Ain't Nobody 2: Befreie mich - Anastasia Donavan - E-Book

Ain't Nobody 2: Befreie mich E-Book

Anastasia Donavan

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Beschreibung

Noch immer kämpft Anna verzweifelt gegen ihre Feinde. Karim, dem es gelungen ist, hinter ihre Maske zu schauen, schenkt ihr Liebe und Hoffnung. Er ist ihr Fels in der Brandung - bis ihre Gegner mit aller Macht zuschlagen. Anna verliert jeden Halt und fällt zurück in alte Muster. Gelingt es Karim, sie ein zweites Mal aufzufangen, damit Anna sich mit seiner Hilfe von ihren Dämonen befreien kann? Der Kampf um Liebe, Vertrauen und Gerechtigkeit geht weiter. Das dramatische Debüt von Anastasia Donavan - der Abschlußband der zweiteiligen Ain´t Nobody-Serie.

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AIN`T NOBODY 2BEFREIE MICH

ANASTASIA DONAVAN

© 2018 Amrûn VerlagJürgen Eglseer, Traunstein

Covergestaltung: Claudia Toman | Traumstoff

Lektorat: Lektorat Engels und Rohlmann

Korrektorat: Winfried Wachter

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-289-3

Besuchen Sie unsere Webseite:

amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

EPilog

Nachwort

Danksagung

Ich widme diese Geschichte den Blacks und meiner Familie, besonders meinen Eltern, meiner Schwester, meinem Mann und unseren zwei Kindern.

– 1 –

ANNA

Es heißt, kurz bevor du stirbst, zieht dein Leben an dir vorbei. Ich hingegen sehe schwarze Augen, die mir in die Seele blicken, und volle Lippen, die mich alles vergessen lassen, wenn sie sich auf meine legen. Sehe starke Arme, die mich halten, wenn ich falle: Karim.

Ein spitzer Schrei ertönt und das Bild vor meinem inneren Auge verschwindet. Stattdessen kehre ich in die Realität zurück. Jetzt, in diesem Moment, wo Jens neben mir steht und mir seine Waffe schmerzhaft in die Taille drückt, spüre ich plötzlich eine so eisige Kälte, dass ich erstarre. Die letzten beiden fast perfekten Wochen haben ein Ende gefunden.

Meine Arme hängen schlaff herunter, aber das Handy halte ich krampfhaft in meiner rechten Hand. Vor nicht mal zwei Minuten telefonierte ich mit Karim, lachte und konnte es kaum erwarten, während der Sommerferien bei ihm und Mehmet zu wohnen. Hört er mit? Es kostet mich meine ganze Willenskraft, nicht laut aufzuschluchzen. Vor mir stehen Tanja, Moni und Jasmin. Ihre Münder stehen immer noch offen, aber abgesehen vom Geräusch ihres abgehackten Atems herrscht Stille um mich herum.

»Scht«, zischt Jens und legt sich den Zeigefinger auf die Lippen. Ich kann erkennen, wie Tanja im Kopf verschiedene Szenarien durchspielt und sich schließlich entscheidet: Sie dreht sich um und haut ab.

Moni und Jasmin bleiben bewegungslos vor uns stehen. »Rennt«, krächze ich, dabei möchte ich es ihnen am liebsten ins Gesicht schreien.

KARIM

»Anna!«, brülle ich in mein Handy und fasse mir an den Brustkorb, um das beklemmende Gefühl darin zu mindern. Die Blacks lassen erschrocken die Werkzeuge fallen. Obwohl mein Körper so heftig reagiert, funktioniert mein Gehirn einwandfrei. Geistesgegenwärtig stelle ich auf Lautsprecher. Wir hören einen Schrei, dem Ton nach von Jasmin. Anschließend herrscht Stille, bis die Stimme von Jens ertönt.

»Gutes Timing, Panther. So spare ich mir den Anruf bei dir.« Er klingt triumphierend, ich hingegen rasend vor Wut.

»Bist du noch ganz bei Trost? Ihr befindet euch auf einem vollen Schulhof.«

»Falsch, fast alle sitzen bereits brav in ihren Klassenräumen. Nur meine Kleine und ihre Freundinnen leisten mir Gesellschaft«, antwortet Jens und spricht bedächtig weiter: »Hör mir zu. Ich nehme Anna jetzt mit, denn sie gehört nicht zu dir! Ich bezweifle, dass du überhaupt was für sie fühlst. Es geht dir darum, mich zu demütigen! Doch falls du wider Erwarten nur das Geringste für sie empfindest, lässt du sie gehen.«

»Auf keinen Fall«, entgegne ich entschieden. Für wen hält er sich?

»Orte das Signal von ihren Handys«, weise ich Abdul auf Arabisch an.

»Dann stirbt sie!«

»Was?!« keuche ich aufgebracht ins Handy.

»Ich töte Anna, wenn ich sie nicht bekomme«, erklärt Jens. In meiner Kehle spüre ich einen Kloß, der das Atmen unmöglich erscheinen lässt. Automatisch schlucke ich, um ihn zu vertreiben. Ohne ein weiteres Wort zu sprechen oder meine Reaktion abzuwarten, beendet er das Telefonat. Nicht seine Drohung bereitet mir Angst, sondern die Art, wie er sie ausgesprochen hat: seelenruhig und mit absoluter Gewissheit.

»Verdammte Scheiße!« Mit einem lauten Schrei werfe ich den Schraubenzieher gegen die Wand. Anna! Jens! Der killt sie!

»Hey, bleib cool«, ermahnt mich Mehmet. Da Abdul im nächsten Moment auf sein Tablet zeigt, beruhige ich mich tatsächlich.

»Ich empfange kein Signal von Annas Handy, aber das von Jens sendet und bewegt sich von der Schule weg. Hier!« Er zeigt auf das Display, aber ich brauche keine Beweise.

»Okay, los!« Ich reiße die Fahrertür auf, steige in meinen Eclipse und lasse Abdul in seinem Wagen ungeduldig den Vortritt, weil er weiß, wohin Jens mit Anna fährt.

ANNA

»Bitte geht.« Eindringlich schaue ich zu Moni und Jasmin. »Haut ab!«

Endlich bewegen sich die beiden Richtung Schuleingang.

»Hier, das könnt ihr behalten!«, ruft Jens und schmeißt ihnen mein Handy hinterher. Es landet auf dem harten Beton und ich beobachte, wie es in seine Einzelteile zerbricht. Erst seine Stimme bringt mich dazu, ihm wieder meine Aufmerksamkeit zu schenken. »Wir zwei Hübschen fahren jetzt spazieren.«

Er greift nach meinem Arm und ich versuche, mich ihm zu entziehen. Sollte er es schaffen, mich von hier weg zu bringen, bedeutet das meinen Untergang. Niemand würde mich je finden!

»Du machst besser keinen Ärger, Kleine. Sei einmal in deinem Leben ein braves Mädchen.« Er drückt mir den Lauf seiner Waffe tiefer in die Seite. Schmerz durchfährt mich und bringt mich dazu, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen, denn ich brauche Zeit, um einen Plan zu schmieden.

»Glaubst du etwa, du kommst damit durch?«, frage ich selbstsicherer, als ich mich fühle, während er mich zu seinem Auto schleift.

»Glauben? Ich weiß es«, lautet seine höhnische Antwort. Er presst mich gegen die Tür und legt seine Pistole auf dem Autodach ab, um mir mit einer Art Kabelbinder die Hände zu fesseln.

»Los, rein da.« Ich nehme gezwungenermaßen auf dem Beifahrersitz Platz. Während Jens mich anschnallt, berührt er wie aus Versehen meine Brust und gräbt seine Finger durch das T-Shirt in meine Haut.

»Hör auf, verflucht nochmal!«, schreie ich ungehalten, aber mein Gefühlsausbruch stört ihn nicht im Geringsten.

Im Gegenteil, er hebt vielsagend die Augenbrauen. »Komm schon, Kleine, ich weiß, dass dir das gefällt. Ich kenne ein paar schöne Geschichten von Heinz. Zugegeben, er befand sich im Vollrausch, aber du weißt ja: Im Wein liegt die Wahrheit.«

Oh Gott! Mir kommt die Galle hoch, aber es gelingt mir, meine Erinnerungen an Heinz zu verdrängen, ebenso wie die Übelkeit.

Während Jens mit einer Hand am Lenkrad des BMW anfährt, richtet er mit der anderen seine Waffe auf mich. »Nur zu unserer Sicherheit, falls du auf dumme Ideen kommst.«

Ich versuche, ruhig zu bleiben. Ganz bewusst atme ich ein und aus, rede mir ein, dass es mir gelingen wird, zu fliehen. Jens faselt was von der »Ehre der deutschen Frau« und erklärt mir, dass das ganze Ausländer- und Flüchtlingspack an den Problemen in Deutschland die Schuld trägt. Ich schaffe es kaum, seinen Worten zu folgen, weil ich versuche, mir die Umgebung einzuprägen. Wir passieren den großen Drogeriemarkt und die Häuser werden immer weniger.

Direkt vor der Autobahnunterführung verlassen wir die Landstraße und fahren über einen holprigen Weg in einen Wald. Nach wenigen Minuten verlangsamt Jens das Tempo und ich erkenne einen Sportplatz mit einem Holzhäuschen. Scheiße, das war’s! Statt Wut spüre ich, wie die Angst langsam an mir hochkriecht, und meine Hände werden feucht. Ich muss hier weg, egal wie, ich muss fliehen. Meine Fesseln lockern sich etwas, aber zu wenig, um mich davon zu befreien. Jens parkt auf dem Kiesweg neben dem Sportplatz und steigt aus. Unauffällig versuche ich, mit meinen gefesselten Händen die Beifahrertür zu öffnen, aber ich rutsche immer wieder ab.

