Akte Mosel - Mischa Martini - E-Book

Akte Mosel E-Book

Mischa Martini

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Beschreibung

Kommissar Walde sieht alarmierende Anzeichen dafür, daß ein Psychopath, der vor Jahren die kleine Nicole tötete, wieder aktiv wird. Besteht eine Verbindung zu dem Fall, der längst unter "Akte Mosel" abgelegt ist? Oder jagt er ein Phantom? Was hat es mit den römischen Goldmünzen auf sich, die sein Freund Jo im Abraum entdeckt? Im Trierer Stadtbiotop mit Typen, Verwicklungen und dem alltäglichen bis skurrilen Beziehungsgeflecht ist noch Platz für Humor und eine Portion Sarkasmus.

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Seitenzahl: 336

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Verlag Michael Weyand

*

Mischa Martini

Akte Mosel

*

© Verlag Michael Weyand, Friedlandstr. 4, 54293 Trier

Internet: www.weyand.de, e-mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Bob, Trier

Satz: Verlag Michael Weyand, Trier

Druck und Bindearbeiten: Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-942 429-48-1

*

Der Roman wurde angeregt von realen Fällen.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit Verhaltensweisen von Menschen an der Mosel und anderswo sind zufällig, vielleicht unvermeidlich.

1

Wäre nicht das nervende Knattern seines Mofas, könnte er etwas von der Ruhe um ihn spüren. So aber pflügt er mit dem lauten Gefährt durch die sonntagsträgen Dörfer entlang der Mosel. Seit dem Frühschoppen ist er unterwegs. Er ist nicht zuhause zum Mittagessen gewesen. Egal.

Bei Thörnich fährt er den Berg hoch. Die Mittagshitze staut sich hier an den Weinbergshängen. Das Zweirad wird langsamer. Der Fahrtwind ist heiß. Auch in Bekond ist kein Kind auf dem Spielplatz.

Ein Sportflugzeug startet vom Föhrener Flugplatz und fliegt dröhnend über ihn hinweg. Im Dorf biegt er von der Straße auf einen schmalen Weg ab. Der führt über einen Holzsteg. Den kleinen Bach neben dem Geländer sieht er nicht. Der Helm beschränkt die Sicht. Dumpf hört er den Motor im Leerlauf tuckern. Er sieht die Kinder auf dem Spielplatz. Zwei Jungen sind am Klettergerüst. Am Sandkasten kniet ein Mädchen.

Er hält an. Die Kinder beachten ihn nicht. Schweiß läuft ihm über die Brille. Er wischt ihn mit dem Ärmel ab. Der Motor hat nur noch eine niedrige Drehzahl und brummt unregelmäßig. Abgase steigen ihm in die Nase. Das erinnert ihn daran, wie vor langer, langer Zeit das Moped des Mannes gerochen hat, der vielleicht sein Vater war.

Er steigt ab und schiebt das Mofa zu dem Mädchen am Sandkasten. Es wirft Glaskugeln in eine Kuhle. Wieder wischt er den Schweiß von der Brille.

»Dein’ Mutti ... schickt mich.«

Das Mädchen dreht sich zu ihm um. Es schaut ihn an. Dann blickt es zum Klettergerüst.

»Dein’... Mutti!« wiederholt er und stellt den Motor ab.

»Die Mama hat Dienst«, sagt es.

»Deshalb komm’ ... ich ja«

»Und der Papa?«

»Kann ... net«, er versucht, nach dem Arm des Kindes zu greifen.

Es weicht aus und hopst in den Sandkasten.

»Los ...«, mahnt er.

»Ich hole noch die Kugeln.«

Er dreht sich um. Die Jungen vom Klettergerüst starren herüber.

Er schiebt das Mofa zurück zur Holzbrücke. Das Mädchen folgt. Nebenan liegt neben der leeren Schule ein dicht mit Hecken bewachsenes Grundstück. Da will er hin. Nur allein sein, mit seinem Schatz. Mehr nicht!

Hinter der Brücke schaut er wieder zurück. Die Jungen raufen miteinander. Er greift nach dem Arm des Mädchens, etwas zu fest. Es gibt einen Schmerzenslaut von sich. Kugeln fallen ihm aus der Hand. Es will sich bücken. Er packt fester zu und zieht es weiter.

»Laß’ los! Meine Kugeln! Das tut weh!«

Mit der einen Hand schiebt er das Mofa, mit der anderen zieht er das Mädchen, das nun lauter jammert. Schweiß läuft ihm über die Brille. Er kann ihn nicht abwischen. Auf der Straße blickt er sich um.

»Mir sinn ... gleich da«, versucht er, das Kind zu beruhigen.

