Polizeiwagenattrappen an wechselnden Stellen auf die Standstreifen der Autobahnen zu stellen.

Jedenfalls kam der psychologische Polizeiwageneffekt auf Autobahnen der Fahrweise von KPD zugute. Kaum ein Autofahrer traute sich, uns zu überholen. Teilweise mag es vielleicht auch daran gelegen haben, dass KPD beide Fahrbahnspuren für sich beanspruchte, während er singend und schunkelnd den Wagen lenkte.

Eine halbe Stunde war vergangen, und wir näherten uns nicht nur dem Ziel, nein, wir waren auch einigermaßen vollständig am Leben.

»Wo wollen Sie parken?«, fragte ich optimistisch meinen Chef, da ich aufgrund der geringen restlichen Wegstrecke Hoffnung auf ein Überleben schöpfte. Da ich die desaströse Parksituation kannte, mussten wir uns wohl oder übel auf einen längeren Fußmarsch gefasst machen.

KPD winkte lässig ab. »Lassen Sie das mal meine Sorge sein, das habe ich als guter und vordenkender Chef bereits geklärt.«

Längst standen wir in einem Stau. KPD sah ein, dass auf der vollgestopften Straße das Einschalten des Sondersignals nichts nutzen würde. Wir krochen im Rollatortempo seitlich an der Bad Dürkheimer Saline vorbei, die eigentlich Gradierbau hieß.

Am folgenden Kreisel bremste er hart vor der Absperrung, die den Zugang zum Parkplatz blockierte. Die Absperrung hatte ihren Sinn, denn hier fand das größte Weinfest der Welt statt: der traditionelle Dürkheimer Wurstmarkt.

KPD ließ das Fenster herunter und winkte zwei Helfern zu, die zufällig in der Nähe standen.

»Schnell, ihr da, schiebt die Gitter zur Seite, ich muss da rein!«

Da er als Einziger von uns Uniform trug und seine Stimme äußerst autoritär wirkte, war dieses Hindernis im Nu zur Seite geräumt. KPD hatte fast freie Fahrt, wenn man von der Masse an Besuchern absah, die die Wege säumten. Wenn KPD jetzt die Pedale verwechselte, würde man in der Zeitung von den ersten Verkehrsunfallopfern auf dem Wurstmarktgelände lesen können.

Nach knapp 50 geschlichenen Metern erreichten wir eine provisorische Polizei- und Erste-Hilfe-Station. Unser Chef fackelte nicht lange und stellte den Transporter eher mehr als weniger verkehrsbehindernd direkt vor dem Zugang zu dem kleinen Gebäude ab.

Wir stiegen aus und sortierten unsere Knochen. Mein Kollege Gerhard zeigte lächelnd zu der benachbarten Kindereisenbahn. »Da kannst du dir für die Heimfahrt gleich ein Ticket lösen, Reiner.«

KPD marschierte mit herausgestreckter Brust und wichtiger Miene zur Polizeiwache. »Warten Sie hier!«, befahl er uns.

Kaum eine Minute später war er zurück. »So, ich habe alles geklärt. Die Kollegen passen während meiner Feier auf unseren Transporter auf.«

KPD stapfte voran, und wir folgten wie eine Herde Schafe durch das Gedränge. Plötzlich blieb er stehen und stellte sich breitbeinig in Positur.

»Schauen Sie sich das einmal an! Das ist das Dürkheimer Riesenfass!«

KPD tat so, als hätte er es eigenhändig erbaut.

»Oh«, taten ein paar Kollegen belustigt, »steht das schon lange hier?«

Unser Chef, der den Sarkasmus nicht verstand, antwortete bereitwillig und spulte sein aus Wikipedia angelesenes Wissen über das Fass ab. Wir hörten wie meist nicht zu. Da ich wusste, dass das Fass ein Restaurant beherbergte, ging ich darauf zu.

»Wo, äh, wo wollen Sie hin, Palzki?«, fragte KPD irritiert.

»Ins Fass, Herr Diefenbach. Sie haben das Restaurant bestimmt für uns reserviert, oder? Alles andere wäre unter dem Niveau eines Dienststellenleiters. Habe ich recht?« Ich grinste dreist.

KPD wurde sehr kleinlaut und lief rot an. Schließlich brachen ein paar leise und schlecht verständliche Wörter durch seine zugekniffenen Lippen. »Leider habe ich keinen Platz mehr bekommen. Es wäre alles besetzt, hat man mir am Telefon gesagt. Unverschämt, dass man hier prominente Bürger abweist.«

KPD setzte auf seine altgewohnte Taktik der Ablenkung. »Ich habe aber etwas viel Besseres in petto. Lassen Sie uns zunächst eine gemütliche Runde über den Festplatz schlendern, um ein wenig die Atmosphäre zu beschnuppern.«

Unser Chef zog die Zeitungsbeilage über den Wurstmarkt aus der Tasche, die vor ein paar Tagen der Rheinpfalz-Zeitung beigelegen hatte. Interessiert blickte er auf den abgedruckten Plan.