Ihm hingegen bereitet es keine Probleme und seine Mimik dabei spricht für sich. »Mach schon, Kleine. Raus mit dir. Komm.«

Wie du wünschst, aber nicht zu dir. Bewusst kontrolliert steige ich aus dem Wagen und gehe einen Schritt auf ihn zu. Uns trennt nur eine Armlänge, als ich meinen Fuß anhebe, um ihm einen Tritt zwischen die Beine zu verpassen. Doch Jens weicht aus und ich streife ihn lediglich am Oberschenkel.

»Du kleines Biest!«, herrscht er mich an und greift nach mir. Panisch versuche ich mich zu drehen, um zu fliehen. Vergeblich, er packt mich schnell und brutal. Ich habe keine Chance. Sofort umfasst er mit einer Hand meine gefesselten Handgelenke. Sein Mund verzieht sich zu einer Fratze, die dem Joker aus Batman Konkurrenz macht. Er lässt seine Waffe am Abzug einmal um seinen Zeigefinger kreisen, hält sie dann am Lauf fest und schlägt sie mir mit dem Griff gegen die Schläfe. So kraftvoll, dass ich spüre, wie meine Haut aufplatzt. Ich schreie vor Schmerz und schließe die Augen, damit mir das Blut nicht hinein läuft. Meine gefesselten Hände befinden sich immer noch in seinem festen Griff und machen mich bewegungsunfähig.

»Komm her, ich bin kein Unmensch.« Er nimmt ein Tuch aus der Hosentasche und tupft mir das Blut ab. Sofort tritt neues aus der Wunde.

»Du alleine trägst die Schuld dafür. Wenn du von Anfang an gewusst hättest, an wessen Seite sich dein Platz befindet, müsste ich jetzt nicht handeln.« Seine Stimme klingt beherrscht und selbstsicher – er glaubt jedes Wort davon. Ich muss ruhig bleiben!

Wie aus dem Nichts erscheint Markus vor dem Blockhaus. »Herzlich willkommen. Die Hochzeitssuite steht bereit«, spöttisch deutet er eine Verbeugung an. Hinter ihm tauchen Timo, Mark und Tobias auf. Für sie alle geht es offenbar in Ordnung, dass ihr Anführer mit einer gefesselten und blutenden Frau vor ihnen steht.

Meine Schläfe beginnt wie wild zu pochen, und immer mehr Blut läuft mir übers Gesicht, aber ich wage einen weiteren Versuch. Ich trete erneut nach Jens. Dieses Mal habe ich mehr Erfolg und er lässt mich tatsächlich los, aber nicht vor Schmerzen schreiend, sondern gelassen. »Kameraden!«

Wie Hunde, denen man einen Knochen zuwirft, stürmen sie auf mich zu. Innerhalb von Sekunden spüre ich überall auf meinem Körper Hände. Gierig gräbt Markus seine Finger in die Innenseite meines Oberschenkels, nur wenige Zentimeter von meiner Scham entfernt.

Ich schnappe erschrocken nach Luft. Nicht nur meine Muskeln werden zu Stein, sondern auch meine Lunge. Vor meinen Augen erscheinen tanzende Sterne und mein Herz schlägt schnell – viel zu schnell.

»Hey, lasst das Gegrapsche und tragt sie rein! Ihr dürft sie vielleicht rannehmen, wenn ich mit ihr fertig bin«, stellt Jens klar.

Luft! Ich bekomme keine Luft mehr. Atme, atme! Wenn du hier zusammenbrichst, schaffst du es nicht, dich gegen ihn zu wehren. Sie alle werden über dich herfallen! Atme, atme, atme, sage ich mir wie ein Mantra vor. Dank der Strategie von Nina gelingt es mir, mich so weit zu beruhigen, dass ich nicht hyperventiliere, während sie mich durch einen kleinen Flur in eines der Zimmer der Hütte tragen.

Wie einen Müllsack schmeißen sie mich auf eine Matratze. Sofort rutsche ich mit den Füßen zurück, bis ich die Wand im Rücken spüre. Schnell, steh auf! Doch meine Beine zittern so stark, dass sie einknicken wie Streichhölzer, als ich versuche, das Bett zu verlassen.

»Wo willst du hin, Kleine?« Jens baut sich vor mir auf, zieht mich hoch und presst mich mit seinem Körper gegen die Wand. Ich spüre seinen harten Schwanz an meinem Bauch. Er umfasst meine Wangen mit Daumen und Zeigefinger, presst meine Mundwinkel schmerzhaft zusammen und zwingt mir einen brutalen Kuss auf meine gespitzten Lippen. Seine andere Hand wandert fordernd abwärts. Jetzt schaffe ich es nicht mehr, mich zusammenzureißen, und muss würgen. Angewidert tritt er einen Schritt zurück. Seine Hand drückt gegen meinen Brustkorb und schiebt mich weiter an die Wand. Er quetscht mich ein und nur das hindert mich daran, zu fallen.

»Bei deinem Panther stellst du dich nicht so an!«, zischt er gefährlich leise.

Seine Lippen beben vor Wut. Ohne mit der Wimper zu zucken schlägt er mir mit der Faust so hart ins Gesicht, dass mein Kopf wie ein Punchingball zuerst nach rechts und anschließend nach links fliegt. Ich schmecke etwas Metallisches und sinke, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, zu Boden. Immer mehr Blut läuft aus meinem Mund.

Das hier überlebe ich nicht. Selbst Jens tritt erschrocken von mir zurück. Schützend ziehe ich die Beine so dicht an meinen Körper, dass ich es schaffe, meine gefesselten Hände darüber zu legen.

KARIM

Ich gucke auf mein Handydisplay und hoffe, dass es Anna ist, die mich anruft. Eine reine Wunschvorstellung. Ihr Handy liegt bestimmt irgendwo zerstört im Rinnstein. Es handelt sich um Nina und meine Freisprecheinrichtung entwickelt ein Eigenleben, denn sie nimmt den Anruf automatisch an.

»Karim! Moni hat grad angerufen! Wo bist du? Bitte sag mir, dass Anna sich bei dir befindet!«

»Schön wär’s«, antworte ich gepresst. »Ruf Abdul an, wir folgen dem Handysignal von Jens.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, beende ich das Gespräch.

Kurze Zeit später meldet sich Abdul und teilt mir mit, dass sich das Signal nicht mehr bewegt. Offenbar halten sie sich in ihrem Clubheim am Waldrand auf. Unmöglich, dass Jens sie an einen Ort bringt, den wir alle kennen, außer … Verdammt, seine Worte eben waren keine Show. Er bringt sie um, wenn ich dort auftauche.

»Nina weiß Bescheid«, gesteht Abdul und ich merke erst jetzt, dass er noch immer mit mir telefoniert.

»Ich hab ihr gesagt, sie soll sich bei dir melden.« Das muss reichen, um ihn zu beruhigen, denn ich kann mich im Moment nicht um Abduls schlechtes Gewissen kümmern. Für mich zählt nur, Anna lebendig da rauszubekommen. Ganz egal, zu welchem Preis. Für sie gehe ich über Leichen – und nichts würde mir mehr Vergnügen bereiten, als Jens ein für alle Mal in die Hölle zu schicken!

Meine Kiefer mahlen. Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen. Trotzdem fühle ich nichts außer Kälte und fokussiere meine Gedanken auf das, was gleich passieren wird. Wie ein Panther vor dem Sprung auf sein Opfer bereite ich mich darauf vor, Jens zu zerfleischen.

Plötzlich ertönt unser Lied aus den Boxen.

Niemand liebt mich besser als Anna. Verdammt! Ich muss sie so schnell wie möglich befreien. Alleine das Wissen, wie sie auf Berührungen reagiert. Fuck, es ging ihr so gut! Was passiert, wenn er sie vergewaltigt? Ich schüttle den Kopf. Falsche Gedanken. Erst einmal zählt nur, dass sie sich in Sicherheit befindet.

Kaum erreichen wir unser Ziel, schaltet sich mein Verstand aus. Entgegen jeder Vernunft fahren wir mit quietschenden Reifen auf den Sportplatz und halten vor dem Clubhaus der HK.

»Kommt sofort raus!«, brülle ich mit der Waffe in der Hand, noch während ich aus dem Wagen springe. Spätestens jetzt kann ich den Plan, sie lautlos zu befreien, vergessen.

Die Blacks ziehen ebenfalls ihre Knarren. Meine Jungs wissen nicht, was Anna durchgemacht hat, aber sie erkennen, dass jede Sekunde zählt. Mark tritt vor die Tür und lacht höhnisch.

»Ah, besucht ihr uns?«, fragt er gespielt unschuldig.

»Bring mir Anna – sofort! Dein Leben bedeutet dir doch was, oder?« Ich ziele mit der Waffe auf ihn. Zu seinem Glück begreift der Penner, dass ich kurz davor stehe, abzudrücken und sein Grinsen verschwindet. »Jens!« schreit er.

Die Tür öffnet sich, aber statt dem Wichser tritt Markus nach draußen. »Jens ist beschäftigt«, erklärt er vielsagend und mustert uns spöttisch.

Ich antworte mit einem Schuss in ihre Richtung, ohne auf sie zu zielen, denn ich visiere die Holztafel neben ihm an. Jetzt benehmen sie sich nicht mehr so cool und zucken wie vom Blitz getroffen zusammen.