Das Mädchen weint.

»Is gut, et passiert nix,« er zieht das Mädchen vom Bürgersteig unter niedrigen Bäumen hindurch. Zweige schlagen gegen seinen Helm. Das Mofa läßt er hier zurück. Als sie tiefer ins Gestrüpp gehen, hört er es hinter sich rascheln. Die Jungen kommen gelaufen. Sie rufen etwas. Er läßt das Mädchen los.

Mit den Armen die Äste beiseite stoßend, hastet er zum Mofa zurück, wirft es an und fährt mit Vollgas unter dem Gestrüpp hindurch, ohne sich umzudrehen.

2

Walde steht in der Nachmittagshitze auf dem Bahnsteig und schaut gedankenverloren die Schienen entlang. Er starrt auf das große Plakat gegenüber. Das Porträt der Raucherin verwandelt sich in das der 12-jährigen Nicole. Es ist das erste Bild, das in der Akte eingeklebt ist. Auf diesem ist sie noch am Leben. Es folgen Nahaufnahmen der Partien mit den Einstichstellen der spitzen Tatwaffe. Ob es ein scharf gefeilter Schraubendreher, ein Zimmermannsnagel oder ein Eishacker war, konnte bis heute nicht festgestellt werden. Was damit angerichtet wurde, kann Walde nicht vergessen ...

Der Zug taucht aus der flimmernden Luft auf, noch bevor er zu hören ist. Walde bückt sich und faßt die heißen Griffe der Koffer. Viel zu früh. Die Lok ist noch nicht am Bahnsteig angekommen. Er haßt Abschiede. Als endlich die Waggons quietschend vorbeirollen, streift ein Luftzug seine schwitzende Stirn.

»Werde ich dir fehlen?« Anna steht von der Bank auf und umarmt ihn.

Er steht steif da, die Koffer ein wenig seitwärts vom Körper gestreckt, und wartet darauf, daß sie ihn wieder losläßt.

»Du bist ja noch da«, er zieht die Schultern hoch und geht zu den sich öffnenden Türen. Leute steigen aus. Walde wartet. Als Anna dicht an ihm vorbei die Stufen hinaufsteigt, schaut sie ihm mit dem forschenden Blick in die Augen, den er auszuhalten gelernt hat. Er quetscht sich in den Gang. Die Abteile sind nur spärlich besetzt, dennoch geht Anna bis zum nächsten Wagen durch. Waldes Blick folgt ihren Hüftbewegungen.

»Ich glaube, es fängt schon an. Ich vermisse schon deinen Hintern«, flüstert er ihr ins Ohr, als sie die Tür zu einem leeren Abteil aufschiebt.

»Hab’ ich mir gedacht, du Chauvi«, sie lächelt ihn an.

Er verstaut die Koffer. Dann bückt er sich zu ihr hinunter und küßt sie. Der Wagen ruckt leicht.

»Es geht gleich los, mach’s gut und rufe an, wenn du zuhau ..., wenn du angekommen bist.«

»Hätte ich mich da nicht beworben, wäre ich jetzt arbeitslos«, sagt sie.

»Du warst von den ganzen Sommerferien nur fünf Tage hier.«

»Jetzt aber Hallo! Du hast keinen Tag Urlaub genommen, bist doch sowieso froh, wenn ich weg bin, das merke ich doch, das Monster ruft.«

»Das ist halt mein Job, wir brauchen jetzt nicht wieder davon anzufangen.«

»Und ich muß den Unterricht vorbereiten, das ist mein Job.«

Am Bahnsteig geht Walde zu ihrem Fenster. Seine beträchtliche Körperlänge reicht dennoch nicht aus, um sie zu küssen. Er hält sich mit einer Hand an der Fensterkante fest. Anna legt ihre darauf. Waldes Hand beginnt augenblicklich zu schwitzen. Er beobachtet aus den Augenwinkeln und dann im Spiegelbild der Scheibe eine hübsche Frau in einem kurzen Kleid, die hinter ihm vorbeigeht.

»Kannst du damit nicht wenigstens warten, bis ich abgefahren bin«, zischt Anna.

Walde versucht einen verständnislosen Gesichtsausdruck.

»Ich meine mit der Brautschau ...«

»Ach, du meinst die da«, Walde deutet mit dem Daumen zum Bahnhofsgebäude.

»Dein Blick ist also rein beruflich?«

»Genau: Linkshänderin, hat immer kleinere Freunde, hält sich deshalb schon gewohnheitsmäßig etwas krumm, sie trägt Kontaktlinsen und hatte vor etwa einer Stunde guten Sex, schätze im Cochemer Tunnel, und zwar mit dem da.« Walde deutet mit dem Kopf auf einen kleinen, dicklichen Priester, der mühsam einen Rollkoffer hinter sich herzieht.

