Polarsturm - Clive Cussler - E-Book

Polarsturm E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Ein skrupelloser Geschäftemacher schürt einen bewaffneten Konflikt zwischen Kanada und den USA. Dirk Pitt ist der Einzige, der einen für die ganze Welt verheerenden Krieg jetzt noch verhindern könnte. Doch als er einem Hinweis auf die Hintermänner dieser Verschwörung ins ewige Eis der Arktis folgt, wird Pitt bereits von einem brutalen Killerkommando erwartet. Und während er noch um sein Leben kämpft, dringt ein US-Bomber mit seiner todbringenden Fracht in den kanadischen Luftraum ein …

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Clive Cussler

& Dirk Cussler

Polarsturm

Roman

Aus dem Englischen von Oswald Olms

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Arctic Drift« bei Putnam, New York.

1. Auflage

E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © 2008 by Sandecker, RLLLP

All rights reserved by the Proprietor throughout the world

By arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Joern Rauser

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15195-9

www.blanvalet.de

Im Gedenken an Leigh Hunt.

Ja, es gab wirklich einen Leigh Hunt.

Er war ein teurer Freund, Bonvivant, ein pfiffiger und übermütiger Don Juan, der auf eine Art und Weise mit Frauen umgehen konnte, um die ihn jeder beneidete.

Ich habe ihn im Prolog von zehn Dirk-Pitt-Romanen sterben lassen. Er wollte zwar immer eine größere Rolle in den Geschichten spielen, beklagte sich aber nie …

Dafür hat er den Ruhm genossen.

Bis dann, alter Freund, du wirst schmerzlich vermisst.

PROLOG DIE TODESPASSAGE

April 1848

VIKTORIASTRASSE NORDPOLARMEER

Der Schrei gellte wie das Heulen eines weidwunden Dschungeltieres durch das Schiff, ein klagendes Jaulen, das wie ein Todesflehen klang. Eine zweite Stimme fiel in das Jammern ein, dann eine dritte, bis ein grausiger Chor durch die Dunkelheit hallte. Als die schaurigen Schreie verklangen, kehrte ein paar Sekunden lang eine bedrückende Stille ein, bis dann erneut ein Gepeinigter die Stimme erhob. Ein paar entfernt sitzenden Seeleuten, die noch halbwegs bei Sinnen waren, entgingen die Laute nicht. So beteten sie darum, dass ihnen ein leichterer Tod vergönnt sein möge.

Kommandant James Fitzjames hörte in seiner Kabine zu, während er so etwas wie einen silbrigen Felsbrocken in seinen Händen knetete. Er hielt sich das kalte, schimmernde Mineral vor die Augen und verfluchte seinen Glanz. Dieses Zeug, aus was immer es bestehen mochte, hatte allem Anschein nach dies Unheil über das Schiff gebracht. Schon bevor es an Bord geschafft worden war, hatte das Mineral den Pesthauch des Todes an sich gehabt. Zwei Besatzungsmitglieder in einem Walfangboot waren beim Transport der ersten Gesteinsproben über Bord gegangen und in den eisigen arktischen Gewässern binnen kürzester Zeit erfroren. Ein weiterer Seemann war bei einer Messerstecherei umgekommen, als er ein paar der Steine bei einem durchgedrehten Zimmermannsmaat gegen Tabak eintauschen wollte. Mittlerweile war in den letzten paar Wochen mehr als die Hälfte seiner Besatzung langsam, aber unaufhaltsam dem Wahnsinn anheimgefallen. Dass wir in diesem ewigen Winter festsitzen, ist zweifellos auch daran schuld, dachte er, aber diese Steine spielen gewiss ebenfalls eine Rolle.

Von einem lauten Klopfen an der Kabinentür wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Da er seine Kräfte sparen wollte, stand er nicht auf, sondern antwortete lediglich mit einem krächzenden »Ja?«.

Ein kleiner Mann in einem verdreckten Sweater, das Gesicht hager und schmutzig, öffnete die Tür.

»Käpt’n, ein oder zwei von denen versuchen wieder die Barrikade zu durchbrechen.« Es war der Quartiermeister des Schiffes, der dies mit schwerem schottischen Akzent meldete.

»Holen Sie Lieutenant Fairholme«, erwiderte Fitzjames, während er sich langsam erhob. »Er soll seine Männer zusammentrommeln.«

Fitzjames warf den Steinbrocken auf seine Koje und folgte dem Quartiermeister nach draußen. Sie stiegen einen dunklen, muffigen Niedergang hinab, der nur von ein paar mit Kerzen bestückten Laternen beleuchtet wurde. Als sie die Hauptluke passierten, verschwand der Quartiermeister, während Fitzjames weiter in Richtung Vorschiff ging. Kurz darauf blieb er vor einem großen Trümmerhaufen stehen, der ihm den Weg versperrte. Eine Unmenge von Fässern, Kisten und Tonnen war in dem Gang verkeilt und bis zu dem darüber liegenden Deck so aufgetürmt worden, dass all dies eine Barrikade zu den vorderen Abteilungen bildete. Irgendwo auf der anderen Seite des Hindernisses hörte man das Scharren der Kisten und das Schnauben der Männer.

»Sie machen sich schon wieder dran zu schaffen«, sagte ein schläfrig wirkender Seesoldat, der mit einer Steinschlossmuskete an dem Trümmerhaufen Wache stand. Der kaum neunzehn Jahre alte Posten hatte einen schmutzigen Bart, der wie Dornengestrüpp aus seinem Kinn wucherte.

»Wir überlassen ihnen das Schiff noch früh genug«, erwiderte Fitzjames mit müder Stimme.

Die hölzerne Leiter hinter ihnen knarrte, als drei Männer vom darunter liegenden Orlopdeck zur Hauptluke emporkletterten. Ein Schwall eisiger Luft zog durch den Gang, bis einer der Männer eine Segeltuchplane über die Luke zog. Ein ausgemergelter Mann in einer schweren wollenen Offiziersjacke trat aus dem Schatten und wandte sich an Fitzjames.

»Sir, der Waffenschrank ist nach wie vor gesichert«, meldete Lieutenant Fairholme, von dessen Mund beim Sprechen eine dichte Dampfwolke aufstieg. »Quartiermeister McDonald lässt die Männer in der großen Offizierskabine antreten.« Er hob eine kleine Perkussionspistole und fügte hinzu: »Wir haben drei Waffen für uns rausgeholt.«

Fitzjames nickte, während er die beiden anderen Männer betrachtete, ausgezehrt wirkende königliche Marineinfanteristen, die mit Musketen bewaffnet waren.

»Danke, Lieutenant. Geschossen wird nur auf meinen ausdrücklichen Befehl«, sagte der Kommandant leise.

Ein schriller Schrei ertönte hinter der Barriere, gefolgt von einem lauten Scheppern von Töpfen und Pfannen. Der Lärm wird immer wilder, dachte Fitzjames. Er konnte nur mutmaßen, was für Abscheulichkeiten auf der anderen Seite der Barrikade vor sich gingen.

»Sie werden zusehends gewalttätiger«, sagte der Lieutenant mit gedämpfter Stimme.

Fitzjames nickte grimmig. Als er sich zum Polarforschungsdienst gemeldet hatte, hätte er sich niemals vorstellen können, dass er einmal eine wahnsinnig gewordene Besatzung zur Räson bringen musste. Er war ein kluger und umgänglicher Mann, der bei der Royal Navy rasch aufgestiegen war und mit dreißig Jahren das Kommando über eine Korvette erhalten hatte. Jetzt, da er sechsunddreißig war und ums nackte Überleben kämpfte, stand der Offizier, der man einst als »bestaussehender Mann der Marine« bezeichnet hatte, vor seiner schwersten Prüfung.

Vielleicht war es gar nicht so überraschend, dass ein Teil der Besatzung den Verstand verloren hatte. Den arktischen Winter auf einem im Eis eingeschlossenen Schiff zu überleben, war eine furchtbare Herausforderung. Die Männer, die der Dunkelheit und erbarmungslosen Kälte monatelang ausgesetzt waren, saßen in den engen Verschlägen des Unterdecks fest, wo sie gegen Ratten, Platzangst und Einsamkeit kämpften und zudem unter Skorbut und Erfrierungen litten. Einen Winter zu überstehen war schon schwer genug, aber Fitzjames’ Besatzung brachte gerade den dritten arktischen Winter in Folge hinter sich, und ihr Leiden wurde durch Nahrungs- und Brennstoffknappheit noch verschlimmert. Der vorzeitige Tod von Sir John Franklin, dem Leiter der Expedition, trug ein Weiteres dazu bei, dass ihre Zuversicht schwand.

Doch Fitzjames wusste, dass noch etwas wesentlich Unheilvolleres am Werk war. Als sich ein Bootsmannsmaat die Kleider vom Leib riss, aufs Oberdeck stieg und schreiend über das Treibeis rannte, hätte man dies als einen einzelnen Fall von geistiger Umnachtung abtun können. Aber als drei Viertel der Besatzung anfingen, im Schlaf zu brüllen, teilnahmslos umhertorkelten, unverständliches Zeug vor sich hin brabbelten und unter Hirngespinsten litten, wurde ihm klar, dass noch etwas anderes im Spiel war. Als die Betroffenen allmählich immer gewalttätiger wurden, ließ Fitzjames sie heimlich ins Vorschiff bringen und unter Quarantäne stellen.

»Irgendetwas auf dem Schiff treibt sie in den Wahnsinn«, sagte Fairholme leise, als könnte er Fitzjames’ Gedanken lesen.

