Akte Atlantis - Clive Cussler - E-Book

Akte Atlantis E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

An mehreren Orten der Welt tauchen merkwürdige Kunstgegenstände auf, und alle Experten sind in hellem Aufruhr. Denn diese Artefakte könnten von einer vor mehr als zehntausend Jahren untergegangenen Zivilisation in der Antarktis stammen: Atlantis! Dirk Pitt begibt sich mit seiner NUMA-Mannschaft unverzüglich in das ewige Eis - und stößt dort nicht nur auf das legendäre versunkene Reich, sondern auch auf eine mächtige Geheimorganisation, die nur ein Ziel kennt: die Schaffung einer neuen Weltordnung. Der Countdown läuft bereits ...

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Inhaltsverzeichnis

Über den AutorEinschlagDas GeisterschiffERSTER TEIL - Im tiefsten Schoß der Hölle
12345678
ZWEITER TEIL - In den Fußstapfen der Ahnen
9101112131415161718192021
DRITTER TEIL - Eine Arche für das 21. Jahrhundert
22232425262728293031
VIERTER TEIL - Eine Stadt unter dem ewigen Eis
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FÜNFTER TEIL - Asche zu AscheSECHSTER TEIL - Letztes GlückNachwortDanksagungCopyright

Buch

Plötzlich tauchen an verschiedenen Orten der Welt merkwürdige Kunstgegenstände auf. Experten datieren das Alter dieser Artefakte auf etwazehntausend Jahre – und stellen fest, dass sie von einer untergegangenen Zivilisation in der Antarktis stammen. Die aufsehenerregende These der Wissenschaftler lautet: Es könnte sich um Atlantis handeln! Unverzüglich begibt sich Dirk Pitt mit seiner NUMA-Mannschaft in die eisigen Weiten der Antarktis, wo er bereits beim ersten Tauchgang gerade noch einer Kollision mit einem angreifenden U-Boot entgeht, das eigentlich gar nicht mehr existieren dürfte. Denn es gehörte der deutschen Kriegsmarine und galt sechsundfünfzig Jahre lang als spurlos verschwunden. Als Pitt dem U-Boot folgt, stößt er auf eine täuschend harmlos wirkende Forschungsstation, in der jedoch fieberhaft an einem perfiden Plan gearbeitet wird. Hier trifft er auf einen skrupellosen Wirtschaftstycoon, dessen mächtige Geheimorganisation nur ein Ziel kennt: die Schaffung einer neuen Weltordnung. Der Countdown läuft bereits. Nur Dirk Pitt und seinem Partner Al Giardino kann es jetzt noch gelingen, ein Armageddon in letzter Sekunde abzuwenden…

Autor

Clive Cussler, Jahrgang 1931, zunächst Flugzeugingenieur bei der Air Force, hat sich seit er 1973 seinen mittlerweile legendären Helden Dirk Pitt erfand, einen der ersten Plätze unter den großen internationalen Bestseller-Autoren gesichert. Er lebt in Colorado, USA.

Einschlag

7120 v. Chr.

Im Gebiet der heutigen Hudson Bay, Kanada

Der Eindringling kam von weit draußen. Ein schemenhafter Himmelskörper, so alt wie das Universum selbst, entstanden inmitten einer riesigen Wolke aus Eis, Gestein, Staub und Gasen, als vor 4,6 Milliarden Jahren die äußeren Planeten des Sonnensystems Gestalt annahmen. Nachdem die einzelnen Partikel zu einem festen Klumpen mit einem Durchmesser von etwa anderthalb Kilometern erstarrt waren, streifte er lautlos durch die Leere des Weltalls und trat in eine Kreisbahn ein, die ihn in einer viele tausend Jahre währenden Wanderschaft um eine ferne Sonne und wieder auf halbem Weg hinaus zum nächstgelegenen Stern führte.

Den Kern oder Nukleus des Kometen bildete eine Verbindung aus gefrorenem Wasser, Kohlenmonoxid, Methangas und schartigen Blöcken aus metallischem Gestein. Ein schmutziger Schneeball, der, wie von Gotteshand geworfen, durch das Weltall flog, so ließe er sich am ehesten beschreiben. Doch als er an der Sonne vorbeiraste und in weitem Bogen den Rückweg in die Weiten jenseits des Sonnensystems antrat, wirkte die Sonnenstrahlung auf den Kern ein, und er machte eine wundersame Verwandlung durch. Das hässliche Entlein mauserte sich zu einer strahlenden Schönheit.

In der Hitze und dem ultravioletten Licht der Sonne bildete sich eine nebelartige Hülle um den Kern, die so genannte Koma, die sich allmählich zu einem gewaltigen, leuchtend blauen Schweif auswuchs, den der Komet hundertfünfzig Millionen Kilometer weit hinter sich her schleppte. Zudem entstand ein zweiter, kürzerer Schweif aus weißem Dunst, rund anderthalb Millionen Kilometer breit, der sich wie eine Fischflosse zu beiden Seiten auswölbte.

Jedes Mal wenn der Komet in die Nähe der Sonne kam, verdampfte mehr von dem eisigen Kern. Irgendwann, in etwa zweihundert Millionen Jahren, wenn seine ganze Masse verdampft sein würde, würde er auseinander brechen und in eine Staubwolke und einen Meteoritenschwarm zerfallen. Dieser Komet jedoch sollte nie wieder die Sonne umrunden und auf seine Kreisbahn weit hinaus ins All einschwenken. Ihm war kein langsames, kaltes Erlöschen draußen in der ewigen Schwärze des Weltraums beschieden. Binnen kürzester Zeit sollte er vergehen. Denn auf dieser, seiner letzten Umlaufbahn flog er nur mehr anderthalb Millionen Kilometer am Jupiter vorbei, geriet in dessen gewaltige Anziehungskraft und wurde aus der Bahn geschleudert, auf Kollisionskurs mit dem dritten Planeten des Sonnensystems, einem Planeten, der von seinen Bewohnern Erde genannt wurde.

Mit einer Geschwindigkeit von zweihunderttausend Stundenkilometern und durch die Erdanziehung immer schneller werdend, tauchte der Komet in einem Winkel von fünfundvierzig Grad in die Atmosphäre ein, ein anderthalb Kilometer breiter Klumpen, vier Milliarden Tonnen schwer, der eine feurige Woge vor sich her schob, bis er unter der Reibungshitze in tausend Teile zerbarst. Sieben Sekunden später schlug er als gleißender Feuerball auf der Erde ein. Durch die jähe Freisetzung kinetischer Energie wurde beim Aufprall ein Krater aufgerissen, der doppelt so groß war wie Hawaii und aus dem gewaltige Erd- und Wassermassen verdampften und verdrängt wurden.

Die gesamte Erde erzitterte unter dem seismischen Schock, der einem Beben der Stärke 12 auf der Richterskala entsprach. Millionen Tonnen Wasser, Sedimente und Trümmer wurden über der Einschlagstelle in die Atmosphäre und Stratosphäre emporgeschleudert, dazu riesige Wolken aus pulverisiertem, glühendem Gestein, aus denen lodernde Meteoriten zurück auf die Erde fielen. Feuerstürme vernichteten weltweit die Wälder. Vulkane, die seit Jahrtausenden untätig gewesen waren, brachen aus und begruben Millionen von Quadratkilometern Land unter einer bis zu dreihundert Meter dicken Schicht aus glutflüssiger Lava. So gewaltig waren die Qualmwolken und Trümmermassen, die in die Atmosphäre gerieten und dort von tobenden Winden weithin verweht wurden, dass nahezu ein Jahr lang kein Sonnenstrahl hindurchdrang und die Temperaturen auf der in Dunkelheit gehüllten Erde unter den Gefrierpunkt sanken. Tiere, die an tropische und gemäßigte Klimazonen gewöhnt waren, starben über Nacht aus. Viele davon, so zum Beispiel die Mammuts, erstarrten an Ort und Stelle zu Eis, mitten auf ihrer Sommerweide, mit unverdauten Gräsern und Blumen im Magen. Bäume mitsamt ihrer Blätter und Früchte wurden durch den Kälteschock tiefgefroren. Tagelang fielen Fische, die an der Einschlagstelle emporgeschleudert worden waren, vom schwarz verhangenen Himmel.