Die Waggontüren werden zugeschlagen, und der Pfiff zur Abfahrt ertönt.

Walde nimmt die feuchte Hand vom Fenster.

»Und der Koffer ist voller Aphrodisiaka?« fragt Anna.

»Jetzt riech’ ich es auch!« Der Zug rollt an.

»Vergiß’ mich nicht zu schnell, Spatz«, ruft sie.

Spatz, wie ätzend, so genannt zu werden, wie phantasielos, soviel er weiß, hießen alle ihre Typen Spatz. Das sollte er ihr jetzt sagen. Heute Abend könnte sie sein Bettzeug nicht in die Diele werfen und die Türen knallen.

»Ruf’ an!« Walde geht ein paar Schritte neben dem Zug her.

Im Volvo schaltet er die Klimaanlage ein und wechselt die CD. Eben haben sie auf dem Weg hierher noch Do it again von STEELY DAN gehört. Das war einmal ihr Titel.

An St. Maximin vorbei ist die Straße frei. Er beschleunigt den Wagen. Rechts rauscht ein Graffito vorbei. Die Strichmännchen scheinen sich beim Vorbeifahren zu bewegen – und SEAL singt dazu Crazy. In Höhe des Arbeitsamtes kommt die Stelle mit der irren Trommelsequenz, bei der Walde auch diesmal die Lautstärke hochdreht. Soweit der Straßenverkehr es zuläßt, kann er sich in der Musik verlieren. Alles andere ausblenden kann er ebenfalls, wenn er tief in einem Fall steckt und in unendlichen Datenmengen einem entscheidenden Hinweis nachspürt ... und früher manchmal auch mit Anna.

Der Volvo rollt durch ein Industriegebiet im Norden der Stadt. Golden färben die letzten Strahlen der Sonne eine verglaste Front. Dahinter liegen ehemalige Kasernen und ein kleiner Park.

Walde stellt den Wagen am Eingang des Parks nahe am Spielplatz ab. Am ehemaligen Bootsverleihhäuschen am See blickt er sich um, wie erwartet, ist um diese Zeit kein Kind mehr im Park. Auf der Wiese neben dem Wasser sitzen in Gruppen Leute zusammen. Wahrscheinlich sind es Bewohner der Kasernen, die als Aufnahmelager für Asylsuchende und Aussiedler umfunktioniert wurden.

Von einem Mann mit Mofa keine Spur. Es ist nicht die richtige Tageszeit für ihn. Die Objekte seiner Begierde sind nicht mehr unterwegs. Wahrscheinlich sitzt er im Moment zu Hause vor der Glotze und zieht sich Pädophilenpornos rein. Walde erkundigt sich per Telefon im Präsidium. Nichts von Belang ist gemeldet. Seine Unruhe bleibt.

In der Dämmerung fährt er über die Autobahn nach Pfalzel. Marie hat Geburtstag. Nichts Rundes, irgendwas knapp über die 35. Vor dem Haus ist die Straße eng und kein Parkplatz zu finden. Als er zu Fuß vom Einparken zurückkommt, hört er aus dem Garten Stimmengewirr und Gelächter. An der Hauswand spiegelt sich schwacher Feuerschein. Die beiden Flügel des hölzernen Gartentors in der mehr als mannshohen Mauer stehen offen. Walde geht gebückt hindurch. Drinnen flackern ringsum Öllampen und Windlichter. Am Himmel sind die ersten Sterne zu sehen. Walde bleibt stehen, um sich in der Dunkelheit zu orientieren. Vor ihm ist eine Gruppe von Leuten, von denen er niemanden kennt, in ein angeregtes Gespräch vertieft. In der gegenüberliegenden Ecke des Gartens lodert ein mächtiges Feuer. Ein kräftiger Mann steht dahinter und gießt aus einem großen Schöpflöffel etwas auf einen Stein, der über dem Feuer auf einem Gestell liegt. Der Schatten, den er dabei hinter sich an die Gartenmauer wirft, sieht bedrohlich aus. Walde erkennt Jo und geht vorsichtig in Richtung Feuer. Er weicht dabei kleineren und größeren Tümpeln aus. Manche sind kreisrund, andere nierenförmig oder länglich wie ein Schlauch. Gesäumt werden sie von allerhand zumeist nicht mehr als einen halben Meter hohen Figuren. Viele hat Marie selbst modelliert. Manche stecken auf Stäben, andere stehen auf Podesten aus Ziegeln oder liegen auf Kiesrändern und Beeten.