»Hier befinden wir uns. Lassen Sie uns diesen Weg bis zum Riesenrad am anderen Ende nehmen.«

Wir folgten wortlos unserem Chef. Es war ähnlich unlustig wie ein Wurstmarktbesuch mit meiner eigenen Familie, die zum jährlichen Repertoire der Familienausflüge gehörte und für dieses Jahr noch ausstand. Grundsätzlich hatte ich nichts gegen Volksfeste und Rummelplätze. Früher, vor wenigen Jahren, also als Jugendlicher, bin ich für mein Leben gern Himalaja-Bahn gefahren. Inzwischen war ich Fahrgeschäften, bei denen man sich auf irgendeine oder gleich mehrere Arten gleichzeitig im Kreis drehte, sehr skeptisch eingestellt, um es vorsichtig auszudrücken. Meine Kinder machten sich einen Spaß daraus, mich jedes Mal zu solch einem Himmelfahrtskommando zu überreden. Wenn dann noch meine Frau Stefanie nachlegte: »Reiner, du kannst den Kindern ruhig auch mal einen Gefallen tun«, war der familiäre Druck so groß, dass ich, ohne an die Konsequenzen zu denken, in solch eine Todesmaschine stieg. Melanie und Paul verließen danach stets gut gelaunt und belustigt das Karussell, während für mich der Rest des Tages gelaufen war. Paul und Melanie waren zu meinem Glück inzwischen in einem Alter, in dem man sich eher schämt, mit einem Elternteil gemeinsam in einem Fahrgeschäft gesehen zu werden. Die einzige Fahrattraktion, die ich früher mit Todesverachtung betrachtet hatte, aber seit einem Jahr anlässlich einer Ermittlung im Haßlocher Holiday-Park schätzen gelernt habe, war das Achterbahnfahren. Einmal seine Urängste überwunden und man konnte die rasante Tal- und Bergfahrt genießen, die nichts, aber auch rein gar nichts mit den sich mehr oder weniger monoton drehenden Fahrgeschäften zu tun hatte.

Die Sache mit den Drehkarussells hatte einen kleinen Haken in Form unserer vor Kurzem geborenen Zwillinge Lisa und Lars. In zwei, drei Jahren würde das Spiel von vorn beginnen, auch wenn es zunächst harmlos mit Feuerwehrauto und Pferd anfing, die sich gemächlich im Kreis drehten.

»Da, ein Bierzelt!« Natürlich wusste ich, dass es auf diesem Weinfest ein Bierzelt gab. Aus taktischen Gründen tat ich überrascht.

»Da müssen wir rein.« Ich übernahm das Kommando, und wie selbstverständlich folgten mir meine Kollegen.

KPD, der aufgrund seiner Verblüffung mit einer kleinen Verzögerung in das Zelt trat, fragte Jutta, wie mir Gerhard später verriet, wo ich denn sei, da er mich nicht entdecken konnte. Jutta antwortete ihm, dass ich zur Theke sei, eine Palette Bier besorgen.

Für eine ganze Palette hatte es zwar aus logistischen Gründen nicht gereicht, doch mein Einkauf konnte sich sehen lassen. Die Kollegen stürzten sich wie verrückt auf das Bier. KPD war mit der Situation hoffnungslos überfordert. »Okay, ein kleines Bierchen, dann gehen wir weiter.«

Dass ich das Bier mit Diefenbachs gutem Namen bezahlte und die Rechnung nach Schifferstadt schicken ließ, erwähnte ich wegen mangelnder Relevanz meinem Vorgesetzten gegenüber nicht. Er würde es noch früh genug bemerken. Mit seinem Okay für das ›kleine Bierchen‹ hatte er die Aktion schließlich selbst genehmigt.

Nachdem wir die Magengrundlage geschaffen und die vielen kleinen Bierchen nicht mehr in ihrem Urzustand existent waren, ging es weiter zum benachbarten Riesenrad.

»Das wollte ich schon immer mal fahren«, meinte KPD und gaffte in die Höhe. »Wer fährt mit?«

Unser Chef ging zum Kassenhäuschen, zückte seinen Geldbeutel und wandte sich um. Niemand von uns war ihm gefolgt. Stattdessen kam eine Herde Jugendlicher angesprungen und stellte sich hinter ihm an.

»Mach schon, Opa!«, krakeelte ein ungepflegter Minderjähriger mit gewissen Erziehungsdefiziten und einstelligem IQ, »du bist dran.« Der Homo sapiens interruptus spuckte in Richtung Kassenhäuschen.

