Um Haaresbreite - Clive Cussler - E-Book

Um Haaresbreite E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

NUMA-Offizier Dirk Pitt erhält einen neuen Auftrag: Er soll Papiere bergen, die die Weltkarte verändern könnten – die beiden einzigen Ausfertigungen eines Geheimabkommens, das im Mai 1914 zwischen den USA und Großbritannien geschlossen wurde. Doch die Beauftragten der beiden Regierungen, die mit diesen Dokumenten reisten, kamen beide durch einen Unfall ums Leben – und so befinden sich die Papiere entweder in einem Schiff, das auf dem Grund des St.-Lorenz-Stroms liegt, oder in dem Zug, der 1914 in den Hudson stürzte.

Dirk Pitt ist der Einzige, der für diesen heiklen und ristkanten Auftrag in Frage kommt. Seine Abenteuer führen aus den schwarzen Tiefen des St.-Lorenz-Stroms in den wirbelnden Schlick des Hudson, von der Downing Street ins Weiße Haus, von einem algenüberzogenen Luxusdampfer zu einem Geisterzug – und aus einer kleinen Taucherkammer in das Bett der leidenschaftlichen Kommandantin der US Navy.

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Seitenzahl: 542

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Clive Cussler

Um Haaresbreite

Roman

Übersetzt von Helmut Kossodo

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Night Probe«.

1. Auflage

E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 1980 by Clive Cussler Enterprises, Inc.

All rights reserved throughout the world.

By arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176 – 0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1982 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15189-8

www.blanvalet.de

Prolog Der Tag des Todes

1

Mai 1914

Upstate New York

Wetterleuchten kündete ein Gewitter an, als der »Manhattan Limited« mit Getöse auf dem hohen Bahndamm durch die Landschaft des Staates New York raste. Die schwarze Kohlenrauchfahne stieg wie ein Staubwedel aus dem Schornstein der Lokomotive auf und schien die Sterntupfen vom nächtlichen Himmel zu wischen. Der Lokomotivführer in der Kabine zog eine silberne Waltham-Uhr aus der Tasche seines Overalls, ließ den Deckel aufschnappen und blickte im Lichte der Glut im Feuerloch auf das Zifferblatt. Seine Sorge galt nicht dem heraufziehenden Unwetter, sondern dem unerbittlichen Vorrücken der Zeit, das ihn von seinem sonst stets pünktlich eingehaltenen Fahrplan abzubringen drohte.

Er lehnte sich aus der Seitenöffnung der Kabine und blickte auf die Gleisschwellen, die unter den acht riesigen Triebrädern der 2-8-0-Lokomotive des Consolidationtyps hinwegglitten. Wie ein Schiffskapitän mit langer Befehlserfahrung kannte er die Maschine, die er seit drei Jahren bediente, in- und auswendig. Er war stolz auf seine »Galoppierende Lena«, wie er die 118 000 Kilo Eisen und Stahl zärtlich nannte. 1911 in den Alco’s Schenectady-Werken hergestellt, war sie mit einer glänzenden schwarzen Lackschicht überzogen, trug einen roten Streifen, und ihre Nummer 88 erstrahlte in handgemalten Goldlettern.

Er lauschte auf den raschen Rhythmus der stählernen Räder über den Schienenstößen, fühlte die Wucht der Lokomotive und der sieben Wagen, die ihr folgten.

Dann zog er das Drosselventil um eine Kerbe höher.

Richard Essex saß an einem Schreibtisch im Bibliotheksraum des privaten Pullmanwagens am Ende des Zuges. Da er zu müde zum Schlafen war und sich auf der Reise langweilte, schrieb er einen Brief an seine Frau, um sich die Zeit zu vertreiben.

Er beschrieb die prunkvolle Einrichtung des Wagens mit den feingeschnitzten Möbeln aus Walnussholz, die hübschen elektrischen Messinglampen, die mit Samt überzogenen Drehstühle. Er erwähnte sogar die schrägkantigen Spiegel und die Keramikfußböden in den Toiletten der vier großen Schlafabteile.

Hinter ihm, in einem Aussichtsabteil, saßen fünf Leibwächter der Armee in Zivil beim Kartenspiel. Der Rauch ihrer Zigarren stieg in einer blauen Wolke zur Decke auf; ihre Gewehre lagen auf den Sitzen herum. Gelegentlich beugte sich einer der Spieler über einen der Messingspucknäpfe auf dem Perserteppich. Wahrscheinlich hatte keiner von ihnen je einen solchen Luxus genossen. Diese Beförderung musste die Regierung etwa fünfundsiebzig Dollar pro Tag gekostet haben, und das alles für den Transport eines Stück Papiers.

Essex seufzte und beendete seinen Brief. Dann schob er ihn in einen Umschlag, klebte ihn zu und steckte ihn in seine Brusttasche. Er fand immer noch keinen Schlaf, blickte durch die großen Fenster auf die nächtliche Landschaft, lauschte auf die heulenden Pfiffe der Lokomotive, wenn sie an einem Dorf vorbeikamen oder eine Überführung passierten. Schließlich erhob er sich, streckte die Glieder und ging in das elegant eingerichtete Speiseabteil, wo er sich an einen Mahagonitisch mit schneeweißer Tischdecke, Silberbestecken und Kristallgläsern setzte. Er blickte auf seine Uhr. Es war kurz vor zwei Uhr morgens.

»Haben Mister Essex einen Wunsch?« Ein schwarzer Kellner stand wie hingezaubert vor ihm.

Essex blickte lächelnd auf. »Ich weiß, dass es sehr spät ist, aber ich würde gerne noch eine Kleinigkeit essen.«

»Aber mit Vergnügen, Sir. Was darf es sein?«

»Etwas, das mir helfen könnte, die Augen zuzumachen.«

Der Kellner grinste breit. »Wie wäre es mit einer kleinen Flasche Pommard und einem Teller heißer Muschelbouillon?«

»Danke, das dürfte das Richtige sein.«

Später, als Essex an seinem Wein nippte, fragte er sich, ob Harvey Shields auch keinen Schlaf fand.

2

Harvey Shields erlebte einen Albtraum.

Sein Verstand verweigerte jede andere Erklärung. Das Kreischen des Stahls und die Todes- und Schreckensschreie in der Finsternis waren zu höllisch, um Wirklichkeit zu sein. Er wandte alle Mühe auf, die fürchterliche Szene zu vergessen und sich wieder in den friedlichen Schlaf zurückzuziehen. Aber dann fühlte er einen durchdringenden Schmerz und wusste, dass es kein Traum war.

Irgendwo unter sich hörte er rauschendes Wasser, das wie durch einen Tunnel zu dringen schien, gefolgt von einem Windstoß, der ihm die Luft aus der Lunge drückte. Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber die Lider waren wie zugeklebt. Er wusste nicht, dass sein Kopf und sein Gesicht von Blut verschmiert waren. Harvey Shields hatte sich instinktiv zusammengerollt, um sich vor Kälte und Metallsplittern zu schützen, und er war eingeklemmt. Ein beizender Geruch von Elektrizität drang ihm in die Nase, und da, die Schmerzen wurden immer stärker.

Er versuchte, Arme und Beine zu bewegen, aber sie verweigerten ihm den Dienst. Eine seltsame Stille umgab ihn, nur hier und da von dem leisen Geräusch plätschernden Wassers unterbrochen. Er machte einen weiteren Versuch, sich aus seiner Lage zu befreien, atmete tief und strengte jeden Muskel an.

Plötzlich bekam er einen Arm frei, ließ ihn hochschnellen, stöhnte auf, als ein scharfer Metallsplitter ihm in den Unterarm drang. Dieser Schmerz brachte ihn zu vollem Bewusstsein. Er wischte sich die klebrige Kruste von den Augen und warf einen ersten Blick auf das, was einmal seine Kabine an Bord des nach England fahrenden kanadischen Luxusdampfers gewesen war.

Die große Mahagonikommode war verschwunden, ebenso der Schreibtisch und der Nachttisch. Wo das Längs- und Querschott hätte sein sollen, klaffte ein großes Loch, durch dessen verbogene Ränder man nur den nächtlichen Nebel und das schwarze Wasser des St.-Lawrence-Stroms sah. Es war ihm, als blickte er in bodenlose Leere. Dann gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel, nahmen einen weißen Schimmer wahr, und er wusste, dass er nicht allein war.

Fast in Reichweite von ihm lag ein junges Mädchen aus der Kabine nebenan unter den Trümmern; nur der Kopf und eine bleiche Schulter ragten unter der eingestürzten Decke hervor. Ihr gelöstes langes Haar war goldblond. Ihr Kopf hing in einem grotesken Winkel, Blut lief von den Lippen und über das Gesicht und begann, das wallende Haar zu verfärben.

Shields erholte sich von seinem Schock; ein Gefühl von Übelkeit stieg in ihm auf. Bisher war ihm das Gespenst des Todes nicht erschienen, aber jetzt, beim Anblick dieses leblosen Mädchenkörpers, begann er, seine eigene schrumpfende Zukunft zu sehen. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke.

Verzweifelt blickte er sich in den Trümmern nach dem Handkoffer um, den er nie aus den Augen gelassen hatte. Er war fort, verschwunden, verloren. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, als er sich aus seinem Gefängnis freizukämpfen versuchte. Aber die Bemühungen waren fruchtlos; er hatte kein Gefühl unterhalb der Brust, und es wurde ihm klar, dass sein Rückgrat gebrochen war.

Der große Überseedampfer bekam immer mehr Schlagseite und versank im kalten Wasser, das für immer sein Grab sein sollte. Passagiere, einige in Abendkleidern, die meisten in Nachthemden, drängten sich auf den immer schrägeren Decks, bemühten sich, in die wenigen Rettungsboote zu klettern, die man heruntergelassen hatte, oder sprangen in das kalte Wasser, klammerten sich an alles, was schwamm. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis das Schiff, kaum zwei Meilen von der Küste entfernt, völlig in den Fluten versinken würde.

»Martha?«

Shields zuckte zusammen, drehte den Kopf der schwachen Stimme zu, die von außerhalb der zerstörten Trennwand zum inneren Korridor zu kommen schien. Er lauschte gespannt, und dann kam es wieder.