Joachim Ganz verteilt mit einem Holzschaber die zischende Masse auf dem heißen Stein.

»Hallo, Walde, mit dir hab’ ich heute nicht mehr gerechnet. Möchtest du eine Crèpe?«

Walde schaut zu einer Gruppe von Frauen, die wenige Meter entfernt an einem Stehtisch lehnen.

»Gell, schöne Beine hat die Doris!« bemerkt Jo, der Waldes Blick gefolgt ist.

»Gibt es auch was zu trinken?« fragt Walde.

Marie kommt herbei, um Walde zu begrüßen. Er überreicht ihr ein kleines Päckchen: »Herzlichen Glückwunsch!«

»Ein Frosch?« Marie faltet das braune Packpapier auseinander. »Oh, eine Katze, eine zusammengerollte, die hat gefehlt. Danke Walde. Hat Jo dir schon was angeboten?«

Walde schüttelt den Kopf.

»Der Herr war von Doris’ Beinen abgelenkt«, protestiert Jo. »Soll ich dich ihr vorstellen?«

»Danke, wie weit ist die Crèpe? Gibt es auch was zu trinken?« Walde will Jo vom Thema ablenken. Seine dröhnende Baßstimme ist im gesamten Garten zu vernehmen.

»Hier, trinken wir auf Doris’ Beine«, Jo reicht Walde grinsend ein Glas Wein.

Am Stehtisch dreht sich Doris Morgen um und prostet Jo zu. Dabei mustert sie Walde.

»Danke!«, zischt Walde zu Jo, der die Crèpe zusammenfaltet und auf einen Teller legt.

3

»Das hat mir heute noch gefehlt«, seufzt Walde, als er am Nachmittag des folgenden Tages neben der Wasserleiche wenige Meter hinter der Moselstaustufe auf dem Rasen kniet. Er hat sich ein Taschentuch vor die Nase gepreßt. Das grelle Gegenlicht schimmert rötlich durch seine Ohren. Die gepflegte Grasfläche gehört zu einem der Bungalows, die in den sechziger Jahren beim Bau der Staustufe für die Mitarbeiter des Wasserschiffahrtsamtes errichtet wurden. Einer der Bewohner steht hinter den Gardinen und ist unschlüssig, ob er herauskommen und seine Neugierde befriedigen oder sich den Appetit und den ruhigen Schlaf für die nächsten Tage erhalten soll. In dezentem Abstand stehen Leute von den Schiffen, die auf ihren Schleusengang warten.

Walde untersucht kurz den Toten, dessen Haut blaue und grüne Verfärbungen aufweist. Es reicht aus, um grobe Merkmale festzustellen. Der Mann hat wohl schon vor geraumer Zeit sein finales Bad genommen.

»Armer Kerl, finde deinen Frieden«, murmelt Walde. Soviel Achtung hat er verdient, der hier so unwürdig auf der Erde liegt.

»Wer ist es, Harry?« fragt Walde.

»Keine Ahnung, Stefan, er hat keine Papiere – Selbstmord oder Badeunfall«, mutmaßt Harry.

»Und warum sind wir dann hier?«

»Er hat im Nacken eine Verletzung, und der Kollege vom KI 11 dachte, er müßte uns einschalten.«

»Der dort drüben?« Walde deutet augenzwinkernd zu einem Mann in Zivil, der in Hörweite an einem Obstbaum lehnt, an den er sich gerade erbrochen hat.

»Es ist seine erste Wasserleiche.«

Der Mann löst sich vom Baum und kommt ein paar Schritte näher.

Walde geht ihm entgegen. Der Kollege wischt sich den Mund mit einem Taschentuch ab. Seine Gesichtsfarbe unterscheidet sich nicht von der der Wasserleiche.

»Herr Hauptkommissar, bitte entschuldigen Sie, ich hätte Sie nicht gerufen, wenn ...«

»Ist in Ordnung, Herr ...«

»Grabbe, Polizeihauptmeister, Kriminalinspektion 11, seit letzter Woche.«

»Waldemar Bock«, Walde vermeidet einen Händedruck.

»Ich dachte, Sie heißen Stefan?«

»Harry hat einen kleinen Derrick-Tick.« Walde schaut wieder zur Leiche. »Vermutliche Todesursache?«

»Die schwere Kopfverletzung deutet auf Fremdverschulden hin.«

Die umstehenden Gaffer recken die Hälse.