»Der nächste trifft dich«, verspreche ich und richte den Lauf meiner Pistole auf Markus. Im nächsten Moment öffnet sich abermals die Tür und endlich erscheint Jens.

Mit der rechten Hand hält er Anna eine Waffe an den Kopf, mit der linken umfasst er ihre Taille und hält sie als Schutzschild vor sich in Position.

»Anna.« Ich schaue von ihren gefesselten Händen über ihr rot verschmiertes Oberteil in ihr Gesicht.

Blut tritt aus ihrem Mund und der aufgeplatzten Lippe. Auch aus einer Wunde an der Schläfe blutet sie stark. Doch ihre Verletzungen schockieren mich nicht so sehr wie der Blick in ihre Augen: Leere! Ich sehe vollkommene Leere darin! Da existiert keine Maske, die sie trägt. Nicht der Hauch von Verletztheit oder Angst. Nein, sie sind leer! »Ich bin sowieso beschädigte Ware«, flüstert sie mit zitternder Stimme, bevor sie laut und deutlich weiterspricht. »Besser ihr geht.«

»Auf keinen Fall!« Verdammt, Lady, mach das nicht! Ich gehe einen Schritt auf die beiden zu, in dem Moment drückt Jens ab. Wir schrecken zusammen – alle, mit Ausnahme von Anna. Sie bleibt starr wie eine Schaufensterpuppe stehen, obwohl der Schuss direkt an ihrer Schläfe abgefeuert wird. Ich ertrage es kaum, sie so zu erleben, und senke meinen Kopf kurz, bevor ich ihn wieder hebe.

»Meine Kleine zeigt Mut.« Jens lässt ihre Taille los, um oberflächlich zu prüfen, warum keine Kugel seine Waffe verlassen hat. Dabei tritt er einen kleinen Schritt zur Seite, aber ich nutze die Chance, um einen gezielten Schuss in sein Knie abzufeuern.

Markus feuert zurück und innerhalb von Sekunden bricht eine ausgewachsene Schießerei los. Keine Ahnung, wer wen trifft, denn mein Blick bleibt auf Annas Augen geheftet.

Ich zucke zusammen, als ich spüre, wie mich etwas am Bein trifft. Auch Annas Konzentration richtet sich auf meinen Oberschenkel. Ich glaube, sie begreift erst jetzt, was um sie herum passiert und entfernt sich rückwärts von Jens. Panisch zerrt sie mit dem Mund an ihren Fesseln. Sie schafft es tatsächlich, dass die Dinger reißen, aber statt in die Hütte zu flüchten, bleibt sie regungslos stehen. »Aufhören! Sofort!«, kreischt plötzlich eine weibliche Stimme und mit einem Mal herrscht Stille.

Ich drehe mich um und entdecke Nina, die wie ein Racheengel auf uns zustürmt. Hinter ihr befinden sich zwei Krankenwagen. Leider kommen in diesem Moment auch drei Einsatzfahrzeuge der Polizei hinzu.

»Stopp – sofort die Waffen fallen lassen oder wir schießen!«, schreien mehrere Uniformierte durcheinander. Gleichzeitig folgen wir der Anweisung.

»Oh, Anna, zum Glück.« Nina rennt mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Für ein paar Sekunden denke ich, alles wird gut.

»Nein! Nicht! Nicht berühren!«, kreischt Anna hysterisch und hebt abwehrend ihre Hände. In ihren Augen spiegelt sich die blanke Angst. Ich lasse mich so sehr von ihrer Reaktion und der schrillen Stimme ablenken, dass ich den Polizisten hinter mir zu spät wahrnehme, um zu handeln.

»Herr el Amar, dachte ich es mir.«

Mein Freund von der Polizei, Herr Walter, legt mir Handschellen an und will mich fortführen, hält jedoch inne. Seine Aufmerksamkeit gilt Nina und Anna, die so hoch wie eine Sirene schreit, obwohl Nina in sicherem Abstand zu ihr steht.

»Bitte treten Sie zurück oder wir müssen Sie festhalten«, warnt einer der Polizisten Nina.

Sie starrt ihn einen Moment wütend an, bevor sie ihre Stimme findet. »Auf keinen Fall werden Sie das. Die junge Frau befindet sich bei mir in Behandlung. Sie vertraut mir.«

Ich hoffe, dass Anna den Ernst der Lage begreift und Nina zustimmt. Doch sie schweigt.

»Offenbar täuschen Sie sich da«, erwidert er emotionslos. Ninas Wut wandelt sich in Verzweiflung, denn Anna entfernt sich ängstlich von ihr.

Unserem Engel bleibt nichts anderes übrig, als aufzugeben und den Anweisungen Folge zu leisten. Ebenso wie uns alle zwingt die Polizei Nina dazu, tatenlos zu bleiben. Ich komme mir vor wie in einem schlechten Film – einem verdammt schlechten!

Zu allem Überfluss erfasst einer der Sanitäter die Situation und spielt den Retter in der Not. »Anna, wir wollen dir helfen.« Er streckt seine Hand aus, während er einen Fuß vor den anderen setzt. Seine Stimme klingt besonnen und freundlich, aber das nützt ihm nichts.

»Nein! Nein! Nicht näherkommen!« Anna klingt so angsterfüllt und unbeherrscht, dass die Polizisten ein weiteres Mal innehalten.

Was für eine surreale Situation. Ohne ein Wort zu sprechen, schauen wir alle auf Anna, die trotz ihrer Verletzungen wie eine Löwin darum kämpft, nicht angefasst zu werden.

»Bitte sei vernünftig.« Der Sanitäter will nach ihr greifen, aber sie tritt und schlägt mit aller Kraft nach ihm. Der Typ kann nicht rechtzeitig reagieren und fällt nach einem Kopftreffer wie ein nasser Sack zu Boden. Selbst mich überrascht ihr Verhalten, schließlich blutet sie stark und muss versorgt werden. Anna nutzt die Möglichkeit, dreht sich um und rennt los.

»Braucht ihr Hilfe?!«, schreit einer der Polizisten.

»Ja, verflixt!«, antwortet der zweite Sanitäter, der Anna bereits verfolgt. Drei starke Polizisten stürzen sich auf sie und ringen sie zu Boden.

»Seid ihr bescheuert!« Wie aus einem Traum wache ich auf. »Verdammt, lasst mich zu ihr!«, brülle ich und zerre an meinen Handschellen. Zwecklos. Zwei weitere Bullen, die neben mir stehen, packen mich sofort an den Armen.

»Hey, ganz ruhig!«, warnen sie, ihre Schlagstöcke bereits einsatzbereit. Die Polizisten überwältigen Anna schließlich und einer der Sanitäter verabreicht ihr eine Spritze. »Geschafft.«

Stolz freuen sie sich darüber, während ich zusehen muss, wie meine Lady bewusstlos auf einer Trage an mir vorbeigeschoben wird.

»Wo bringt ihr sie hin?!«, rufe ich einem der Sanis zu. Verdammt, was macht ihr mit ihr?!

»Das sollte Sie nicht interessieren. Sie kommen mit aufs Revier!« Herr Walter zerrt an meinen Handschellen. Mein Blick kreuzt Ninas und sie bleibt kurz stehen.

»Ich kümmere mich um Anna«, verspricht sie entschlossen. »Um euch alle.«

Als Einzige scheint sie klar denken zu können und behält die Nerven. Sie steigt zu Anna in den Krankenwagen, während ich gezwungen werde, auf der Rückbank des Polizeiwagens Platz zu nehmen. Erst jetzt merke ich, dass ich tatsächlich von einer Kugel getroffen wurde und blute.

Wir werden getrennt zum Revier gebracht, wo sie unsere persönlichen Sachen einkassieren. Anschließend führen sie jeden von uns in einen einzelnen Raum. Ein Sanitäter behandelt mein Bein, er braucht nicht lange, um den Streifschuss zu versorgen. Keine Ahnung, was mir der Arzt zum Abschied mitteilen möchte, aber ich schüttle den Kopf.

Nerv mich nicht! Minuten vergehen, ohne dass jemand erscheint, und ich nutze die Zeit, um mich vorzubereiten. Gedanklich plane ich meine nächsten Schritte und senke den Kopf, um mich zu konzentrieren. Als ich ihn wieder hebe, verwandle ich mich in den Panther, denn als Karim schaffe ich das hier nicht. Mit ausgestreckten Beinen und vor der Brust verschränkten Armen empfange ich Herrn Walter, der mit einer Tasse Kaffee in der Hand den Verhörraum betritt.

»Also, Herr el Amar, was ist auf dem Sportplatz passiert?«, fragt er gespannt, was mir lediglich ein Kopfschütteln entlockt.

»Netter Versuch, aber ohne meinen Anwalt erfährst du nichts.«

»In Ordnung.« Er reicht mir ein Telefon, steht auf und geht zur Tür. »Sagen Sie ihm, es geht noch um versuchten Totschlag. Das kann sich schnell ändern«, informiert er mich knapp, bevor er den Raum verlässt.

Ich weiß sofort, wen ich anrufe.

»Karim«, Big Boss seufzt. »Ich habe gerade mit Nina telefoniert. Was werfen sie euch vor?«

»Versuchter Totschlag, aber der Bulle hat in Rätseln gelabert. Es läuft auf Totschlag raus, wenn einer von denen abkratzt, und sicherlich unerlaubter Waffenbesitz«, antworte ich. Letzteres hat das Fischgesicht zwar nicht erwähnt, aber niemand von uns besitzt einen Waffenschein.