Fitzjames wollte gerade nicken, als eine kleine Kiste über die Barrikade geflogen kam und ihn beinahe am Kopf getroffen hätte. Das fahle Gesicht eines ausgezehrten Mannes, dessen Augen im flackernden Kerzenschein rot glühten, tauchte in dem Spalt zwischen Barriere und Oberdeck auf. Rasch zwängte er sich durch die Lücke und stürzte dann die Barrikade herab. Als sich der Mann wieder aufrappelte, erkannte Fitzjames, dass es sich um einen der Heizer handelte, die die Dampfmaschine des Schiffes mit Kohle versorgten. Der Heizer trug trotz der frostigen Temperaturen im Schiff kein Hemd und hatte ein schweres Schlachtermesser in der Hand, das er sich in der Kombüse besorgt haben musste.

»Wo sind die Schlachtlämmer?«, schrie er und hob das Messer.

Ehe er zustechen konnte, parierte einer der königlichen Marineinfanteristen den Angriff mit dem Kolben seiner Muskete und traf den Heizer seitlich am Kopf. Das Messer schlug gegen eine Kiste, als der Mann zu Boden ging und mit blutendem Gesicht liegen blieb.

Fitzjames riss sich von dem bewusstlosen Heizer los und wandte sich an die Besatzungsmitglieder, die ihn umstanden. Müde, abgemagert und von der mangelhaften Kost ausgezehrt schauten ihn alle an, als warteten sie auf eine Anweisung von seiner Seite.

»Wir verlassen sofort das Schiff. Noch haben wir über eine Stunde Tageslicht. Wir schlagen uns zur Terror durch. Lieutenant, lassen Sie die Schlechtwetterausrüstung in die große Kabine bringen.«

»Wie viele Schlitten soll ich vorbereiten?«

»Keinen. Lassen Sie so viel Proviant einpacken, wie jeder Mann tragen kann, aber keine weitere Ausrüstung.«

»Ja, Sir«, erwiderte Fairholme, nahm zwei Männer mit und verschwand durch die Hauptluke. Tief im Laderaum des Schiffes lagerten Parkas, Stiefel und Handschuhe, die die Besatzung trug, wenn sie an Deck arbeitete oder mit Schlitten abseits des Schiffes auf Erkundung ging. Fairholme und seine Männer schleppten eilends Schlechtwetterausrüstung nach oben und schafften sie in die geräumige Offiziersmesse im Achterschiff.

Fitzjames begab sich in seine Kajüte, wo er einen Kompass, eine goldene Uhr und ein paar Briefe holte, die er an seine Familie geschrieben hatte. Er schlug das Logbuch auf und machte mit zittriger Hand einen letzten Eintrag, kniff dann niedergeschlagen die Augen zu und schloss das in Leder gebundene Buch. Die Marinetradition gebot, dass er das Logbuch mitzunehmen hatte, doch er legte es stattdessen auf eine Mappe mit Daguerreotypien in seinen Schreibtisch und schloss es ein.

Elf Besatzungsmitglieder, der bei Verstand gebliebene Überrest von ursprünglich achtundsechzig Mann, erwarteten ihn in der großen Kabine. Der Kommandant schlüpfte in einen Parka und ein Paar Stiefel, dann führte er seine Besatzung durch den Hauptaufgang nach oben. Sie stießen die Lukenabdeckung auf und stiegen aufs Oberdeck, wo sie den Elementen schutzlos ausgesetzt waren. Es war, als träten sie durch die Pforten einer eisigen Hölle.

Aus dem dunklen, dumpfigen Inneren des Schiffes kamen sie in eine beißende, knochenweiße Welt. Ein heulender Wind deckte die Männer mit einem Hagel aus Eiskristallen ein und fegte mit vierzig Grad Kälte über sie hinweg. In dem schwindelerregend wirbelnden Weiß konnte man Himmel und Erde, Oben und Unten nicht mehr voneinander unterscheiden. Fitzjames stemmte sich gegen die wilden Böen und tastete sich über das verschneite Oberdeck und ein Fallreep hinab aufs Packeis.

Eine halbe Meile entfernt saß das Schwesterschiff der Erebus, die HMS Terror, im gleichen Eisfeld fest. Doch der erbarmungslose Wind schränkte die Sicht auf ein paar wenige Meter ein. Wenn sie die Terror in dieser weißen Hölle verpassten, würden sie ziellos auf dem Eis umherwandern und sterben. Deshalb waren im Abstand von hundert Schritten hölzerne Markierungspfosten zwischen den Schiffen aufgestellt worden, doch unter diesen Witterungsbedingungen bedeutete es schon eine mörderische Herausforderung, die nächste Markierung zu finden.

Fitzjames zückte seinen Kompass und nahm eine Peilung auf zwölf Grad vor, denn in dieser Richtung lag, wie er wusste, die Terror. Das Schwesterschiff befand sich eigentlich genau östlich von ihnen, aber die Nähe des magnetischen Nordpols führte zu einer Kompassdeviation. Im Stillen betete er darum, dass sich das Packeis seit den letzten Peilungen nicht verschoben hatte, beugte sich dann über den Kompass und trottete in die von der Nadel gewiesene Richtung. Ein Seil wurde von Mann zu Mann weitergereicht, worauf sich der Trupp wie ein riesiger Tausendfüßler über das Eis bewegte.

Der junge Kommandant schlurfte mit gesenktem Kopf dahin, ohne den Blick vom Kompass zu wenden, während ihm der eisige Wind und der wehende Schnee im Gesicht brannten. Er zählte hundert Schritte ab, blieb stehen und blickte sich um. Erleichtert atmete er auf, als er inmitten der wattigen Wirbel die erste Markierung entdeckte. Er begab sich zu dem Pfosten, nahm eine weitere Peilung vor und marschierte zur nächsten Markierung. So schleppten sich die Männer von einem Pfosten zum nächsten und kletterten über Schneehügel, die sich oftmals bis zu zehn, zwölf Meter auftürmten. Fitzjames konzentrierte sich mit aller Kraft auf seinen Weg und verdrängte die Enttäuschung darüber, dass er sein Schiff einer Horde Wahnsinniger überlassen musste. Er war sich dessen nur zu sehr bewusst, dass es eine Frage des Überlebens war. Und das war alles, worauf es nach drei Jahren in der Arktis noch ankam.

Ein tiefes Donnern erschütterte seine Hoffnung: ein ohrenbetäubendes Geräusch, trotz des heulenden Windes. Es klang wie der Schuss einer großen Kanone, aber der Kommandant wusste, worum es sich handelte. Es rührte von dem Eis unter seinen Füßen her, das in dicken Schichten übereinanderlag, die sich regelmäßig zusammenzogen und ausdehnten.

Seit die beiden Expeditionsschiffe im September 1846 im Eis stecken geblieben waren, hat sich die mächtige Decke des sogenannten Beaufort-Eisstroms über zwanzig Meilen vorangeschoben. Wegen des ungewöhnlich kalten Sommers waren sie das ganze Jahr 1847 hindurch im Eis gefangen gewesen, während das Frühlingstauwetter ungewöhnlich kurz angedauert hatte. Der Einbruch der nächsten Kälteperiode ließ Zweifel daran aufkommen, dass die Schiffe im darauffolgenden Sommer freikommen könnten. Unterdessen konnte jede weitere Eisdrift tödlich sein, da selbst ein robustes hölzernes Schiff wie eine Streichholzschachtel zerquetscht werden konnte. Siebenundsechzig Jahre später würde Ernest Shackleton ohnmächtig mit ansehen müssen, wie sein Schiff, die Endurance, von dem Packeis in der Antarktis, während es sich ausbreitete, zermalmt wurde.

Obwohl sein Herz bereits raste, beschleunigte Fitzjames seine Schritte, als in der Ferne ein weiterer Donnerschlag widerhallte. Das Seil straffte sich in seinen Händen, da die Männer hinter ihm nur noch mühsam mitkamen. Aber er wollte nicht langsamer werden. Als er den seines Wissens letzten Markierungspfosten erreichte, spähte er blinzelnd in den Sturmwind. Durch das wirbelnde Weiß sah er einen Augenblick lang etwas Dunkles vor sich.

»Sie ist unmittelbar vor uns«, rief er den Männern hinter ihm zu. »Haltet euch ran, wir sind fast da.«

Wie ein Mann stürmte die Schar nun auf das Ziel zu. Als sie über einen zerklüfteten Eisberg kletterten, sahen sie endlich die Terror vor sich. Mit ihren dreißig Metern Länge glich sie von der Größe und vom Aussehen her fast ganz ihrem eigenen Schiff, einschließlich des schwarz gestrichenen Rumpfes mit dem breiten goldenen Streifen. Allerdings hatte die Terror kaum noch Ähnlichkeiten mit einem Schiff, da ihre Segel samt der Rahen eingeholt worden waren und eine große Segeltuchplane über das Achterdeck gespannt war. Zur Isolation hatte man entlang der Bordwand bis zur Reling Schneeberge aufgetürmt, und die Masten und die Takelage waren dick mit Eis verkrustet. Das stämmige Bombardenschiff, das ursprünglich mit Mörsern bestückt war, sah jetzt eher wie ein riesiger, umgekippter Milchkarton aus.