»Martha?«

»Hier«, rief Shields. »Bitte, helfen Sie mir.«

Keine Antwort. Aber er hörte, wie sich jemand durch den Trümmerhaufen bewegte. Bald darauf wurde ein Stück der eingefallenen Decke beiseitegeschoben, und ein Gesicht mit grauem Bart blickte hindurch.

»Meine Martha, haben Sie meine Martha gesehen?«

Der Mann hatte einen Schock, und seine Worte klangen hohl und ohne Betonung. Seine Stirn war blutig und zerschrammt, und in seinen Augen stand Verzweiflung.

»Ein junges Mädchen mit blondem Haar?«

»Ja, ja, meine Tochter.«

Shields wies mit dem Arm auf die Leiche des Mädchens. »Es tut mir leid, aber sie lebt nicht mehr.«

Der bärtige Mann grub sich fieberhaft eine größere Öffnung und kroch hindurch. Er gelangte bis zu dem Mädchen, hob den blutigen Kopf an, strich das Haar zurück. Er war benommen und fassungslos. Eine Weile gab er keinen Ton von sich.

»Sie hat nicht gelitten«, versuchte Shields ihn zu trösten.

Der Fremde antwortete nicht.

»Es tut mir leid«, murmelte Shields. Er fühlte, wie sich das Schiff hart nach Steuerbord neigte. Das Wasser stieg rascher, und es blieb ihnen nur noch wenig Zeit. Er musste den Vater von seinem Kummer abbringen und ihn irgendwie überreden, den Handkoffer zu retten.

»Wissen Sie, was passiert ist?«, begann er.

»Kollision. Ich war an Deck. Ein Schiff kam plötzlich aus dem Nebel auf uns zu. Fuhr uns direkt mit dem Bug in die Seite.« Der Vater hielt inne, nahm ein Taschentuch aus der Jacke, wischte das Blut vom Gesicht des toten Mädchens. »Martha hat mich angebettelt, sie nach England mitzunehmen. Ihre Mutter war dagegen, aber ich habe nachgegeben. O mein Gott, wenn ich es nur geahnt hätte …« Seine Stimme brach ab.

»Sie können nichts mehr tun«, sagte Shields. »Sie müssen sich retten.«

Der Vater drehte sich langsam um, blickte ihn an, ohne ihn zu sehen. »Ich habe sie getötet«, flüsterte er heiser.

Shields kam nicht durch. Wut stieg in ihm auf und machte ihn noch verzweifelter.

»Hören Sie!«, rief er. »Irgendwo in den Trümmern ist ein Handkoffer mit einem Dokument, das unbedingt zum Foreign Office in London gelangen muss!« Er schrie jetzt. »Bitte, suchen Sie ihn!« Das Wasser quirlte in kleinen Strudeln, nur noch ein paar Meter entfernt von ihnen. Ölflecken und Kohlenstaub bildeten sich auf der Wasseroberfläche, während die Schreie Tausender Sterbender die Stille der Nacht zerrissen.

»Bitte, hören Sie mir zu, bevor es zu spät ist«, flehte Shields. »Ihre Tochter ist tot.« Er schlug mit geballter Faust auf die Stahlkante, kümmerte sich nicht um den Schmerz, als seine Haut in Fetzen aufsprang. »Gehen Sie, solange noch Zeit ist. Finden Sie meinen Handkoffer, und nehmen Sie ihn mit. Geben Sie ihn dem Kapitän: er weiß, was er zu tun hat.«

Der Mann öffnete zitternd den Mund. »Ich kann Martha nicht allein lassen … sie fürchtet sich im Dunkel …« Er murmelte es wie ein Gebet.

Das war das Ende. Es gab keine Möglichkeit mehr, den von Kummer überwältigten Vater zum Gehen zu bewegen, denn er hörte nichts mehr, beugte sich über seine Tochter und küsste sie auf die Stirn. Dann brach er schluchzend zusammen.

Seltsamerweise wichen nun alle Wut und Verzweiflung von Shields. Jetzt, da er sich mit dem Tod und seinem Versagen abfand, hatten Angst und Schrecken ihren Sinn verloren. In der kurzen Lebensspanne, die ihm noch blieb, erhob er sich über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus und sah die Dinge mit außergewöhnlicher Klarheit.

Eine dumpfe Explosion ertönte aus dem tiefen Inneren des Ozeanriesen, als die Dampfkessel zerbarsten. Der Rumpf neigte sich immer weiter zur Steuerbordseite, und dann glitt das Schiff, mit dem Heck voran, in die Fluten des Flussbettes. Zwischen dem Augenblick des Zusammenstoßes und dem Versinken vor den Augen der im eisigen Wasser um ihr Leben kämpfenden Menschen waren weniger als fünfzehn Minuten vergangen.

Es war zwei Uhr zehn.

Shields machte keinen Versuch, sich gegen das Unvermeidliche zu wehren, den Atem anzuhalten, um das Ende noch für ein paar Sekunden hinauszuschieben. Er öffnete den Mund, schluckte das faulig schmeckende Wasser, würgte, als es ihm die Kehle hinunterlief. So sank er in das luftlose Grab. Das Ersticken und Leiden ging rasch vorüber, und sein Bewusstsein verlosch. Und dann war nichts mehr.

3

Eine wahre Höllennacht, sagte sich Sam Harding, der Bahnhofsvorsteher der New York & Quebec Northern Railroad, als er auf dem Bahnsteig stand und die zu beiden Seiten der Gleise stehenden Pappeln betrachtete, die sich unter dem Anprall der heftigen Windstöße fast in die Waagerechte bogen.

Es war das Ende der Hitzewelle, die die Staaten von New England heimgesucht hatte. Der heißeste Mai seit 1880, wie die Wochenzeitung von Wacketshire in roten Schlagzeilen verkündete. Blitze zuckten durch den schwarzen Nachthimmel, und die Temperatur war innerhalb einer Stunde um achtzehn Grad gesunken. Harding stellte erstaunt fest, dass er fröstelte, als der Wind sein verschwitztes Baumwollhemd peitschte.

Unten auf dem Fluss sah er die Lichter einer Reihe von Schleppkähnen, die ihren Weg stromabwärts tuckerten. Er sah die Lichter nacheinander verschwinden und dann wieder auftauchen, während sie an den Pfeilern der breiten Brücke vorbeifuhren.

Hardings Bahnhof lag außerhalb der Stadt, die in Wirklichkeit ein Dorf war, und zwar dort, wo die Schienenstränge in einem Kreuz voneinander abzweigten. Die Hauptstrecke lief in nördlicher Richtung auf Albany zu, während die Abzweigung nach Osten führte, den Hudson auf der Deauville-Brücke überquerte, bis nach Columbiaville, um dann in Richtung Süden nach New York City abzubiegen.

Noch war kein einziger Tropfen gefallen, doch die Luft roch nach Regen. Er ging zum Autoschuppen, band eine Anzahl Schnüre unter dem Dach los, rollte die Kunstledervorhänge herunter, befestigte sie unten an den Bodenhaken und kehrte zum Bahnhof zurück.

Hiram Meechum, der Nachttelegrafist der Western Union, saß über ein Schachbrett gebeugt und gab sich seiner Lieblingsbeschäftigung hin, gegen einen Kollegen über den Draht zu spielen. Die Fensterscheiben klapperten unter den Windstößen, schlugen im Takt zum Stakkato des Telegrafenschlüssels auf dem Tisch vor Meechum. Harding griff nach der Kaffeekanne auf dem Benzinkocher und goss sich eine Tasse ein.

»Wer gewinnt?«

Meechum blickte auf. »Ich spiele gegen Standish in Germantown. Ein verdammt zäher Bursche.« Der Schlüssel tanzte, und Meechum bewegte eine seiner Schachfiguren. »Die Dame bedroht mein Pferd«, brummte er. »Es sieht nicht gerade ermutigend aus.«

Harding zog eine Uhr aus der Westentasche, blickte auf das Zifferblatt, runzelte nachdenklich die Stirn. »Der Manhattan Limited hat sich noch nie so verspätet.«

»Wahrscheinlich hat ihn der Sturm aufgehalten«, sagte Meechum. Er klopfte seinen nächsten Zug über den Draht, legte die Füße auf den Tisch, lehnte sich mit dem Stuhl zurück und wippte, während er die Antwort seines Gegners erwartete.

Das ganze Bahnhofsgebäude erzitterte, als ein Blitz durch den Nebel zuckte und in einen Baum auf einer Wiese in der Nähe einschlug. Harding nippte von seinem dampfenden Kaffee, warf einen leicht besorgten Blick zur Decke und fragte sich, ob der Blitzableiter auf dem Dach in gutem Zustand war. Das laute Schrillen der Telefonklingel über seinem Rollpult schreckte ihn aus seinen Gedanken auf.

»Bestimmt eine Meldung über den Limited«,sagte Meechum gleichgültig.

Harding bog den verstellbaren Hebel mit der Sprechmuschel nach oben in Standhöhe und drückte den kleinen runden Hörer an sein Ohr. »Wacketshire«, antwortete er.

Durch die knisternden, vom Sturm hervorgerufenen Nebengeräusche auf der Linie war die Stimme des Beamten in Albany kaum hörbar. »Die Brücke … können Sie die Brücke sehen?«

Harding wandte sich dem Ostfenster zu. Sein Blick reichte nicht weiter als bis zum Ende des Bahnsteigs in der Dunkelheit. »Kann nichts sehen. Muss auf den nächsten Blitz warten.«

»Steht sie noch?«

»Warum sollte sie nicht mehr stehen?«, erwiderte Harding gereizt.