Big Boss bleibt wie immer unbeeindruckt und gibt im Hintergrund jemandem eine Anweisung. »Keine schwere Körperverletzung?«

»Offenbar gehen die direkt von versuchtem Totschlag aus. Wir haben alle geschossen«, antworte ich ihm emotionslos und grinse Herrn Walter durch den Spiegel an. Sie dürfen mich nicht abhören, aber ich wette, einer von der Trachtentruppe beobachtet jede Regung von mir.

»Ich kümmere mich darum.«

»Weißt du, wie es Anna geht?«, frage ich und schaffe es nicht, meine Selbstsicherheit aufrechtzuerhalten.

Er kommt ohne Umschweife auf den Punkt: »Sie befindet sich in einem kritischen Zustand.«

»Was? Das kann nicht sein. Sie hat nur einige Fleischwunden gehabt!«

»Sie verweigert jeden körperlichen Kontakt. Die Ärzte erhalten kaum eine Möglichkeit, sie zu untersuchen oder zu behandeln.«

Verdammt!

Ich danke Big Boss für seine Hilfe und verabschiede mich.

»Komm ruhig wieder rein!«, schreie ich Richtung Tür und tatsächlich tritt Herr Walter keinen Atemzug später in den Raum.

Er mustert mich wissend, bevor er mir gegenüber Platz nimmt. »Sie wollen mir nicht erzählen, dass Sie ihren Anwalt angerufen haben, oder?«

»Viel besser!« Ich verschränke die Hände im Nacken und lehne mich zurück. »Eure Stühle waren auch schon bequemer.«

Mit zusammen gebissenen Zähnen stellt der Bulle ein Diktiergerät auf den Tisch. »Gut, dann ohne Anwalt.«

»Keine Sorge, er kommt«, beruhige ich ihn spöttisch.

Er macht einen auf autoritär und wirkt dabei so armselig, dass er mir fast leid tut. »Sie bekommen hier keine Extrawurst. Wir warten eine halbe Stunde«, stellt er klar.

Es dauert weniger als zwanzig Minuten, bis mein Rechtsbeistand erscheint. »Ich vertrete die Interessen von Herrn el Amar und Sie gehen jetzt, damit ich ungestört mit meinem Mandanten sprechen kann.«

Selbstbewusst nimmt der Anwalt neben dem Polizisten Platz. Mister Ich-hab-hier-das-Sagen erhebt sich mit seinem kalten Kaffee und verschwindet.

Nachdem ich Monsieur Chatisse alles erzählt habe, darf sich Herr Walter wieder zu uns gesellen.

»Also, Herr el Amar, stillen Sie meine Neugier auf Ihre Version der Geschichte«, fordert er mich auf und schaltet seinen Rekorder ein. »Was ist in den letzten Stunden passiert?«

»Meine Freundin wurde von Jens Hohenstein entführt und zu seinen Leuten in eine Holzhütte am Sportplatz gebracht. Gemeinsam mit meinen Freunden wollte ich ihr helfen und folgte Herrn Hohenstein. Als wir ihn stellten, richtete er eine Waffe auf meine Freundin. Ich versuchte, ihn mit einem gezielten Schuss ins Bein aufzuhalten. Anschließend kam es zur Eskalation. Das war’s«, beende ich meine Version der Geschehnisse möglichst knapp.

»Kein Wort zu viel« lautet eine unserer Regeln, die wir bereits vor langer Zeit festgelegt haben. Schließlich müssen wir ständig damit rechnen, dass man uns erwischt.

»Sie haben also mit einer illegal erworbenen Waffe absichtlich auf das Bein von Herrn Hohenstein geschossen.« Herr Walters Stimme trieft vor Spott. »Wir werden das überprüfen. Herr Hohenstein befindet sich im Krankenhaus. Zu ihrem Glück außer Lebensgefahr. Es wird eine Anklage wegen versuchten Totschlags erhoben und Sie bleiben vorerst in U-Haft.«

»Was? Das könnt ihr nicht bringen!« Ich will aufspringen, aber mein Anwalt drückt mich zurück auf den Stuhl, während seine Aufmerksamkeit Herrn Walter gilt.

»Ich verlange, unverzüglich mit dem zuständigen Staatsanwalt zu sprechen sowie sofortige Akteneinsicht«, fordert Monsieur Chatisse ruhig.

»Kein Problem.« Mit einem triumphierenden Grinsen auf seiner Visage erhebt sich Herr Walter und verlässt den Raum, während zwei Uniformierte eintreten, um mich abzuführen.

Sie bringen mich in eine Einzelzelle und plötzlich dreht sich alles in meinem Kopf um zwei Wörter: kritischer Zustand!

»Verdammte Scheiße«, schreie ich wütend und schlage gegen die harte Betonwand. Immerhin hilft es, um nicht durchzudrehen.

»Verdammt, ich muss telefonieren!«, rufe ich.

»Morgen wieder!«, antwortet ein Bulle gelangweilt.

»Fick dich!« Alles Toben bringt nichts, der Polizist ignoriert mich. Ich gehe die kleine Zelle ab, ohne anzuhalten, und fühle mit jeder Runde, wie die Wände weiter auf mich zukommen. In dem Moment, wo sich die Platzangst wie ein dunkler Umhang um mich legen will, vernehme ich das Geräusch eines Schlüssels in der Zellentür.

»Umzug«, kündigt ein Polizist an. Ich halte ihm brav meine Hände hin, damit er mir die Handschellen anlegen kann. Anschließend werde ich an einer Gruppe Rocker vorbei nach draußen geführt. Im Augenwinkel nehme ich Mehmet wahr, aber sofort versperrt mir ein zweiter Bulle die Sicht.

Die Frage, wo sie mich hinbringen, spare ich mir, denn ich kenne unser Ziel. Obwohl ich weiß, dass die anderen Blacks ebenfalls in die JVA Ehrenfeld gebracht werden, erhalte ich keine Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen. Ich bekomme sie nicht mal zu Gesicht. Eines muss man der Trachtentruppe lassen: Sie beherrschen ihren Job. Meine Vermutung, dass sie uns verzögert überführen, bestätigt sich, denn weder bei der Aufnahme noch als ich in die karge Einzelzelle gebracht werde, begegne ich einem von ihnen.

Der Justizvollzugsbeamte verschließt die Tür von außen und ich schaue mich in dem länglichen Raum um, der von einem vergitterten Fenster erhellt wird. Mein Zuhause für keine Ahnung wie lange besteht aus einem kleinen Bett, einem abgenutzten Tisch mit Stuhl und einem schmalen, hohen Kleiderschrank. Neben einem Miniwaschbecken befindet sich eine Toilette. Verdammt! Müde fahre ich mir über das Gesicht und lege mich auf die harte Matratze.

Als ich meine Augen wieder öffne, herrscht Dunkelheit, aber statt wieder einzuschlafen, kann ich nicht verhindern, dass sich meine Gedanken darum drehen, wie es Anna geht. Sobald ich meine Lider schließe, sehe ich ihr Gesicht vor mir. Höre ihre Worte: beschädigte Ware …

Erst als ich um sechs Uhr morgens von einem Justizvollzugsbeamten lautstark geweckt werde, schaffe ich es, das Karussell in meinem Kopf zu stoppen. Er drückt mir ein Tablett mit einer Scheibe Brot in die Hand, das ich nicht mal an die Enten verfüttern würde. Dazu gibt es eine Scheibe Käse und etwas, das Marmelade darstellen soll. Widerlich.

»Wann darf ich mit meinem Anwalt sprechen?«, frage ich ihn und bemühe mich um Freundlichkeit. Ich erwarte nicht, dass mein Ruf mir hier drinnen einen Bonus bringt.

Der Beamte dreht den Kopf nach rechts und links, schaut sich um, bevor er sich zu mir vorbeugt. »Dank Big Boss sprichst du gleich mit ganz anderen«, verspricht er mir verschwörerisch.

Okay, der Kerl kennt Jean, das nenne ich gute Nachrichten. Seine Worte wiederholen sich wie ein Echo in meinem Kopf. Sie ändern nichts daran, dass ich hier drinnen festsitze, statt an Annas Seite zu stehen, aber das Gefühl der Machtlosigkeit nimmt ab.

Als sich meine Zelle gefühlte Stunden später öffnet, muss ich mich beherrschen, meine Freude nicht allzu deutlich zu zeigen. Hinter dem Typen von heute Morgen erkenne ich Mehmet, aber außer ihm betreten auch Ajhan, Merhan und Abdul die kleine Zelle.

»Ihr habt zehn Minuten, mehr geht nicht«, murmelt der Typ und ich höre aus seiner Stimme, dass er sich alleine bei dem Gedanken, erwischt zu werden, in die Hose scheißt. Sein Kollege, der mit dem Rücken zu mir vor der Tür steht, dreht seinen Kopf immer wieder nervös von rechts nach links.

»Mach mal langsam, Big Boss lässt garantiert einiges springen«, entgegne ich ungerührt, bevor ich ihn auffordere, sich zu verpissen.

»Karim, Alter.« Mehmet fällt mir als Erster in die Arme und auch die anderen drei begrüßen mich erleichtert.

»Was habt ihr gesagt?«, will ich sofort wissen.

»Wie besprochen«, bestätigt einer nach dem anderen.

Mehmet lehnt sich gegen die Zellentür und verschränkt die Arme. »Schöne Scheiße. Weißt du, wie es Anna geht?«

»Sie befindet sich in einem kritischen Zustand«, antworte ich sachlich.