Bis zu fünfzehn Kilometer hohe Wogen prallten auf die Kontinente und fegten mit verheerender Zerstörungskraft über das angrenzende Land hinweg. Wassermassen überschwemmten die tief gelegenen Küstenebenen, fluteten hunderte von Kilometern weit ins Inland und vernichteten alles, was ihnen in den Weg geriet. Zahllose Tonnen Schlick und andere Ablagerungen vom Meeresboden wurden ins Tiefland gespült. Erst als die mächtige Flutwelle an den Fuß der Gebirgsmassive prallte, brach sie sich und wich langsam wieder zurück, doch dabei veränderte sie den Verlauf ganzer Flüsse, füllte vordem trockene Landsenken mit Salzwasser und verwandelte Seen in Wüsteneien.

Die durch den Einschlag ausgelöste Kettenreaktion schien nicht enden zu wollen.

Mit einem leisen Grollen, das zu einem fortwährenden Donnergetöse anschwoll, gerieten die Berge ins Schwanken, und an ihren Flanken gingen Lawinen nieder. Wüsten und Savannen wogten unter der Wucht der Naturgewalten, als die Ozeane erneut aufgewühlt wurden und ins Binnenland brandeten. Durch den Aufprall des Kometen war die dünne Erdkruste in Bewegung geraten. Die äußere Schicht, knapp sechzig Kilometer dick und auf der fließfähigen oberen Schicht des Mantels liegend, verrutschte, wie von unsichtbarer Hand bewegt, in einem Stück – vergleichbar mit einer Grapefruit, bei der man die Schale entfernt und wieder um die Frucht legt. Ganze Kontinente wurden verschoben. Hügel falteten sich zu Gebirgsmassiven auf. Im Pazifischen Ozean verschwanden ganze Inseln, und neue tauchten aus dem Wasser auf. Die Antarktis, die zuvor westlich von Chile gelegen hatte, verlagerte sich über dreitausend Kilometer weit gen Süden, wo sie unter einer rasch dicker werdenden Eisschicht begraben wurde. Die riesigen Packeisfelder, die einstmals westlich von Australien im Indischen Ozean trieben, befanden sich nun in einer gemäßigten Klimazone und schmolzen binnen kurzer Zeit ab. Das Gleiche galt für den Nordpol, der einst vom nördlichen Kanada bedeckt wurde und nun mitten im Meer lag, wo sich bald mächtige Eismassen bildeten.

Ohne Unterlass wüteten die Elemente, tobten Feuersbrünste und bebte die Erde. Auf Grund der fortwährenden Verwerfung der dünnen äußeren Kruste reihte sich eine Katastrophe an die nächste. Das jähe Abschmelzen der Packeisfelder wie auch der Gletscher auf den Kontinenten, die sich mit einem Mal in warme Klimazonen verschoben, führte dazu, dass der Meeresspiegel um rund hundertzwanzig Meter stieg, sodass all das Land, das bereits bei der durch den Einschlag ausgelösten Flutwelle überschwemmt worden war, endgültig versank. Binnen eines Tages wurde Großbritannien, das bislang durch eine trockene Tiefebene mit dem angrenzenden Kontinent verbunden war, zu einer Insel. Anderswo, zum Beispiel dort, wo sich seither der Persische Golf befindet, wurden ganze Wüsten überflutet. Der Nil, der einst in ein weites, fruchtbares Tal strömte und dann zum großen Ozean im Westen strebte, mündete nun in ein jäh entstandenes Mittelmeer.

Mit einem Wimpernschlag, geologisch gesehen jedenfalls, war die letzte große Eiszeit zu Ende gegangen.

Das plötzliche Ansteigen der Ozeane und der neue Verlauf der Meeresströmungen führten zudem zu einer Verlagerung der Pole, wodurch der ganze Erdball aus dem Gleichgewicht geriet. Zeitweise verschob sich die Erdachse um bis zu zwei Grad, als Nord- und Südpol sich verlagerten, wodurch sich auch die Umdrehungsgeschwindigkeit des Globus veränderte. Die Meere passten sich an die neuen Gegebenheiten an, ehe die Erde sich dreimal gedreht hatte. Das Festland indes beruhigte sich nicht so schnell. Dort bebte die Erde noch monatelang.

Achtzehn Jahre lang tobten wilde Stürme mit gewaltigen Windgeschwindigkeiten über das Land, zerfetzten und vernichteten alles, was ihnen im Weg stand, bis die Pole schließlich zur Ruhe kamen und mit ihnen die Erdachse, die sich nun in neuem Winkel neigte. Im Lauf der Zeit gerieten die Meere wieder ins Lot, die klimatischen Bedingungen normalisierten sich, und neue Küstenabschnitte entstanden. Manche Abweichungen aber wirkten sich nachhaltig aus. So veränderte sich die Abfolge von Tag und Nacht, und die Anzahl der Tage im Jahr verringerte sich um zwei.

Hunderte, vermutlich tausende höherer und niederer Tierarten wurden auf der Stelle ausgelöscht. Auf dem amerikanischen Doppelkontinent starben das einhöckerige Kamel, das Mammut, ein eiszeitliches Pferd und das Riesenfaultier aus. Zudem verschwanden die Säbelzahntiger, riesige Vögel mit einer Flügelspannweite von bis zu acht Metern und viele andere große Tiere, fast alle ein Opfer von Rauchvergiftung und den vulkanischen Gasen.

Auch die Flora blieb nicht vom Untergang verschont. Die Pflanzen an Land, die nicht durch Feuersbrünste zu Asche wurden, gingen mangels Sonnenlicht ein, ebenso die Algen im Meer. Letzten Endes wurden über fünfundachtzig Prozent allen irdischen Lebens durch Überschwemmungen, Brände, Stürme, Lawinen und giftige Dämpfe vernichtet, oder sie verhungerten schließlich.

Zahllose menschliche Zivilisationsformen, viele davon durchaus hoch entwickelt, und aberhunderte aufstrebende Kulturen, die sich an der Schwelle zu einem goldenen Zeitalter befanden, wurden binnen eines schrecklichen Tages und der darauf folgenden Nacht ausgelöscht. Millionen Menschen auf Erden, Männer, Frauen und Kinder, starben einen grauenvollen Tod. Sämtliche Zeugnisse früherer Kulturen waren für immer dahin, und den wenigen erbarmungswürdigen Überlebenden blieben nichts als dunkle Erinnerungen an eine glorreiche Vergangenheit. Ein Zeitalter war versunken, in dem sich die Menschheit ununterbrochen fortentwickelt hatte, eine zehntausend Jahre währende Wegstrecke, auf der aus schlichten Jägern und Sammlern des Cromagnon Könige und Architekten, Steinmetze, Künstler und Krieger geworden waren. Ihre Werke wie auch ihre sterblichen Überreste waren in den Fluten der neu entstandenen Meere verschwunden, sodass nur mehr bruchstückhafte Überreste dieser einstigen Hochkulturen blieben. Denn ganze Städte und Staatenbünde waren binnen weniger Stunden spurlos vom Antlitz der Erde getilgt worden. Eine Katastrophe von so gewaltigen Ausmaßen war über sie hereingebrochen, dass hinterher nahezu nichts mehr von den geistigen Errungenschaften früherer Zivilisationen kündete.

Die Menschen, die das Inferno überlebt hatten, siedelten zumeist in den höheren Lagen der Gebirge, wo sie in Höhlen Unterschlupf vor den tobenden Elementen fanden. Steinzeitliche Nomaden waren sie, ganz anders als die Menschen, die sich entlang der Flussläufe und an den Küsten niedergelassen und längst die Bronze als Werkstoff entdeckt hatten. Es war, als ob die Menschheit mit einem Mal ihrer klügsten Köpfe beraubt worden wäre, ihrer Leonardos, Picassos und Einsteins, deren Erkenntnisse auf immer verloren waren, denn von nun an wurde die Welt wieder von primitiven Jägerhorden beherrscht – ganz ähnlich, wie es Jahrtausende später geschah, als nach langer Dekadenz und kreativem Stillstand das ruhmreiche Rom und mit ihm das Vermächtnis der griechischen Kultur unterging. Neusteinzeitliche Völkerscharen traten nun an die Stelle der einstigen Hochkulturen – ein düsteres Zeitalter brach an, das mindestens zweitausend Jahre währen sollte. Allmählich, ganz allmählich nur trat die Menschheit wieder aus dem Dunkel der Geschichte hervor, schwang sich zu neuen Zivilisationsformen auf und schuf in Ägypten und Mesopotamien erneut Staaten und Städte.