»Es ist nicht der Schädel, sondern der Hals, ich tippe auf Fischfraß, der hat ja nicht erst seit gestern im Wasser gelegen«, mischt sich Harry ein. »Kann sein, daß der Mann sich abkühlen wollte, dann, zack, Herzschlag, vorbei.« Harry klatscht in die Hände, Grabbe zuckt zusammen. »Schätze, es ist der Arbeiter, der bei Wasserliesch vom Moselbagger gefallen ist.«

»Mal sehen, was die Pathologie sagt. Sollte er nicht in der Vermißtenkartei auftauchen, muß die Presse ran«, Walde verscheucht eine dicke Schmeißfliege.

»Für die Zeitung hat er wohl schon ein wenig zu lange in der warmen Brühe gelegen, Stefan, oder wollen Sie sich so ein Bild beim Frühstück ansehen, Herr Grabbe?«

Grabbe würgt und wankt zu dem gequälten Obstbaum zurück.

»Kann er zur Untersuchung?« fagt Harry.

Als Walde nickt, zwinkert Harry und ruft: »Kann mir bitte jemand beim Tragen helfen?«

Die eben noch neugierigen Schiffer verlieren schlagartig das Interesse und haben es plötzlich eilig, zu ihren Kähnen zurückzukehren.

Walde fährt ins Präsidium. Die Luft in seinem Büro ist stickig, er öffnet beide Fenster. Was hereinströmt, hat mit Frischluft wenig zu tun. Die Abgase, die von den Straßen aufsteigen, mischen sich mit der seit Tagen über der Stadt hängenden Dunstglocke.

Immer noch besser als der Scheiß, der hier in der muffigen Luft hängt, denkt Walde. Sein Büro ist von der Truppe, die kürzlich das gesamte Präsidium auf Belastungen durch PCB und Asbest untersuchte, als deutlich unter dem zulässigen Grenzwert belastet eingestuft worden. Aber warum andere, im Prinzip baugleiche Büros geräumt werden mußten, leuchtet ihm nicht ganz ein. Eine Zeitlang hieß es sogar, das ganze Gebäude müsse abgerissen werden. Dem Stadtbild hätte es bestimmt gutgetan, wenn der achtstöckige Plattenbau verschwunden wäre.

In der Kantine im 7. Stock fragt die Frau an der Kasse: »Na, waren Sie schwimmen?«

Walde zahlt den Kaffee und zwei belegte Brötchen: »Nicht so laut, sonst werden die Kollegen noch neidisch!«

Die Hitze in seinem Dienstwagen auf dem Weg durch den Feierabendverkehr von der Mosel zum Präsidium, das heiße Büro und zuletzt die Treppe hoch zur Kantine haben ihm den Schweiß aus allen Poren getrieben. Seine Haare klatschen am Kopf.

Beim Essen schaut Walde aus dem Fenster. Gleich gegenüber ragen die Ruinen der Kaiserthermen, einer Badeanlage aus den römischen Tagen der Stadt, aus grasbewachsenen Hügeln. Ringsherum quält sich der frühe Feierabendverkehr.

Die Brötchen ziehen sich wie Gummi. Der Salat unter der Wurst hat schlappgemacht. Die Mahlzeiten mit Anna waren schöner ...

In seiner Hosentasche niest das Telefon. Den Ton hat Harry einprogrammiert. Er hört sich fast echt an und hat den Effekt, daß an unpassenden Örtlichkeiten nicht gleich alle Leute auf ihn aufmerksam werden. Die Frau hinter der Theke wünscht grinsend Gesundheit, als Walde sein Handy aus der Tasche fingert.

»Ja? Bock.«

»Wir sind unterwegs zum Spielplatz auf der Kenner Lay. Der Kerl soll ...«, Harry ist durch das Martinshorn schwer zu verstehen. »... ein Mofa fahren.«

»Verstanden, ich komme.« Walde springt auf. Im Fahrstuhl weist er die Zentrale an, alle verfügbaren Streifenwagen Richtung Kenn zu schicken. Alle Mofafahrer, die im Umkreis unterwegs sind, sollen kontrolliert und die Personalien festgehalten werden.

Schaulustige drängen sich vor zwei Streifenwagen, die mit eingeschaltetem Blaulicht die Zufahrt zum Spielplatz in Kenn blockieren. Dahinter stehen ein Zivilfahrzeug und ein Polizeibus, dessen Schiebetür offen steht. Drinnen sitzt Gabi Wagner, Kommissarin der Kriminalinspektion Sexualdelikte, zwei Kindern gegenüber, die immer wieder ängstlich aus dem Fenster auf die Polizisten und die Menge dahinter starren.

Harry und Grabbe stehen mit dem Rücken zum Bus. Eine Frau wird von den Polizisten durchgelassen und drängt sich an den beiden vorbei. Die Kinder springen auf und umarmen sie.