»Was? Nicht dein Ernst!« Er starrt mich geschockt an. Gleich darauf gibt er sich selbst die Antwort und schüttelt bedauernd den Kopf.

»Vielleicht innere Verletzungen?«, überlegt Abdul und hält mir seine Wasserflasche hin.

Ich trinke einen Schluck und setze mich zu ihm an den Tisch. »Daran liegt es nicht, es ist kompliziert.« Er runzelt nachdenklich die Stirn. Die anderen schweigen ebenfalls.

»Ich habe noch nie erlebt, dass eine Frau in Annas Zustand so krass zuschlägt«, durchbricht Ajhans Stimme die Stille.

Dankbar nicke ich ihm zu. Nicht, weil er Annas Kraft bewundert, sondern weil er mir damit zeigt, dass sie alle ohne Worte Annas Verhalten immer besser verstehen.

»Was denkt ihr, wie lange es dauert, bis wir hier rauskommen?«, unterbricht Abdul die Stille. Während Ajhan und Merhan optimistisch glauben, dass wir innerhalb von einem Tag den Bunker verlassen, möchte ich mich nicht festlegen. Mehmet schweigt ebenfalls.

Auch ohne Uhr weiß ich, dass die Penner uns keine Sekunde geschenkt haben, als sie die Blacks wieder aus der Zelle begleiten.

ANNA

Ich spüre eine Berührung und weiß, dass die Finger nicht zu Karim gehören.

»Nein!« Schreiend reiße ich meine Hand hoch, bevor ich die Augen öffne. Aus meiner Armbeuge spritzt Blut wie Wasser aus einem Gartenschlauch.

»Schnell, wir brauchen hier Hilfe!«, ruft eine Krankenschwester und sofort eilen zwei Pfleger hinzu. Sie fixieren mich mit ihren Armen auf dem Bett, um mich zur Bewegungslosigkeit zu zwingen, genau wie die HK, als sie mich für ihren Anführer in die Holzhütte trugen. Kalter Schweiß rinnt über mein Gesicht. Mein Herz drückt schmerzhaft gegen meinen Brustkorb.

»Lasst mich los. Hört auf! Ihr tut mir weh!«, kreische ich und versuche, mich aus ihrem festen Griff zu befreien. Mein Körper zittert, ich trete und schlage um mich, bewirke aber nichts. Die Männer drücken mich erbarmungslos nieder. Wieder erhalte ich keine Möglichkeit, mich zu wehren. Entkräftet gebe ich auf und lasse zu, dass sie mich fixieren.

»Anna, wir wollen dir nur helfen.« Die Frau mit den weißen Klamotten und der blauen Brille auf der Nase seufzt und legt mir einen neuen Zugang.

Ich schaue an ihr vorbei zu Nina. Sie hält sich die Hände an die Wangen und betrachtet mich sorgenvoll, bevor sie wütend an die Seite der Tussi in Weiß tritt. »Lassen Sie mich Ihnen diesmal helfen?«

»Sie sind hier nicht angestellt«, antwortet sie und schnaubt genervt.

Anscheinend ist es nicht Ninas erster Versuch, sie davon zu überzeugen, ihnen zu helfen. Es würde nichts ändern.

»Ich heiße Angela Friese und arbeite seit zwanzig Jahren hier im Krankenhaus«, informiert mich die Krankenschwester freundlich und hebt ihre Hand an, bevor sie es sich zu ihrem Glück anders überlegt. Vorstellen muss ich mich wohl kaum und so ziehe ich es vor, zu schweigen. Als sie anfängt rumzudrucksen, reicht es mir. Ich drehe meinen Kopf von ihr weg zu dem Kalender an der Wand, bis sie endlich verschwindet.

»Darf ich?«, fragt Nina, streckt aber gleichzeitig ihre Finger nach mir aus.

»Nicht!« Sofort ziehe ich meine Hand dicht zu mir und presse meinen Hinterkopf ins Kissen, als könne ich darin verschwinden.

»Schon gut.« Sie verschränkt ihre Arme hinter dem Rücken. Schweigend beobachte ich sie dabei, wie sie ein paar Schritte zurückgeht.

Karim! Wo steckt Karim? Ninas Lippen bewegen sich, aber ihre Worte rauschen an mir vorbei. Ich muss nur eines wissen: »Warum ist Karim nicht bei mir?« Ich erinnere mich daran, dass er verletzt wurde, aber Karim konnte noch stehen.

»Er und die anderen Blacks sitzen in U-Haft.«

Erschrocken halte ich mir die Hand vor den Mund.

»Sie werfen ihnen versuchten Totschlag vor.«

Nein, das geht nicht. »Ich brauche Karim«, presse ich hervor.

»Ich weiß, Anna – ich weiß.« Sie hebt ihre Hände und wischt sich über ihr blasses Gesicht. »Ich habe Big Boss informiert, er kümmert sich um die Blacks.«

Den zweiten Teil des Satzes bekomme ich kaum mit. Stattdessen nehme ich zum ersten Mal bewusst meine Umgebung wahr. Ich liege in einem Einzelzimmer und links neben dem Bett befindet sich ein großes Panoramafenster mit weißen Gardinen. Sie halten die Sonne fern, versperren mir jedoch auch die Sicht nach draußen. Rechts neben meinem Bett auf dem Beistelltisch befindet sich ein Glas und eine Flasche Wasser. Dahinter steht der Infusionsständer, an dem ein einzelner Beutel mit einer durchsichtigen Flüssigkeit hängt. Keine Ahnung, was die mir in die Adern pumpen, aber weder schlafe ich davon ein noch nimmt es mir meine Angst.

Ich drehe meinen Kopf von der Infusion zu dem großen, hellen Schrank. Direkt daneben entdecke ich eine geöffnete Tür, durch die ich ein Waschbecken erkenne. Ich wünsche mir nichts mehr, als das Karim aus diesem Badezimmer tritt, aber Nina sagt die Wahrheit: Er befindet sich weit weg. Versuchter Totschlag - keine Körperverletzung. Sie lassen ihn in einer Zelle verrotten. Ich bin alleine! Kraftlos schließe ich die Augen. Jemand betritt den Raum und stellt mir etwas hin, während die Person mir mitteilt, dass sie Charlotte Grausig heißt. Friese, Grausig – mir egal. Statt zu reagieren, spiele ich Dornröschen und versuche, flach zu atmen, damit man mir meinen Schlaf abnimmt.

»Anna, ich weiß, dass du wach bist. Bitte iss etwas«, versucht es Nina nach einer Weile mit ihrer Engelsstimme.

Ich gebe auf, halte meine Augen aber weiterhin geschlossen. »Sie haben mir Karim genommen.«

»Unsinn, das geht gar nicht. Er kommt so schnell wie möglich«, widerspricht sie und fleht mich regelrecht an, etwas zu essen, aber ich schüttle den Kopf.

Mir fehlt die Kraft für weitere Worte. Karim ist weg! Mein Karim! Eine einzelne Träne fließt aus meinem Augenwinkel langsam an meiner Wange herunter. Die Spur, die sie hinterlässt, beginnt zu brennen.

Nina bleibt die ganze Nacht an meiner Seite, aber erst als sie aufhört, mir Mut zuzusprechen, schenke ich ihr meine Aufmerksamkeit. Offenbar schläft sie, denn ihr Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig und ihre Lippen sind leicht geöffnet. Ich selbst finde kaum Schlaf und wenn, dann immer nur für Minuten, bevor ich wieder hochschrecke. Nina wacht jedes Mal mit mir auf und versucht, mich mit Worten zu beruhigen. Erfolglos, denn ich fürchte mich nicht vor meinen Albträumen, sondern vor der Realität. Als die Sonne aufgeht, fühle ich mich sogar kraftloser als gestern.

»Anna!« Meine Mutter stürmt mit Heinz ins Zimmer. »Oh mein Gott, die Polizei war bei uns. Wie konnte das passieren?« Sie dreht sich zu Nina um und streckt ihr die Hand hin. »Sind Sie ihre Ärztin? Wie geht es ihr, wann können wir unsere Tochter mit nach Hause nehmen?«

»Ich heiße Nina und betreue Anna als ehrenamtliche Therapeutin der Angels«, stellt sie sich vor und erklärt: »Anna hat mich aufgesucht, um mit mir über ihre Probleme zu sprechen.« Sie dreht ihren Kopf zu Heinz. Das Blut weicht ihm aus dem Gesicht und seine Unterlippe zuckt, denn er versteht offenbar, was Nina ihm indirekt mitteilt.

Im Gegensatz zu meiner Mutter. »Welche Probleme?«

»Das Essen«, antworte ich schnell für Nina, aus Angst davor, dass sie jeden Moment auf Heinz losgeht. Das fehlt mir noch! Ich weiß ohnehin nicht, wie ich weiterleben soll. Falls irgendeiner hier im Krankenhaus erfährt, was bei mir zu Hause passiert, liegt mein Leben in Trümmern. Sie werden das Jugendamt informieren, die Polizei – jeden, und mich dazu drängen, Heinz anzuzeigen, während meine Mum weiterhin ihre rosarote Brille trägt. Sie glaubt mir ohne Beweise ebenso wenig wie die Polizei oder der Richter.

Nina bedankt sich stumm mit einem Nicken für meine Worte, bevor sie sich Heinz zuwendet. »Ich denke, Sie sollten gehen«, presst sie bemüht freundlich hervor.