KPD war nah dran, wie das HB-Männchen in die Luft zu gehen. Solch eine Respektlosigkeit gegenüber einem Uniformträger war er nicht gewohnt. Ich war mir sicher: Würde nicht die Feier KPDs auf dem Spiel stehen, er würde wegen diesem Frevel kurzerhand den Wurstmarkt schließen lassen. Mich trieben ganz andere Gedanken. Wenn, natürlich nur zufällig und ohne böse Absicht, das Riesenrad in ein paar Minuten eine Störung hätte, dann, ja dann …

Ich dachte meine Gedanken nicht zu Ende. KPD war mittlerweile zu dem Entschluss gekommen, dass es für ihn persönlich keine Vorteile bringen dürfte, zusammen mit den Jugendlichen in einer Gondel zu sitzen. Wortlos verließ er den Platz und kam zu uns zurück.

»In Schifferstadt gibt es so etwas nicht! Bei uns herrscht noch Zucht und Ordnung. Na ja, kein Wunder, bei dem Polizeichef hier in Dürkheim.«

Er wartete, bis die Hirnlosen in der Gondel saßen und gen Himmel schwebten. »So, jetzt fahren wir alle gemeinsam Riesenrad. Mein Budget lässt es gerade noch zu, dass ich Sie alle dazu einladen kann. Na, ist das kein Grund zur Freude?«

Kurz darauf schwebten auch wir in Richtung Gestirne. Das getrunkene Bier war dabei nicht das Problem, sondern unser Chef, der es nicht auf seinem Sitz aushielt. Trotz Verbot stand er auf und zeigte mit wichtiger Miene mal dahin und mal dorthin. Dabei stolperte er mehr als einmal über unsere Füße.

»Bis zum Odenwald kann man schauen, das ist Wahnsinn!«

Ich konnte mir eine kleine Spitze nicht verkneifen. »Sieht man auch den Pfälzerwald, Herr Diefenbach?« Angestrengt schaute ich nach Osten, in die entgegengesetzte Richtung.

Nach der zweiten oder dritten Umdrehung hatte sich KPD beruhigt. Er setzte sich hin.

»Darüber muss ich unbedingt mit Herrn Becker reden.«

Um ein Haar wäre ich freiwillig aus der Gondel gesprungen, als ich diesen Namen hörte. Dietmar Becker, von Beruf Archäologiestudent, jobbte nebenher als freier Journalist für die hiesige Tageszeitung. Dem nicht genug, schrieb er, wahrscheinlich zu Therapiezwecken, Regionalkrimis. Und zwar stets mit einer absolut unglaubwürdigen Handlung und noch viel unglaubwürdigeren Personen. Selbst unsere Dienststelle kam in seinen Romanen regelmäßig vor, auch wenn dort in Wirklichkeit nichts so war, wie Becker es beschrieb. Hinzu kam, dass der Student es schaffte, sich in unsere Ermittlungen einzuschleichen, sobald wir mal einen etwas kniffligeren Fall zu bearbeiten hatten.

»Das wird Herrn Becker gefallen.« KPD sprach weiter. »So könnte sein nächster Krimi beginnen: Sein Protagonist, der bekannte und weithin geschätzte Dienststellenleiter Klaus P. Diefenbach …« KPD drückte seine Brust he­raus, da Dietmar Becker in den Krimis tatsächlich KPD als Realperson mitspielen ließ, was dem Ganzen eine zusätzliche kuriose Note verlieh. »Ja, also, ich, äh, Herr Diefenbach besucht den Wurstmarkt. Während er zufällig am Riesenrad entlangschlendert, wird eine Person aus der Gondel geschubst und fällt ihm quasi vor die Füße. Diefenbach reißt den Fall an sich und klärt den Mord wie immer im Alleingang auf. Nur gestört durch seine inkompetenten Untergebenen.«

»Super«, sagte ich kurzweg. »Auf solch eine gute Idee kommt ein Journalist niemals. Am besten ist, wenn Sie Becker unterstützen und gemeinsam mit ihm auf Recherchereise gehen. Wenn Sie beide sich in Bad Dürkheim drei oder vier Woch…, äh, Monate, einquartieren, können Sie in Beckers nächstem Krimi Land und Leute authentisch beschreiben. Glauben Sie mir, das täte seinen Krimis gut.«

KPD zierte sich. »Sicher, Herr Palzki. Ich helfe Herrn Becker immer nach Kräften. Manches missfällt mir zwar an seiner Schreibweise, doch in diesen Punkten zeigt er sich beratungsresistent.«

Genau wie du, dachte ich hasserfüllt. KPD war noch nicht fertig.

»Im Moment habe ich leider keine Zeit, da meine Jubiläumsfeier oberste Prio…«

Etwas Unappetitliches spritzte auf KPDs Rücken. Von der Gondel über uns vernahmen wir mikrohumanes Gejohle.

Jutta, die neben unserem Chef saß, hatte Mitleid und wischte die Sauerei so gut es ging mit einem Papiertaschentuch weg.

»Wenn ich die Halbstarken erwische, mache ich sie für alle ungelösten Mordfälle in unserem Zuständigkeitsgebiet haftbar«, erzürnte er sich.

»Wir haben keine ungelösten Kapitalverbrechen«, wandte Gerhard berechtigterweise ein.