»Eben hat der Kapitän eines Schleppdampfers aus Catskill angerufen und uns die Hölle heißgemacht«, knisterte die Stimme zurück. »Er behauptet, ein Brückenträger sei eingestürzt und habe einen seiner Kähne beschädigt. Wir sind hier alle in großer Panik. Der Bahnhofsvorstand in Columbiaville meldet, dass der Limited schon lange überfällig ist.«

»Sagen Sie ihnen, sie können ganz beruhigt sein. Der Zug ist noch nicht in Wacketshire gewesen.«

»Sind Sie sicher?«

Harding schüttelte den Kopf über diese blöde Frage. »Verdammt noch mal! Glauben Sie vielleicht, ich wüsste nicht, ob ein Zug durch meinen Bahnhof kommt?«

»Dann haben wir ja Gott sei Dank noch gerade Zeit.« Die Erleichterung in der Stimme war trotz der starken Nebengeräusche vernehmbar. »Der Limited hat neunzig Passagiere an Bord, abgesehen vom Zugpersonal und einem Sonderwagen der Regierung, mit dem irgendein hoher Beamter nach Washington fährt. Stoppen Sie den Zug, und sehen Sie bei der ersten Möglichkeit mal nach, was mit der Brücke los ist.«

Harding bestätigte und hängte auf. Er nahm eine Schirmlaterne mit roter Linse von einem Haken an der Wand, schüttelte sie, um zu sehen, ob genug Petroleum im Tank war, zündete den Docht an. Meechum blickte ihn fragend über seine Schachfiguren an.

»Sie stoppen den Limited?«

Harding nickte. »Albany meldet, ein Brückenpfeiler sei eingestürzt. Wir sollen uns erst mal den Schaden ansehen, bevor wir einen Zug rüberlassen.«

»Soll ich die Signallaterne für Sie anzünden?«

Ein hoher Pfiff drang von draußen durch den Wind zu ihnen. Harding horchte auf, versuchte, die Entfernung abzuschätzen. Ein weiterer Pfiff ertönte, diesmal etwas lauter.

»Keine Zeit. Ich stoppe ihn mit dieser …«

Plötzlich ging die Tür auf, und ein Fremder stand auf der Schwelle, blickte sich wieselartig um. Er war wie ein Jockey gewachsen, drahtig schlank und klein. Ein blonder Schnurrbart und ebenso blondes Haar schauten unter dem lässig getragenen Strohhut hervor. Äußerst gepflegte Kleidung: ein nach der letzten englischen Mode geschnittener Anzug mit Seidenfutter, rasiermesserscharf gebügelte Hosen, zweifarbige Schuhe aus Leder mit Wildlederbesatz. Was an ihm jedoch am meisten auffiel, war eine automatische Mauserpistole, die er in seiner schlanken, weiblich-weichen Hand hielt.

»Was, zum Teufel, soll denn das?«, knurrte Meechum überrascht.

»Ein Raubüberfall, meine Herren«, sagte der Mann mit leicht spöttischem Lächeln. »Ich dachte, das wäre deutlich genug.«

»Sie sind wahnsinnig«, fuhr Harding ihn an. »Wir haben nichts, was Sie rauben können.«

»Ihr Bahnhof hat einen Safe«, sagte der Fremde und nickte zu der Stahlkiste hin, die auf einem Tisch in einer Ecke des Büroraums stand. »Und Safes enthalten wertvolle Dinge, beispielsweise Lohntüten.«

»Mister, die Beraubung einer Eisenbahngesellschaft ist ein Verbrechen auf Bundesebene. Außerdem ist Wacketshire eine rein landwirtschaftliche Siedlung. Hier gibt es keine Lohntransporte. Verdammt noch mal, wir haben ja noch nicht einmal eine Bank.«

»Ich bin nicht gewillt, mich über die Wirtschaftslage von Wacketshire zu unterhalten.« Er zog den Sicherungshebel der Mauser zurück. »Öffnen Sie den Safe.«

Der Pfiff heulte wieder auf, viel näher jetzt, und Harding wusste aus Erfahrung, dass der Zug nur noch eine Viertelmeile entfernt war. »Bitte sehr, wie Sie wollen, aber zuerst muss ich noch den Limited stoppen.«

Der Schuss ging los, und Meechums Schachbrett flog in Stücken durch den Raum, verteilte die Figuren auf dem Linoleumfußboden. »Keine blöden Reden mehr über das Stoppen von Zügen! Nun machen Sie schon.«

Harding starrte den Räuber mit schreckgeweiteten Augen an.

»Sie verstehen mich nicht. Die Brücke könnte einstürzen!«

»Ich verstehe nur, dass Sie den Schlaumeier spielen wollen.«

»Ich schwöre bei Gott …«

»Er sagt die Wahrheit«, fiel Meechum ein. »Wir wurden eben telefonisch aus Albany wegen der Brücke gewarnt.«

»Bitte, hören Sie uns an!«, flehte Harding. »Das Leben von hundert Menschen steht auf dem Spiel. Wollen Sie das auf dem Gewissen haben?« Er hielt inne, wurde totenbleich, als das Scheinwerferlicht der sich nähernden Lokomotive durch das Fenster drang. Dem Pfiff nach konnte sie höchstens noch zweihundert Meter entfernt sein. »Um Gottes willen …«

Meechum riss Harding die Laterne aus der Hand und sprang auf die offene Tür zu. Ein weiterer Schuss knallte. Die Kugel drang in seine Hüfte, und er stürzte kurz vor der Schwelle zu Boden. Er rollte sich auf die Knie, schwang den Arm, wollte die Laterne auf die Schienen hinauswerfen. Der Mann mit dem Strohhut packte sein Handgelenk, hielt Meechum den Lauf der Pistole an die Schläfe und trat mit dem Fuß die Tür zu.

Dann wirbelte er zu Harding herum und zischte: »Öffnen Sie den verdammten Safe!«

Beim Anblick der Blutlache, die sich vor Meechum auf dem Boden ausbreitete, drehte sich Hardings Magen um, und dann tat er, was man ihm befohlen hatte. Er stellte die Kombination am Safe ein, blickte verzweifelt und hilflos dem vorbeidonnernden Zug nach, sah, wie die Lichter der Pullmanwagen sich in den Bahnhofsfenstern spiegelten. Kaum eine Minute später verklang das Rattern des letzten Wagens auf den Schienen, und der Zug war fort, bewegte sich der Brücke zu.

Das Schloss sprang auf, und Harding drückte den Hebel auf, öffnete die schwere Tür und trat beiseite. Der Inhalt bestand aus einigen nicht abgeholten Paketen, alten Logbüchern, Tages- und Wochenberichten und einer Bargeldkasse. Der Räuber nahm die Kasse und zählte den Inhalt.

»Achtzehn Dollar und vierzehn Cents«, sagte er mit gleichgültiger Miene. »Nicht gerade viel, aber für ein paar Tage Essen dürfte es reichen.«

Er faltete die Scheine, steckte sie in seine Brieftasche, ließ die Münzen in seine Hosentasche gleiten. Dann warf er die leere Kasse lässig auf den Schreibtisch, trat über den am Boden liegenden Meechum und verschwand in der stürmischen Nacht.

Meechum stöhnte und wälzte sich herum. Harding kniete und hob ihm den Kopf hoch. »Der Zug …?«, lallte Meechum.

»Sie bluten ziemlich stark«, sagte Harding. Er zog ein rotes Halstuch aus seiner Gesäßtasche und drückte es auf die Wunde.

Meechum biss die Zähne zusammen und blickte Harding mit glasigen Augen an. »Rufen Sie am Ostufer an … Fragen Sie nach … ob der Zug in Sicherheit ist.«

Harding ließ den Kopf seines Freundes wieder auf den Boden sinken. Er griff nach dem Telefon, schob den Hebel zurück, öffnete die Sprechanlage. Er schrie in das Mundstück, bekam nur Schweigen zur Antwort. Er schloss die Augen, betete, versuchte es noch einmal. Die Verbindung zum anderen Flussufer war tot. Fieberhaft drehte er die Wählscheibe, stellte auf den Cummings-Wray-Sender ein und verlangte den Telefonisten in Albany. Er hörte nur Nebengeräusche.

»Ich komme nicht durch.« Er verspürte einen bitteren Geschmack im Mund. »Der Sturm hat die Verbindungen unterbrochen.«

Der Telegrafenschlüssel begann zu ticken. »Die Telegrafenlinien sind noch offen«, stammelte Meechum. »Das ist Standish mit seinem nächsten Schachzug.«

Mühsam und unter Schmerzen schleppte er sich bis zum Tisch, griff hinauf, unterbrach die eintreffende Meldung und tippte einen Notruf. Dann warteten die beiden Männer schweigend. Der Wind blies durch die Tür, ließ lose Papierfetzen auffliegen, fuhr ihnen durch das Haar.

»Ich werde Albany benachrichtigen«, sagte Meechum schließlich. »Gehen Sie zur Brücke.«

Wie im Traum sprang Harding auf den Bahndamm, rannte atemlos über die unebenen Gleisschwellen, fühlte Panik in sich aufsteigen. Bald geriet er ins Keuchen und hatte ein Gefühl, als wolle sein wild pochendes Herz ihm aus den Rippen springen. Er erreichte die Höhe des Hangs und eilte unter den Brückenträgern der Böschung am westlichen Ufer entlang der Mitte der Deauville-Hudson-Brücke zu. Er stolperte, schlug hin, stieß sich das Knie an einer Schienenschraube auf. Er erhob sich taumelnd und lief weiter. Am äußeren Rand der Mittelspanne blieb er stehen.

Sein Körper verkrampfte sich vor Übelkeit, und ein eisiger Schauer durchrann ihn. Wie betäubt stand Harding da und starrte ungläubig vor sich hin.

Wo die Mitte der Brücke gewesen war, klaffte gähnende Leere. Der ganze Streckenteil war in den kalten, grauen Fluten des Hudson fünfzig Meter tiefer versunken. Und mit ihm der Passagierzug und hundert Männer, Frauen und Kinder.

»Tot … alle tot!«, schrie Harding in hilfloser Wut aus. »Und das alles wegen achtzehn Dollar und vierzehn Cents.«

Erster Teil Roubaix’ Würgeschnur

4

Februar 1989

Washington D.C.