Ohne ein Wort zu erwidern, dreht er sich perplex um und verlässt das Zimmer. Noch bevor meine Mutter begreift, was da vor sich geht, tritt eine Ärztin ins Zimmer. Flüchtig betrachtet sie einige Seiten, die sie auf einem Klemmbrett befestigt in der Hand hält und schenkt mir anschließend ihr Zahnpastalächeln. »Schön, dass Sie wach sind. Mein Name lautet Dr. Irina Dohm und ich behandele Sie während Ihrer Zeit auf dieser Station.« Da sie offenbar meinen Namen kennt, spare ich es mir, mit ihr zu reden. Mit ihren kinnlangen, schwarzen Haaren und den giftgrünen Augen erinnert sie mich eher an ein zickiges Model als an eine Ärztin.

»Frau Schneider, ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten«, wendet sie sich an meine Mutter. So viel zum Thema meine behandelnde Ärztin. Ich starre gegen die Vorhänge.

Als meine Mum wenig später wieder vor mir steht, weiß sie Bescheid.

»Anna, was soll das? Du musst dich berühren lassen und etwas essen!«, fordert sie ungewöhnlich resolut. In der Hand hält sie eine Packung Nutella & Go. Zum ersten Mal verspüre ich Ekel beim Anblick der Schokoladencreme.

»Bitte bleib weg!« Abweisend hebe ich meine Hände hoch und ein leichter Schmerz durchzuckt meinen linken Arm. Obwohl ich momentan keine Infusion erhalte, befindet sich in der Armbeuge ein Zugang, verdeckt von einem Verband. »Geh!«, beharre ich schwach und schließe meine Lider. Ich möchte, dass sie verschwindet, aber sie ignoriert meinen Wunsch. Stattdessen setzt sie sich neben mich und ich erkenne schemenhaft, dass sie ihre Hand auf meine legen möchte. Blitzschnell ziehe ich meine Finger unter die Decke. Irgendwann steht sie auf und fängt an zu weinen.

»Es tut mir so leid«, versucht Nina, sie zu trösten. »Geben Sie Anna Zeit.«

»Das werde ich«, schnieft meine Mutter. »Ich liebe dich und Heinz macht sich auch große Sorgen um dich.«

Unwillkürlich zucke ich zusammen, zeige ihr aber keine weitere Reaktion. Schweigend verlässt sie das Zimmer und lässt mich endlich alleine.

Der Tag vergeht, ohne dass ich spreche, esse oder trinke. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr spüre ich die Trockenheit in meinem Mund. Meine Zunge klebt an meinem Gaumen, als hätte ich Sekundenkleber getrunken. Ich komme meinem Ziel, unsichtbar zu werden, immer näher. Jetzt, ohne Karim an meiner Seite, existiert nichts mehr, für das es sich zu kämpfen lohnt. Er hat mir Frieden gegeben!

»Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen, Anna?« fragt mich Frau Dr. Dohm, als sie gegen Abend das Zimmer betritt.

Ich schweige und drehe demonstrativ meinen Kopf zum Fenster. Wie befürchtet lässt sie sich nicht abwimmeln, sondern versucht, mich einzulullen. »Darf ich Sie bitte berühren?« Sie gibt mir einen Moment Bedenkzeit, die ich verstreichen lasse, und tatsächlich verlässt sie den Raum. Leider nur kurz, denn wenig später kehrt sie mit zwei Pflegern zurück. »Es tut mir leid, Anna, aber ohne ihre Mitarbeit funktioniert es nur so.«

Hinter dem großen bulligen Typ mit Glatze tritt ein Jim-Carrey-Verschnitt hervor. Keine Ahnung, ob seine Grimasse mich beruhigen soll, aber ich verstecke meine Hände unter der Decke. Der Glatzkopf bleibt unbeeindruckt. Er stellt sich rechts von mir neben das Krankenbett. Jim Carrey postiert sich an der anderen Seite und heuchelt Verständnis. Darauf falle ich nicht rein. Ich grabe meine Finger in die Matratze. So stark, dass ich glaube, meine Fingernägel lösen sich von der Nagelhaut. Wie auf Kommando ergreifen die Pfleger meine Arme und zerstören meine Hoffnung, dass sie die sanfte Tour wählen. Ich wimmere wie ein getretener Hund, aber sie verstärken ihren Griff. Mir fehlt die Kraft, mich gegen ihre Hände zu wehren und so lasse ich es über mich ergehen, obwohl jede ihrer Berührungen meine Haut wie ein Pfeil durchsticht.

»Ihre Werte lassen mir keine andere Wahl.« Die Ärztin dreht ihren Kopf bedauernd zu Nina. Resigniert seufzt sie, bevor sie nickt.

Dass sie was Größeres vorhaben, ahne ich erst, als es um mich herum von Menschen wimmelt. Ich weiß nicht, ob Ärzte, Krankenschwestern oder Pfleger um mich stehen. Nina erklärt mir, dass meine Mutter der Ernährung über eine transnasale Sonde zustimmt.

»Ihr wollt mir einen Schlauch in die Nase stecken?«, frage ich ungläubig und höre mich dabei an wie ein krächzender Rabe.

»Es geht nicht anders.« Nina nickt traurig.

»Nein! Vergesst es.« Das lasse ich mit meinem Körper nicht machen! Ich habe die Kontrolle! Es fühlt sich an, als würde ich aufwachen, und plötzlich spüre ich die Energie in mir. Mein Oberkörper bäumt sich kraftvoll auf. Sofort streckt der Boxertyp seine Pranken nach mir aus, aber ich schlage kraftvoll um mich. Den Schmerz in meinen Händen ignoriere ich, ebenso das Gefühl, mit jedem Atemzug weniger Sauerstoff in meine Lungen pumpen zu können. Als zwei weitere Pfleger ans Bett eilen, setze ich meine Beine ein, um sie daran zu hindern, in Reichweite meines Körper zu kommen. Erfolgreich, denn sie bekommen mich nicht gebändigt, um mir die transnasale Sonde zu legen.

»Das macht keinen Sinn«, bestimmt Frau Dr. Dohm schließlich und dreht sich zu Nina um. »Wir können Sie ruhigstellen, aber sobald sie wieder zu Bewusstsein gelangt, wird sie versuchen, sich den Schlauch zu ziehen.«

»Und eine dauerhafte Fixierung steht nicht zur Option«, stimmt Nina ihr zu. »Ich schlage einen ZVK vor, was denken Sie darüber?«

»Das wäre eine Möglichkeit.«

Bevor ich es schaffe, nachzufragen, was zum Teufel ein ZVK sein soll, erkenne ich im Augenwinkel eine zierliche Krankenschwester mit einer Spritze in der Hand. »Stopp«, fauche ich sie an, aber meine Hand hebt sich zu spät, um sie abzuwehren. Ich spüre, wie die Nadel meine Haut durchsticht und es fühlt sich an, als ob sie Gift durch meine Adern jagen. Bereits im nächsten Atemzug legt sich Dunkelheit um mich.

Als ich wieder aufwache, taste ich meinen rechten Arm ab. Aus meiner Ellenbeuge hängen mehrere Schläuche, durch die irgendetwas läuft. Gleichzeitig bemerke ich, dass die Sonne aufgeht.

»Was machst du nur?« Kopfschüttelnd kämpft Nina um ihre Fassung. Mit geschlossenen Augen atmet sie mühsam ein paar Mal ein und wieder aus, bevor sie entschieden ihr Handy aus der Tasche nimmt und jemanden anruft.

»Jean, bring mir Karim hier hin und das schnell!

Glaubst du ernsthaft, ich scherze?

Anna schwebt in Lebensgefahr!« Ihre Stimme klingt alarmierend. Eigentlich müssten mich ihre Worte in Sorge versetzen, aber ich freue mich darüber, dass ich meinem Ziel, unsichtbar zu werden, tatsächlich so schnell näher komme.

»Willst du sterben?«, provoziert mich Nina leise und fügt wütend hinzu: »Du musst kämpfen!«

Ich reagiere nicht. Sie trifft den Nagel auf den Kopf. Kämpfen? Für was? Ein Leben mit Heinz und Jens, während Karim hinter Gittern hockt? Kein Anwalt bekommt ihn aus der Sache wieder raus. Nein, ich kann nicht mehr. Lieber sterbe ich, als ohne Karim an meiner Seite zu leben!

»Bitte rede mit mir.« Sie umgreift mit ihren Fingern die Metallstange am Ende des Bettes. Hin und hergerissen von Ninas flehenden Worten presse ich meine bebenden Lippen aufeinander und überlege, was es mir bringt, mit ihr zu sprechen. Nichts, denn Nina kann die Entführung und ihre Folgen nicht ungeschehen machen.

»Ich dachte bei meinem ersten Liebeskummer, dass die Welt untergeht«, beginnt Nina zu erzählen und entlockt mir ungewollt eine Reaktion.

»Liebeskummer? Ich habe Karim verloren!«, herrsche ich sie wütend an.

»Das stimmt nicht.« Nina schüttelt den Kopf. »Karim sitzt in U-Haft, denn er hat eine Straftat begangen, aber das bedeutet nicht, dass sie ihn verurteilen, oder abschieben.«

»Leere Worte«, murmle ich enttäuscht und drehe mein Gesicht von ihr weg. Nina kann unmöglich davon ausgehen, dass Big Boss ihn da wieder rausboxt. Sie möchte mich einlullen, damit ich etwas esse. Vergiss es!

Ich merke, wie viel Kraft mich die letzten Stunden gekostet haben. Müde schließe ich meine Augen.