»Egal«, beschied KPD. »Die nächsten 20 Jahre sehen die keinen Wurstmarkt mehr. Und auch keine anderen Rummelplätze.«

Da die jugendlichen Bildungsflüchtlinge vor uns eingestiegen waren, mussten sie auch vor uns raus. Mit ausgestreckten Mittelfingern verschwanden sie in der Masse der Wurstmarktbesucher. Ein Glück, dass es sich bei der Gruppe nur um eine Minderheit handelte, ging mir nachdenklich durch den Kopf.

Kapitel 2 Wurstmarkt sehen und sterben

KPD blieb nicht viel anderes übrig, als sich zu beruhigen. Er hatte das Ziel unseres Ausflugs entdeckt: Die Schubkarchstände, die allerdings nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Schubkarren hatten. Es handelte sich um überdachte Bretterbuden mit integriertem Ausschank. Für jeden Schubkarch war ein anderer Winzer beziehungsweise die örtliche Winzergenossenschaft zuständig. Ihren Namen hatten die Schubkarchstände von den Händlern, die in früherer Zeit mit Ihren mit Waren beladenen Schubkarren den Michaelsberg bestiegen, um dort ihre Waren zu verkaufen.

Unser Chef zog seinen Plan aus der Tasche und tippte auf ein Kreuz. »Wir müssen zum dritten Schubkarchstand. Dort habe ich einen Tisch reserviert. Das ist zwar normalerweise nicht möglich, aber ich als Dienststellenleiter habe das mit meiner gesamten Kompetenz durchgesetzt.« Beifall heischend blickte er uns an, die Reaktion fiel sehr zurückhaltend aus.

»Welches Bier haben die?«, nervte ich meinen Chef, wohlwissend, dass es hier keines gab. KPD hatte meine Frage nicht wahrgenommen, da er wieder eines seiner Wissensreferate zum Besten gab. Er zeigte Richtung Norden auf einen nicht sehr hohen Berg im Vorfeld des Pfälzerwalds.

»Das ist der Michaelsberg«, erklärte er überbetont, als hätte er den Hügel eigenhändig aufgeschüttet. »Dort oben nahm der Wurstmarkt vor ewiger Zeit seinen Anfang. Natürlich hieß er damals noch anders.«

Ich unterbrach KPD. »Dort oben ist auch ein viel besserer Platz für das Riesenrad.«

Für einen Moment war er irritiert. »Ich weiß nicht, ob es das Riesenrad damals schon gab. Soviel ich weiß, war es eher ein Markt, auf dem Wein, Wurst und Brot angeboten wurde. Die Händler, also die Bauern und die Winzer sind mit ihren Schubkarren da hochgezogen, um ihr Zeug zu verkaufen.«

»Sehr umständlich«, wandte Gerhard ein. »Erst bringt man die Ware hoch und die Kunden müssen sie später wieder nach unten bringen.«

Unser Chef nickte eifrig. »Deshalb ist der Wurstmarkt nun hier unten. Nur an die beengte Parkplatzsituation hatte man damals nicht gedacht. Aber das kann uns heute egal sein.«

Wir waren am vereinbarten Schubkarchstand angekommen. Tatsächlich war eine der Sitzgruppen komplett unbesetzt. Alle 50 Zentimeter standen, akkurat ausgerichtet, Aufsteller mit dem Text ›Reserviert für Klaus P. Diefenbach, Kripochef Schifferstadt‹ auf dem Tisch. Unser Chef strahlte. »Hier ist der Kunde anscheinend noch König. Setzen Sie sich, meine Herren. Ja, natürlich, Sie auch, Frau Wagner.« Er machte vor Jutta einen Diener, was völlig belämmert aussah.

So richtig bequem war das Arrangement nicht. Es fehlten eindeutig die Lehnen, um sich stundenlang gemütlich auf der Bank herumfläzen zu können. Wahrscheinlich gehörte das aber zum Konzept, um möglichst viele Durstige bedienen zu können.

KPD, der als Erster etwa in der Mitte des Tisches Platz genommen hatte, erstarrte. Seine Gesichtsfarbe wich in Sekundenschnelle.

»Was ist?« Eigentlich war mir das Befinden meines Chefs egal. Da ich aber, Zufall oder nicht, dicht neben ihm stand und mich hinsetzen wollte, hakte ich nach. »Sind die Weinpreise höher, als Sie gedacht haben? Wir können gern zurück ins Bierzelt gehen.«

KPD meinte etwas anderes. »Das zahl ich sowieso aus dem Schwarzgeldetat unserer letzten Benefizaktion. Schauen Sie mal unauffällig zum nächsten Tisch.«

Ich schaute hinüber. Dort ging es heiter und beschwingt zu. Gerade rief jemand: »Auf deinen Geburtstag, Ronald!«. Eine Geburtstagsrunde, na und?

»Haben Sie ihn gesehen?«, flüsterte mir KPD mit einer dermaßen feuchten Aussprache ins Ohr, dass nicht nur mein Sinnesorgan beinahe kotzte.