Der lässig im Fond eines Ford Sedan sitzende Mann fiel niemandem auf, als der Wagen langsam durch die Straßen von Washington fuhr. Die Fußgänger, die an den Verkehrsampeln der Kreuzungen an ihm vorübereilten, hätten ihn für einen Zeitungsverkäufer halten können, der von seinem Neffen zur Arbeit gefahren wurde. Niemand nahm auch nur die leiseste Notiz vom Kennzeichen des Weißen Hauses auf dem Nummernschild.

Alan Mercier war plump, fast kahlköpfig und hatte ein joviales Falstaffgesicht, hinter dem sich ein scharfsichtiger, analytischer Verstand verbarg. Er legte keinen Wert auf gute Kleidung, trug stets verbeulte und zerknitterte billige Konfektionsanzüge, in deren äußerer Brusttasche ein schlecht gefaltetes weißes Leinentaschentuch steckte. Das war ein Erkennungszeichen, das die Karikaturisten mit heller Begeisterung zu übertreiben pflegten.

Mercier war kein Zeitungsverkäufer. Erst vor Kurzem zum Sicherheitsberater des neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten ernannt, war er in der Öffentlichkeit noch nicht bekannt. Nur in akademischen Kreisen hatte er sich durch seine scharfsinnige Gabe, internationale Ereignisse vorauszusehen, einen gewissen Ruf aufgebaut. Zur Zeit, als der Präsident auf ihn aufmerksam wurde, war er der Direktor der Planungskommission für die Weltkrise gewesen.

Er setzte sich seine Drahtbrille auf die Knollennase, nahm eine Aktenmappe auf die Knie und öffnete sie. Die untere Klappe mit einem Displaygerät und einer Tastaturkonsole zwischen zwei Reihen farbiger Lichtknöpfe hing herab. Mercier tippte eine Zahlenkombination, wartete einen Augenblick, während das Signal durch Satelliten zu seinem Büro im Weißen Haus zurückgestrahlt wurde. Dort setzte sich ein von seinen Mitarbeitern programmierter Computer in Bewegung und begann, ihm seinen Arbeitsplan für den Tag zu übertragen.

Die nun eintreffenden Daten kamen im Code an, wurden in Tausendstelsekunden von dem mit Batterie betriebenen Mikroprozessor auf seinem Schoß elektronisch entschlüsselt, und dann erschien der Endtext in grüner Schrift auf dem Bildschirm.

Zuerst kam die Korrespondenz, gefolgt von einer Reihe von Memoranden seiner Mitarbeiter. Dann kamen die Tagesberichte verschiedener Regierungsstellen, der vereinigten Generalstäbe und des Direktors des CIA. Er nahm sie rasch in sein Gedächtnis auf, bevor er sie wieder von der Mikroprozessoreinheit löschte.

Alle, außer zwei.

Bei ihnen verweilte er noch, als sein Wagen durch die westliche Einfahrt zum Weißen Haus einbog. In seinen Augen spiegelte sich bestürztes Erstaunen. Dann seufzte er, drückte auf den Ausschalteknopf und schloss die Mappe wieder.

Kaum war er in seinem Büro und hinter seinem Schreibtisch, da wählte er eine Privatnummer beim Departement für Energie. Eine Männerstimme antwortete beim ersten Klingelzeichen. »Büro Dr. Klein.«

»Hier spricht Alan Mercier. Ist Ron da?«

Eine kurze Pause, und dann ließ sich die Stimme Dr. Ronald Kleins, des Departementsdirektors, vernehmen.

»Guten Morgen, Alan. Was kann ich für Sie tun?«

»Kann ich Sie heute für ein paar Minuten sprechen?«

»Mein Zeitplan ist ziemlich ausgelastet …«

»Es ist wichtig, Ron. Sagen Sie mir, wann.«

Klein war es nicht gewohnt, gedrängt zu werden, aber der Ton in Merciers Stimme machte deutlich, dass der Sicherheitsberater sich nicht abweisen lassen würde. Klein legte die Hand auf die Sprechmuschel und beriet sich mit seinem Mitarbeiter.

»Wie wäre es zwischen halb drei und drei?«

»In Ordnung«, antwortete Mercier. »Ich habe eine Verabredung zum Lunch und komme auf dem Rückweg zu Ihnen.«

»Sie sagten, es sei wichtig?«

»Ich kann es auch anders ausdrücken«, erwiderte Mercier und hielt einen Augenblick inne, um seinen Worten die volle Wirkung zu geben. »Nachdem ich dem Präsidenten den Tag verdorben habe, werde ich auch den Ihren durcheinanderbringen.«

Der Präsident lehnte sich von seinem Schreibtisch im ovalen Zimmer des Weißen Hauses zurück und schloss die Augen. Auf diese Weise gestattete er seinen Gedanken, sich für ein oder zwei Minuten von den Dringlichkeiten des Tages abzuwenden. Für einen Mann, der erst vor wenigen Wochen das höchste Amt der Nation angetreten hatte, sah er übermäßig abgespannt und müde aus. Die Wahlkampagne war lang und anstrengend gewesen, und er hatte sich noch nicht davon erholt.

Er war klein von Gestalt, und sein etwas schütteres braunes Haar zeigte weiße Strähnen. Sein gewöhnlich von Lachfalten durchzogenes joviales Gesicht wirkte jetzt aufgesetzt und feierlich. Er öffnete wieder die Augen, als ein plötzlicher Winterregen gegen die großen Fenster schlug. Draußen auf der Pennsylvania Avenue verlangsamte sich der Verkehr zum Schneckentempo, als der Straßenbelag vereiste. Der Präsident sehnte sich nach dem warmen Klima seines heimatlichen New Mexico zurück. Wie schön wäre es, jetzt einen Campingausflug in die Sangre de Cristo-Berge bei Santa Fe zu machen.

Dieser Mann hatte sich nie erträumt, einmal Präsident zu sein. Er war nicht von blindem Ehrgeiz besessen, hatte zwanzig Jahre lang gewissenhaft im Senat gedient, und seine bisherigen Leistungen hatten kaum dazu beigetragen, ihm in der Öffentlichkeit einen Namen zu verschaffen.

Der Kongress seiner Partei hatte ihn zum Präsidentschaftskandidaten ernannt, weil man sich auf keinen anderen Namen einigen konnte; und er war dann mit überwältigender Mehrheit gewählt worden, nachdem ein Zeitungsreporter eine Reihe dunkler finanzieller Machenschaften aus der Vergangenheit seines Gegners ausgegraben hatte.

»Herr Präsident?«

Er blickte aus seinen Träumereien auf und wandte sich dem Sekretär zu.

»Ja?«

»Mr. Mercier ist hier, um Ihnen über die Sicherheitslage zu berichten.«

»Gut, schicken Sie ihn herein.«

Mercier trat ein und setzte sich an die andere Seite des Schreibtischs. Er schob dem Präsidenten ein schweres Aktenbündel zu.

»Wie geht es der Welt heute?«, fragte der Präsident mit schmalem Lächeln.

»Ziemlich schlecht, wie immer«, erwiderte Mercier. »Mein Stab hat den Bericht über die Energiereserven des Landes abgeschlossen. Die letzte Zeile ist nicht gerade ermutigend.«

»Da sagen Sie mir nichts, was ich nicht bereits wüsste. Wie sind denn heute die Aussichten?«

»Der CIA gibt dem Mittleren Osten noch etwa zwei Jahre, bis dort die Reserven erschöpft sind. Damit wäre dann die Weltnachfrage für Erdöl zu weniger als fünfzig Prozent gedeckt. Die Russen horten ihre Reserven, und die Ölvorkommen an der mexikanischen Küste entsprechen nicht den Erwartungen. Was unsere eigenen Chancen anbetrifft …«

»Ich habe die Zahlen gesehen«, unterbrach ihn der Präsident. »Die hektische Suche vor ein paar Jahren hat uns bestenfalls ein paar kleine Felder eingebracht.«

Mercier blätterte in einer Akte. »Sonnenenergie, elektrisch betriebene Autos. Windmühlen und so weiter sind eigentlich nur Teillösungen. Leider sind diese Technologien etwa noch im gleichen Stadium, wie es das Fernsehen in den Vierzigerjahren war.«

»Und schade, dass das synthetische Treibstoffprogramm sich so langsam anlässt.«

»Es wird bestimmt noch vier Jahre dauern, bis die Ölschieferraffinerien in der Lage sind, genügend zu liefern.«

»Aber gewiss zeichnet sich doch irgendein Hoffnungsschimmer am Horizont ab?«

»Da wäre James Bay.«

»Das kanadische Energieprojekt?«

Mercier nickte und leierte die statistischen Daten herunter. »Achtzehn Dämme, zwölf Kraftwerke, ein Arbeitseinsatz von fast neunzigtausend Menschen und die Umleitung zweier Flüsse von der Größe des Colorados. Wie es in den Veröffentlichungen der kanadischen Regierung heißt, ist es das größte und teuerste hydroelektrische Energieprojekt in der Geschichte der Menschheit.«

»Wer ist für den Bau zuständig?«

»Die Quebec Hydro, die provinzielle Energiebehörde. Sie haben neunzehnhundertvierundsiebzig mit den Arbeiten an dem Projekt begonnen. Die Rechnung ist auch entsprechend hoch. Sechsundzwanzig Milliarden Dollar, deren größter Anteil aus New Yorker Geldhäusern kommt.«

»Wie hoch ist die Leistung?«

»Mehr als eine Million Kilowatt, und das wird sich im Laufe der nächsten zwanzig Jahre noch verdoppeln.«

»Wie viel davon fließt über unsere Grenzen?«

»Genug, um fünfzehn Staaten mit Strom zu versorgen.«

Das Gesicht des Präsidenten verfinsterte sich. »Es gefällt mir nicht, mit der Stromversorgung in eine so große Abhängigkeit von Quebec zu geraten. Ich würde mich sicherer fühlen, wenn wir unsere Energie aus eigenen Atomkraftwerken beziehen könnten.«

Mercier schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, dass unsere Kernkraftwerke nicht einmal in der Lage sind, auch nur einem Drittel des Bedarfs nachzukommen.«

»Wie gewöhnlich haben wir das wieder einmal verbummelt«, bemerkte der Präsident.