»Eines weiß ich mit Sicherheit: Karim kämpft!« Ninas energische Stimme durchbricht die Stille. Ich ziehe es vor, zu schweigen, aber ihre Worte machen mich nachdenklich. Leide ich unter Liebeskummer? Sollte ich auch kämpfen, statt aufzugeben? Vielleicht schaffe ich es, dass Karim eine Gefängnisstrafe erspart bleibt. Aber … Nein, unmöglich. Ich schüttle den Kopf in der Hoffnung, meine Gedanken ebenfalls zum Schweigen zu bringen.

»Gib dich nicht auf«, bittet mich Nina eindringlich. Die Verzweiflung in ihrer Stimme schmerzt und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr kämpfen kann, Nina, aber ich kämpfe bereits zu lange. Dank Karim hatte ich die Hoffnung, gegen Heinz und Jens zu gewinnen. Ich wollte sogar meine Verbündete verlassen, indem ich wieder esse. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt.

– 2 –

KARIM

Verwundert überlege ich, was das soll, als meine Tür sich öffnet und mir ein großer Mann in Uniform, aber ohne Tablett gegenübersteht. »Herr el Amar, aus medizinischen Gründen besteht die dringende Notwendigkeit, den Kontakt zwischen Ihnen und Frau Schneider herzustellen.«

»Okay und jetzt nochmal auf Deutsch.« Ich verstehe kein Wort von dem, was er da faselt.

Seine nächsten Sätze kapiere ich hingegen problemlos. »Ihre Freundin schwebt in Lebensgefahr! Verstehen Sie das?«

Fuck! Ich nicke und lasse mir die Handschellen anlegen. Lebensgefahr? Verdammt, Anna!

In Begleitung von zwei Beamten werde ich zum Krankenhaus gefahren. Kaum betritt der Erste das Zimmer, stürmt Nina auf uns zu.

»Moment!«, stoppt sie uns mit ausgestreckten Händen.

Wir gehen rückwärts auf den Flur. »Können Sie bitte draußen warten?«, fragt sie die Beamten.

»Auf keinen Fall.« Der kleinere der beiden Polizisten mit dem Schnäuzer schüttelt entschieden den Kopf.

»Scheiße«, flucht Nina. Sie, die sonst immer ruhig bleibt, wirkt müde und fertig mit den Nerven. Mit fahrigen Bewegungen deutet sie auf meine Handschellen.

Ich erlebe Nina zum ersten Mal in diesem Zustand, selbst als sie im Krankenhaus an meiner Seite saß, strahlte sie Gelassenheit aus.

»Die Handschellen müssen ab«, bestimmt sie entschieden.

Nach einem kurzen Blickkontakt der beiden Beamten werde ich die Dinger los. Sofort umarme ich meinen Engel. Ich spüre, dass sie es jetzt braucht, selbst gehalten zu werden.

»Wie schlimm geht es ihr?«, erkundige ich mich und trete einen Schritt zurück.

Ihre Antwort reißt ein Loch in den Boden unter meinen Füßen: »Es tut mir so leid, Karim, aber Anna stirbt mir unter den Armen weg.«

Nina beginnt zu weinen, hindert mich jedoch mit einer Handbewegung daran, sie erneut in den Arm zu nehmen. Wütend über ihren Gefühlsausbruch wischt sie sich die Tränen weg.

»Unmöglich!« Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle. »Das kann nicht sein!« Kopfschüttelnd versuche ich, mir Annas Zustand zu erklären.

»Es besteht kaum eine Möglichkeit, sie zu behandeln. Nicht mal ich darf sie berühren. Karim, sie verweigert seit ihrer Ankunft jegliche Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Ihre Mutter hat einer Zwangsernährung zugestimmt und die Ärzte wollten ihr eine Sonde in die Nase legen.« Sie redet wie ein Wasserfall und ich hebe meine Hand. Tatsächlich hält Nina inne, um Luft zu nehmen. »Du hättest Anna erleben müssen. Ich weiß nicht, woher sie die Kraft nimmt, sich so zu widersetzen.«

»Und jetzt? Hat sie die Sonde?« Ich schaffe es kaum, einen klaren Gedanken zu fassen, und konzentriere mich auf das Wesentliche. Ich muss wissen, was mich hinter der Tür erwartet, denn ich darf Anna auf keinen Fall durch mein Verhalten verunsichern.

»Wir, das heißt, ihre Ärztin Frau Dohm hat sich für einen ZVK entschieden«, antwortet Nina sachlich und versteckt ihre Gefühle hinter ihrer Professionalität. Mein Gesichtsausdruck sagt alles: Wovon zum Teufel sprichst du?!

»Es handelt sich dabei um einen zentralen Venenkatheter zur Notfallversorgung. So konnte auch ein Mehrlumenkatheter eingesetzt werden.«

»Ich habe nicht Medizin studiert, aber es hört sich nach mehr als einem Kabel an. Wie sieht das aus?«

»Sie wollten ihr den ZVK am Schlüsselbein legen, haben sich aber für eine Hauptvene am Unterarm entschieden. Die Punktion erfolgt in der Ellenbeuge.« Nina zeigt mir, wo die vena basilica liegt, und deutet auf ihren Arm: »Durch einen Katheter wird sie parental …«

»Parental?«, unterbreche ich sie.

»Am Darm vorbei. Sie bekommt die Nahrung über Speziallösungen. Normalerweise erfolgt das frühestens nach drei Tagen, aber es ist unmöglich, sie davon zu überzeugen, selbst etwas zu essen oder zu trinken, und bei ihren Werten mussten wir handeln«, erklärt Nina. »Sie benötigt eine dauerhafte Infusion von Medikamenten für ihren Kreislauf. Seit Anna weiß, dass du dich in U-Haft befindest, glaubt sie felsenfest daran, dass sie dich verloren hat.«

»Verdammt, was geht in ihrem Kopf vor, dass sie es wagt, aufzugeben?!« Ich balle die Hand zur Faust. Hör auf, konzentriere dich auf das Wichtige, ermahne ich mich. Ich muss Anna klarmachen, dass ich noch an ihrer Seite stehe und sie dazu bewegen, die Therapie mit Nina fortzuführen.

»In ihrem Arm befinden sich also zwei Schläuche?«

»Drei«, korrigiert Nina mich. »Anna bekommt Medikamente zur Beruhigung. Außerdem wurde sie an ein EKG angeschlossen.«

»Also drei Schläuche und ein Monitor«, fasse ich zusammen.

Nina nickt, aber gleichzeitig betrachtet sie mich voller Unglaube.

»Wo ist Karim? Das waren ihre ersten Worte nachdem sie wieder zu sich gekommen ist. Als ich ihr gesagt habe, warum du nicht bei ihr sitzt, hat sie mir klargemacht, dass sie dich braucht.« Nina schüttelt den Kopf. »Ich habe so was bis jetzt erst einmal erlebt. Wir haben alles versucht, um Anna zum Essen zu bringen, aber das Einzige, was sie dazu gesagt hat, war: Sie haben mir Karim genommen. Ich halte es aus psychologischer Sicht für bedenklich, dass Anna ihr Leben von deinem abhängig macht, aber du bist unsere letzte Chance. Du musst ihr klarmachen, dass sie stirbt, wenn sie sich weiterhin weigert zu essen.«

Ninas Worte treffen mich tief in meinem Inneren und lassen mich sprachlos zurück. Nach den letzten Wochen, in denen wir Fortschritte gemacht haben, wendet sich Anna wieder ihrer Verbündeten zu und möchte unsichtbar werden. Warum machst du das, Lady?

»Big Boss steht mit Annas Vater in Kontakt. Er hat dafür gesorgt, dass du zu ihr darfst. Herr Lindberg lässt dir einen seiner Anwälte aus Miami einfliegen«, erklärt sie mir.

Das reicht an Informationen. Ich muss Anna sehen - muss ihr zeigen, dass ich an ihrer Seite stehe!

»Halten Sie sich im Hintergrund«, bittet Nina die Beamten freundlich. Entschlossen öffne ich die Tür und trete ein. Verdammt! Selbst das ganze Gelaber im Flur konnte mich nicht auf ihren kranken Anblick vorbereiten. Ihr Gesicht wirkt eingefallen, ebenso wie ihre Körperhaltung.

»Anna«, flüstere ich und schaffe es nur mit Mühe, ein Seufzen zu unterdrücken. Ich lasse meinen Blick über sie gleiten, während ich mich auf den Stuhl direkt neben ihrem Bett setze. Den Schläuchen und dem Monitor schenke ich keine Beachtung.

Ihre geschwollene Lippe durchziehen feine Risse, ich erkenne mehrere Hämatome, und die Verletzung an der Schläfe wurde geklebt.

Sie öffnet ihre Augen - einen Moment erkenne ich Hoffnung darin, bis sie die beiden Beamten entdeckt. Sofort wird ihr Ausdruck wieder leer, sogar das Blau ihrer Iriden scheint trüber zu werden.

»Darf ich?«

Ihre Hand zuckt, aber Anna lässt sie liegen, als ich, ohne zu zögern, meine Finger darauf lege. Nicht sanft, sondern bestimmend. Während ich es schaffe, meinen Triumph zu verbergen, atmet Nina erleichtert aus. Anna wendet den Kopf von mir ab und schließt ihre Augen.

ANNA

Was soll die Show? Denken sie, den Panther kurz aus dem Käfig zu lassen, hält mich davon ab, unsichtbar zu werden?Warum tun sie mir das an? Sie bringen ihn zu mir, nur um ihn mir wieder wegzunehmen. Brutaler als in jedem Horrorfilm!