Eine verschwindend geringe Zahl jener begabten Baumeister und großen Denker überlebte den Untergang ihrer Kultur und konnte sich in höhere Regionen durchschlagen. Da ihnen bewusst war, dass die Errungenschaften ihrer Zivilisationen unwiederbringlich verloren waren, widmeten sie sich einer neuen Aufgabe: Im Lauf vieler Jahrhunderte errichteten sie rätselhafte Megalithdenkmäler – mächtige, aufrecht stehende Steine, Steinkreise und Hünengräber, die man in ganz Europa und Asien, auf den Inseln des Pazifischen Ozeans und im südlichen Amerika findet. Auch als die Erinnerung an ihr großes Vermächtnis längst verblasst war, als sich nur mehr Mythen um sie rankten, gemahnten ihre Monumente an die fürchterliche Verwüstung und das Massensterben und dienten künftigen Generationen zur Warnung vor der nächsten Katastrophe. Doch im Lauf des nächsten Jahrtausends vermischten sich ihre Nachkommen mit den Sprösslingen der Nomadenvölker, und das alte Brauchtum und das Wissen um eine höher entwickelte Welt gerieten in Vergessenheit.

Noch Jahrhunderte nach der großen Katastrophe wagten sich die Menschen nicht aus den Bergen herab, hatten sie eine heilige Scheu davor, im Tiefland oder gar an der Küste zu siedeln. Dass es Völker gegeben hatte, die einst die Meere befahren hatten, war nur noch eine Sage aus alter Zeit. Keiner wusste mehr, wie man Schiffe baute oder sie segelte; all dies musste von späteren Generationen neu erfunden werden, die ihre Urahnen schlichtweg als Götter verehrten.

All diese vernichtende Gewalt wurde durch einen Brocken aus dreckigem Eis ausgelöst, kaum größer als ein Dorf samt Anger. Der Komet hatte fürchterliche Verwüstungen angerichtet. So verheerend war die Erde seit dem Einschlag jenes Asteroiden nicht mehr getroffen worden, der vor fünfundsechzig Millionen Jahren das Aussterben der Dinosaurier verursacht hatte.

Noch Jahrtausende später schaute man abergläubisch zu Kometen auf, galten sie doch als Vorboten künftiger Katastrophen. Sie waren schuld an allem Elend, sei es nun Krieg, Pestilenz, Hungersnot oder Hochwasser. Bis in die Neuzeit betrachtete man Kometen – anders als den Regenbogen oder die goldglühenden Wolken beim Sonnenuntergang – nicht als Wunder der Natur.

Die Sintflut der Bibel und eine Unzahl weiterer Weltuntergangslegenden entsprangen dieser einen großen Katastrophe. Viele Überlieferungen der Hochkulturen des alten Mittelamerika, der Olmeken, Mayas und Azteken, beziehen sich darauf, dass einstmals die alte Welt jählings zu Grunde ging. Von großen Fluten, die ihre alten Jagdgründe überschwemmten, erzählten sich die Indianer Nordamerikas. Ob in China, auf den polynesischen Inseln oder in Afrika, überall ist von einem großen Unheil die Rede, das einstmals über die Vorfahren hereinbrach.

Eine Legende indes, die den Lauf der Jahrhunderte überdauerte, handelte von einer Welt, die ebenso geheimnisumwoben wie faszinierend war – einem untergegangenen Kontinent namens Atlantis.

Das Geisterschiff

30. September 1858

Stefansson Bay, Antarktis

Wenn sie stehen blieb, würde sie sterben, das war Roxanna Mender klar. Sie war völlig erschöpft und bewegte sich nur mehr mit schierer Willenskraft weiter. Die Temperatur lag deutlich unter null, aber es war vor allem der eisige Sturmwind, der wie mit frostigen Zähnen in ihre Haut biss. Allmählich befiel sie eine tiefe Benommenheit und raubte ihr den Lebenswillen. Sie marschierte weiter, setzte einen Fuß vor den anderen, stolperte ab und zu, wenn sie durch einen jähen Spalt auf dem Eisfeld aus dem Gleichgewicht geriet. Ihr Atem ging rasch und keuchend, wie bei einem Bergsteiger, der sich ohne Sauerstoffgerät zum Gipfel eines Achttausenders emporkämpft.

Sie konnte so gut wie nichts sehen, da ihr der Wind winzige Eiskristalle entgegenfegte und ihr Gesicht durch einen dicken Wollschal geschützt war, den sie sich unter ihrem pelzgefütterten Parka um den Kopf geschlungen hatte. Obwohl sie nur ab und zu zwischen dem Schal hindurchblinzelte, waren ihre Augen wund und gerötet vom ständigen Hagel der kleinen Körner. Roxanna packte die Verzweiflung, als sie aufblickte und den strahlend blauen Himmel und die gleißende Sonne über dem Sturm sah. Blendende Eisstürme bei klarem Himmel waren in der Antarktis nichts Ungewöhnliches.

Am Südpol fällt nur selten Schnee. Es ist so unglaublich kalt, dass die Luft kaum Kondenswasser enthält, und daher kommt es nur zu geringen Niederschlägen. Im Laufe eines Jahres fallen auf dem ganzen Kontinent nicht mehr als fünfzehn Zentimeter. Tatsächlich ist der Schnee, der dort liegt, teilweise bereits etliche tausend Jahre alt. Das grelle Sonnenlicht fällt schräg auf die weißen Eisflächen und wird umgehend wieder reflektiert, was zu den extrem niedrigen Temperaturen erheblich beiträgt.

Roxanna hatte Glück. Die Kälte drang nicht durch ihre Kleidung. Statt der üblichen europäischen Winterkluft trug sie die Sachen, die ihr Mann bei seinen Walfangexpeditionen von den Eskimos in der Arktis erstanden hatte. Die Unterkleidung bestand aus einer Hemdbluse, einer kurzen, bis zu den Knien reichenden Hose und aus weichem Fell gefertigten Füßlingen, die sich wie Socken an die Haut schmiegten. Vor den extremen Außentemperaturen schützte sie ein Parka, der weit geschnitten war, damit die Körperwärme gut zirkulieren konnte, ohne dass man ins Schwitzen geriet. Er war aus dem Fell wilder Schneewölfe gemacht, die dazugehörige Hose aus der Decke eines Karibus. Über den Füßlingen trug sie kniehohe, pelzgefütterte Stiefel.

Gefährlich konnte ihr vor allem der unebene Boden werden, denn wenn sie sich einen Knöchel vertrat oder das Bein brach, war sie verloren. Und selbst wenn sie irgendwie überleben sollte, konnte sie nur allzu leicht Erfrierungen davontragen. Am Körper war sie gut geschützt, doch um ihr Gesicht machte sie sich Sorgen. Beim geringsten Kribbeln an Nase oder Wangen rieb und rubbelte sie, damit die Partie wieder gut durchblutet wurde. Sie hatte miterlebt, wie sechs Seeleute aus der Besatzung ihres Mannes Erfrierungen erlitten hatten – zwei hatten dabei mehrere Zehen eingebüßt, einer die Ohren.

Gottlob ließ der eisige Wind nach. Der Sturm flaute ab, und sie kam nun leichter voran als in der ganzen letzten Stunde, in der sie ohne jede Orientierung immer weiter marschiert war. Der Wind heulte ihr nicht mehr um die Ohren, sodass sie jetzt hören konnte, wie die Eisdecke unter ihren Füßen knirschte.

Sie stieß auf eine Bodenerhebung, einen kleinen Hügel, allenfalls vier, fünf Meter hoch, der durch das ewig mahlende Packeis entstanden war, aufgetürmt aus geborstenen Schollen, die sich übereinander geschoben hatten. Zumeist waren diese Hügel schartig und ausgezackt, doch den hier hatten der Wind und das Wetter abgeschmirgelt. Auf allen vieren kletterte sie nach oben, krallte sich im blanken Eis fest, rutschte wieder ab und zog sich dennoch Meter um Meter hoch.

Roxanna musste ihre letzten Kräfte aufbieten. Sie wusste hinterher nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, doch sie schleppte sich bis zur Kuppe hinauf, zu Tode erschöpft, mühsam um Atem ringend und mit hämmerndem Herz. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie da oben lag, aber sie war dankbar darum, dass ihr der Wind nicht mehr fortwährend Eiskristalle in die Augen trieb. Nach ein paar Minuten, als ihr Puls wieder langsamer ging und ihr Atem ruhiger, verwünschte sich Roxanna, weil sie sich aus lauter Leichtsinn selbst in Not gebracht hatte. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Eine Uhr hatte sie nicht dabei, daher wusste sie nicht, wie viele Stunden schon vergangen waren, seit sie die Paloverde, das Walfangschiff ihres Mannes verlassen hatte.