»Die Verzögerung ist zum Teil den ständig steigenden Baukosten und den aufwendigen Veränderungsarbeiten zuzuschreiben«, erklärte Mercier. »Zum Teil auch, weil das Uran in Anbetracht der starken Nachfrage knapp geworden ist. Und dann gab es natürlich noch die Umweltschützer.«

Der Präsident versank in nachdenkliches Schweigen.

»Wir hatten mit unerschöpflichen Reserven gerechnet, die es nicht gibt«, fuhr Mercier fort. »Und während unser Staat sich mit der Hoffnung auf diese Reserven zufriedengab, haben unsere Nachbarn im Norden sich an die Arbeit gemacht und eine Lösung gefunden. Da blieb uns keine andere Wahl, als ihr Angebot anzunehmen.«

»Sind die Preise annehmbar?«

Mercier nickte. »Die Kanadier haben Gott sei Dank ihre Tarife denen unserer Energieversorgungsindustrie angepasst.«

»Also doch ein kleiner Hoffnungsschimmer.«

»Nur hat die Sache einen Haken.«

Der Präsident seufzte.

»Wir müssen uns mit der unangenehmen Tatsache abfinden«, fuhr Mercier fort, »dass die Provinz Quebec sich für den Sommer auf eine Abstimmung über volle Unabhängigkeit vorbereitet.«

»Premierminister Sarveux hat schon einmal den Separatisten in Quebec die Tür vor der Nase zugeschlagen. Glauben Sie nicht, dass er es noch einmal tun kann?«

»Nein. Sir, das glaube ich nicht. Nach unseren Geheimdienstberichten hat Guerrier von der Unabhängigkeitspartei dieses Mal genügend Stimmen, um damit durchzukommen.«

»Sie werden einen hohen Preis zahlen müssen, um von Kanada loszukommen«, sagte der Präsident. »Ihre Wirtschaftslage ist bereits heute katastrophal.«

»Ihre Strategie läuft darauf hinaus, sich von den Vereinigten Staaten die nötige Unterstützung zu verschaffen.«

»Und wenn wir ihnen die nicht geben?«

»Dann können sie entweder die Elektrizitätstarife ganz drastisch erhöhen oder uns den Stecker einfach aus der Dose ziehen«, antwortete Mercier.

»Guerrier wäre ja wahnsinnig, uns den Strom abzustellen. Er weiß genau, dass wir mit massiven wirtschaftlichen Sanktionen zurückschlagen würden.«

Mercier schüttelte den Kopf. »Es könnte Wochen, sogar Monate dauern, bevor die Quebecer das zu spüren bekämen. Und inzwischen wäre unsere lebenswichtige Industrie gelähmt.«

»Ist das nicht Schwarzmalerei?«

»Es ist noch lange nicht alles. Die FQS ist Ihnen doch wohl ein Begriff?«

Der Präsident zuckte zusammen. Die sogenannte Free Quebec Society war eine terroristische Untergrundbewegung, die für die Morde an einer Reihe kanadischer Beamter verantwortlich war. »Was ist mit denen?«

»In einem kürzlich eingegangenen Bericht des CIA wird behauptet, dass sie nach Moskau orientiert ist. Falls es ihnen irgendwie gelingen sollte, die Regierung unter ihre Kontrolle zu bringen, hätten wir es mit einem zweiten Kuba zu tun.«

»Ein zweites Kuba«, wiederholte der Präsident mit ausdrucksloser Stimme.

»Und eins, das in der Lage wäre, Amerika in die Knie zu zwingen.«

Der Präsident erhob sich aus seinem Sessel, trat ans Fenster, starrte auf die mit nassem Schnee bedeckte Wiese vor dem Weißen Haus hinaus. Er schwieg fast eine halbe Minute. Schließlich sagte er: »Wir können uns kein Machtspiel mit Quebec leisten. Besonders nicht in den kommenden Monaten.« Er drehte sich um, blickte Mercier traurig an. »Dieses Land ist pleite und steckt bis über die Ohren in Schulden, Alan, und, ganz unter uns gesagt, ist es nur noch eine Frage von wenigen Jahren, bis uns keine andere Wahl mehr bleibt, als alles hinzuschmeißen und den nationalen Bankrott zu erklären.«

Mercier ließ sich in die Kissen seines Sessels zurücksinken. Für einen schwergewichtigen Mann sah er seltsam gebeugt und eingeschrumpft aus. »Ich kann nur hoffen, dass es nicht während Ihrer Amtszeit dazu kommt, Herr Präsident.«

Der Präsident zuckte resigniert die Schultern. »Von Franklin Roosevelt an haben alle meine Vorgänger ein Versteckspiel getrieben und dem Verwaltungsapparat ihres Nachfolgers eine immer größer werdende finanzielle Last aufgebürdet. Und nun ist das Spiel so gut wie zu Ende, und ich bin derjenige, der alles auslöffeln muss. Falls wir auch nur zwanzig Tage in den nordöstlichen Staaten ohne Stromversorgung sind, kommt es zu einer Tragödie. Dann müsste ich den Termin für die Ankündigung einer neuen Währungsabwertung ganz drastisch vorverlegen. Ich brauche Zeit, Alan, Zeit, um die Öffentlichkeit und die Geschäftswelt auf das Kommende vorzubereiten. Zeit, um den Übergang zu einem neuen Geldstandard so schmerzlos wie möglich zu machen. Zeit, bis unsere Ölschieferraffinerien uns Unabhängigkeit von ausländischem Öl gewährleisten können.«

»Und wie können wir Quebec dazu bringen, inzwischen keine Dummheiten zu machen?«

»Das weiß ich nicht. Unsere Wahl ist sehr beschränkt.«

»Es bleiben zwei Möglichkeiten, wenn alles fehlgeschlagen ist«, sagte Mercier, und sein Gesicht wirkte angespannt. »Zwei Möglichkeiten, die seit Urzeiten dazu gedient haben, eine hoffnungslose Wirtschaftslage zu retten. Die eine ist, für ein Wunder zu beten.«

»Und die zweite?«

»Einen Krieg vom Zaun zu brechen.«

Um Punkt zwei Uhr dreißig nachmittags trat Mercier in das Forrestal-Gebäude auf der Independence Avenue und nahm den Fahrstuhl bis zur siebenten Etage. Er wurde sogleich in das prunkvolle Büro des Staatssekretärs für Energiefragen Ronald Klein geführt.

Klein, ein gelehrtenhaft aussehender Mann, schlank, einen Meter fünfundneunzig groß, mit langem weißem Haar und einer Adlernase, saß am hintersten Ende des mit Papieren übersäten Konferenztisches. Er erhob sich und kam auf Mercier zu, um ihm die Hand zu schütteln.

»Was ist denn nun die Angelegenheit von so großer Wichtigkeit?«, fragte er, ohne sich auf Begrüßungsplaudereien einzulassen.

»Es handelt sich um eine recht seltsame Sache«, erwiderte Mercier. »Ich habe gerade eine Anfrage vom Amt für Buchhaltung und Finanzen erhalten, mit der Bitte um Angabe der Daten bezüglich einer Ausgabe von sechshundertachtzig Millionen Dollar aus dem Bundesschatzfonds für die Entwicklung einer Kriechwanze.«

»Einer was?«

»Kriechwanze«, wiederholte Mercier in beiläufigem Ton. »Mit diesem Spitznamen bezeichnen unsere Geologen jene abwegigen Instrumente, die dazu dienen sollen, Mineralvorkommen unter der Erde festzustellen.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

»Der Betrag wurde vor drei Jahren als Ausgabe für das Energiedepartement vermerkt. Seitdem hat man nichts mehr davon gehört. Ich würde Ihnen raten, Ihre Leute auf Nachforschungen über den Verbleib dieses Betrages ansetzen zu lassen. Wir sind hier in Washington. Und Fehler der Vergangenheit haben die lästige Gewohnheit, den gerade waltenden Amtsinhabern auf den Kopf zu fallen. Falls Ihr Vorgänger eine so enorme Summe für einen weißen Elefanten verschleuderte, sollten Sie die Tatsachen lieber gleich ins Auge fassen, bevor ein neugebackener Kongressabgeordneter sich einmischt und eine Untersuchung einleitet, um sich Schlagzeilen zu verschaffen.«

»Ich bin Ihnen für die Warnung dankbar«, sagte Klein. »Ich werde meine Leute anhalten, alle Schränke zu durchsuchen.«

Mercier erhob sich und reichte ihm die Hand. »Nichts ist einfach.«

»Nein«, sagte Klein lächelnd. »Einfach ist es nie.«

Als Mercier gegangen war, trat Klein zum Kamin, blickte lässig auf das neue Holzscheit im rußigen Feuergitter, beugte den Kopf, vergrub die Hände in den Seitentaschen seiner Jacke und versank in Nachdenken.

»Unglaublich«, murmelte er den vier Wänden zu, »dass jemand es fertigbringt, sechshundertachtzig Millionen Dollar einfach aus den Augen zu verlieren.«

5

Charles Sarveux stand im Generatorenraum des hydroelektrischen Kraftwerks von James Bay und blickte über die hundertzwanzig Meter unter der Erde aus dem Granit gemeißelte Fläche von achtundvierzigtausend Quadratmetern. Drei Reihen riesiger Generatoren, fünf Stockwerke hoch und von Wasserturbinen angetrieben, summten mit Millionen Kilowatt von Elektrizität. Sarveux war sehr beeindruckt und tat es den erfreuten Direktoren der Quebec Hydro Power kund.

Es war sein erster Besuch in diesem Kraftwerk seit seiner Wahl zum Premierminister von Kanada, und er stellte all die Fragen, die man von ihm erwartete.

»Wie viel elektrische Energie produziert jeder dieser Generatoren?«

Der Generaldirektor Percival Stuckey trat hervor. »Fünfhunderttausend Kilowatt, Herr Premierminister.«

Sarveux nickte und gab seinem Gesicht einen leicht anerkennenden Ausdruck. Das gehörte zu jenen Verhaltensweisen, die er sich im Laufe seiner Wahlkampagne angeeignet hatte.