»Bitte schau mich an.« Karim drückt meine Hand und obwohl ich mich dagegen wehre, entkommt eine einzelne Träne meinen zusammengepressten Lidern und rinnt über meine Wange. Ich spüre, wie er sie sanft wegwischt.

Die Wärme seiner Finger breitet sich vom Gesicht über meinen ganzen Körper bis in die Zehenspitzen aus.

»Anna, bitte«, fordert er bemüht lässig, aber es gelingt ihm nicht, den flehenden Unterton zu verbergen. Alleine seine Stimme zu hören, bricht mir das Herz. Ihn zu sehen, ertrage ich nicht.

Ich schüttle den Kopf. »Euer Plan funktioniert nicht. Ihr führt ihn hier vor - wie ein Tier. Dann lasst ihr ihn in der Zelle verrotten. Dabei brauche ich ihn - zum Leben.« Meine Worte klingen abgehakt, denn mir fehlt die Kraft, um flüssig zu sprechen.

»Das stimmt nicht.« Karim beugt sich dicht an mein Ohr. »Dein Vater hat dafür gesorgt, dass ich hier sitze, und er schickt mir einen Anwalt. Ich werde bald ohne die Typen bei dir sein.«

Mein Erzeuger? Theo! Woher? Wie? Überrascht öffne ich die Augen und betrachte sein Gesicht, aber er macht mir nichts vor: Es ist die Wahrheit.

»Big Boss und ihn verbindet wohl eine Freundschaft.« Er streicht mir mit der Hand über die Wange und lässt sie an meinem Kinn liegen.

»Was machst du nur, Lady?«, fragt er traurig. Die Antwort folgt prompt, aber nicht von mir.

Mit den Worten »Ist er da?« betritt die Krankenschwester von heute Morgen den Raum. Ihr Äußeres ähnelt Kathy Bates aus der Verfilmung von Stephen Kings Roman Misery.

Nina deutet mit dem Kopf auf Karim, der sich irritiert zu den zwei Frauen umdreht. Kathy stemmt die Hände in die Hüften und verzieht das Gesicht. Jetzt erinnert mich auch ihre Mimik an die Psychopathin aus Misery.

»Herr el Amar. Ich heiße Claudia Sonnenberg und leite diese Station. Könnten Sie mir bitte helfen? Uns fehlen heute zwei Pfleger und ich kann Ihre Freundin nur behandeln, wenn sie fixiert wird.«

»Fixieren? Was zum Teufel?!« Wütend betrachtet Karim zuerst die Schwester und anschließend Nina. Erst als er seinen Kopf zu mir dreht, werden seine Gesichtszüge wieder weich.

»Was soll ich machen?«, erkundigt er sich bei der Schwester, ohne sich von mir abzuwenden.

Frau Sonnenberg zeigt ihm den vorbereiteten Infusionsbeutel und erklärt ihm, wie er vorgehen muss. »Trauen Sie sich das zu?«, vergewissert sie sich abschließend.

»Ein Studium brauch ich zumindest nicht dafür«, entgegnet er und zuckt mit den Schultern. Konzentriert wechselt Karim unter ihrer Aufsicht meine Infusion. Zum Schluss prüft er den Zugang und die Einstichstelle.

»Das gibt es nicht.« Ungläubig schüttelt sie ihren Kopf. Ginge es mir nicht so schlecht, müsste ich über ihren offenen Mund lachen. Erst als Karim seine Finger von meinem Arm nimmt, schließt sie ihn wieder.

»Das war eine Ausnahme! Wir machen nichts anderes mit Ihnen. Es gibt keinen Grund, sich so zu wehren«, erläutert sie an mich gewandt.

Demonstrativ schließe ich meine Augen. Mir fehlt die Kraft für solche Auseinandersetzungen. Ich muss genau wählen, welches Wort es verdient, ausgesprochen zu werden, und wann ich mir die Energie spare. Sie kommentiert mein Verhalten mit einem Schnauben und verlässt in Begleitung von Nina das Zimmer.

»Sobald sie mich entlassen, komme ich her, um dich hier wegzubringen. Nur wir beide.« Karim klingt euphorisch, aber bereits im nächsten Atemzug ändert sich sein Tonfall. »Das geht nur, wenn du endlich anfängst, zu kämpfen«, fordert er eindringlich.

Ich schaue ihn an, aber meine Lippen bleiben verschlossen.

»Anna, bitte! Du darfst hier nicht sterben.« Verzweifelt fährt er sich durch die Haare. Seine Augen glänzen verdächtig. So habe ich ihn noch nie erlebt!

»Tu das nicht.« Ich schüttle den Kopf. Bitte keine Tränen!

»Aber es tut verdammt weh, dich so zu erleben. Das hier macht mir mehr zu schaffen als jeder Crash, jeder verlorene Kampf, jeder Gegner, jeder Tag in U-Haft!«

»Ich liebe dich«, flüstere ich ihm zu und hoffe, dass meine Worte ihn beruhigen. Leider erfolglos.

»Dann kämpfe verdammt nochmal darum, dass wir zwei eine Zukunft haben!«, schreit er wütend, während ich ungerührt liegen bleibe. Fassungslos starrt er mich an. Schließlich senkt er den Kopf und atmet ein paar Mal tief durch.

»Bitte, ich liebe dich und nicht nur du brauchst mich zum Leben, ich brauche dich genauso sehr.« Die Intensität, mit der er seine Worte ausspricht, würde mich zu Tränen rühren, aber ich lasse es nicht zu. Seit der Entführung habe ich nicht geweint. Es gelingt mir mit einem Augenaufschlag, sie zurückzudrängen.

Karim beugt sich über mich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Bitte kämpf um uns, kleine Lady.«

Er steht auf und geht zur Tür. Ich sehe es nicht, aber ich höre, wie sie ihm die Handschellen anlegen.

KARIM

Auf dem Weg in die JVA nehme ich mir vor, cool zu bleiben, aber als kurz nach meiner Ankunft meine Jungs zu mir in die Zelle gebracht werden, verliere ich gegen meinen Vorsatz. Weinend breche ich zusammen.

»Karim!« Mehmet stützt mich erschrocken.

Ich musste noch nie vor den Blacks heulen. Das letzte Mal habe ich mit sechzehn Jahren geweint, als mein Vater mir erklärt hat, ich sei nicht mehr sein Sohn. Bis heute dachte ich, es gäbe nichts Schlimmeres.

»Hey Bro, geht’s Anna so schlimm?« Selbst Abduls Stimme klingt beunruhigt.

»Sie stirbt«, antworte ich resigniert und wische mir die Tränen weg. Es herrscht Stille. Sie geben sich stark und cool, aber im Inneren sind sie alle geschockt.

»Warum?«, fragt Merhan schließlich kaum hörbar.

»Sie kämpft nicht.« Trotzig entziehe ich mich Mehmets Arm und denke daran, wie sie aussah. Ich wollte sie schütteln, damit sie zur Vernunft kommt, und anschließend mit ihr flüchten.

»Anna wird zwangsernährt und muss fixiert werden, damit die Ärzte überhaupt eine Chance erhalten, sie zu untersuchen.« Immer noch ungläubig über das, was ich miterlebt habe, schüttle ich den Kopf. »Die Krankenschwester musste mich darum bitten, ihre Infusion zu wechseln.«

»Du darfst sie also weiterhin berühren?!« Ajhans Worte sind eher eine Feststellung als eine Frage.

»Sie redet kaum und hat die meiste Zeit die Augen geschlossen gehalten, aber ich durfte sie berühren«, antworte ich trotzdem.

»Glaubst du, sie wird jetzt kämpfen?«

»Frag mich etwas Leichteres.« Ich lehne mich gegen die Zellentür. »Keine Ahnung. Big Boss hat ihren Vater informiert und der scheint Einfluss zu besitzen. Ihm verdanke ich, dass ich heute zu Anna durfte. Er wird uns einen seiner Anwälte schicken, damit wir hier schnellstmöglich rauskommen.«

»Wenigstens eine gute Nachricht.« Ajhan setzt sich an den Tisch, nur um kurz darauf wieder aufstehen zu müssen: Die Besuchszeit ist um.

»Keep your head up«, erinnert mich Mehmet, bevor er als Letzter die Zelle verlässt. Vergeblich, denn ich liege die ganze Nacht wach auf meiner Matratze und denke an Anna. Wie tief unsere Verbindung reicht, dass sie ohne mich wieder unsichtbar werden möchte! Ich muss ganz schnell zu ihr – dringend!

Ein Leben ohne Anna? Unmöglich. Das geht nicht! Selbst bei meinen Jungs fühle ich mich nicht so geborgen wie in ihrer Nähe. Sie gibt mir eine Liebe, die ich zuvor nur von meiner Familie erfuhr. Anna ist mein Zuhause. Meine Familie! Hoffentlich schafft es ihr Vater, uns hier rauszubekommen.

Der Mann muss echt Macht besitzen, denn bereits am nächsten Vormittag tauchen unsere Anwälte auf. Mister McDermott, der Rechtsanwalt von Herrn Lindberg, stellt sich als Freund der Familie Lindberg vor. Ich gehöre für Annas Vater offenbar ebenfalls dazu. Dabei kennt er mich nicht mal.

»Herr Lindberg hat mit Annas Therapeutin Nina telefoniert«, erklärt er.

Alles klar.

Er reicht mir einen Kaffee, den ich dankend annehme.

Mister McDermott erzählt mir, dass keiner von den HK mehr in Lebensgefahr schwebt. Mich interessiert es einen Scheißdreck, wie es den HK geht, und auch über die drohende Anklage mache ich mir wenig Gedanken. »Wann kommen wir hier raus?«