Fitzjames begab sich an Bord, wo er zu seiner Überraschung etliche Besatzungsmitglieder über das vereiste Deck flitzen sah. Ein Fähnrich kam auf sie zu und führte Fitzjames und seine Männer durch die Hauptluke hinab in die Kombüse. Ein Steward verteilte Gläser mit Brandy, während die Männer das Eis von ihrer Kleidung klopften und sich die Hände am Kochherd wärmten. Während er die angenehme Wärme des Brandys in seinem Bauch genoss, fiel dem Kommandanten das hektische Treiben in dem schummrigen Schiff auf, in dem die Seeleute unter lauten Rufen Vorräte durch den Hauptgang schoben. Die Besatzung der Terror war ebenso schrecklich anzuschauen wie seine eigenen Leute. Die meisten Männer waren bleich und ausgezehrt und litten in fortgeschrittenem Stadium an Skorbut. Fitzjames hatte durch diese Erkrankung, die durch den Mangel an Vitamin C entsteht und zu Zahnfleischwucherungen und Kopfhautblutungen führt, bereits zwei seiner Zähne verloren. Zwar führte man an Bord Fässer mit Zitronensaft mit, der regelmäßig an die Besatzung ausgegeben wurde, aber dieser Saft hatte im Laufe der Zeit seine Wirkung verloren. Da zudem frisches Fleisch knapp war, war niemand von dieser Krankheit verschont geblieben. Und wenn man gegen Skorbut nichts unternahm, konnte er, wie jeder Seemann wusste, zum Tod führen.

Der Kapitän der Terror tauchte auf, ein zäher Ire namens Francis Crozier. Crozier, ein Veteran der Arktis, hatte den Großteil seines Lebens auf See verbracht. Wie viele Männer vor ihm hatte auch ihn die Suche nach einem nordwestlichen Schifffahrtsweg vom Atlantik zum Pazifik angelockt, einer Passage durch die unerforschten Regionen des Polarmeers. Die Entdeckung dieser Nordwestpassage war die vermutlich letzte große Ruhmestat, die bislang noch keinem Forscher oder Seefahrer gelungen war. Dutzende hatten es versucht und waren daran gescheitert, aber diese Expedition sollte sich davon unterscheiden. Mit zwei arktistüchtigen Schiffen ausgerüstet und mit Sir John Franklin unter dem Kommando einer geheimnisumwitterten Führungspersönlichkeit stehend, war ihr der Erfolg so gut wie sicher. Aber Franklin war im Jahr zuvor gestorben, nachdem er zu spät im Sommer einen Vorstoß zur nordamerikanischen Küste versucht hatte. Die Schiffe saßen ungeschützt auf offener See fest, als sie vom Eis eingeschlossen wurden. Der willensstarke Crozier war fest entschlossen, seine Männer in Sicherheit zu bringen und aus dem Fehlschlag, der ihnen drohte, noch Ruhm zu schlagen.

»Habt ihr die Erebus aufgegeben?«, fragte er Fitzjames.

Der jüngere Kommandant nickte. »Die verbliebenen Besatzungsmitglieder haben den Verstand verloren.«

»Ich habe Ihre Mitteilungen erhalten, in denen Sie die Schwierigkeiten beschreiben. Höchst sonderbar. Auch zwei meiner Männer haben zumindest eine Zeit lang den Verstand verloren, aber ein so massenhaftes Auftreten habe ich noch nie erlebt.«

»Es ist äußerst verblüffend«, erwiderte Fitzjames, dem sichtlich unwohl war. »Ich bin bloß dankbar, dass ich aus dieser Irrenanstalt raus bin.«

»Sie sind jetzt tote Männer«, murmelte Crozier. »Und wir womöglich ebenfalls, und zwar schon bald.«

»Das Packeis. Es bricht.«

Crozier nickte. Infolge der Verschiebungen in den unteren Schichten rissen immer häufiger Bruchstellen im Packeis auf. Zwar traten die meisten Risse im Herbst und bei Winteranfang auf, wenn das offene Meer zum ersten Mal zufror, aber auch im Frühjahr war das Eis aufgrund des Tauwetters und der damit verbundenen Verwerfungen gefährlich.

»Die Rumpfplanken ächzen unter dem Druck«, sagte Crozier. »Es nimmt uns in die Mangel, fürchte ich. Also habe ich angeordnet, dass der Großteil unserer Nahrungsvorräte aufs Eis geschafft und die verbliebenen Boote ausgebracht werden sollen. Sieht so aus, als ob wir beide Schiffe früher als vorgesehen aufgeben müssen«, fügte er bangen Mutes hinzu. »Ich bete bloß darum, dass sich der Sturm austobt, bis wir losmarschieren müssen.«

Nachdem sie ein bescheidenes gemeinsames Mahl, bestehend aus Dosenhammelfleisch und Pastinaken, zu sich genommen hatten, halfen Fitzjames und seine Männer der Besatzung der Terror beim Umladen des Proviants aufs Packeis. Die donnernden Verwerfungen ließen offenbar nach, aber gelegentlich übertönte das Knacken und Knistern immer noch den fauchenden Wind. Als die Männer die letzten Kisten aufs Eis gebracht hatten, suchten sie im Innern der Terror Schutz, wo sie auf das beunruhigende Ächzen und Knarren der Schiffsplanken horchten, die sich dem Druck des wandernden Eises widersetzten, und darauf warteten, dass die Natur ihre Karten ausspielte.

Achtundvierzig Stunden lang horchten sie ängstlich auf das Knirschen des tückischen Eises und beteten darum, dass das Schiff verschont bleiben möge. Doch es sollte nicht sein. Der Todesstoß kam rasch, mit einer jähen Bruchstelle und ohne jede Vorwarnung. Das robuste Schiff wurde angehoben und umgekippt, worauf ein Teil des Rumpfes wie ein Kürbis aufplatzte. Nur zwei Männer wurden verletzt, aber der Schaden am Schiff ließ sich nicht mehr beheben. Binnen eines Wimpernschlags war der Terror ein nasses Grab beschieden, nur der Zeitpunkt ihres Untergangs stand noch nicht fest.

Crozier ließ die Besatzung evakuieren und den Proviant in die drei verbliebenen Rettungsboote laden, die mit Kufen versehen waren, damit man sie über das Eis ziehen konnte. In weiser Voraussicht hatten Crozier und Fitzjames im Laufe der letzten neun Monate bereits mehrere Boote voller Proviant zum nächsten Festland schleppen lassen. Der Speicher auf King-William-Land würde der obdachlosen Besatzung über das Schlimmste hinweghelfen. Doch dreißig Meilen zerklüftetes Eis trennten die müden Männer von Land und Vorratslager.

»Wir könnten die Erebus zurückerobern«, schlug Fitzjames vor, während er auf die Masten seines früheren Schiffes blickte, die über den schroffen Eiskämmen aufragten.

»Die Männer sind zu erschöpft, um miteinander und gegen die Elemente zu kämpfen«, erwiderte Crozier. »Sie wird entweder ebenso untergehen wie die Terror, oder noch einen weiteren elenden Sommer im Eis festsitzen. Daran habe ich keinen Zweifel.«

»Gott sei ihren Seelen gnädig«, murmelte Fitzjames, während er einen letzten Blick auf das ferne Schiff warf.

Acht Trupps zu je acht Mann wurden vor die schweren Rettungsboote gespannt wie Maultiere vor den Pflug, dann trotteten sie über das unebene Packeis in Richtung Land. Glücklicherweise legte sich der Wind, und die Temperatur stieg bis auf minus siebzehn Grad. Doch unter der Anstrengung brachen die ausgehungerten und frierenden Männer körperlich und geistig allmählich zusammen.

Nachdem sie die schwer beladenen Boote fünf qualvolle Tage lang teils gezogen, teils geschoben hatten, erreichten sie die mit Kies übersäte Insel. King-William-Land, heute King-William-Insel genannt, hätte kaum ungastlicher sein können. Auf diesem flachen, vom Wind umtosten Stück Land, etwa so groß wie der US-Bundesstaat Connecticut, gab es nur wenige Tiere und Pflanzen. Selbst die einheimischen Inuit mieden diese Insel, hatten sie doch festgestellt, dass sich hier die Jagd auf ihre wichtigste Nahrungsquelle, Karibus und Robben, kaum lohnte.

Crozier und seine Männer wussten jedoch all das nicht. Nur ihre zur Erkundung ausgesandten Schlittentrupps hätten ihnen mitteilen können, dass es sich um eine Insel handelte und nicht, wie die Geografen im Jahr 1848 noch meinten, um eine Landzunge des nordamerikanischen Kontinents. Crozier ahnte das wahrscheinlich, und ihm war auch noch etwas anderes klar. Von seinem Standort an der Nordwestspitze von King-William-Land aus erkannte er, dass er fast tausend Meilen vom nächsten Vorposten der Zivilisation entfernt war. Eine karge Handelsniederlassung der Hudson Bay Company, weit im Süden, am Ufer des Great Fish River gelegen, bot am ehesten Aussicht auf Rettung. Aber da zwischen der Südspitze von King-William-Land und der gut hundertfünfzig Meilen entfernten Mündung dieses Flusses offenes Meer lag, mussten sie ihre verfluchten Boote mit sich über das Eis schleppen.

Crozier ließ die Besatzung ein paar Tage im Vorratslager ausruhen und mit vollen Rationen verpflegen, damit die Männer vor dem mühseligen Marsch, der ihnen bevorstand, wieder zu Kräften kamen. Dann konnten sie nicht mehr länger warten. Wenn sie die Siedlung der Hudson Bay Company erreichen wollten, bevor im Herbst wieder die Schneefälle einsetzten, kam es auf jeden Tag an. Der erfahrene Kapitän gab sich keinen Illusionen hin, dass die gesamte Mannschaft die weite Strecke auch nur annähernd bewältigen würde. Aber mit etwas Glück kamen vielleicht die kräftigsten Männer noch rechtzeitig dort an, sodass sie einen Rettungstrupp zu den anderen schicken konnten. Es war ihre einzige Chance.