Sarveux galt sowohl bei Männern wie bei Frauen als ein äußerst gut aussehender Mann, und er hätte in einem Schönheitswettbewerb mit John F. Kennedy oder Anthony Eden wahrscheinlich den ersten Platz erobert. Seine hellblauen Augen besaßen große Anziehungskraft, und sein scharfgeschnittenes Gesicht wirkte besonders energisch unter der dichten und locker gekämmten Haarmähne, die ihm ein lässig elegantes Aussehen verlieh. Seine schlanke, mittelgroße Figur war geradezu der Traum eines Schneiders, aber er zog es vor, sich seine Anzüge von der Stange in einem Warenhaus zu kaufen. Das gehörte zu jenen charakteristischen Eigenschaften, die es den kanadischen Wählern ermöglichten, sich mit ihm zu identifizieren.

Als Kompromisskandidat zwischen den Liberalen, der Partei für ein Unabhängiges Kanada und der französischsprechenden Partei der Québéquois hatte er in den ersten drei Jahren seiner Amtszeit einen ständigen politischen Balanceakt ausgeführt und alles getan, um seinem Land die Einheit zu bewahren. Sarveux betrachtete sich als kanadischer Lincoln, der für Einigkeit und gegen den Zerfall seines Hauses kämpft. Seine Drohung mit Waffengewalt hatte bisher die radikalen Separatisten in Schach gehalten. Aber sein Werben für eine starke Zentralregierung stieß fast überall auf taube Ohren.

»Möchten Sie sich vielleicht die Kontrollzentrale anschauen?«, schlug Direktor Stuckey vor.

Sarveux wandte sich an seinen Sekretär. »Wie steht es mit unserer Zeit?«

Ian Jeffrey, ein Mann von Ende zwanzig mit einem ernsthaften Gesicht, blickte auf seine Uhr. »Knapp, Herr Premierminister. Wir sollten in dreißig Minuten auf dem Flugplatz sein.«

»Ach, wir können uns ruhig noch ein bisschen Zeit nehmen«, sagte Sarveux lächelnd. »Es wäre doch schade, etwas Interessantes zu verpassen.«

Stuckey nickte und zeigte auf eine Fahrstuhltür. Zehn Stockwerke über dem Generatorenraum stiegen Sarveux und seine Begleiter vor einer Tür aus, auf der zu lesen stand: NUR FÜR PERSONAL MIT SICHERHEITSAUSWEIS. Stuckey nahm eine Plastikkarte, die ihm an einer Schnur um den Hals hing, und steckte sie in einen Schlitz unterhalb der Türklinke. Dann drehte er sich um und sagte: »Es tut mir leid, meine Herren, aber in Anbetracht der Enge des Kontrollzentrums dürfen nur der Herr Premierminister und ich diesen Raum betreten.«

Sarveux’ Sicherheitsbeamte wollten protestieren, aber er winkte ihnen ab und folgte Stuckey durch die Tür und einen langen, schmalen Korridor entlang, wo die Kartenprozedur noch einmal wiederholt werden musste.

Die Kontrollzentrale des Kraftwerks war wirklich sehr klein und dazu noch von spartanischer Nüchternheit. Vier Ingenieure saßen vor einer mit unzähligen Schaltern und Lichtknöpfen übersäten Konsole, gegenüber einer Wand, in die Zähluhren und Messgeräte eingebaut waren. Außer einer Reihe von Bildkontrollempfängern, die von der Decke hingen, bestand die ganze Einrichtung sonst nur noch aus den Stühlen, auf denen die Ingenieure saßen.

Sarveux blickte sich beeindruckt um. »Ich finde es unglaublich, dass eine so riesige Energieproduktion von nur vier Mann und einem so bescheidenen Geräteaufwand kontrolliert werden kann.«

»Das gesamte Kraftwerk und das Stromverteilungsnetz werden zwei Stock unter uns von Computern bedient«, erklärte Stuckey. »Das Projekt ist zu neunundneunzig Prozent automatisiert. Was Sie hier sehen, Mr. Sarveux, ist das manuelle Überwachungssystem auf vierter Ebene, das die Computer im Falle eines Versagens ausschalten oder ersetzen kann.«

»So ist also immerhin noch eine menschliche Kontrolle möglich.« Sarveux lächelte.

»Ja, wir sind noch nicht ganz aus der Mode gekommen«, lächelte Stuckey zurück. »Es gibt noch einige Gebiete, wo wir der elektronischen Wissenschaft kein volles Vertrauen schenken können.«

»Und bis wohin erstreckt sich dieser Energiereichtum?«

»In einigen Tagen, wenn das Projekt voll und ganz operationsfähig ist, versorgen wir ganz Ontario, Quebec und die nordöstlichen Vereinigten Staaten.«

Ein plötzlicher Gedanke kam Sarveux in den Sinn. »Und falls das Unerwartete geschehen sollte?«

Stuckey sah ihn überrascht an. »Wie bitte, Sir?«

»Ein Zusammenbruch, eine Naturkatastrophe, Sabotage?«

»Nur ein sehr gewaltiges Erdbeben könnte die Stromversorgung völlig zum Erliegen bringen. Teilschäden oder Pannen können jederzeit durch zwei Ersatzsysteme ausgeglichen werden. Und sollten die versagen, so haben wir immer noch die manuelle Kontrolle hier in der Zentrale.«

»Und bei einem Terroristenüberfall?«

»Auch das haben wir bereits eingeplant«, erklärte Stuckey zuversichtlich. »Unser elektronisches Sicherheitssystem ist ein wahres Wunder an fortgeschrittener Technologie, und wir haben eine Schutztruppe von fünfhundert Mann zur Bewachung. Selbst eine Elitedivision der besten Kampfeinheit würde Monate brauchen, um in diesen Raum zu gelangen.«

»Dann könnte jemand hier den Strom ausschalten.«

»Das ist einem Einzelnen nicht möglich.« Stuckey schüttelte entschlossen den Kopf. »Zur Ausschaltung des Stroms bedarf es aller hier Anwesenden, einschließlich meiner selbst. Zwei oder drei Leute können es nicht. Jeder von uns folgt einer eigenen, in das System eingebauten Prozedur, die den anderen unbekannt ist. Wir haben wirklich nichts übersehen.«

Sarveux war sich dessen nicht so sicher.

Er schüttelte Stuckey die Hand. »Es war sehr beeindruckend. Ich danke Ihnen.«

Foss Gly war bei seiner Wahl der Mittel und des Ortes für den Mord an Charles Sarveux äußerst genau gewesen. Jedes mögliche Hindernis war einkalkuliert und mit der entsprechenden Gegenmaßnahme bedacht worden. Der Anflugwinkel des Flugzeugs und die Geschwindigkeit waren genau ausgerechnet. Gly hatte viele Stunden geprobt, bis er sich ganz sicher war, den Plan mit höchster Genauigkeit ausführen zu können.

Der gewählte Ort war ein Golfplatz, eine Meile hinter dem südwestlichen Ende der Startpiste des Flugplatzes von James Bay. Hier würde, gemäß den Berechnungen Glys, die Maschine des Premierministers eine Höhe von 450 Metern und eine Geschwindigkeit von 350 Stundenkilometern erreicht haben. Für den Angriff beabsichtigte Gly, in England hergestellte und aus dem Arsenal von Val-Jalbert gestohlene Argo-Boden-Luft-Raketen zu benutzen. Diese Handfeuerwaffen waren kompakt, wogen einschließlich der Ladung je dreißig Pfund und ließen sich, auseinandergenommen, leicht in einem Rucksack verstecken.

Der gesamte Plan konnte geradezu als klassisch gelten. Man brauchte nur fünf Mann dazu: drei warteten, als Skilangläufer verkleidet, auf dem Golfplatz; einer bezog seinen Beobachtungsposten auf der Terrasse des Flughafengebäudes mit einem kleinen versteckten Sendegerät; und nachdem die infrarotgesteuerten, wärmesuchenden Raketen auf das Ziel abgeschossen waren, begab sich die Angriffsgruppe auf ihren Skiern gemächlich zum verlassenen Clubhaus, um von dort in einem Kombi mit Vierradantrieb zu entkommen, den der fünfte Mann auf dem Parkplatz bereitgestellt hatte.

Gly suchte den Himmel mit einem Fernglas ab, während seine Mittäter die Raketen zusammensetzten. Der fallende Schnee beschränkte seine Sicht auf etwa dreihundert Meter.

Das hatte seine Vor- und Nachteile.

Der weiße Schleier verhüllte zwar ihre Tätigkeit, ließ ihnen jedoch nur wenige kostbare Sekunden, um ihre Raketen abzufeuern, wenn das Flugzeug sichtbar wurde. Ein Jet der British Airways flog vorbei, und Gly stoppte genau die Zeitspanne, bis er in den Wolken verschwand. Kaum sechs Sekunden. Zu schnell, stellte er grimmig fest. Ihre Chancen, zwei Treffer zu landen, waren hauchdünn.

Er wischte sich den Schnee von seiner sandblonden Mähne und ließ das Fernglas sinken. Auf den ersten Blick wirkte sein kantiges, rötliches Gesicht anziehend und fast knabenhaft. Sympathische braune Augen und ein markantes Kinn; aber bei näherem Hinsehen beherrschte die Nase alles Übrige. Sie war breit und entstellt von zahlreichen Brüchen, die sie in brutalen Straßenschlachten erlitten hatte, und sie war so hässlich, dass sie fast wiederum schön wirkte. Aus einem unerklärlichen Grund fanden Frauen sie sogar anziehend und sexy.

Das kleine Empfangsgerät in der Tasche seiner Daunenjacke begann zu piepsen. »Zentrale ruft Werkmeister.«

Er drückte auf den Sendeknopf. »Ich höre, Zentrale.«

Claude Moran, ein hagerer, pockennarbiger Marxist, der als Sekretär für den Generalgouverneur arbeitete, steckte sich den Hörerknopf ins Ohr und begann langsam in das Mikrofon an seinem Rockaufschlag zu sprechen, während er von der Beobachtungsterrasse auf die startbereiten Flugzeuge blickte.