Nahezu sechs Monate war es jetzt her, seit das Schiff im Packeis eingeschlossen worden war, und um der Langeweile an Bord zu entrinnen, brach sie jeden Tag zu Erkundungsmärschen in die nähere Umgebung auf, immer in Sichtweite des Schiffes und seiner Besatzung, die sie im Auge behielt. Der Himmel war kristallklar gewesen, als sie an diesem Morgen losgezogen war, doch bald darauf hatte er sich verdunkelt und hinter den Eiswolken verborgen, die der Wind vor sich her peitschte. Ehe Roxanna sich versah, war das Schiff verschwunden, und seither irrte sie über das endlose Packeis.

An Bord eines Walfangschiffes gab es normalerweise keine Frauen. Aber manchmal hatten die Frauen keine Lust, allein zu Hause zu sitzen, während der Herr Gemahl drei, vier Jahre lang unterwegs war. Roxanna Mender jedenfalls stand der Sinn nicht nach endlosen einsamen Stunden. Sie war eine zähe Person, wenngleich zierlich, brachte sie doch allenfalls fünfzig Kilogramm auf die Waage und war nur einen Meter fünfzig groß. Sie war hübsch anzuschauen mit ihren hellbraunen Augen, sie lächelte gern, und außerdem klagte sie so gut wie nie über das mühselige und ewig gleichförmige Leben an Bord, und seekrank wurde sie auch nicht. In ihrer engen Kabine hatte sie bereits einen Sohn zur Welt gebracht, den sie auf den Namen Samuel getauft hatte. Und jetzt war sie wieder schwanger, im zweiten Monat schon, auch wenn sie ihrem Mann bislang nichts davon verraten hatte. Sie war mittlerweile von der Besatzung anerkannt, hatte etlichen Männern an Bord das Lesen beigebracht, für andere Briefe verfasst, die sie nach Hause, an ihre Frauen und Angehörigen schicken wollten, und sie war fürsorglich eingesprungen, wenn jemand verletzt oder krank geworden war.

Die Paloverde gehörte zu einer Flotte von Walfangschiffen, die von San Francisco an der Westküste der Vereinigten Staaten aus in See stachen. Sie war ein robustes Schiff, eigens gebaut für den Walfang in polaren Gewässern. Bei einer Länge von vierzig Metern, einer Breite von neun Metern und einem Tiefgang von fünf Metern hatte sie eine Tonnage von annähernd dreihundertdreißig Bruttoregistertonnen. Auf Grund ihrer Ausmaße konnte sie große Mengen Walfischtran zuladen und verfügte über genügend Quartiere für eine vielköpfige Besatzung, Offiziere wie Mannschaften, die mit ihr auf Fahrt gingen, mitunter bis zu drei Jahre lang. Der Kiel wie auch die Spanten und Decksbalken bestanden aus Kiefernholz aus den Bergwäldern der Sierra Nevada. Die drei Zoll starken Planken waren mittels langer, für gewöhnlich aus Eiche gefertigter Holznägel befestigt.

Sie war eine Dreimastbark mit schmucker Takelage, stabil und schnittig zugleich. Die Kajüten waren tadellos eingerichtet und mit dem Holz der Washingtonfichte getäfelt. Besonders gut war die Kajüte des Kapitäns ausgestattet, da dessen Frau ihn unbedingt auf großer Fahrt begleiten wollte. Den Bug zierte ein kunstvoll geschnitztes Abbild des im Südwesten der USA heimischen Paloverde- oder Grünholzbaums. Quer über dem Heck prangte in erhabenen, vergoldeten Lettern der Name des Schiffes. Ein ebenfalls aus Holz geschnitzter kalifornischer Kondor breitete darüber die Schwingen aus.

Statt nach Norden durch das Beringmeer zu fahren und die bekannten Walfanggründe in den arktischen Gewässern anzulaufen, hatte Roxannas Mann, Kapitän Bradford Mender, die Paloverde gen Süden, in die Antarktis gesteuert. Da die verwegenen Walfänger, die von den Häfen Neuenglands aus in See stachen, dieses Gebiet nur selten aufsuchten, meinte er, dort sein Glück machen und noch jungfräuliche Fanggründe entdecken zu können.

Kurz nachdem sie den südlichen Polarkreis erreicht hatten, wo sie sich oftmals zwischen Eisbergen hindurchtasten mussten, hatte die Besatzung im offenen Meer vor der Küste sechs Wale erlegt. In der letzten Märzwoche dann, als der antarktische Herbst anbrach, war das Meer unglaublich rasch zugefroren: Eine gut anderthalb Meter dicke Eisdecke hatte sich gebildet. Dennoch hätte die Paloverde entrinnen und sich in freies Fahrwasser durchschlagen können, doch plötzlich war der Wind umgeschlagen und zu einem heulenden Sturm angeschwollen, der das Schiff wieder an die Küste zurückfegte. Als jeder Fluchtweg versperrt war und Eisblöcke, so groß wie das ganze Schiff, auf sie zutrieben, konnte die Besatzung nur mehr hilflos zusehen, wie die Falle zuschnappte.

Binnen kürzester Zeit war das Schiff von Eis umschlossen, das es mit gewaltiger Kraft unerbittlich immer weiter auf das Land zuschob. Auch dort fror das freie Fahrwasser mittlerweile rasch zu. Mender und seine Männer kämpften verzweifelt, und schließlich schafften sie es, das Schiff in sechs Faden tiefem Wasser knapp zwei Meilen vor der Küste zu verankern. Aber innerhalb weniger Stunden saß das Schiff im Eis fest, das fortwährend dicker wurde, bis weit und breit kein Wasser mehr zu sehen war. Der antarktische Winter war angebrochen, und die Tage wurden zusehends kürzer. Jetzt gab es kein Entrinnen mehr, bis wieder mildere Witterungsbedingungen einkehrten, und bis dahin waren es noch gut und gerne sieben Monate.

Die Segel wurden getrocknet, eingeholt und verstaut, damit man sie im Frühling wieder aufziehen konnte, wenn es, so Gott wollte, wärmer wurde und sie aus dem Packeis freikamen. Nun, da ihnen ein langer, unfreiwilliger Aufenthalt bevorstand, galt es, eine Bestandsaufnahme sämtlicher Lebensmittel vorzunehmen und sie sorgfältig einzuteilen, damit sie die langen Wintermonate überstanden. Ob der Proviant an Bord bis zum Frühjahr ausreichte, wenn das Eis wieder schmolz, vermochte niemand zu sagen. Andererseits hatten die Männer, nachdem sie Löcher ins Eis gehackt und ihre mit blanken Haken bestückten Angelschnüre ausgelegt hatten, unverhofft viele antarktische Fische gefangen, die allesamt in der Vorratskammer an Deck eingefroren worden waren. Außerdem wimmelte es von Pinguinen. Drüben an der Küste tummelten sich Millionen dieser komischen Vögel. Allerdings schmeckten sie einfach widerlich, da konnte sich der Smutje noch so viel Mühe bei der Zubereitung geben.

Die schreckliche Kälte und plötzliche Verschiebungen des Packeises waren es vor allem, die dem Walfangschiff und seiner Besatzung gefährlich werden konnten. Erfrieren mussten sie nicht, da sie den Tran der Walfische verbrennen konnten, die sie harpuniert hatten, ehe sie vom Eis eingeschlossen worden waren. Sie hatten über hundert Fässer voll im Frachtraum stehen – damit sollten sich die Öfen anstandslos den ganzen antarktischen Winter hindurch beheizen lassen.

Und das Packeis hatte sich bisher kaum verworfen. Aber Mender wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es in Bewegung geriet und sich übereinander schichtete, bis die Paloverde von wandernden Eisbergen umgeben war, die jederzeit ihren Rumpf eindrücken konnten, als wäre er aus Papier. Er mochte gar nicht daran denken, dass seine Frau und das Kind sich womöglich an Land durchschlagen mussten, bis sie im Sommer vielleicht ein anderes Schiff sichteten. Und ob überhaupt eines kam, war mehr als fraglich.

Zudem drohten ihnen allerhand tödliche Krankheiten. Bei sieben Männern waren bereits erste Anzeichen von Skorbut festgestellt worden. Das einzig Angenehme war, dass die Ratten und sämtliches andere Ungeziefer vor lauter Kälte längst umgekommen waren. Doch in der Einsamkeit der langen antarktischen Nacht, während der Wind um das Schiff heulte, wurden die Männer zusehends teilnahmsloser. Mender ließ sich immer neue Aufgaben für seine Besatzung einfallen, hielt sie ständig auf Trab, damit sie geistig wie körperlich fortwährend gefordert wurden.