Er gab selbst die Antwort. »Arnold Schiwab, der hat mir noch gefehlt.« Mit seinem Kinn deutete er in Richtung eines Kerls, der die Definition des Body-Mass-Indexes ins Absurde führte. Es waren aber nicht etwa Fettpolster, die seinen Körper aufquollen, sondern ausschließlich Muskeln. Da er nur ein T-Shirt ohne Ärmel, ein sogenanntes Muskelshirt trug, sah sein Oberkörper den Ausstellungsstücken von Gunter von Hagens Körperwelten nicht unähnlich.

»Meinen Sie den Schwarzenegger dort drüben?«, fragte ich nach.

»Schwarzenegger?« KPD verstand meine Anspielung nicht. »Ich rede von Arnold Schiwab, von seinen Untergebenen wird er Cevapcici genannt. Das darf man aber nicht zu ihm sagen, er wird schnell sauer und reagiert dann über. Ein sehr unangenehmer Mensch.«

Das soll ein Chef sein, dachte ich. Wahrscheinlich gehörte ihm ein Fitnessstudio, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, in welcher Verbindung er zu unserem absolut unsportlichen Chef stand.

KPD rückte näher zu mir, gleichzeitig versuchte ich auf der anderen Seite wegzurutschen.

»Willst du dich vielleicht auf meinen Schoß setzen?«, nörgelte Gerhard. Antworten konnte ich nicht, denn schon spuckte mir mein Chef die nächste Salve ins Ohr.

»Als ich noch in Ludwigshafen arbeitete, war Schiwab ein Kollege von mir. Gleichberechtigt, stellen Sie sich das mal vor, Herr Palzki! Ein unangenehmer Bursche, schon damals habe ich mich hartnäckig geweigert, ihn zu duzen wie die anderen Kollegen.«

Die Sache wurde immer peinlicher. Alle anderen hatten längst Platz genommen und blickten uns an. Sie warteten darauf, dass KPD eine Großbestellung Alkoholika in Auftrag gab, stattdessen bearbeitete er mein linkes Ohr. Er war mir inzwischen so sehr auf die Pelle gerückt, dass man von der anderen Seite des Tisches glauben musste, er schleckte mir mein Ohr aus.

»Wissen Sie, was er jetzt macht?«, spie er mir mit hohem Druck direkt aufs Trommelfell.

»Ersatztormann beim Fußballklub Kleinniedesheim?«, riet ich in Panikstimmung. Ich hatte einen Ruf zu verlieren, warum half mir niemand?

Er schien wie so oft gar nicht zuzuhören. »Polizeichef in Bad Dürkheim! Was sagen Sie jetzt, Herr Palzki? Schiwab ist es gelungen, Dienststellenleiter zu werden. Wie das, frage ich mich. Der hat nicht den Hauch meiner Klasse. Auch so ein guter Chef, wie ich es bin, soll er nicht sein. Es kursieren die dicksten Gerüchte, vor allem seine Mitarbeiterführung soll zum Gruseln sein. Sie können froh sein, Herr Palzki, nicht in Dürkheim arbeiten zu müssen.«

Gerhard zu meiner rechten Seite hatte ein bisschen Abstand nehmen können. Sofort rückte ich nach und schob meinen Oberarm vor KPDs Oberkörper. Jetzt sah es wenigstens nicht mehr so aus, als wären wir am Kopf zusammengewachsen.

»Das müssen Sie locker sehen, Herr Diefenbach. Wir sind schließlich zum Feiern hier, Ihre Untergebenen werden in Kürze die ersten Verdursteten auf dem Wurstmarkt sein. Außerdem dreht ihr Lieblingsfeind uns den Rücken zu, der wird uns nicht einmal bemerken.«

Langsam beruhigte er sich. »Hoffen wir es. Aber Sie haben recht, ich lasse mir durch Schiwab den Abend nicht vermiesen. Selbst wenn es einen Mord geben wird, würde ich ihm keine Sekunde helfen. Im Gegenteil, ich würde ihm sogar einen meiner unfähigsten Beamten überlassen, um seine Ermittlungsarbeit zusätzlich zu torpedieren.«

»Wir haben Durst, Durst, Durst!«, sang der Rest der Mannschaft dermaßen laut und falsch, dass die andere Feiergesellschaft neugierig zu uns herüberschaute.

»Ach, wer sitzt denn da hinter mir?« Schiwab stand auf, ein Hüne. »Herr Diefenbach höchstpersönlich. Dass Sie sich aus Ihrem Territorium heraustrauen!« Er lachte orkanartig, und ich vermutete, dass die Lache im Dürkheimer Fass deutlich zu hören war.

Die Peinlichkeit war von mir auf meinen Vorgesetzten übergesprungen. Soll er selbst schauen, wie er aus dieser Affäre herauskam. Er stand halbherzig und mit einem gequälten Lächeln auf. »Ah, der Herr Schiwab«, begann er neutral. »Sind Sie auch zum Feiern hier? Ich wünsche Ihnen viel Spaß, ich muss mich jetzt um meine Mitarbeiter kümmern.«

Dass er uns Mitarbeiter statt wie üblicherweise Untergebene genannt hatte, war uns allen aufgefallen.