»Ich habe eine Ladung Leitungsrohre, Werkmeister. Sind Sie bereit, sie in Empfang zu nehmen?«

»Sagen Sie mir, wann«, antwortete Gly.

»Der Lastwagen kommt gleich, sowie das Dockerteam die Fracht aus den Staaten abgeladen hat.«

Das harmlos klingende Gespräch sollte dazu dienen, etwaige Mithörer, die auf die gleiche Frequenz eingeschaltet waren, in die Irre zu führen. Gly entnahm Morans doppelsinnigen Worten, dass das Flugzeug des Premierministers auf der Startpiste war und nur noch abwarten musste, bis ein Jet der American Airlines abgeflogen war.

»Okay, Zentrale. Melden Sie sich wieder, wenn der Lastwagen vom Dock abfährt.«

Persönlich hatte Gly nichts gegen Charles Sarveux. Für ihn war der Premierminister nur ein Name in den Zeitungen. Gly war nicht einmal Kanadier.

Er hatte in Flagstaff, Arizona, das Licht der Welt erblickt, als Folge einer betrunkenen Paarung zwischen einem Profiringkämpfer und der minderjährigen Tochter des County Sheriffs. Seine Kindheit war ein Albtraum des Leidens gewesen, weil sein Großvater ihn bei jeder Gelegenheit auspeitschte. Gly war sehr stark und hart geworden. Dann kam der Tag, an dem er den Sheriff zu Tode prügelte und aus Arizona floh. Danach hatte er ständig um sein Leben kämpfen müssen. Er hatte Betrunkene in Denver ausgenommen, eine Bande von Autodieben in Los Angeles angeführt, Benzinlastwagen in Texas geraubt.

Gly betrachtete sich nicht als einen gewöhnlichen Mörder. Er zog es vor, sich als Organisator zu bezeichnen. Er war derjenige, an den man sich wandte, wenn alle anderen versagt hatten, ein führender Spezialist; und er stand im Ruf, kaltblütig und wirkungsvoll zu handeln.

Moran blickte über die Balustrade der Beobachtungsterrasse. Sarveux’ Flugzeug schien sich im fallenden Schnee auf der zur Startpiste führenden Bahn aufzulösen.

»Werkmeister.«

»Jawohl, Zentrale.«

»Tut mir leid, aber ich kann aus meinen Papieren nicht klar ersehen, wann genau die Leitungsrohre ankommen.«

»Verstanden«, antwortete Gly. »Melden Sie sich wieder nach dem Lunch.«

Moran erwiderte nichts. Er nahm die Rolltreppe bis zur Haupthalle hinunter, ging hinaus, rief ein Taxi. Auf dem Rücksitz gestattete er sich den Luxus, eine Zigarette zu rauchen, und fragte sich, welche hohe Stellung er für sich in der neuen Regierung von Quebec verlangen sollte.

Gly wandte sich auf dem Golfplatz den Männern mit den Raketen zu. Sie hockten mit einem Knie im Schnee und hatten die Augen an die Visierlinsen gedrückt.

»Unser Ziel ist der übernächste Abflug«, ermahnte er sie.

Nahezu fünf Minuten schleppten sich vorbei, bevor Gly das ferne Dröhnen von Jetmotoren vernahm. Er starrte angestrengt durch den weißen Schleier, denn jeden Augenblick musste jetzt die amerikanische Maschine mit ihrem rot-blauen Abzeichen sichtbar werden.

Zu spät fiel ihm ein, dass die Maschine eines Staatsoberhauptes Vorrechte genoss und vor dem amerikanischen Linienflugzeug starten würde. Zu spät sah er, wie das rot-weiße kanadische Ahornblatt für einen kurzen Augenblick am Himmel auftauchte.

»Es ist Sarveux!«, rief er. »Feuer, zum Donnerwetter, Feuer!«

Die beiden Männer drückten fast gleichzeitig auf ihre Abzugsknöpfe. Der erste zielte in die Richtung des Flugzeugs, aber seine Rakete beschrieb einen zu weiten Bogen hinter dem Heck, sodass der wärmesuchende Mechanismus nicht wirksam werden konnte. Der zweite feuerte mit mehr Entschlossenheit. Er drückte erst ab, nachdem er sich der genauen Flugrichtung versichert hatte.

Der Raketenkopf schoss gezielt auf den Auspuff des äußeren Steuerbordtriebwerks zu, schlug achtern in die Turbine ein. Den Männern auf dem Boden schien es, als habe die dumpfe Explosion erst stattgefunden, nachdem das Flugzeug schon längst aus ihrer Sicht verschwunden war. Sie warteten auf die Geräusche eines Absturzes, aber das immer schwächer werdende Heulen der Triebwerke blieb ununterbrochen. Rasch montierten sie ihre Raketenwerfer ab, packten sie ein und eilten auf ihren Skiern dem Parkplatz zu. Bald darauf hatten sie sich in den nach Süden gehenden Verkehr auf dem James Bay – Ottawa Highway eingeschleust.

Das äußere Triebwerk explodierte, die Turbinenbeschaufelung zersplitterte, flog durch die Verkleidung, schlug wie ein Schrapnellregen gegen das innere Triebwerk, durchbrach die Treibstoffzufuhr und zertrümmerte den zweitstufigen Kompressor.

Im Cockpit ertönte Feueralarm, und der Pilot Ray Emmett schloss die Drosselung und drückte auf den Knopf, der die Feuerlöscher in Betrieb setzte. Sein Copilot Jack May ging die Liste der Notmaßnahmen durch.

»James-Bay-Kontrollturm, hier ist Kanada Eins. Wir haben ein Problem und kehren um«, sagte Emmett mit ruhiger und eintöniger Stimme.

»Ist das eine Notmeldung?«, fragte der Fluglotse.

»Jawohl.«

»Wir machen die Piste vierundzwanzig frei. Können Sie eine Normallandung vornehmen?«

»Die Antwort ist nein, James Bay«, erwiderte Emmett. »Ich habe zwei Triebwerke außer Betrieb, und eins davon brennt. Ich schlage vor, Sie lassen Notstandsausrüstung kommen.«

»Löschwagen und Rettungsausrüstung rollt an, Kanada Eins. Sie haben freie Landung. Viel Glück.«

Die Männer im Kontrollturm wussten, dass der Pilot von Kanada Eins unter schwerem Druck stand, und wollten ihn deshalb nicht durch weitere Gespräche ablenken. Sie konnten nur noch dasitzen und hoffen.

Das Flugzeug zog eine Schleife, Emmett senkte den Bug, beschleunigte die Geschwindigkeit auf vierhundert Stundenkilometer, beschrieb einen weiten Bogen. Zum Glück schneite es jetzt etwas weniger, er hatte eine Sichtweite von etwa zwei Meilen, konnte die Felder sehen und dahinter das Ende der Landepiste.

Hinten in der Kabine des Premierministers machten sich die beiden Leibwächter der Royal Canadian Mounted Police, die Sarveux rund um die Uhr bewachten, sofort an die Arbeit, als sie den Aufprall der Rakete vernahmen. Sie schnallten Sarveux in seinen Sitz und türmten um ihn herum einen Berg lockerer Kissen auf. Weiter vorn starrten seine Sekretäre und die stets anwesenden Pressereporter nervös auf das schwelende Triebwerk, das ganz so aussah, als würde es die Tragfläche durchschmelzen.

Die Hydraulikanlage war tot. Copilot May schaltete auf Handbetrieb um. Selbst bei Vollgas hatten die beiden noch laufenden Triebwerke alle Mühe, die riesige Maschine in der Luft zu halten. Sie sank jetzt rasch, war nur noch hundertachtzig Meter hoch, doch Emmett fuhr das Fahrgestell noch nicht aus, wollte bis zum allerletzten Augenblick die so kostbare Fluggeschwindigkeit einhalten, die ihm noch blieb.

Die Maschine überflog die Grünanlagen der Umgebung des Flugplatzes. Es sollte sehr knapp werden. Bei sechzig Meter Höhe ließ Emmett das Fahrgestell heraus. Die Maschine näherte sich dem drei Kilometer langen Band der Landungspiste vierundzwanzig wie im Zeitlupentempo. Jetzt schwebten sie über dem ersten Asphaltstück, und die Räder waren nur noch eineinhalb Meter über dem Boden. Emmett und May zogen mit aller Kraft das Kontrolljoch zurück. Eine sanfte Landung wäre ein Wunder gewesen, jede Art von Landung war fast ein Wunder. Der Aufprall war hart, ließ den ganzen Rumpf erzittern und drei Reifen platzen.

Das zerschmetterte Steuerbordtriebwerk brach ab, stürzte wild herumwirbelnd zu Boden, prallte wieder auf, schlug an die Tragfläche und riss die äußere Treibstoffzufuhr auf. Zwanzigtausend Liter Turbinentreibstoff flammten an der rechten Seite des Flugzeugs in einer riesigen Feuerkugel auf.

Emmett ließ die beiden noch funktionierenden Motoren im Rückwärtsgang aufheulen und versuchte verzweifelt, die Maschine an einer Linksabschwenkung zu hindern. Gummifetzen von den zerplatzten Reifen stoben hoch in die Luft. Riesige Stücke der brennenden Tragfläche brachen ab, schwirrten auf eine Wartepiste zu, knapp an einem dort parkenden Flugzeug vorbei. Mit heulenden Sirenen und Blinklichtern rasten die Feuerwehrwagen der Maschine des Präsidenten nach.

Das sterbende Flugzeug schoss dahin wie ein feuriger Meteor, hinterließ einen Schweif brennender Trümmer.

Die Flammen drangen in das Rumpfwerk, das dahinzuschmelzen begann. Im Inneren wurde die Hitze höllisch. Die Isolierung brach ein, und Rauchwolken drangen in die Kabine. Einer der Mounties riss die dem Feuer gegenüberliegende Notbehelfstür auf, während der andere den Gurt des Premierministers löste und ihn dann ziemlich unsanft aus dem Sitz riss.