Wieder schleppten sie die Boote Meter um Meter voran, fanden aber das Eis an der Küste weitaus weniger imposant. Doch rasch wurde ihnen die bittere Wahrheit klar: Sie befanden sich auf einem Todesmarsch. Die Mühsal und die Strapazen bei beißender Kälte waren mehr, als die unterernährten Männer ertragen konnten. Die schlimmsten Qualen, schlimmer noch als die Erfrierungen, bereitete ihnen der schier unstillbare Durst. Da sie für ihre tragbaren Gasöfen keinen Brennstoff mehr hatten, konnten sie aus dem Eis auch kein Trinkwasser gewinnen. Verzweifelt stopften sich die Männer Schnee in den Mund, um wenigstens ein paar Tropfen Schmelzwasser trinken zu können, und zitterten dann vor Kälte. Wie bei einer Karawane, die sich durch die Sahara schleppt, kämpften sie fortwährend gegen die drohende Dehydratation und andere Leiden. Tag für Tag machte ein Mann nach dem anderen schlapp und starb, während der Trupp weiter gen Süden marschierte. Anfangs hoben sie flache Gräber aus, doch dann ließen sie die Toten einfach auf dem Eis liegen und schonten ihre Kräfte für den weiten Weg, der noch vor ihnen lag.

Als Fitzjames auf eine niedrige, mit Schnee bedeckte Anhöhe kletterte, hob er die Hand und blieb stehen. Torkelnd machten zwei achtköpfige Schlittentrupps hinter ihm halt und ließen ihre Zuggeschirre los, die an einer hölzernen Pinasse befestigt waren. Das schwere, mit Nahrungsmitteln und Ausrüstung beladene Boot wog fast eine Tonne, und es voranzubewegen war so anstrengend, als schleppe man ein Nashorn über das Eis. Sämtliche Männer sanken in die Knie, ruhten sich aus und sogen die eisige Luft in tiefen Atemzügen in ihre wunden Lungen.

Unter dem klaren Himmel war die Landschaft in strahlenden Sonnenschein getaucht, der sich auf dem Schnee gleißend widerspiegelte. Fitzjames nahm seine aus Maschendraht gebastelte Schneebrille ab und ging von einem Mann zum anderen, sprach ihnen Mut zu und untersuchte ihre Gliedmaßen auf Erfrierungen hin. Er war mit dem zweiten Trupp fast fertig, als ihm einer der Männer laut zurief.

»Sir, da ist die Erebus! Sie ist vom Packeis freigekommen.«

Fitzjames drehte sich um und sah, dass einer der Seemänner zum Horizont deutete. Der Mann, ein Signalmaat, streifte das Zuggeschirr ab, dann rannte er zur Küste und auf das Packeis.

»Strickland! Bleiben Sie stehen!«, befahl Fitzjames.

Doch der Befehl stieß auf taube Ohren. Ohne auch nur einen Schritt langsamer zu werden, stolperte und torkelte der Seemann über des unebene Eis auf einen dunklen Fleck am Horizont zu. Fitzjames richtete den Blick in die gleiche Richtung und riss ungläubig den Mund auf. Rund zehn Meilen entfernt waren der schwarze Rumpf und die aufgerichteten Masten eines großen Segelschiffs deutlich zu erkennen. Es konnte nur die Erebus sein.

Fitzjames starrte ein paar Sekunden lang darauf und wagte kaum zu atmen. Strickland hatte Recht. Das Schiff bewegte sich und trieb offenbar aus dem Packeis.

Der verwunderte Kommandant ging zu der Pinasse und kramte unter einer Sitzbank herum, bis er ein Teleskop fand. Er richtete das Glas aus und erkannte sofort, dass es sich um das Schiff handelte, das einst unter seinem Kommando gestanden hatte. Doch es wirkte wie ein Geisterschiff, mit eingerollten Segeln und menschenleerem Deck. Er fragte sich, ob sich die wahnsinnigen Männer an Bord überhaupt darüber im Klaren waren, dass sie abtrieben. Dann musterte er die Umgebung des Schiffes, und die Begeisterung, die ihn bei dessen Anblick erfasst hatte, legte sich sofort wieder. Dort war nichts als festes Eis.

»Sie sitzt noch immer im Packeis fest«, murmelte er und bemerkte dann, dass sich das Schiff mit dem Heck voraus bewegte. Die Erebus steckte in einer zehn Meilen langen Eisscholle, die von dem gefrorenen Panzer auf der See abgebrochen war und nun gen Süden trieb. Ihre Überlebenschancen hatten sich leicht verbessert, aber dennoch drohte sie nach wie vor vom berstenden Eis zermalmt zu werden.

Fitzjames stieß einen Seufzer aus, dann wandte er sich an zwei der kräftigsten Besatzungsmitglieder.

»Reed, Sullivan, holt Strickland sofort zurück«, befahl er.

Die beiden Männer richteten sich auf und rannten hinter Strickland her, der das Packeis jetzt erreicht hatte und hinter einem großen Hügel verschwand. Fitzjames blickte wieder zu dem Schiff hinüber und hielt Ausschau nach Schäden am Rumpf oder einem Lebenszeichen an Bord. Doch er war zu weit entfernt, um etwas Genaueres erkennen zu können. Er musste an Franklin denken, den Leiter der Expedition, dessen sterbliche Überreste in Eis gepackt tief im Laderaum lagen. Vielleicht wird der alte Kauz doch noch in England begraben, dachte Fitzjames und war sich zugleich bewusst, dass es um seine Aussichten, wieder nach Hause zu kommen, eher schlecht stand.

Eine halbe Stunde verging, bevor Reed und Sullivan zum Boot zurückkehrten. Fitzjames bemerkte, dass die beiden Männer zu Boden starrten und einer von ihnen einen Schal in der Hand hatte, den Strickland sich um Hals und Gesicht geschlungen hatte.

»Wo ist er?«, fragte der Kommandant.

»Er ist durch einen mit Schnee bedeckten Spalt im Packeis gebrochen«, erwiderte Sullivan, ein Rigger mit traurigen blauen Augen. »Wir haben versucht, ihn rauszuziehen, aber er ist untergegangen, bevor wir ihn richtig zu fassen bekamen.« Er hielt den steif gefrorenen Schal hoch, das Einzige, was sie hatten ergreifen können.

Es spielt keine Rolle, dachte Fitzjames. Selbst wenn sie ihn herausgezogen hätten, wäre er wahrscheinlich gestorben, bevor sie ihn in trockene Kleidung hätten packen können. Strickland hatte sogar Glück. Wenigstens hatte er einen schnellen Tod gefunden.

Fitzjames verdrängte den Gedanken und rief der bedrückten Besatzung in barschem Tonfall zu: »Legt das Geschirr wieder an. Bringt die Schlitten in Gang.« Über den Verlust verlor er kein weiteres Wort.

Die Strapazen wurden von Tag zu Tag schlimmer, während sich die Männer gen Süden schleppten. Bald konnten einige nicht mehr mithalten, sodass die Besatzung in diverse Trupps zerfiel. Crozier und eine kleine Schar bahnte sich zehn Meilen vor allen anderen einen Weg die Küste entlang. Fitzjames folgte ihm, doch mehrere Meilen hinter ihm trotteten drei, vier Trupps mit Nachzüglern, die Schwächsten und Schwerkranken, die nicht mehr Schritt halten konnten und bereits so gut wie tot waren. Fitzjames hatte seinerseits drei Männer verloren und mühte sich mit nur noch dreizehn Mann voran, die das schwere Boot schleppten.

Ein leichter Wind und halbwegs gemäßigte Temperaturen hatten die Männer wieder hoffen lassen, der Eishölle vielleicht doch noch zu entrinnen. Doch mit einem späten Frühlingsblizzard wendete sich das Glück. Wie ein nahender Schleier des Todes tauchte im Westen ein schwarzer Wolkenstreifen auf und wälzte sich auf sie zu. Beißender Wind fegte über das Packeis und hämmerte gnadenlos auf das Eiland ein. Fitzjames, der fast umgerissen wurde und kaum noch etwas sehen konnte, blieb nichts anderes übrig, als das Boot umkippen zu lassen und mit seinen Leuten unter dem hölzernen Rumpf Zuflucht zu suchen. Vier Tage lang drosch der Wind wie ein Hammer auf sie ein. Die ausgezehrten Männer, die mit karger Nahrung und ohne eine Möglichkeit sich aufzuwärmen unter ihrem notdürftigen Schutzdach festsaßen, erlagen nach und nach den Unbilden der Elemente.

Wie alle anderen verlor auch Fitzjames ein ums andere Mal das Bewusstsein, als ihn allmählich die Lebenskräfte verließen. Als das Ende nahe war, rappelte er sich, vielleicht von Neugier getrieben, noch einmal auf. Er stieg über die Leichen seiner Gefährten, schob sich unter dem Dollbord durch und zog sich am Außenrumpf hoch. In der aufziehenden Dämmerung hatte der Wind kurz abgeflaut, sodass er sich auf den Beinen halten konnte. Er spähte über das Eis und zwang sich dazu, noch einmal hinzuschauen.

Sie war noch da. Wie ein dunkles Projektil dräute die Erebus am Horizont und wanderte, einem schwarzen Gespenst gleich, mit dem Eis.

»Welches Geheimnis birgst du?«, rief er, doch seine letzten Worte kamen lediglich als ein Flüstern über seine ausgedörrten Lippen. Die glitzernden Augen auf den Horizont gerichtet, sank Fitzjames schließlich tot an den Rumpf der Pinasse.

Draußen auf dem Packeis zog die Erebus lautlos weiter – ein frostiges Grabmal, mit Schnee und Eis verkrustet. Wie ihre Besatzung würde auch sie, das letztes Zeugnis von Franklins Suche nach der Nordwestpassage, irgendwann den Unbilden der Arktis zum Opfer fallen. Und mit ihrem Verschwinden würde die Saga von Fitzjames und seiner wahnsinnig gewordenen Besatzung für immer der Vergessenheit anheimfallen. Doch ohne dass jener etwas davon ahnte, barg das Schiff ein noch größeres Geheimnis, von dem mehr als ein Jahrhundert später das Überleben der gesamten Menschheit auf dem Planeten abhängen sollte.