KPD setzte sich wieder hin, um seinem ehemaligen Kollegen zu suggerieren, dass er zu einem längeren Small Talk keine Lust hatte.

Der Dürkheimer Kripoleiter sah es anders. »Mara, Britta, Ronald, schaut mal, das ist der Chaotenkollege, von dem ich euch erzählt habe. Nach Schifferstadt hat man ihn strafversetzt. Fragt mich aber nicht, wo das liegt, dieses Schifferstadt.« Wieder verhüllte er den kompletten Wurstmarkt mit seiner Lache.

KPD versuchte sich zu retten. »Jaja, immer zu Scherzen aufgelegt, der ehemalige Kollege.« Er tat das einzig Vernünftige: Er wandte sich vom Nachbartisch ab und uns zu. »Dann wollen wir uns mal was zu trinken gönnen. Will jemand eine Schorle oder nehmen wir alle puren Wein?«

»Keine Schorle«, brüllten alle wenig synchron. »Wasser haben wir daheim genug.«

KPD schien das zu gefallen. »Ich bin auch strikt dagegen, den kostbaren Rebensaft mit Wasser zu verdünnen. Ein Frevel, wenn Sie mich fragen. Sollen wir es nach alter Wurstmarktsitte halten und die gefüllten Dubbegläser durch die Reihe gehen lassen?«

Dubbegläser waren eine tolle Erfindung. Es handelte sich um konisch geformte Gläser, die mit zahlreichen daumenkuppengroßen Dellen versehen waren, die man in dieser Region Dubbe nannte. Mittels dieser Dubben gelang es dem promillegeplagten Weintrinker in höhere Sphären als auf anderen Weinfesten vorzudringen, weil die besagten Dubben ein Entgleiten in Richtung Erdmittelpunkt in den meisten Fällen zuverlässig verhinderte. Die von fast allen Pfälzern beherrschte Kunst lag darin, den optimalen Zeitpunkt zu finden, um mit dem Trinken aufzuhören. Also etwa eine knappe Minute, bevor das Dubbeglas entgleiten würde. Dass manche Zeitgenossen diesen Zeitpunkt fälschlicherweise mit noch tolerierter Fahrtüchtigkeit gleichsetzten, konnte man an der höheren Nachfrage nach Monatsfahrkarten in der Zeit nach dem Wurstmarkt verifizieren.

Die von KPD angesprochene Sitte, die gefüllten Gläser durch die Reihe gehen zu lassen, damit jeder daraus trinken konnte, förderte sicherlich das Gemeinschaftsgefühl. Mit meinen Kollegen hätte ich damit auch keine Probleme. Dass es mich dennoch schüttelte, lag an KPD. Ich war dabei, mein vollgespucktes linkes Ohr mit einem Taschentuch trockenzulegen. In Kombination mit seinem Vorschlag drückte es mir einen ekelhaften Kloß in den Hals. Zum Glück intervenierte Jutta.

»Herr Diefenbach, am besten kriegt jeder sein eigenes Glas. Es gibt immerhin mehrere Sorten und die meisten haben ihr Lieblingsbier, äh, ich meine, Lieblingswein. Wir können auch so gegenseitig von allen Sorten probieren.«

Unser Chef war einverstanden. Zwei Kollegen erklärten sich bereit, die Getränke zu organisieren. Kurz darauf kamen sie mit zwei Tabletts voller Dubbegläser zurück.

»Alles außer Schorle«, brüllten sie über den Tisch. »Bedient euch.«

»Und welche Sorten sind das?«, fragte KPD unschlüssig.

»Alles durcheinander«, entgegnete einer der beiden Weinholer. »Wir wollen mal sehen, wer die meisten Sorten erkennt.«

Unser Chef setzte sich gerade hin. »Als Weinkenner kann mir niemand das Wasser reichen. Dann wollen wir mal.« Er nahm sich das ihm am nächsten stehende Dubbeglas mit Weißwein. Zunächst betrachtete er es ausführlich, was einen Kollegen zu der Frage veranlasste, ob er die Dubben zählen würde.

»Das muss ein sehr guter Tropfen sein«, begann er mit seiner Analyse. »Der liegt fehlerlos im Glas. Optisch einwandfrei.« Jetzt hängte er seinen Zinken über den Wein und sog die Luft ein, als würde er sich eine Linie Kokain ziehen. »Ah, diese Vielfalt. Das kann nur ein …«, er schielte zum Plakat, auf dem die erhältlichen Sorten aufgelistet waren. »Obwohl, um ganz sicherzugehen, werde ich einen Schluck trinken. Normalerweise kann ich den Wein aber so unterscheiden, meist auch nach Jahrgang.«

»Ich kann sogar nach sauer und süß differenzieren«, quatschte ich blöd dazwischen.