Weiter vorn, im großen Raum oberhalb der Tragfläche, starben die Menschen in ihren schwelenden Kleidern, als die Hitze ihre Lungen zerriss. Ian Jeffery taumelte schreiend ins Cockpit und sank dann bewusstlos zu Boden. Emmett und May nahmen keine Notiz von ihm. Sie waren vollauf damit beschäftigt, das sich in seine Bestandteile auflösende Flugzeug auf geradem Kurs zu halten, während es dem Ende der Piste zudonnerte.

Die Mounties ließen die Notrutsche herausschnellen, die aber kläglich zusammenbrach, als ein rotglühendes Trümmerstück ihr entgegenflog und die Luftblase zum Platzen brachte. Sie drehten sich um und sahen mit Schrecken, dass die vordere Trennwand der Kabine bereits in Flammen stand. Da nichts anderes mehr übrig blieb, griff einer von ihnen nach einer Decke und wickelte sie Sarveux um den Kopf.

»Halten Sie sich daran fest!«, schrie er ihm zu.

Und dann stieß er den Premierminister hinaus.

Die Decke rettete Sarveux das Leben. Er landete auf einer Schulter, rollte wie ein Rad über die raue Piste, konnte jedoch dank der Decke seinen Kopf schützen. Seine Beine schlugen aus, das linke Schienbein brach. Der Premier rollte noch etwa dreißig Meter weiter, blieb dann liegen, der Anzug völlig in Fetzen zerrissen, die infolge der vielen Hautabschürfungen allmählich eine rote Farbe annahmen.

Emmett und May kamen im Cockpit um. Sie starben mit zweiundvierzig anderen Männern und drei Frauen, als die zweitausend Tonnen des Flugzeugs in einem rotorangenen Flammenmeer aufgingen. Brennende Trümmer waren über ein Viertel der Piste verteilt, die Feuerwehrleute kämpften noch verbissen gegen die Flammenglut, aber die Tragödie war beendet. Bald war das schwarze Gerippe des Flugzeugs unter einem Berg von weißem Schaum begraben. Männer in Asbestanzügen durchsuchten das schwelende Wrack, und manchem wurde schlecht, als er die verkohlten Körper sah, die kaum noch als Menschen zu erkennen waren.

Sarveux starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Katastrophe. Zuerst erkannten ihn die Sanitäter nicht. Dann kniete sich einer vor ihn und sah sich das Gesicht genauer an.

»Ach, du heilige Mutter Gottes!«, rief er aus. »Es ist der Premierminister!«

Sarveux versuchte zu antworten, wollte irgendetwas Sinnvolles sagen. Aber die Worte kamen nicht. Er schloss die Augen und gab sich dankbar dem Dunkel hin, das ihn einschloss.

6

Blitzlichter flammten auf, und Fernsehkameras richteten ihre Linsen auf die anmutig zarte Gestalt der Gemahlin des Premierministers, die sich mit der stillen Grazie einer Galionsfigur durch ein Meer von Reportern bewegte.

Danielle Sarveux blieb vor der Tür der Empfangshalle des Krankenhauses stehen, nicht aus Schüchternheit, sondern der Wirkung wegen. Denn Danielle Sarveux betrat nicht einfach einen Raum; sie erfüllte ihn. Sie strahlte einen unbeschreiblichen Zauber aus, der Frauen in offener Bewunderung oder Neid erstarren ließ. Auf Männer wirkte sie überwältigend. Selbst ältere Staatsmänner führten sich in ihrer Gegenwart oft wie schüchterne Schuljungen auf.

Wer Danielle näher kannte, empfand ihre kalten Posen und ihr granithartes Selbstbewusstsein als ärgerlich. Aber für die große Masse der Menschen war sie ein Symbol, ein Musterbeispiel sozusagen, mit dem man beweisen konnte, dass Kanada kein Land von primitiven Holzfällern war.

Ob sie bei gesellschaftlichen Anlässen erschien oder zum Krankenbett ihres schwerverletzten Gemahls eilte, immer kleidete sie sich mit erlesener und unauffälliger Eleganz. So schritt sie nun an den Reportern in einem hochgeschlossenen, an der Seite leicht geschlitzten Kleid aus beigem Crêpe de Chine vorbei, über dem sie eine naturgraue Breitschwanzjacke trug. Ihr rabenschwarzes Haar hing nach vorn über die rechte Schulter.

Hunderte von Fragen tönten ihr entgegen, ein ganzer Wald von Mikrofonen wurde ihr entgegengestreckt, aber sie ignorierte es. Vier hünenhafte Mounties bahnten ihr den Weg zum Fahrstuhl. Im vierten Stock trat der Chefarzt auf sie zu und stellte sich als Dr. Ericsson vor.

Sie blickte ihn an, hielt sich zurück, die gefürchtete Frage zu stellen. Ericsson griff ihrer Besorgnis voraus und setzte sein bestes ärztliches Zuversichtslächeln auf. »Der Zustand Ihres Gemahls ist zwar ernst, aber sein Leben ist nicht in Gefahr. Er hat schwere Hautabschürfungen erlitten, die fast fünfzig Prozent seines Körpers bedecken, aber es hat keine weiteren Komplikationen gegeben. Wir werden Hautverpflanzungen vornehmen müssen, vor allem an den Händen, wo die Gewebeverluste besonders schwer sind. Was die Knochenbrüche anbetrifft, so war unser orthopädisches Spezialistenteam sehr erfolgreich. Allerdings wird es vielleicht noch Monate dauern, bis er aufstehen und sich richtig bewegen kann.«

Sie sah, dass er Ausflüchte machte. »Können Sie mir versprechen, dass Charles zu gegebener Zeit wieder völlig hergestellt ist?«

Jetzt war Ericsson in die Ecke getrieben. »Ich muss Ihnen leider gestehen, dass der Herr Premierminister ein leichtes Hinken beibehalten wird.«

»Und das nennen Sie eine geringfügige Komplikation?«

Der Arzt hielt ihrem Blick stand. »Jawohl, Madame, das tue ich. Der Herr Premierminister hat ein unglaubliches Glück gehabt. Keine komplizierten inneren Verletzungen, keine Beeinträchtigung seiner geistigen und körperlichen Funktionen, und die Narben werden mit der Zeit verheilen. Schlimmstenfalls wird er am Stock gehen müssen.«

Zu seiner Überraschung verzog sich ihr Mund zu einem zynischen Lächeln. »Charles am Stock! Mein Gott, das ist ja unbezahlbar.«

»Wie bitte, Madame?«

Das Hinken wird ihm mindestens zwanzigtausend Wahlstimmen einbringen, war die Antwort, die ihr durch den Kopf ging, aber so mühelos, wie ein Chamäleon die Farbe wechselt, gab sie ihrem Gesicht wieder den Ausdruck der besorgten Ehefrau. »Kann ich ihn sehen?«

Ericsson nickte und führte sie zu einer Tür am Ende des Korridors. »Die Wirkung der Narkose ist noch nicht ganz vorüber, und Sie werden ihn vielleicht noch ein bisschen benommen finden. Außerdem hat er starke Schmerzen, und ich muss Sie bitten, Ihren Besuch möglichst kurz zu machen. Das Personal hat ein anschließendes Zimmer zur Verfügung gestellt, falls Sie wünschen, in seiner Nähe zu bleiben, während er sich erholt.«

Danielle schüttelte den Kopf. »Die Berater meines Mannes halten es für besser, wenn ich in der offiziellen Residenz bleibe, wo ich bei der Erledigung seiner laufenden Amtspflichten behilflich sein kann.«

»Ich verstehe.« Er öffnete die Tür und trat zur Seite. Um das Krankenbett standen mehrere Ärzte und Krankenschwestern und ein wachsamer Mountie. Sie verließen das Zimmer, als sie eintrat.

Der Geruch der Antiseptika und der Anblick des unbandagierten rohen Fleisches auf den Armen ließen Übelkeit in ihr aufsteigen. Sie zögerte einen Augenblick. Dann erkannte er sie durch halb geöffnete Augen, und seine Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Danielle«, sagte er mit schleppender Stimme. »Verzeih mir, dass ich dich nicht küsse.«

Zum ersten Mal sah sie Sarveux ohne seinen Panzer von Stolz. Er war ihr bisher noch nie wehrlos und verletzlich erschienen, und sie vermochte kaum, diesen gebrochenen und unbeweglichen Körper auf dem Krankenhausbett mit dem eitlen Mann in Verbindung zu bringen, mit dem sie seit zehn Jahren zusammenlebte. Das bleiche, schmerzverzerrte Gesicht war nicht das Gesicht, das sie kannte. Es war ihr, als schaute sie einen Fremden an.

Zögernd beugte sie sich über ihn und küsste ihn sanft auf die Wangen. Dann strich sie ihm das graue Haar aus der Stirn, wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Dein Geburtstag«, sagte er plötzlich. »Ich hatte deinen Geburtstag ganz vergessen.«

Sie sah ihn verwirrt an. »Aber mein Geburtstag ist doch noch lange nicht fällig, Liebster.«

»Ich wollte dir ein Geschenk kaufen.«

Sie wandte sich an den Arzt. »Er scheint zu fantasieren.«

Ericsson schüttelte den Kopf. »Die Nachwirkungen der Narkose.«

»Gott sei Dank wurde nur ich verletzt und nicht du«, redete Sarveux weiter. »Meine Schuld.«

»Nein, nein, es war nicht deine Schuld«, sagte Danielle mit ruhiger Stimme.

»Die Straße war voller Eis und die Windschutzscheibe ganz eingeschneit, und ich konnte nichts sehen. Habe die Kurve zu rasch genommen und auf die Bremse getreten. Ein Fehler. Die Kontrolle verloren …«

Jetzt verstand sie. »Vor vielen Jahren hatte er einen Autounfall«, erklärte sie Ericsson. »Seine Mutter kam dabei um.«

»Unter Drogeneinfluss verliert man oft jedes Zeitgefühl«, erläuterte der Arzt.

»Charles«, sagte sie, »du musst dich jetzt ausruhen. Ich komme morgen früh wieder.«

»Nein, gehe noch nicht.« Sarveux blickte über ihre Schulter zu Ericsson. »Ich muss mit Danielle allein sprechen.«