Gabi steigt aus: »Wir fahren jetzt mit der Mutter und den Kindern zum Präsidium.« Sie deutet auf das jüngere Mädchen. »Nina, sie ist sieben, wurde von einem fremden Mann angesprochen. Als die Schwester, sie ist zehn, mit noch zwei Freundinnen dazukam, ist der Kerl mit einem roten Mofa abgehauen. Er trägt eine blaue Jacke und einen grauen Helm. Es könnte der vom Sonntag in Föhren sein.«

»Wer hat uns gerufen?« fragt Walde.

»Die Mädchen wohnen hier gleich neben dem Spielplatz. Sie sind nach dem Föhrener Vorfall von ihren Eltern gewarnt worden und haben sofort reagiert. Ich habe Conny erreicht, die hat zwar Urlaub, ist aber zum Glück nicht verreist. Sie kommt gleich ins Präsidium und hilft bei den Vernehmungen.«

»Was ist mit Spuren auf dem Spielplatz?«

»Der Lehmboden ist hart wie Beton«, sagt Harry. »Der hätte sein Mofa schon durch den Sandkasten steuern müssen ...«

Ein Funkspruch kommt aus dem Wagen: »Tatverdächtiger Mofafahrer zwischen Fastrau und Fell gesehen.«

Harry springt blitzschnell in den Wagen. Als Walde auf den Beifahrersitz plumpst, dröhnt schon das Martinshorn, und die Schaulustigen hasten zur Seite. Harry ist in seinem Element, mit Affenzahn schleudern sie die Serpentinen zur Hauptstraße hinunter, wo sie mit 180 Sachen an einem Einkaufszentrum vorbeirasen. Walde erkundigt sich bei der Zentrale, woher die Meldung stammt. Ein Mitarbeiter der Wochenpost soll angerufen haben.

Harry brüllt zu Walde herüber: »Den kenn’ ich, der ist vor Jahren bei uns rausgeflogen und arbeitet jetzt als freier Journalist, der hört Tag und Nacht Polizeifunk und grast die Unfälle ab.«

In Fell drosselt Harry die Geschwindigkeit. Kein Mofa ist in Sicht. Am Ortsende teilt sich die Straße. Harry entscheidet sich für die in Richtung Thomm. Wie hätte es anders sein können? Alljährlich wird auf dem kurvenreichen Anstieg ein Bergrennen veranstaltet. Walde läßt ihn gewähren, die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig. Gleich hinter dem Ort sieht Walde, wie ein Helm links hinter einem Busch verschwindet. Harry hat es auch bemerkt und biegt auf einen Schotterweg ab. Walde wäre froh, seine Dienstwaffe dabei zu haben, um einen Warnschuß abzugeben. Harry hat seine Waffe immer dabei, aber er steuert den Wagen mit so hoher Geschwindigkeit über den unbefestigten Weg, daß Walde ihn lieber nicht danach fragt. Die Reifen wirbeln blaue Schieferplättchen auf. Walde stemmt die Beine fest unter das Armaturenbrett. Mit der rechten Hand hält er sich am Außenspiegel fest. Der warme Fahrtwind ist staubig. Nur schemenhaft ist das Gefährt vor ihnen zu sehen.

Rechts ist ein Steilhang mit endlosen Schieferhalden. Links fliegen vergitterte Eingänge zu ehemaligen Bergwerken vorbei. Früher wurde in den Stollen Schiefer abgebaut. Die Sonne hat den ganzen Tag gnadenlos gebrannt. Die Hitze wird durch den Boden festgehalten. Jetzt am Spätnachmittag herrschen hier höllische Temperaturen.

Fußgänger, die sich am Wegrand in Sicherheit gebracht haben, verschwinden im aufgewirbelten Staub. Harry steuert nach links einen Stichweg hoch. Das Mofa ist fast eingeholt. Der Fahrer trägt einen grauen Helm. Sein blauer Blouson bläht sich am Rücken. Walde versucht, das kleine Nummernschild zu entziffern. In einer scharfen Rechtskurve umklammert er den Außenspiegel so fest, daß er fürchtet, ihn abzureißen. Der Wagen kommt an einer Böschung zum Stehen. Harry muß zurücksetzen. Mit durchdrehenden Reifen nehmen sie wieder Fahrt auf und sehen, wie der Mofafahrer sich hinter dem Schild Besucherbergwerk zwischen Loren und Holzbuden hindurchschlängelt. Der Weg endet dahinter vor einer dicht bewachsenen Anhöhe.