KPD sah mich konsterniert an, ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Er nahm einen homöopathischen Schluck und hielt das Dubbeglas vor sich in die Luft. Dabei schmatzte er unappetitlich. Die beiden Kollegen, die den Wein geholt hatten, grinsten sich gegenseitig an.

»Dass es solch einen edlen Tropfen auf dem Wurstmarkt gibt, hätte ich nicht für möglich gehalten«, analysierte unser Chef weiter. Wir hatten den Eindruck, dass er selbst glaubte, was er uns erzählte.

»Kaum zu glauben, dass dieser Wein von manchen als Schorle missbraucht wird. Bei diesem Tropfen kann es sich nur um …«

Der Rest des Satzes ging in einem Aufschrei unter. Am Nachbartisch brach die Hölle los. Alle waren von ihren Sitzen aufgeschreckt, und nicht wenige schrien, als ginge es um das eigene Leben. Zunächst war kein Grund für dieses Verhalten erkennbar. KPD schwankte zwischen Neugier und Desinteresse. Jutta, die mir gegenübersaß, konnte den Grund der Aufregung als Erste entdecken. Eine Frau war mit ihrem Oberkörper auf dem Tisch zusammengebrochen.

Der Mann zu ihrer Rechten, es war das Geburtstagskind mit dem Vornamen Ronald, so viel hatte ich vorhin mitbekommen, schüttelte die Dame. »Britta, was ist los mit dir?« Als sie nicht antwortete, ergänzte er in Richtung der anderen Anwesenden: »Sie ist bewusstlos, wir brauchen einen Notarzt.«

Während jemand telefonierte, drängelte sich Jutta zwischen die Bewusstlose und das Geburtstagskind. Sie drehte die Frau so gut es ging zur Seite und fühlte an der Halsschlagader. Erschrocken blickte sie auf. »Sie ist tot.«

Während die Gesellschaft rund um den Dürkheimer Kripochef mehr oder weniger im Weg stand, legte Jutta mit zwei Kollegen die Tote komplett auf den Tisch und begann mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Es vergingen höchstens drei Minuten, bis mehrere Sanitäter auftauchten und übernahmen.

Inzwischen hatte sich eine unüberschaubare Menschenmenge gebildet, die den Schubkarchstand umzingelt hatte. Wir Schifferstadter saßen nicht mehr auf unserem Platz, sondern standen neben dem Ort des Geschehens und kamen uns irgendwie überflüssig vor.

»Gehen wir?«, fragte KPD irgendwann, was ich für eine vernünftige Idee hielt, auch wenn sie von meinem Chef kam. Vielleicht könnten wir ihn zum Bierzelt lotsen.

Ein letzter Blick zum Notarzt, der kurz nach den Sanitätern eingetroffen war. Er stand mit wichtiger Miene neben der Toten und sagte: »Ich muss die Polizei rufen, hier liegt eindeutig Fremdverschulden vor. Bitte sorgen Sie dafür, dass niemand den Platz verlässt.« Dass unser Chef Uniform trug, bemerkte er nicht.

KPD hatte den Notarzt ebenfalls gehört. »Mord?«, fragte er mehr zu sich selbst. »Das hätte ich diesem Schiwab nun doch nicht zugetraut. Obwohl …«, er brach mitten im Satz ab.

Neugierig, wie die meisten Beamten halt mal sind, drängten wir näher zum Tatort. Der Dürkheimer Kripoleiter gab sich gegenüber dem Notarzt zu erkennen und rief eigenhändig die zuständigen Beamten an.

Den Tatort einfach zu verlassen, war jetzt natürlich nicht mehr möglich. Unsere Zeugenaussagen dürften zwar wenig hilfreich sein, die Beurteilung darüber sollten aber die hiesigen Beamten treffen. Hoffentlich dauerte es nicht so lang, dachte nicht nur ich. Der bierbedingte Alkoholspiegel tendierte längst wieder in Richtung Nachweisgrenze, und zum Weintrinken war niemand gekommen.

Während sich unser Chef bei den inzwischen eingetroffenen Kripobeamten unauffällig einschleimte, um Näheres zu erfahren, verrieten uns die beiden Weinholer ein kleines Geheimnis.

»Wir haben doch vorhin gesagt, dass wir keine Schorle besorgt haben. Das war gelogen. Eine Schorle war dabei, nämlich die, die KPD genommen hat.«

Wir lachten ausführlich über unseren Weinkennerschauspieler. Eigentlich war es nicht zum Lachen, da wir solchen Kapriolen tagtäglich im Dienst ausgesetzt waren.

Ich entdeckte, dass sich unser Chef mit seinem Dürkheimer Pendant unterhielt. Da ich darauf spekulierte, bei diesem Gespräch etwas zu erfahren, was ich gegen KPD einsetzen konnte, näherte ich mich unauffällig.