ERSTER TEIL DER ATEM DES TEUFELS

1

APRIL 2011

Inside-Passage

British Columbia

Der achtzehn Meter lange Trawler sah aus, wie jedes Fischerboot aussehen sollte – was aber nur selten vorkam. Die Netze waren ordentlich auf den Rollen verstaut, an Deck lag keinerlei Krempel herum. Der stählerne Rumpf und die Aufbauten wirkten weder rostig noch rußverschmiert. Selbst die abgewetzten Fender waren regelmäßig abgeschrubbt worden. Die Ventura mochte zwar nicht das einträglichste Fischerboot in den nördlichen Gewässern von British Columbia sein, doch sie war auf jeden Fall das am besten gepflegte.

Ihr tadelloser Zustand spiegelte den Charakter ihres Besitzers wider, eines gewissenhaften und schwer arbeitenden Mannes namens Steve Miller. Der Mann entsprach ebenso wenig wie sein Boot den typischen Vorstellungen, die man von einem selbstständigen Fischer hat. Er war Notarzt in Indianapolis gewesen, bis er es sattgehabt hatte, verstümmelte Unfallopfer zusammenzuflicken, und in seine kleine Heimatstadt an der nordwestlichen Pazifikküste zurückgekehrt war, um etwas anderes zu probieren. Da er das Wasser liebte und über ein ansehnliches Bankkonto verfügte, kam ihm die Fischerei ganz passend vor. Als er jetzt sein Boot durch den frühmorgendlichen Nieselregen steuerte, grinste er zufrieden übers ganze Gesicht.

Ein junger Mann mit zottigen schwarzen Haaren steckte den Kopf ins Ruderhaus und wandte sich an Miller.

»Wo beißen sie heute, Skipper?«, fragte er.

Miller blickte durch die Windschutzscheibe, dann hielt er die Nase in die Luft und schnupperte.

»Tja, Bucky, ich würd sagen, eindeutig an der Westküste von Gil Island«, versetzte er grinsend. »Nimm lieber noch ’ne Mütze Schlaf. Wir holen sie noch früh genug ein.«

»Klar, Boss. In zwanzig Minuten so?«

»Ich würd sagen, eher achtzehn.« Er lächelte und warf einen Blick auf eine Seekarte, die neben ihm lag, drehte das Ruderrad um ein paar Grad und richtete den Bug auf eine schmale Lücke zwischen zwei grünen Küstenstreifen aus, die vor ihnen lagen. Sie durchquerten die Inside-Passage, einen Meeresstreifen, der sich von Vancouver bis Juneau erstreckt. Dieser gewundene Wasserweg, der durch vorgelagerte, mit Kiefern bestandene Inseln geschützt ist, erinnert ein bisschen an die malerische Fjordlandschaft Norwegens.

Nur gelegentlich sieht man hier ein kommerzielles oder ein Fischerboot mit Touristen, die auf Lachs oder Heilbutt gehen, ansonsten verkehren hauptsächlich Kreuzfahrtschiffe auf dem Weg nach Alaska. Wie die meisten selbstständigen Fischer war Miller hinter dem Rotlachs her, den er mit Ringwadennetzen in den nahe gelegenen Buchten und im Ozean fing. Er war zufrieden, wenn er mit seinem Fang die eigenen Kosten decken konnte, wusste er doch, dass in diesen Gewässern nur wenige mit der Fischerei reich wurden. Doch trotz seiner begrenzten Erfahrung holte er dank einer guten Planung und seiner Begeisterung einen kleinen Gewinn heraus. Er trank einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse und warf einen Blick auf das frontbündige Radarsichtgerät. Als er mehrere Meilen weiter nördlich zwei Schiffe entdeckte, ließ er das Rad los und verließ das Ruderhaus, um zum dritten Mal an diesem Tag die Netze zu überprüfen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass keine Löcher in den Maschen waren, kehrte er ans Ruder zurück.

Bucky stand an der Reling und rauchte lieber eine Zigarette, als sich auf die Koje zu hauen. Er zog an seiner Marlboro, nickte Miller zu und blickte dann zum Himmel auf. Eine allgegenwärtige Wolkendecke trieb über ihnen dahin, war aber zu dünn, als dass mehr als ein leichter Nieselregen daraus fiel. Bucky spähte über die Hecate-Straße auf die grünen Inseln im Westen. Backbord voraus bemerkte er eine ungewöhnlich dichte Wolke, die sich über den Wasserspiegel wälzte. Der Nebel war in diesen Gewässern zwar ein alltäglicher Begleiter, aber dieser Dunst sah merkwürdig aus. Er war weiß, heller als eine gewöhnliche Nebelbank, und er wirkte schwerer. Bucky nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, stieß den Rauch aus und begab sich zum Ruderhaus.

Miller hatte die weiße Wolke bereits bemerkt und richtete ein Fernglas auf den Dunst.

»Haben Sie das auch gesehen, Boss? Eine seltsam aussehende Wolke, nicht wahr?«, meinte Bucky.

»So ist es. Ich sehe rundum nirgendwo ein anderes Schiff, das sie ausgestoßen haben könnte«, erwiderte Miller, während er den Horizont absuchte. »Vielleicht ist es eine Art Rauch oder Auspuffgas, das von Gil rübergetrieben wurde.«

»Jo, vielleicht ist auch die Fischräucherei von jemandem hochgegangen«, erwiderte der Matrose breit grinsend und zeigte seine schiefen Zähne.

Miller legte das Fernglas hin und ergriff das Ruder. Ihr Weg rund um Gil Island führte mitten durch die Wolke. Nervös schlug Miller mit den Knöcheln an das abgegriffene hölzerne Rad, machte aber keinerlei Anstalten, den Kurs zu ändern.

Als sich das Boot dem Rand der Wolke näherte, starrte Miller auf das Wasser und runzelte die Stirn. Die Farbe des Wassers veränderte sich, von Grün zu Braun, dann zu Kupferrot. Etliche tote Lachse tauchten in der roten Brühe auf, die silbernen Bäuche nach oben gekehrt. Dann tuckerte das Fischerboot in den Dunst hinein.

Die Männer im Ruderhaus spürten sofort, wie die Temperatur umschlug, so als wäre eine kalte, nasse Decke über sie geworfen worden. Miller nahm einen starken, sauren Geschmack wahr, plötzlich fühlte sich sein Schlund feucht an. Ein seltsames Kribbeln zog ihm durch den Kopf, und es kam ihm so vor, als werde auf einmal seine Brust eingeschnürt. Als er Luft holte, gaben seine Beine nach. Er sah Sterne vor den Augen. Er wurde von seinem Schmerz abgelenkt, als der zweite Matrose mit einem Schrei ins Ruderhaus stürzte.

»Käpt’n … ich ersticke«, japste der Mann, ein rotgesichtiger Bursche mit langen Koteletten. Seine Augen traten aus den Höhlen, das Gesicht war dunkelblau verfärbt. Miller trat einen Schritt auf ihn zu, aber der Mann fiel schon bewusstlos zu Boden.

Das Ruderhaus drehte sich vor Millers Augen, als er voller Verzweiflung zum Funkgerät stürzte. Nur verschwommen nahm er wahr, dass auch Bucky am Boden lag. Miller hielt sich am Funkgerät fest, während sich seine Brust immer enger zusammenschnürte, ergriff das Mikrofon und warf dabei ein paar Karten und Stifte herunter. Er führte das Mikro zum Mund und versuchte einen Notruf abzusetzen, brachte aber kein Wort heraus. Er sank auf die Knie, hatte das Gefühl, sein Leib werde auf einem Amboss zermalmt. Das eiserne Band um seine Brust straffte sich, bis ihm allmählich schwarz vor Augen wurde. Er zwang sich, bei Bewusstsein zu bleiben, spürte aber, wie er allmählich ins Bodenlose glitt. Miller kämpfte noch verzweifelt, dann gab er ein letztes, tiefes Keuchen von sich, als die eisige Hand des Todes winkte und er sich gehen ließ.

2

»Fang ist eingeholt«, rief Summer Pitt in Richtung Ruderhaus. »Bring uns zum nächsten magischen Punkt.«

Die große, schlanke Ozeanografin stand in einer türkisfarbenen Regenjacke am offenen Achterdeck des Forschungsbootes und holte eine Propylenschnur ein, die um die Rolle einer zweckentfremdeten Angelrute gewickelt war. An dieser Schnur hing ihr kostbarer Fang, der jetzt unter dem Spitzenring im Wind pendelte. Es war kein Fisch, sondern eine graue Plastikröhre, eine sogenannte Niskinflasche, die zur Entnahme von Meerwasserproben aus unterschiedlicher Tiefe diente. Vorsichtig ergriff Summer die Flasche und ging zum Ruderhaus, als der Innenbordmotor plötzlich laut aufheulte und das Boot mit einem Mal einen solchen Satz nach vorn machte, dass sie beinahe zu Fall gekommen wäre.

»Vorsichtig mit dem Gas«, rief sie und trat durch die Tür.

Ihr Bruder, der am Ruderrad saß, drehte sich um und lachte.

»Ich wollte dich bloß auf Zack halten«, erwiderte Dirk Pitt. »Du hast ausgesehen, als wolltest du eine besoffene Ballerina nachahmen.«

Dieser Kommentar wurmte Summer zunächst noch mehr. Dann erkannte sie aber, dass es ein Witz sein sollte, und lachte ebenfalls.