»Das Spiel ist aus«, schreit Harry nach einem waghalsigen Slalom. Noch während der Wagen über den feinen Schiefer schlittert, reißt Walde die Tür auf und sieht, wie das Mofa wenige Meter vor ihm in einem schwarzen Schacht verschwindet.

»Blockier’ den Eingang«, ruft Walde und spurtet in den Stollen. Der Kreis der vom Scheinwerfer des Mofas angestrahlten Wände wird immer kleiner. Walde atmet Abgase und Modergeruch. Als das Mofa wenig später hinter einer Biegung verschwindet, schaut Walde zurück. Vom Eingang dringt nur noch spärliches Licht zu ihm. Aus den dunklen Wänden stehen feucht glänzende Zacken hervor. An der Decke führt ein Bündel Kabel entlang. Walde läuft mit eingezogenem Kopf weiter.

Hinter der Biegung ist es stockdunkel. Walde bleibt stehen, es fröstelt ihn. Das Knattern hallt durch den Gang. Weder vor noch hinter ihm ist etwas zu erkennen. Er kramt den Autoschlüssel aus seiner Tasche und drückt auf den Knopf, der ein kleines Birnchen aufleuchten läßt, das bei nächtlicher Schlüssellochsuche helfen soll. Die Leuchtkraft ist zu schwach, um hier etwas auszurichten. Walde schaltet es aus und tastet mit dem ausgestreckten rechten Arm an der Wand entlang. Er hebt die Füße höher und fuchtelt mit der linken Hand vor sich ins Dunkel.

Ein quietschendes Geräusch kommt von weit vor ihm, gefolgt vom ruhigen Tuckern des Motors im Leerlauf. Es folgen dumpfe Schläge. Soweit er sich überwinden kann, beschleunigt Walde seine Schritte. Ab und zu streift sein Haar die Decke, und er bückt sich noch tiefer. Es scheppert heftig. Das Geräusch pflanzt sich durch den Stollen fort.

Walde bleibt stehen und reißt die Augen weit auf. Es bleibt ringsum schwarz. Er hört nur seinen schnellen Atem, sonst ist es still wie in einem Grab. Sein Mund steht weit offen. Bemüht, so wenige Geräusche wie möglich zu machen, setzt er einen Fuß vor den anderen.

In dem Moment als sein Fuß in eine große Pfütze platscht, stößt seine nach vorn ausgestreckte Hand gegen weichen Stoff. Er schreckt zurück. Plötzlich zucken grelle Blitze ringsum. Seine Kiefer prallen hart aufeinander. Der Schlüssel fällt klirrend zu Boden. Es folgt ein stechender Schmerz in seiner Schädeldecke. Er duckt sich und tritt, sich aufrichtend, mit voller Wucht nach vorn. Sein Fuß trifft. Walde weicht zurück. Vor ihm lärmt es, als wäre etwas zu Boden gefallen und würde noch eine Weile hin und her schaukeln. Walde hält den Atem an und lauscht mit äußerster Konzentration. Nichts rührt sich. Vorsichtig tastet er um sich herum den Boden ab. Immer wieder unterbricht er die Suche und lauscht. Endlich findet er den Schlüsselbund. Aus welcher Richtung ist er gekommen? Er versucht, sich zu orientieren. Jetzt nicht hektisch werden, nur keine Panik bekommen. Er ertastet eine Wand. Immer noch ist alles still. Dann schaltet er das Birnchen an und untersucht den Boden. Mit der Hand stößt er gegen etwas Hartes. Es ist ein Helm. Das Lämpchen ist kaum eine Hilfe. Daneben liegt eine Gestalt. Walde tastet sie nach und nach mit dem Lichtstrahl ab. Die Beine sind seltsam verdreht. Die Jacke ist blau. Er fühlt den Stoff. Es ist wahrscheinlich Baumwolle, eine Arbeitsjacke. Er drückt etwas fester. Der Stoff gibt nicht nach. Der ganze Körper rutscht zur Seite. Er packt mit beiden Händen zu. Der Körper ist leicht, viel zu leicht, es ist eine Puppe.

Walde tastet zur Wand zurück. Was hat ihm sein Freund Jo, neben Wein- auch ein ausgewiesener Kellerkenner, von seinen unterirdischen Exkursionen berichtet? Falls man sich verirrt hat, immer an einer Wand, rechts oder links, vorbeitasten. Dann kommt man unweigerlich wieder zum Ausgang, muß aber in Kauf nehmen, durch viele abzweigende Gänge zu irren. Eine zweite Möglichkeit, die Jo beschrieb, war, der Zugluft zu folgen. Die gibt es aber nur, wenn drinnen der Temperaturunterschied zur Außenluft groß genug ist ...