Mender saß in seiner Kajüte und rechnete gerade ein weiteres Mal durch, wie es um ihre Überlebenschancen bestellt war. Aber wie er es auch drehte und wendete, letztlich lief es immer auf das Gleiche hinaus: Die Aussichten, dass sie im Frühjahr unbeschadet aus dem Eis freikamen und wieder in offenes Fahrwasser fanden, waren verschwindend gering.

Der eisige Sturm hatte ebenso unverhofft aufgehört, wie er eingesetzt hatte, und die Sonne schien wieder. Roxanna sah ihren Schatten, als sie mit zusammengekniffenen Augen über das gleißende Packeis hinwegblickte. Wie angenehm, dass sie in der endlosen Leere ringsum wenigstens ihren Schatten sah. Doch dann stockte ihr das Herz, als sie den Horizont absuchte und die Paloverde in gut zweieinhalb Kilometern Entfernung entdeckte. Der dunkle Rumpf war nahezu vom Eis verborgen, aber sie konnte die riesige amerikanische Flagge erkennen, die im abflauenden Wind wehte, und ihr wurde klar, dass ihr besorgter Mann sie eigens hoch oben am Hauptmast hatte hissen lassen, um ihr einen Anhaltspunkt zu geben. Sie konnte kaum glauben, dass sie so weit vom Weg abgekommen war. In ihrer Benommenheit hatte sie gemeint, sie wäre wenigstens halbwegs in der Nähe des Schiffes geblieben, während sie im Kreis gelaufen war.

Das Packeis war gar nicht so einsam und verlassen, wie sie gedacht hatte. Roxanna bemerkte winzige Punkte, die sich darauf fortbewegten, und ihr wurde klar, dass es sich um ihren Mann und seine Besatzungsmitglieder handelte, die nach ihr suchten. Sie wollte sich gerade recken und ihnen zuwinken, als ihr plötzlich etwas auffiel, mit dem sie zuallerletzt gerechnet hatte – die Masten eines anderen Schiffes, die zwischen zwei riesigen Eisbergen aufragten, übereinander getürmten Schollen, die zusammengefroren und gestrandet waren.

Die drei Masten, der Bugspriet und die Takelage waren allem Anschein nach unbeschädigt, die Segel eingerollt. Da der Wind nunmehr zu einer leichten Brise abgeflaut war, nahm sie den Schal ab, den sie um Gesicht und Augen geschlungen hatte, und jetzt sah sie, dass der Großteil des Schiffsrumpfes im Eis festsaß. Roxannas Vater war Kapitän gewesen und hatte etliche schnelle Klipper befehligt, die im Teehandel mit China verkehrt waren, daher hatte sie als junges Mädchen tausende von Schiffen mit unterschiedlichster Takelage und Besegelung zu Gesicht bekommen, die den Hafen von Boston anliefen. Ein Schiff wie dieses eisverkrustete hier hatte sie bislang nur einmal gesehen – auf einem Gemälde, das im Haus ihres Großvaters hing.

Das gespenstische Schiff war alt, uralt, hatte ein mächtiges, abgerundetes Heck mit einer ausladenden, mit Fenstern versehenen Galerie. Es war lang, schmal und tief gebaut. Gut fünfundvierzig Meter lang und mindestens zehn Meter breit, schätzte Roxanna. Genau wie das Schiff auf dem Gemälde. Das hier musste ein achthundert Tonnen schwerer britischer Ostindienfahrer aus dem späten achtzehnten Jahrhundert sein.

Sie wandte sich von dem Schiff ab und wedelte mit ihrem Schal, um ihren Mann und die Besatzung auf sich aufmerksam zu machen. Einer nahm die Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und wies die anderen darauf hin. Im Nu kamen sie über das rissige Eis auf sie zugerannt, allen voran Kapitän Mender. Zwanzig Minuten später waren die Besatzungsmitglieder der Paloverde bei ihr und freuten sich lauthals darüber, dass sie noch am Leben war.

Mender, normalerweise ein ruhiger, zurückhaltender Mensch, zeigte sich ungewöhnlich bewegt, als er Roxanna in die Arme schloss und sie lange und liebevoll küsste. An seinen Wangen hingen gefrorene Tränen. »O mein Gott! «, murmelte er. »Ich dachte, du wärst tot. Es ist das reinste Wunder, dass du überlebt hast.«

Bradford Mender, bereits mit achtundzwanzig Kapitän eines Walfängers geworden, war sechsunddreißig Jahre alt und befand sich auf seiner zehnten großen Fahrt, als sein Schiff im Eis der Antarktis eingeschlossen wurde. Er war ein kerniger, pfiffiger Neuengländer, eins zweiundachtzig groß und breit gebaut, der zwei Zentner auf die Waage brachte. Seine Augen waren stechend blau, die Haare schwarz, außerdem trug er einen Vollbart. Er war streng, aber gerecht, hatte keinerlei Mühe mit den Offizieren oder der Besatzung, und wenn es einmal Misshelligkeiten gab, konnte er sie auf seine ehrliche Art umgehend beilegen. Mender war ein erstklassiger Walfänger und Navigator, aber auch ein ausgefuchster Geschäftsmann, der nicht nur Kapitän, sondern auch Eigner seines Schiffes war.

»Wenn du nicht darauf bestanden hättest, dass ich die Eskimosachen anziehe, die du mir geschenkt hast, wäre ich schon längst erfroren.«

Er ließ sie los und wandte sich an die sechs Besatzungsmitglieder, die sie umringten, und sich darüber freuten, dass die Frau des Kapitäns noch am Leben war. »Wir sollten Mrs. Mender schleunigst zurück zum Schiff bringen und ihr eine heiße Suppe einflößen.«

»Nein, noch nicht«, sagte sie, fasste ihn am Arm und deutete über das Eis. »Ich habe ein anderes Schiff entdeckt.«

Alle Mann drehten sich um und blickten in die Richtung, in die ihr ausgestreckter Arm wies.

»Ein Engländer. Ich kenne den Schiffstyp von einem Gemälde her, das im Salon meines Großvaters in Boston hing. Es sieht aus wie ein Wrack.«

Mender starrte auf das Schiff, das unter seinem Eispanzer weiß wie eine Geistererscheinung wirkte. »Ich glaube, du hast Recht. Es sieht aus wie ein alter Handelsfahrer aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts.«

»Ich schlage vor, dass wir uns die Sache näher ansehen, Käpt’n«, sagte Nathan Bigelow, der erste Maat der Paloverde. »Womöglich hat sie noch Proviant an Bord, mit dem wir bis zum Frühjahr überleben können.«

»Der wäre dann gut und gern achtzig Jahre alt«, erwiderte Mender bedächtig.

»Aber durch die Kälte konserviert«, erinnerte ihn Roxanna.

Er schaute sie zärtlich an. »Du hast Schweres durchgemacht, liebe Frau. Ich lasse dich von einem der Männer zurück zur Paloverde bringen.«

»Nein, mein Lieber«, versetzte Roxanna entschieden. Ihre Müdigkeit war verflogen. »Ich bin fest entschlossen zu betrachten, was es da zu sehen gibt.« Ehe der Kapitän einen Einwand erheben konnte, zog sie los und marschierte über das abschüssige Packeis hinab zu dem verlassenen Schiff.

Mender schaute seine Männer an und zuckte die Achseln. »Gott bewahre mich vor einem Wortgefecht mit einem neugierigen Weib.«

»Ein Geisterschiff«, murmelte Bigelow. »Ein Jammer, dass es im Eis festsitzt, sonst könnten wir’s heimbringen und Bergungsrecht geltend machen.«

»Viel zu alt«, sagte Mender. »Das ist nicht mehr viel wert.«

»Was steht ihr denn in der Kälte herum und schwatzt dummes Zeug?«, rief Roxanna, die sich umgewandt hatte und den Männern ungeduldig zuwinkte. »Sputen wir uns, bevor der nächste Sturm aufkommt.«

So schnell wie möglich marschierten sie über das Eis, bis sie zu dem einsamen Schiff kamen, an dessen Rumpf sich die Schollen aufgetürmt hatten, sodass sie mühelos zum Schanzkleid emporklettern und über die Bordwand steigen konnten. Schließlich standen sie auf dem Achterdeck, das von einer dünnen Eisschicht überzogen war.