»Ich habe darauf bestanden, dass Ihre Anwesenheit in die Akte mit aufgenommen wird, Herr Diefenbach«, sprach der Muskelprotz in ziemlich hochnäsigem Ton. »Das ist schließlich per se schon verdächtig. Mich würde es nicht wundern, wenn Sie Britta Zapfenstreich persönlich kennen.«

»Ich habe sie nicht umgebracht«, empörte sich KPD mehr oder weniger hilflos. »Ich kannte sie nicht einmal. Außer Ihnen, Herr Schiwab, kenne ich überhaupt niemanden von dem Tisch, an dem Sie gesessen haben.«

Der Dürkheimer Kripoleiter lachte mit seiner dröhnenden Stimme. »Kommen Sie, Herr Diefenbach, tun Sie nicht so, als würden Sie unsere Bürgermeisterin Frau Wilma Bier und den Marktmeister Ronald Hop nicht kennen.« Er überlegte kurz und ergänzte: »Tut mir leid, wenn ich Sie überschätzt habe, mein Lieber. Es kann sich schließlich nicht jeder in den höheren Kreisen bewegen. Ich werde den Fall jedenfalls bis spätestens Montag aufgeklärt haben. Immerhin war ich Tatzeuge, und die Zahl der potenziellen Täter ist nicht allzu hoch.«

KPD schluckte zunächst eine Weile vor sich hin, doch dann wehrte er sich: »Vielleicht waren Sie es selbst, Herr Schiwab. Haben Sie der Frau unauffällig etwas ins Glas geschüttet?«

Ich ließ die beiden Freunde allein. Mehr als weitere gegenseitige Beleidigungen würde ich sowieso nicht erfahren. Der Todesfall ging uns nichts an, wir waren nur zufällig zum Zeitpunkt der Tat in der Nähe. Da außer KPD niemand jemanden von der Geburtstagsgesellschaft kannte, konnten wir eigentlich an einem anderen Ort weiterfeiern. Schließlich wurden zu jeder Minute irgendwo auf dieser Welt Menschen ermordet.

Der Verkauf an dem Schubkarchstand war längst eingestellt. Das Personal stand in Gruppen herum und tratschte. So langsam bekam ich Durst. Die immer noch gefüllten Weingläser auf unserem Tisch wollte ich, warum auch immer, nicht anrühren. Bier würde ich hier sowieso nicht bekommen, daher fragte ich an der Theke übergangsweise nach einer alkoholfreien Flüssigkeit.

»Wasser hän mer«, entgegnete eine junge Dame im Studentenalter im hochpfälzischen Dialekt auf meine diesbezügliche Frage. »Mit oder ohne Musik?«, fragte sie nach, was ich als Eingeweihter mit der Frage nach Kohlensäure übersetzte.

Ich nahm mein Musikwasser und bedankte mich. »Für heute dürfte bei Ihnen Feierabend sein. Wahrscheinlich dürfen Sie erst morgen wieder ausschenken.«

Mühsam brachte sie ein kleines Lächeln zustande. »Dess is jetzert a fascht egal. Wahrscheinlich schenke mei Eltre dess Johr sowieso zum letzte Mol uffem Worschtmarkt aus.«

Aha, da hatte ich sogar die Juniorchefin vor mir stehen. »Wollen Ihre Eltern das Weingut verkaufen?« Das mit dem Weingut war natürlich nur ins Blaue geraten.

Sie schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse. »Dess net, es stehe awer einschneidende Veränderunge des Worschtmarkts a. Niemand weeß ebbes Genaues, awer wenn sich nur ähn kläne Deel vun de Gerüchte als wohr rausstelle, dann gut Nacht.«

»Annette, kommst du bitte mal?«

Meine Gesprächspartnerin drehte sich zur Seite und rief: »Ich kumm, Papa.« Und zu mir gewandt: »Entschuldige Se bitte.«

Kapitel 3 Der Auftrag

KPD war völlig am Boden zerstört.

»Die haben mich wie einen Schwerverbrecher behandelt«, echauffierte er sich, als wir eine Stunde später im Weindorf beisammensaßen. Es war uns nicht gelungen, in das Bierzelt zu kommen, da es gnadenlos überfüllt war. Stattdessen saßen wir nun im gemütlichen Ambiente und tranken Wein. Ja, auch ich hatte ein Glas vor mir stehen mit dem süßesten Rebensaft, den es hier gab. Die süße Weinschorle, die ich bestellen wollte, also halb Wein, halb Zi­tronenlimonade, verweigerte mir die Bedienung. »So ähn Scheiss gibt’s bei uns net.«

»Ich musste tatsächlich meinen Personalausweis zeigen«, fuhr KPD fort. »Das hat dieser Schiwab eingefädelt, um mich zu ärgern, da bin ich mir hundertprozentig sicher. Ach was, sogar absolut sicher.«

Er stürzte sein drittes, oder war es bereits sein viertes Glas, auf ex hinunter. Von dem Weingenießer und Kenner Diefenbach war nichts mehr übrig geblieben.

Nachdem er sich genügend aufgeregt hatte, wurde es interessanter. KPD erzählte Geschichten aus seinen Jugendjahren. Leider war alles, was er von sich gab, juristisch längst verjährt.