»Wundere dich nicht, wenn du heute Abend einen Eimer voller nasser Muscheln in deiner Koje findest«, sagte sie.

»Solange sie vorher in Cajunsoße gekocht sind«, erwiderte er. Dirk nahm das Gas etwas zurück und blickte dann auf eine digitale Seekarte auf einem Monitor neben ihm.

»Das war übrigens Probe 17-F«, sagte er.

Summer goss die Probe in ein Reagenzglas und schrieb den Ort der Entnahme auf ein vorgedrucktes Etikett. Dann stellte sie die Phiole in einen mit Schaumstoff ausgepolsterten Koffer, der Dutzende anderer Meerwasserproben enthielt. Ursprünglich hatten sie nur den Zustand des Planktons entlang der Küste von Südalaska untersuchen sollen, doch ihr Einsatzgebiet war ausgeweitet worden, als man beim kanadischen Ministerium für Fischerei und Meeresschutz von ihrem Projekt Wind bekam und anfragte, ob sie ihre Forschungsarbeiten bis nach Vancouver ausdehnen könnten. Denn auf der Inside-Passage verkehrten nicht nur Kreuzfahrtschiffe, sondern sie war auch eine wichtige Wanderroute für Buckel-, Grau- und andere Wale, denen das besondere Augenmerk der Meeresbiologen galt. Das mikroskopische Plankton wiederum nahm eine Schlüsselrolle in der Nahrungskette ein, da es den Krill anlockte, von dem sich die Bartenwale hauptsächlich ernährten. Dirk und Summer, die sich darüber im Klaren waren, wie wichtig eine umfassende ökologische Bestandsaufnahme der gesamten Region war, hatten von ihren Vorgesetzten bei der National Underwater & Marine Agency die Erlaubnis zur Erweiterung ihres Projekts eingeholt.

»Wie weit ist es bis zur nächsten Entnahmestelle?«, fragte Summer, setzte sich auf einen hölzernen Stuhl und betrachtete die vorbeirollenden Wellen.

Erneut warf Dirk einen Blick auf den Computermonitor und deutete auf ein kleines schwarzes Dreieck oben am Bildschirm. Ein HYPACK-Softwareprogramm markierte die bisherigen Entnahmestellen und steckte eine Route zum nächsten Untersuchungspunkt ab.

»Wir haben noch rund acht Meilen vor uns. Jede Menge Zeit, um einen Happen zu essen, bevor wir da sind.« Er öffnete eine Kühlbox und holte ein Schinkensandwich und ein Root Beer heraus, dann korrigierte er kurz das Rad, um das Boot auf Kurs zu halten.

Das vierzehn Meter lange Aluminiumarbeitsboot schoss wie ein Pfeil über das ruhige Wasser der Passage. Wie alle Forschungsschiffe der National Underwater & Marine Agency war es türkis gestrichen und mit Kaltwassertauchausrüstung und allerlei Geräten zur Untersuchung der Meere ausgerüstet, darunter war auch ein ROV, ein ferngesteuertes Unterwasserfahrzeug für Videoaufnahmen. Der Komfort an Bord war zwar minimal, aber das Boot eignete sich wunderbar für die Erforschung und Untersuchung von Küstengewässern.

Dirk zog das Ruderrad nach Steuerbord, um einem weiß glänzenden Kreuzfahrtschiff der Princess Lines, das ihnen entgegenkam, weiträumig auszuweichen. Eine Handvoll Touristen auf dem Oberdeck winkte ihnen zu, worauf er den Arm aus dem Seitenfenster streckte und zurückwinkte.

»Kommt mir so vor, als ob jede Stunde eines durchfährt«, stellte Summer fest.

»In den Sommermonaten verkehren tagtäglich mehr als dreißig Schiffe in der Passage, sodass es fast wie auf dem Jersey-Turnpike zugeht.«

»Du hast doch den Jersey-Turnpike noch nie zu Gesicht bekommen.«

Dirk schüttelte den Kopf. »Na schön. Dann kommt es einem eben so vor wie auf dem Interstate H-1 in Honolulu zur Stoßzeit.«

Die Geschwister waren auf Hawaii aufgewachsen, wo sie beide ihre Leidenschaft für die See entdeckt hatten. Ihre – alleinerziehende – Mutter hatte sich schon frühzeitig für Meeresbiologie interessiert und beide Kinder bereits in jungen Jahren ermuntert, tauchen zu lernen. Als zweieiige Zwillinge, die sowohl sportlich als auch abenteuerlustig waren, hatten Dirk und Summer einen Großteil ihrer Jugend auf oder in der Nähe des Wassers verbracht. Ihr Interesse an der See und allem, was damit verbunden war, setzte sich auf dem College fort, wo beide Meereskunde studierten. Irgendwie landeten sie dabei an den entgegengesetzten Küsten – Summer studierte am Scripps Institution in San Diego Ozeanografie, und Dirk machte am New York Maritime College seinen Abschluss in Meerestechnologie.

Erst am Sterbebett ihrer Mutter erfuhren sie, wer ihr Vater war, worauf es zu einer rührenden Familienzusammenführung kam. Mittlerweile hatten sie eine enge Beziehung zu dem Mann, der den gleichen Vornamen wie Dirk hatte und die National Underwater & Marine Agency leitete. Jetzt arbeiteten sie unter seiner Anleitung in der Abteilung für Spezialprojekte der NUMA. Es war ein Traumjob, der es ihnen ermöglichte, gemeinsam um die Welt zu reisen, die Ozeane zu erkunden und einige der zahllosen Geheimnisse der Tiefe zu enträtseln.

Dirk nahm das Gas zurück, als sie ein Fischerboot passierten, das in Richtung Norden fuhr. Eine Viertelmeile später schob er die Regler wieder hoch. Als sie sich ihrem Bestimmungsort näherten, stellte er den Motor ab und ließ das Boot zur Entnahmestelle treiben. Summer ging zum Heck und hängte eine leere Niskinflasche an die Angelschnur, als ganz in der Nähe zwei Weißflankenschweinswale auftauchten und das Boot neugierig beäugten.

»Pass auf Flipper auf, wenn du das Ding da auswirfst«, sagte Dirk, als er aufs Deck kam. »Einen Schweinswal zu treffen bringt Unglück.«

»Und was ist, wenn man seinen Bruder trifft?«

»Das ist noch viel schlimmer.« Er lächelte, als die Meeressäuger wieder abtauchten. Als er das Wasser ringsum nach ihnen absuchte, fiel ihm das Fischerboot wieder auf. Es hatte seinen Kurs geändert und war jetzt in Richtung Süden unterwegs. Dirk bemerkte, dass es im Kreis fuhr und demnächst auf ihr Boot zuhalten würde.

»Mach lieber schnell, Summer. Ich glaube, der Typ achtet nicht darauf, wohin er fährt.«

Summer blickte zu dem nahenden Boot, dann warf sie die Sammelflasche über die Bordwand. Das beschwerte Gerät sank rasch in die Tiefe, während sie gut fünf Meter Schnur abspulte. Als sich die Schnur spannte, schlug Summer die Rute an, worauf die Flasche umkippte und sich mit Wasser füllte. Während sie die Flasche wieder einholte, blickte sie zu dem Fischerboot. Es war nur noch knapp dreißig Meter entfernt, fuhr nach wie vor in einem weiten Bogen und richtete den Bug allmählich auf das NUMA-Boot.

Dirk war bereits ins Ruderhaus zurückgekehrt und drückte auf einen Knopf an der Lüfterhutze. Ein lautes Tuten drang aus zwei trompetenförmigen Lufthörnern am Bug und hallte über das Wasser, doch das Fischerboot reagierte nicht. Es hielt nach wie vor in weitem Bogen auf das Forschungsboot zu.

Rasch warf Dirk den Motor an und schob die Gasregler nach vorn, während Summer ihre Probe einholte. Mit einem jähen Ruck schoss das Boot ein paar Meter nach Backbord, dann wurde es langsamer, als sich der Trawler dicht an ihm vorbeischob.

»Sieht so aus, als ob niemand im Ruderhaus ist«, rief Summer. Sie sah, wie Dirk das Mikrofon des Funkgerätes einhängte.

»Über Funk meldet sich niemand«, bestätigte er mit einem Nicken. »Summer, komm her und übernimm das Ruder.«

Summer stürmte ins Ruderhaus und verstaute die Wasserprobe, dann rutschte sie auf den Sitz des Steuermanns.

»Willst du an Bord gehen?«, fragte sie ihren Bruder.

»Ja. Sieh zu, dass du dich seiner Geschwindigkeit anpasst, dann bringst du uns längsseits.«

Summer steuerte in das Kielwasser des Fischerbootes und verfolgte es, bevor sie längsseits ging. Sie bemerkte, dass der Trawler immer weitere Kreise zog, dann blickte sie erschrocken auf, als ihr klar wurde, wohin er fuhr. Durch den weiten Bogen und die auflaufende Flut hielt er genau auf Gil Island zu. In wenigen Minuten würde sich das Boot an der felsigen Küste der Insel den Rumpf aufreißen.

»Mach lieber schnell«, brüllte sie ihrem Bruder zu. »Es landet gleich auf den Felsen.«

Dirk nickte und bedeutete ihr mit der Hand, sie solle das Boot näher heranbringen. Er war zum Bug gerannt und über die niedrige Reling geklettert. Summer fuhr einen Moment geradeaus, bis sie ein Gefühl für die Geschwindigkeit und den Wenderadius des anderen Bootes bekam, dann steuerte sie näher heran. Als sie nur noch einen halben Meter von dem Trawler entfernt waren, sprang Dirk und landete neben einer Netzrolle an Deck. Summer steuerte sofort weg, dann folgte sie dem Fischerboot mit ein paar Metern Abstand.