Mender starrte auf den trostlosen Anblick und schüttelte verwirrt den Kopf. »Erstaunlich, dass der Rumpf nicht vom Eis zermalmt wurde.«

»Hätte nie gedacht, dass ich mal auf dem Achterdeck eines englischen Ostindienfahrers stehe«, stieß einer der Männer aus und blickte sich bang um. »Einem Schiff, das gebaut worden ist, als mein Großvater noch gar nicht auf der Welt war.«

»Ein stattliches Schiff«, sagte Mender. »Etwa neunhundert Bruttoregistertonnen, würde ich schätzen. Fünfundvierzig Meter lang, zwölf Meter breit.«

Der Ostindienfahrer, auf einer Werft an der Themse auf Kiel gelegt und ausgerüstet, war das Arbeitspferd der britischen Handelsmarine, ein Schiff, das zweierlei Zwecke zu erfüllen hatte. In erster Linie war er ein Frachter, aber da es seinerzeit noch zahlreiche Piraten und Freibeuter gab, die im Auftrag von Englands Feinden die Meere unsicher machten, war er zudem mit achtundzwanzig Achtzehnpfünderkanonen bestückt. Zudem verfügte er über Passagierkabinen, da er neben Waren und Handelsgütern auch Personen beförderte. An Deck herrschte Ordnung, alles war da, wo es hingehörte, wenn auch in Eis gehüllt, so als wartete das Schiff auf eine längst verblichene Besatzung. Die Kanonen standen an den Stückpforten, die Rettungsboote waren auf den Ersatzspieren vertäut, sämtliche Luken ordentlich gesichert.

Das alte Schiff hatte etwas Unheimliches und erschreckend Befremdliches an sich, eine eigenartig unwirkliche Trostlosigkeit. Die an Deck stehenden Besatzungsmitglieder wurden von einer unerklärlichen Angst gepackt, dass irgendwo eine fahle, grausige Kreatur ihrer harrte. Seeleute sind abergläubisch, und mit Ausnahme von Roxanna, die von einer beinahe mädchenhaften Begeisterung erfasst war, empfanden sie alle eine düstere Vorahnung.

»Seltsam«, sagte Bigelow. »Es sieht so aus, als hätte die Besatzung das Schiff verlassen, bevor es im Eis stecken geblieben ist.«

»Das bezweifle ich«, erwiderte Mender grimmig. »Die Rettungsboote sind noch vertäut.«

»Gott allein weiß, was wir unter Deck vorfinden.«

»Dann schauen wir doch nach«, rief Roxanna aufgeregt.

»Du nicht, meine Liebe. Ich glaube, es ist besser, wenn du hier bleibst.«

Sie warf ihrem Mann einen stolzen Blick zu und schüttelte langsam den Kopf. »Ich bleibe nicht allein und warte auf die Gespenster, die hier umgehen.«

»Wenn es hier Gespenster gibt«, versetzte Bigelow, »sind sie längst stocksteif gefroren.«

Mender erteilte seinen Männern die entsprechenden Befehle. »Wir teilen uns in zwei Gruppen auf. Mr. Bigelow, Sie nehmen sich drei Mann und schauen in den Mannschaftsunterkünften und im Frachtraum nach. Wir andern gehen nach achtern und durchsuchen die Passagierkabinen und die Offiziersquartiere.«

Bigelow nickte. »Aye, Käpt’n.«

Ein Berg aus Schnee und Eis hatte sich rund um die Tür aufgetürmt, die zu den Heckkajüten führte, daher stiegen Mender, Roxanna und die übrigen Männer auf das Poopdeck, wo sie ihre ganze Kraft aufwenden mussten, um die festgefrorene Luke über dem Niedergang anzuheben. Sie legten sie beiseite und stiegen vorsichtig die Treppe hinab. Roxanna ging unmittelbar hinter Mender und hielt sich am Gürtel seines schweren Mantels fest. Ihr normalerweise bleiches Gesicht war vor Aufregung und Anspannung gerötet.

Sie ahnte nicht, welcher Albtraum sie dort unten erwartete.

An der Tür zur Kapitänskajüte stießen sie auf einen riesigen deutschen Schäferhund, der zusammengerollt auf einem Läufer lag. Roxanna kam es so vor, als schliefe der Hund, doch der dumpfe Ton, den er von sich gab, als Mender ihn mit der Stiefelspitze anstieß, verriet ihnen, dass er steif gefroren war.

»Buchstäblich hart wie Stein«, sagte Mender.

»Armer Kerl«, murmelte Roxanna betroffen.

Mender deutete mit dem Kopf zu der verschlossenen Tür am hinteren Ende des Gangs. »Die Kapitänskajüte. Mir graut beim bloßen Gedanken daran, was wir dort vorfinden.«

»Womöglich gar nichts«, sagte einer der Männer beklommen. »Vermutlich haben alle das Schiff verlassen und sind die Küste entlang nach Norden gezogen.«

Roxanna schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand ein so herrliches Tier seinem Schicksal überlässt.«

Die Männer drückten die Tür zur Kapitänskajüte auf und traten ein, mitten hinein in das Grauen. Eine Frau, gekleidet nach der Mode des späten achtzehnten Jahrhunderts, saß auf einem Stuhl und starrte mit weit aufgerissenen dunklen Augen in tiefer Trauer auf ein Kleinkind, das in seiner Wiege lag. Sie war allem Anschein nach erfroren, während sie sich noch darüber grämte, dass sie ihre Tochter verloren hatte. Sie hatte eine offene Bibel auf dem Schoß, die bei den Psalmen aufgeschlagen war.

Roxanna und die Männer von der Paloverde waren von dem Anblick wie benommen. Ihre Begeisterung war mit einem Mal verflogen, ihre Entdeckungslust tiefem Schmerz gewichen. Schweigend standen sie und die anderen da und wagten kaum zu atmen, als sie sahen, wie ihre Hauchschwaden durch die eisige Gruft trieben.

Mender drehte sich um und ging in eine angrenzende Kajüte, wo er den Kapitän des Schiffes und vermutlichen Ehemann der toten Frau fand. Zusammengesunken saß er an seinem Schreibtisch, die roten Haare von einer Eisschicht überzogen, das Gesicht totenbleich. In der einen Hand hielt er noch den Federkiel. Ein Blatt Papier lag vor ihm. Mender wischte den Reif weg und las, was dort stand.

26. AUGUST 1779

Fünf Monate ist es nun her, seit wir an diesem verfluchten Gestade gefangen wurden, nachdem uns der Sturm weitab vom Kurs gen Süden getrieben hatte. Keine Verpflegung mehr. Seit zehn Tagen hat niemand mehr gegessen. Der Großteil der Besatzung und die Mehrzahl der Passagiere sind tot. Gestern ist meine kleine Tochter gestorben, vor einer Stunde mein armes Weib. Wer immer unsere Leichen finden mag, möge die Direktoren der Skylar Croft Trading Company in Liverpool von unserem Geschick verständigen. Es geht zu Ende. Bald werde ich wieder mit meinem geliebten Weib und meiner Tochter vereint sein.

Leigh Hunt.

Kapitän der Madras

Das in Leder gebundene Logbuch der Madras lag neben Kapitän Hunt auf dem Schreibtisch. Mender löste es vorsichtig von der Eisschicht, in der es an der Holzplatte festgefroren war, und steckte es in die Tasche seines schweren Mantels. Dann verließ er die Kabine und schloss die Tür.

»Was hast du gefunden?«, fragte Roxanna.

»Den Leichnam des Kapitäns.«

»Es ist alles so schrecklich.«

»Vermutlich kriegen wir noch viel Schlimmeres zu sehen.«

Seine Worte sollten sich bewahrheiten. Sie teilten sich auf und durchsuchten eine Kajüte nach der anderen. Die Unterkünfte für die gut betuchten Passagiere befanden sich in der Heckgalerie, einem weitläufigen, nach achtern mit Fenstern versehenen Raum unmittelbar unter dem Poopdeck, der in Kabinen unterschiedlicher Größe aufgeteilt war. Seinerzeit buchten die Passagiere nur das Quartier, ausstatten mussten sie ihre Kabinen selbst. Sie mussten auch dafür sorgen, dass die Sofas, Betten und Sessel, die sie an Bord schaffen ließen, fest verankert waren, falls das Schiff in schwere See geriet. Wohlhabende Passagiere nahmen häufig ihre Privatmöbel mit, Sekretäre, Bücherschränke und Musikinstrumente, einschließlich Klavier und Harfe. Hier fand der Suchtrupp nahezu dreißig im Tode erstarrte Leichen. Manche saßen aufrecht, einige lagen im Bett, andere lang hingestreckt auf dem Boden. Alle sahen so aus, als wären sie friedlich entschlafen.