Dirk lief an den Netzen vorbei und stürmte zum Ruderhaus des Fischerbootes, wo ihn ein grässlicher Anblick erwartete. Drei Männer lagen mir schmerzverzerrten Gesichtern am Boden. Einer von ihnen starrte ihn mit glasigen, weit aufgerissenen Augen an und hatte einen Stift in der erstarrten Hand. An der gräulich blassen Hautfarbe erkannte er, dass die Männer tot waren, aber er tastete trotzdem nach ihrem Puls. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass die Leichen unversehrt waren, weder bluteten noch offene Wunden aufwiesen. Als er keinerlei Lebenszeichen erkennen konnte, übernahm er mit grimmigem Blick das Ruder, brachte das Boot auf geraden Kurs und forderte Summer über Funk auf, ihm zu folgen. Sobald er das anfängliche Frösteln überwunden hatte, steuerte er das Boot zum nächsten Hafen und fragte sich, was die Männer, die zu seinen Füßen lagen, getötet haben mochte.

3

Der Wachposten des Weißen Hauses, der am Eingang an der Pennsylvania Avenue stand, starrte verwundert auf den Mann, der den Fußweg entlang auf ihn zukam. Er war klein, lief aber mir forschen Schritten, hatte die Brust herausgedrückt, das Kinn hochgereckt und strahlte etwas Gebieterisches aus. Mit seinen feuerroten Haaren und dem entsprechenden Kinnbart erinnerte er den Wachposten an einen Bantamhahn, der vor dem Hühnerstall auf- und abschreitet. Aber es war weder das Äußere noch die Haltung, die dem Posten besonders auffielen. Es war viel eher die kalte Zigarre, die der Mann zwischen die Lippen geklemmt hatte.

»Charlie … ist das nicht der VP?«, fragte er seinen Kollegen im Schilderhaus. Doch dieser war gerade am Telefon und hörte ihn nicht. Mittlerweile war der Mann an dem kleinen Eingang neben dem Wachhaus angekommen.

»Guten Abend«, sagte er mit energischem Tonfall. »Ich habe um acht Uhr einen Termin beim Präsidenten.«

»Darf ich Ihren Ausweis sehen?«, fragte der Wachmann nervös.

»Ich schleppe doch diesen Unsinn nicht mit mir rum«, erwiderte der Mann unwirsch. Er blieb stehen und nahm die Zigarre aus dem Mund. »Ich heiße Sandecker.«

»Ja, Sir. Aber trotzdem brauche ich Ihren Ausweis«, erwiderte der Wachmann, der jetzt rot anlief.

Blinzelnd musterte Sandecker den Wachposten, dann wurde er versöhnlicher. »Mir ist klar, dass Sie nur Ihre Pflicht tun, mein Junge. Warum rufen Sie nicht Stabschef Meade an und sagen ihm, dass ich an der Pforte bin?«

Bevor der verwirrte Wachmann etwas erwidern konnte, steckte sein Kollege den Kopf aus dem Schilderhaus.

»Guten Abend, Mr. Vizepräsident. Wieder eine späte Besprechung mit dem Präsidenten?«, fragte er.

»Guten Abend, Charlie«, erwiderte Sandecker. »Ja, leider ist das die einzige Zeit, in der wir ungestört miteinander reden können.«

»Warum gehen Sie nicht rein?«, sagte Charlie.

Sandecker trat einen Schritt vor, dann blieb er stehen. »Wie ich sehe, haben Sie einen neuen Kollegen«, sagte er und wandte sich an den verwunderten Wachmann, der ihn aufgehalten hatte. Dann streckte der Vizepräsident den Arm aus und schüttelte ihm die Hand.

»Machen Sie weiter gute Arbeit, mein Junge«, sagte er, wandte sich dann ab und schlenderte über die Auffahrt zum Weißen Haus.

Obwohl er den Großteil seines Berufslebens in der Hauptstadt verbracht hatte, hielt James Sandecker nicht viel von dem Protokoll, das in Washington üblich war. Als Admiral a. D. war Sandecker innerhalb des Stadtrings für seine direkte Art, mit der viele Jahre die National Underwater & Marine Agency geleitet hatte, wohlbekannt. Er war zunächst erschrocken gewesen, als ihn der Präsident gebeten hatte, seinen gewählten Stellvertreter zu ersetzen, der im Amt gestorben war. Obwohl er für Politik nichts übrighatte, war sich Sandecker darüber im Klaren, dass er sich in einer solchen Position stärker für die Umwelt und die geliebten Meere einsetzen konnte, daher hatte er das Angebot bereitwillig angenommen.

Als Vizepräsident versuchte Sandecker nach besten Kräften, den Fallen aus dem Weg zu gehen, die das Amt so mit sich brachte. Wiederholt trieb er seine Personenschützer vom Secret Service zur Verzweiflung, weil er sie einfach wegschickte, wenn ihm danach zumute war. Er war ein Fitnessfanatiker, den man die Mall oft allein entlangjoggen sah. Er arbeitete lieber in einem Büro im Eisenhower Executive Office Building als einen ganz ähnlichen Raum im Westflügel des Weißen Hauses zu nutzen, weil er es vorzog, den Dunstkreis der Politik zu meiden, der die Regierung umgab. Selbst bei schlechtem Wetter spazierte er die Pennsylvania Avenue entlang, wenn er zu Besprechungen ins Weiße Haus musste, da er lieber an der frischen Luft war, als durch den unterirdischen Tunnel zu laufen, der die beiden Gebäude miteinander verband. Und er war dafür bekannt, dass er bei schönem Wetter zu Fuß zu den Kongresssitzungen auf dem Capitol Hill ging und ein ums andere Mal die Agenten des Secret Service abhängte, die mit ihm mithalten sollten.

Nachdem er einen weiteren Kontrollpunkt am Eingang zum Westflügel passiert hatte, wurde Sandecker von einem Mitarbeiter des Weißen Hauses zum Oval Office geleitet. Nachdem man ihn durch den Nordwesteingang geführt hatte, betrat er allein den mit blauem Teppichboden ausgelegten Raum und nahm gegenüber vom Präsidenten an dessen Schreibtisch Platz. Erst als er saß, schaute er sich den Präsidenten genauer an und wäre beinahe zusammengezuckt.

Präsident Garner Ward sah grauenhaft aus. Der beliebte Unabhängige aus Montana, der sowohl vom Charakter als auch vom Aussehen her eine gewisse Ähnlichkeit mit Teddy Roosevelt hatte, machte den Eindruck, als hätte er seit einer Woche nicht mehr geschlafen. Er hatte dicke Tränensäcke unter den roten Augen, sein Gesicht wirkte grau und missmutig. Er starrte Sandecker mit einer grimmigen Miene an, die für den normalerweise so gut gelaunten Regierungschef ganz untypisch war.

»Garner, du hast wieder bis spät in die Nacht gearbeitet«, sagte Sandecker mit besorgtem Tonfall.

»Lässt sich nicht ändern«, erwiderte der Präsident mit müder Stimme. »Wir sind im Augenblick in einer höllischen Lage.«

»Ich habe in den Nachrichten gesehen, dass der Benzinpreis auf zehn Dollar pro Gallone gestiegen ist. Der letzte Ölschock hat uns ziemlich schwer getroffen.«

Das Land sah sich mit einem weiteren unerwarteten Anstieg der Ölpreise konfrontiert. Der Iran hatte unlängst mit einem völligen Ausfuhrstopp auf die Sanktionen des Westens reagiert. Noch schlimmer aber war für die USA, dass auch der launische Präsident von Venezuela sämtliche Ölausfuhren hatte einstellen lassen. Dadurch waren nicht nur die Preise für Öl und Benzin hochgeschossen, sondern es kam landesweit bereits zu ersten Engpässen.

»Das Schlimmste kommt erst noch«, erwiderte der Präsident. Er schob Sandecker einen Brief zu.

»Der ist vom kanadischen Premierminister«, fuhr Ward fort. »Aufgrund eines vom Parlament verabschiedeten Gesetzes zur Reduzierung der Kohlendioxidemissionen ordnet die kanadische Regierung die Schließung eines Großteils der Betriebe an, die die Athabasca-Ölsande verarbeiten. Der Premierminister bedauert, uns mitteilen zu müssen, dass sämtliche Ölexporte in die USA gestoppt werden, bis man das Problem mit dem Ausstoß des Treibhausgases gelöst hat.«

Sandecker las den Brief und schüttelte dann bedächtig den Kopf. »Aus diesem Sand werden fast fünfzehn Prozent unserer Ölimporte gewonnen. Für die Wirtschaft wird das ein verheerender Schlag sein.«

Den jüngsten Preisanstieg hatte das ganze Land bereits schmerzhaft zu spüren bekommen. Im Nordosten waren Hunderte von Menschen bei einem winterlichen Kälteeinbruch gestorben, als die Heizölvorräte zur Neige gingen. Fluglinien, Speditionen und andere Transportunternehmen waren an den Rand des Bankrotts gedrängt worden, aber auch in anderen Industriezweigen hatte man bereits Tausende von Arbeitern freigestellt. Die ganze Wirtschaft drohte zusammenzubrechen, während in der breiten Öffentlichkeit der Unmut über eine Regierung zunahm, die nur wenig tun konnte, um die Kräfte von Angebot und Nachfrage zu beeinflussen.