Roxanna war ganz verstört beim Anblick der offenen Augen bei diesem oder jenem. Die farbige Iris schien förmlich zu funkeln, was durch die totenbleichen Züge noch unterstrichen wurde. Sie zuckte zusammen, als einer der Matrosen der Paloverde den Arm ausstreckte und einer der Frauen über die Haare strich. Knisternd brachen die gefrorenen Locken unter der Hand des Mannes ab.

In der großen Kajüte unterhalb der eleganten Kabinen im Oberdeck sah es aus wie in einer Leichenhalle nach einer Katastrophe. Mender sah zahllose Tote, Männer zumeist, darunter viele britische Armeeoffiziere in Uniform. Weiter vorn befand sich das Zwischendeck, das ebenfalls voller steif gefrorener Leichen war, alle in den Hängematten liegend, die sie über den Schiffsvorräten und dem Gepäck aufgespannt hatten.

Die Menschen an Bord der Madras waren friedlich entschlafen. Es gab keinerlei Anzeichen, die auf einen Aufruhr hindeuteten. Nichts lag durcheinander. Sämtliche Gegenstände und Besitztümer waren ordentlich verstaut. Wenn da nicht Kapitän Hunts letzte Worte gewesen wäre, hätte man meinen können, die Zeit sei einfach stehen geblieben und sie seien friedlich aus dem Leben geschieden. Was Roxanna und Mender vor sich sahen, war weder abstoßend noch schrecklich, sondern kündete lediglich von einem unfassbaren Unglück. Diese Menschen waren seit neunundsiebzig Jahren tot und von aller Welt vergessen. Selbst jene, die sich über ihr Verschwinden gewundert und um sie getrauert hatten, waren längst verstorben.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Roxanna. »Woran sind die alle gestorben?«

»Diejenigen, die nicht verhungert sind, sind erfroren«, antwortete ihr Mann.

»Aber sie hätten doch trotz des Eises Fische fangen können, genau wie wir, oder Pinguine erlegen und Teile des Schiffes verheizen, damit sie es warm haben.«

»Die letzten Worte des Kapitäns deuten darauf hin, dass sein Schiff weitab vom Kurs nach Süden geriet. Meiner Meinung nach waren sie weiter von der Küste entfernt als wir, als sie vom Eis eingeschlossen wurden. Vermutlich glaubte der Kapitän, dass sie zu guter Letzt wieder freikommen würden, und hielt sich aus Angst vor einem Brandunglück an die gute alte Seemannsregel, wonach offenes Feuer an Bord verboten ist, bis es schließlich zu spät war.«

»Und so ist einer nach dem anderen gestorben.«

»Als dann der Frühling anbrach und das Eis schmolz, wurden sie nicht etwa von der Strömung in den Südpazifik getrieben, sondern von widrigen Winden an die Küste geworfen, wo das Wrack seither liegt.«

»Ich glaube, Sie haben Recht, Käpt’n«, sagte Bigelow, der Erste Maat, der vom vorderen Teil des Schiffes nahte. »Der Kleidung nach zu urteilen, waren die armen Teufel nicht auf eine lange Reise vorbereitet, die sie in eisige Gewässer führt. Die Sachen, die sie tragen, scheinen mir eher für tropische Breiten geeignet. Wahrscheinlich waren sie von Indien nach England unterwegs.«

»Was für ein Jammer«, stieß Roxanna aus, »dass nichts und niemand diese unglückseligen Menschen retten konnte.«

»Nur der Herrgott«, murmelte Mender, »nur Gott allein.« Er wandte sich an Bigelow. »Was für eine Fracht hatten sie geladen?«

»Keinerlei Gold oder Silber, soweit ich feststellen konnte, hauptsächlich Tee, chinesisches Porzellan in fest verpackten Holzkisten und Seidenballen, dazu Rattan, Gewürze und Kampfer. Ach ja, und außerdem habe ich unmittelbar unter der Kapitänskajüte einen kleinen, mit schweren Ketten verriegelten Stauraum entdeckt.«

»Haben Sie ihn durchsucht?«, fragte Mender.

Bigelow schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Ich hielt es nur für recht und billig, dass Sie dabei sind. Meine Männer machen sich noch an den Ketten zu schaffen.«

»Vielleicht enthält der Raum einen Schatz«, rief Roxanna, deren Wangen wieder einen Hauch Farbe bekamen.

»Das werden wir bald herausfinden.« Mender nickte Bigelow zu. »Mr. Bigelow, würden Sie uns bitte den Weg weisen?«

Der Erste Maat führte sie die Leiter hinab ins hintere Zwischendeck. Der Stauraum befand sich gegenüber einer Kanone, die vor der zugefrorenen Stückpforte stand. Zwei Männer von der Paloverde bearbeiteten gerade das schwere Vorhängeschloss, mit dem die an der Tür befestigten Ketten gesichert waren. Mit einem Meißel und einem Vorschlaghammer bewehrt, die sie in der Werkstatt des Schiffszimmermanns gefunden hatten, hämmerten sie wie wild auf den Schäkel ein, bis das Schloss aufsprang. Dann schoben sie den schweren Riegel zurück und stießen die Tür nach innen auf.

Durch eine schmale Pforte in der Bordwand fiel gedämpftes Licht in den Raum. Holzkisten waren von Wand zu Wand gestapelt. Mender begab sich zu einer großen Kiste und hob mühelos den Deckel auf der einen Seite an. Allem Anschein nach war der Inhalt planlos und in aller Eile verstaut worden.

»Diese Kisten wurden nicht fachmännisch gepackt und von Händlern im Hafen an Bord gebracht«, sagte er leise. »Sieht so aus, als ob sie von der Besatzung während der Fahrt hastig zusammengezimmert und vom Kapitän unter Verschluss gehalten wurden.«

»Steh doch nicht da herum, lieber Mann«, versetzte Roxanna, die ihre Neugier kaum bezähmen konnte. »Öffne sie.«

Während die übrigen Mitglieder der Besatzung draußen vor dem Stauraum warteten, stemmten Mender und Bigelow die Holzkisten auf. Niemand nahm die bittere Kälte wahr. Sie waren wie gebannt, erwarteten einen großen Schatz, Gold und Edelsteine. Doch ihre Hoffnung zerstob im Nu, als Mender einen Gegenstand aus dem Innern einer Kiste hochhob.

»Ein Kupfergefäß«, sagte er und reichte es Roxanna, die es draußen im Zwischendeck ans Licht hielt. »Herrlich gearbeitet. Griechisch oder römisch, sofern ich das beurteilen kann.«

Bigelow entnahm der Kiste weitere Gegenstände und reichte sie durch die offene Tür nach draußen. Zum größten Teil handelte es sich um seltsam aussehende Tierfiguren aus Kupfer mit Augen aus Opal. »Sie sind wunderschön«, flüsterte Roxanna, während sie die kunstvollen Formen und Muster bewunderte. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Sie sehen ungewöhnlich aus«, pflichtete Mender ihr bei.

»Ob die wohl etwas wert sind?«, fragte Bigelow.

»Für einen Sammler, einen Kunsthändler oder ein Museum womöglich schon«, antwortete Mender. »Aber ich bezweifle sehr, dass einer von uns dadurch reich wird …« Er stockte, als er einen lebensgroßen menschlichen Schädel hochhielt, der im Zwielicht schwarz glänzte. »Lieber Gott, schaut euch das an.«

»Gruselig«, versetzte Bigelow.

»Sieht aus, als hätte ihn der Teufel persönlich gemeißelt«, murmelte eins der Besatzungsmitglieder erschrocken.

Völlig ungerührt hielt ihn Roxanna hoch und musterte die leeren Augenhöhlen. »Allem Anschein nach aus Glas, aber schwarz wie Ebenholz. Schaut euch den Drachen an, der zwischen den Zähnen hervorkommt.«

»Meiner Ansicht nach Obsidian«, stellte Mender fest, »aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wie er herausgearbeitet wurde …« Mender wurde durch ein lautes Knacken unterbrochen, als das Eis rings um das Heck aufgeworfen wurde und barst.

Ein Besatzungsmitglied kam lauthals schreiend den Niedergang vom Oberdeck heruntergestürmt. »Wir müssen schnell weg, Kapitän! Im Eis ist ein breiter Riss entstanden, durch den bereits das Wasser quillt. Wenn wir uns nicht beeilen, sitzen wir hier fest!«

Mender verlor keine Zeit mit überflüssigen Fragen. »Geht zurück zum Schiff!«, befahl er. »Schnell!«

Roxanna schlug den Schädel in ihren Schal ein und klemmte ihn sich unter den Arm.