»Es hat keinen Sinn, wütend auf die Kanadier zu werden«, sagte der Präsident. »Den Abbau am Athabasca zu unterbinden ist angesichts der zunehmenden globalen Erwärmung, die wir ständig vor Augen geführt bekommen, eher eine noble Geste.«

Sandecker nickte. »Ich habe gerade einen Bericht der NUMA über die Ozeantemperaturen erhalten. Die Meere wärmen sich wesentlich schneller auf als vorausgesagt, und gleichzeitig steigt der Meeresspiegel. Allem Anschein nach lässt sich das Abschmelzen der polaren Eiskappen nicht aufhalten. Der Anstieg des Meeresspiegels wird zu einem weltweiten Aufruhr führen, wie wir ihn uns nicht mal vorstellen können.«

»Als ob wir nicht schon genug Probleme hätten«, murmelte der Präsident. »Und nicht nur das, wir stehen vor möglicherweise verheerenden wirtschaftlichen Einbrüchen. Die weltweite Antikohlekampagne findet immer mehr Unterstützung. Viele Länder erwägen einen Boykott amerikanischer und chinesischer Waren, wenn wir nicht aufhören, Kohle zu verbrennen.«

»Das Problem ist nur«, warf Sandecker ein, »dass die mit Kohle befeuerten Kraftwerke die schlimmsten Verursacher von Treibhausgasemissionen sind – aber sie liefern auch die Hälfte unseres Stroms. Und wir haben die größten Kohlereserven der Welt. Es ist ein furchtbares Dilemma.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es unser Land übersteht, wenn es tatsächlich zu einem internationalen Boykott kommen sollte«, erwiderte der Präsident mit leiser Stimme. Der erschöpfte Regierungschef lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. »Ich fürchte, wir sind an einem kritischen Punkt angelangt, Jim, sowohl was die Wirtschaft als auch die Umwelt angeht. Uns droht eine Katastrophe, wenn wir nicht die richtigen Schritte einleiten.«

Der Druck nahm zu, und Sandecker sah, dass die Situation bei der Gesundheit des Präsidenten ihren Tribut forderte. »Wir müssen ein paar harte Entscheidungen treffen«, erwiderte Sandecker. Und da ihm der Mann, den er als guten Freund betrachtete, leidtat, fügte er hinzu: »Du kannst nicht alles allein lösen, Garner.«

Die müden Augen des Präsidenten funkelten mit einem Mal wütend auf. »Vielleicht nicht. Aber ich sollte es auch nicht versuchen müssen. Wir haben das seit einem Jahrzehnt kommen sehen, doch niemand war bereit zu handeln. Die früheren Regierungen haben die Ölindustrie aufgepäppelt und die Erforschung von erneuerbaren Energien mit Kleingeld abgespeist. Das Gleiche gilt für die globale Erwärmung. Der Kongress war so sehr mit dem Schutz der Kohleindustrie beschäftigt, dass man den ganzen Planeten vor die Hunde gehen ließ. Jeder wusste, dass die Abhängigkeit unserer Wirtschaft von ausländischem Öl eines Tages auf uns zurückfallen würde, und jetzt ist es soweit.«

»Über die Kurzsichtigkeit unserer Vorgänger müssen wir gar nicht debattieren«, pflichtete Sandecker bei. »Washington war nie für seinen Mut bekannt. Aber wir sind es dem amerikanischen Volk schuldig, alles in unserer Macht Stehende zu tun, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren.«

»Das amerikanische Volk«, erwiderte der Präsident gequält. »Was soll ich den Leuten denn sagen? Tut mir leid, aber wir haben den Kopf in den Sand gesteckt? Tut mir leid, uns drohen jetzt Treibstoffknappheit, Hyperinflation, steigende Arbeitslosigkeit und eine schwere Wirtschaftskrise? Tut mir leid, aber alle Welt will, dass wir keine Kohle mehr verbrennen, deshalb werden auch noch die Lichter ausgehen?«

Der Präsident sank in seinem Stuhl zusammen und starrte gedankenverloren die Wand an.

»Ich kann ihnen kein Wunder bieten«, sagte er.

Eine ganze Weile herrschte Schweigen, bis Sander leise das Wort ergriff. »Du musst auch kein Wunder anbieten, sondern ihnen nur erklären, dass alle werden Opfer bringen müssen. Es wird zwar eine bittere Pille sein, aber wir müssen Standhaftigkeit zeigen und unsere Energieversorgung vom Öl unabhängig machen. Die Öffentlichkeit ist flexibel, wenn es darauf ankommt. Leg die Karten auf den Tisch, Garner, dann stehen die Leute zu uns und akzeptieren die Opfer, die ihnen bevorstehen.«

»Vielleicht«, erwiderte der Präsident mit bedrücktem Ton. »Aber werden sie auch zu uns stehen, wenn ihnen klar wird, dass es möglicherweise zu spät ist?«

4

Elizabeth Finlay ging ans Schlafzimmerfenster und blickte zum Himmel. Ein leichter Nieselregen fiel, wie schon den ganzen Tag über, und es sah keineswegs so aus, als würde er aufhören. Sie drehte sich um und blickte auf das Wasser von Victoria Harbor, das an den Deich hinter ihrem Haus schwappte. Das Wasser im Hafen wirkte ruhig, doch ab und zu trieb der leichte Wind weiße Schaumkronen auf die Wellen. Schöner kann es für einen Frühlingssegeltörn im pazifischen Nordwesten kaum sein, dachte sie.

Sie zog einen dicken Pulli und eine wettergegerbte gelbe Regenjacke an und stieg die Treppe ihres weitläufigen Hauses hinab, das an der Küste lag. Es war von ihrem verstorbenen Mann in den 1990er-Jahren gebaut worden und hatte eine Vielzahl breiter Fenster, durch die man über das Hafenbecken hinweg einen herrlichen Blick auf das Stadtzentrum von Victoria hatte. T. J. Finlay hatte es so geplant, als ständige Erinnerung an die Stadt, die er liebte. Finlay, ein überlebensgroßer Mensch, hatte die hiesige Politik dominiert. Als Erbe eines großen Vermögens der Canadian Pacific Railway war er in jungen Jahren in die Politik gegangen und wurde zu einem beliebten und langjährigen Abgeordneten des Großraums Victoria. Dann war er unerwartet einem Herzanfall erlegen, wäre aber begeistert gewesen, wenn er gewusst hätte, dass seine Frau, mit der er fünfunddreißig Jahre verheiratet war, seinen Parlamentssitz mühelos gewonnen hatte.

Elizabeth Finlay, eine zierliche, aber abenteuerlustige Frau, stammte aus einer alten kanadischen Siedlerfamilie und war sehr stolz auf ihre Herkunft. Über die ihrer Meinung nach nicht gerechtfertigten auswärtigen Einflüsse auf Kanada war sie beunruhigt und setzte sich immer wieder für härtere Einwanderungsbedingungen und strengere Regeln für ausländische Eigentumsrechte und Investitionen ein. Ein ums andere Mal legte sie sich mit der Geschäftswelt an, wurde für ihren Mut, ihre Direktheit und Ehrlichkeit aber weithin bewundert.

Sie trat aus der Hintertür, ging über einen gepflegten Rasen und stieg die Treppe zu einem wuchtigen hölzernen Anlegesteg hinab, der sich in die Bucht erstreckte. Ein ausgelassener schwarzer Labrador folgte ihr auf den Fersen und wedelte fröhlich mit dem Schwanz. Am Steg lag eine schnittige, zwanzig Meter lange Motoryacht vertäut. Obwohl sie fast zwanzig Jahre alt war, funkelte sie dank einwandfreier Pflege wie neu. Der Yacht gegenüber lag ein kleines, nur knapp fünf Meter langes hölzernes Wayfarer-Segelboot mit hellgelbem Rumpf. Das alte Regattaboot wirkte ebenso wie die Yacht tadellos gewartet und sah mit seinen auf Hochglanz polierten Messingbeschlägen und Holzleisten wie neu aus.

Als er ihre Schritte auf den Holzplanken hörte, stieg ein schlanker, grauhaariger Mann von der Yacht und begrüßte Finlay.

»Guten Morgen, Mrs. Finlay. Wollen Sie mit der Columbia Express auslaufen?«, fragte er und deutete auf die Yacht.

»Nein, Edward, heute habe ich Lust zu segeln. Dabei bekomme ich den Kopf leichter frei – von der Politik in Ottawa.«

»Hervorragend«, erwiderte er und half ihr und dem Hund ins Boot. Er löste die Vertäuleinen an Bug und Heck und schob das Boot vom Anleger weg, während Finley das Großsegel setzte.

»Passen Sie auf Frachter auf«, sagte der Hausverwalter. »Heute scheint ziemlich viel Verkehr zu sein.«

»Danke, Edward. Bis zum Mittag bin ich zurück.«

Der Wind füllte rasch das Großsegel, und Finlay konnte ohne den Außenbordmotor in den Hafen segeln. Als das offene Hafenbecken vor ihr lag, kreuzte sie auf, ging auf Südostkurs und steuerte an einer Fähre nach Seattle vorbei. Sie saß in dem kleinen Cockpit, schnallte den Sicherheitsgurt um und blickte sich dann um. Links von ihr fiel die malerische Küste von Vancouver Island zurück, deren spitzgiebelige, um die Jahrhundertwende errichtete Gebäude wie eine Reihe von Puppenhäusern wirkten. Weit voraus zog sich ein steter Strom von Frachtern, die teils Vancouver, teils Seattle anliefen, durch die Juan-de-Fuca-Straße. Ein paar andere unverwüstliche Segel- und Fischerboote tummelten sich im Sund, aber die weite Wasserfläche bot den anderen Schiffen viel freien Seeraum. Finlay betrachtete ein kleines, vorbeiröhrendes Motorboot, dessen Insasse ihr freundlich zuwinkte, bevor er vor ihr davonrauschte.