»Wir können nichts mitnehmen«, herrschte Mender sie an. Doch sie kümmerte sich nicht darum und weigerte sich den Schädel wieder herzugeben.

Die Männer schoben Roxanna vor sich her, hasteten die Leiter hinauf zum Oberdeck und kletterten hinab aufs Eis. Voller Entsetzen stellten sie fest, dass die eben noch so feste Eisfläche ringsum aufgebrochen und mit Tümpeln und Pfuhlen übersät war. Immer breiter wurden die Risse, durch die das Seewasser nach oben drängte und Ströme bildete, die sich zwischen den Schollen hindurchwanden. Keiner von ihnen hatte geahnt, dass das Packeis so schnell abschmelzen konnte.

Ein ums andere Mal mussten sie mächtigen Eisblöcken ausweichen, Schollen, die mehr als zehn Meter hoch übereinander getürmt waren, und über Risse hinweg springen, bevor sie allzu breit wurden, aber Roxanna und die übrigen Mitglieder der Besatzung rannten, als wären sämtliche Scheitane der Hölle hinter ihnen her. Grässlich klang ihnen das Knacken und Grollen der aneinander mahlenden Schollen im Ohr. Trotzdem kamen sie nur mühsam voran, denn bei jedem Schritt sanken sie bis zum Knöchel in der dicken Schneedecke über dem Packeis ein.

Der Wind nahm wieder zu, aber er war warm, auch wenn sie es zunächst kaum glauben mochten, wärmer denn je, seit sie im Eis stecken geblieben waren. Nachdem sie gut zweieinhalb Kilometer über das Eis gerannt waren, waren sie völlig erschöpft. Nur die Rufe ihrer Bordkameraden von der Paloverde, die sie anfeuerten, aufforderten, sich zu beeilen, hielten sie noch auf den Beinen. Dann jedoch schien es, als wäre alle Mühe vergebens gewesen. Ein letzter Riss im Eis tat sich zwischen ihnen und der Paloverde auf, und beinahe hätten sie sich geschlagen geben müssen. Er war bereits über fünf Meter breit, sodass niemand mehr darüber hinwegspringen konnte, und wurde immer breiter.

Asa Knight, der Zweite Maat der Paloverde, sah die Gefahr indes voraus und befahl den Männern, ein Walfangboot zu Wasser zu lassen und über die Bruchstelle zwischen den Schollen zu rudern, die mittlerweile fast zehn Meter breit war. Die Mannschaft legte sich mächtig in die Riemen, um ihre Bordkameraden samt dem Kapitän und seiner Frau zu retten.

Mender, Roxanna und die anderen Männer standen bereits bis zu den Knien im Wasser, das jetzt überall durch das Eis leckte. Im letzten Moment legten die Männer, die mit aller Macht durch das eisige Wasser pullten, drüben an. Roxanna wurde zuerst ins Boot gehoben, dann stiegen Mender und die übrigen Mitglieder der Besatzung ein.

»Wir sind Ihnen zutiefst verbunden, Mr. Knight«, sagte Mender und schüttelte seinem Zweiten Maat die Hand. »Durch Ihre mutige Tat haben Sie uns das Leben gerettet. Ich danke Ihnen dafür, schon meiner Frau wegen.«

»Und dem Kind«, fügte Roxanna hinzu, während sie von zwei Besatzungsmitgliedern in warme Decken gepackt wurde.

Er schaute sie an. »Unser Kind ist doch auf dem Schiff.«

»Ich habe nicht von Samuel gesprochen«, sagte sie zähneklappernd.

Mender starrte sie an. »Soll das etwa heißen, dass du wieder guter Hoffnung bist, Frau?«

»Seit etwa zwei Monaten, glaube ich.«

Mender war außer sich. »Du bist durch diese Eiswüste marschiert, im Sturm, obwohl du wusstest, dass du schwanger bist?«

»Als ich aufgebrochen bin, hat es noch nicht gestürmt«, versetzte sie mit verlegenem Grinsen.

»Guter Gott«, stieß er aus, »was soll ich mit dir bloß machen?«

»Falls Sie’s nicht mehr aushalten, Käpt’n«, mischte sich Bigelow ein, »übernehm ich sie gern.«

Mender, obgleich zu Tode erschrocken, lachte auf, schloss seine Frau in die Arme und zog sie an sich, als wollte er sie zerquetschen. »Führen Sie mich nicht in Versuchung, Mr. Bigelow.«

Eine halbe Stunde später war Roxanna wieder an Bord der Paloverde , hatte trockene Sachen an und wärmte sich an dem großen schmiedeeisernen Ofen mit dem Ziegelfundament, auf dem für gewöhnlich der Waltran ausgelassen wurde. Ihr Mann und die übrigen Besatzungsmitglieder verloren keine Zeit. Eilends holten sie die Segel aus dem Frachtraum und zogen sie auf. Sobald sie angebrasst waren, wurde der Anker gelichtet, worauf sich die Paloverde, von Mender persönlich gesteuert, vorsichtig zwischen schmelzenden Schollen und mächtigen Eisbergen hindurch in offenes Fahrwasser tastete.

Nachdem sie sechs Monate lang in eisiger Kälte ausgeharrt hatten, stets vom Hungertod bedroht, nahmen sie nun Kurs auf die Heimat. Aber erst, nachdem sämtliche Fässer an Bord mit Walrosstran gefüllt waren.

Der aus Obsidian gemeißelte Schädel, den Roxanna aus der im ewigen Eis gefrorenen Madras mitgenommen hatte, fand einen Ehrenplatz auf ihrem Kaminsims in San Francisco. Mender setzte sich, wie es sich gehörte, mit den derzeitigen Eigentümern der Skylar Croft Trade Company in Liverpool in Verbindung, die mittlerweile einen anderen Namen trug, ließ ihnen das Tagebuch zukommen und nannte ihnen die Position des Schiffes, das an der Küste des Bellingshausen-Meeres gestrandet war.

Das ewige Eis wahrte sein finsteres Geheimnis. Die beiden Schiffe, die 1862 von Liverpool aus in See stachen, um die Fracht der Madras zu bergen, verschwanden auf Nimmerwiedersehen, vermutlich verschollen im Packeis der Antarktis.

Über hundertvierzig Jahre sollten vergehen, bis wieder jemand den Fuß an Deck der Madras setzte.

ERSTER TEIL

Im tiefsten Schoß der Hölle

22. März 2001

Pandora, Colorado

1

Die Sterne verblassten allmählich, aber in dieser Höhe, rund zweitausendsiebenhundert Meter über dem Meeresspiegel, funkelten sie noch immer wie eine Leuchtreklame am frühmorgendlichen Himmel. Doch der Mond hatte etwas Gespenstisches an sich, als Luis Marquez aus seinem kleinen Holzhaus trat. Er hatte einen eigenartigen orangefarbenen Hof, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er betrachtete die seltsame Erscheinung einen Moment lang, ehe er über den Hof zu seinem Pickup ging, einem 1973er Chevrolet Cheyenne mit Allradantrieb.

Er hatte seine Arbeitskleidung angezogen und sich leise aus dem Haus gestohlen, damit er seine Frau und die beiden Töchter nicht aufweckte. Lisa, seine Frau, wäre gern aufgestanden und hätte ihm das Frühstück zubereitet und ein paar Brote zum Mitnehmen geschmiert, doch er bestand darauf, dass sie liegen bleiben sollte, weil früh um vier, wenn es draußen noch stockdunkel war, kein normaler Mensch freiwillig auf den Beinen war.

Marquez und seine Familie führten ein einfaches Leben. Eigenhändig hatte er das 1882 gebaute Haus renoviert. Seine Kinder gingen im nahe gelegenen Telluride zur Schule, einem beliebten Wintersportort, in dem Lisa und er auch den Großteil ihrer Einkäufe erledigten. Alles Übrige besorgten sie sich einmal im Monat in Montrose, einer etwas größeren, aber dennoch ländlichen Stadt, die rund hundert Kilometer weiter nördlich lag.

Aus alter Gewohnheit gönnte er sich noch einen Schluck Kaffee und ließ den Blick einmal rundum schweifen, über die Ruinen der Geisterstadt. Im Schein dieses gespenstischen Mondes ragten die wenigen Gebäude, die stehen geblieben waren, wie Grabsteine auf.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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