Von Ferne hört Walde Rufen, kann aber nichts verstehen. Er befühlt seinen Kopf. Ist es Schweiß oder Blut, was sich da so warm anfühlt? Er wischt die Hand an seinem Hemd ab. Hat sich weiter vorn im Stollen etwas geregt? Walde kann die Entfernung nicht abschätzen. Der Motor wird wieder gezündet, heult kurz auf und tuckert im Leerlauf weiter. Das dumpfe Klopfen beginnt von neuem. Jetzt wird Walde klar, was es sein könnte. Eine Treppe, deshalb fährt er nicht. Der Motor heult auf, die Treppe scheint zu Ende zu sein.

An der Decke leuchten Lampen auf. Um Walde herum stehen und liegen Puppen in Bergmannskleidung. Jetzt sieht er auch die Grubenlampen an den Helmen. Seine Augen brennen; nachdem er darüberfährt, ist seine Hand rot. Weiter hinten ist eine lange Treppe, die in einen größeren Raum führt. Auf der einen Seite liegt Schutt, daneben ist ein weiterer Stollen. Walde horcht. Das Motorgeräusch ist nicht mehr zu hören. Menschen mit Helmen und gelben Friesennerzen kommen die Treppe herunter. Ein Mann in heller Arbeitsjacke mit einem breiten schwarzen Gürtel darüber drängt sich nach vorn und schaut ihn erschrocken an: »Herr Bock?«

»Ja?«

»Ihr Kollege, ich soll Ihnen ausrichten, er hat die Verfolgung aufgenommen. Ich rufe Ihnen einen Krankenwagen.«

»Danke, ich habe mir nur den Kopf gestoßen.«

»Das muß versorgt werden. Ich bringe Sie zu einem Arzt in Fell. Sie sind nicht der erste, dem das hier im Bergwerk passiert ist.«

An der Pforte des Präsidiums erfährt er, daß Polizeipräsident Stiermann, intern “Seekuh“ genannt, ihn erwartet.

Sekunden nachdem die Vorzimmerdame ihn angemeldet hat, reißt Walter S. Stiermann seine Bürotür auf. Dunkles Hemd, grauer Anzug, die Jacke zugeknöpft, der Knoten der hellen Krawatte fest angezogen, kommt er mit Schwung heraus, reißt die Brille mit der linken Hand von der Nase und macht mit der rechten eine einladende Geste. Wie immer schlägt er Walde auf die Schulter: »Kommen Sie herein, Herr Bock, schön, daß Sie noch Zeit für unser Meeting haben.«

Was soll der Spruch? Er ist der Chef, denkt Walde. Im Zimmer fröstelt es ihn augenblicklich, es scheint ihm noch kälter als im Bergwerksstollen. Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren. Stiermann steuert auf eine Sitzecke zu, hinter der eine halb eingerollte Stars and Stripes und eine deutsche Flagge an der Wand lehnen. Darüber hängt ein Foto, das Stiermann zusammen mit dem ehemaligen Chef der New Yorker Polizei zeigt. Der Spitzname “Seekuh“ hängt mit seiner meistgebrauchten Verabschiedungsfloskel “See you“ zusammen. Oder ist es die präsidiumsinterne Deutung des abgekürzten zweiten Vornamens? Das S. ist nirgends offiziell registriert, das kann hier jeder an seinem Computer nachlesen.

Walde sinkt in einen Sessel. Das kalte Leder erzeugt an seinem verschwitzten Rücken eine Gänsehaut. Er muß sich zusammenreißen, daß er sich nicht vor Kälte schüttelt.

»Was darf ich Ihnen anbieten, Kaffee, Wasser oder einen Whisky?«

Walde könnte eigentlich einen heißen Grog oder einen Glühwein gebrauchen, bittet aber um Kaffee und bemüht sich, nicht mit den Zähnen zu klappern.

»Die News bitte!« Der Präsident setzt sich und putzt seine Brille mit der Krawatte. Walde beobachtet es mit Grausen. Seine Eltern betrieben in der Simeonstrasse ein Optikergeschäft. Walde weiß durch jahrelange Mithilfe im Laden, daß Stiermanns Gestell nicht unter tausend Mark zu haben ist und die Gläser durch die Krawatte verkratzt werden. Sein Vater hatte den Laden von seinem Vater geerbt. Er konnte Beamte nicht ausstehen, obwohl er nicht schlecht an ihnen verdiente. Die Beamten saßen seiner Meinung nach nur ihre Stunden ab. Überstunden, wie sie bei einem selbständigen Optiker massenhaft anfielen, kannten sie nicht. Obendrein konnten sie es sich leisten, während der Dienstzeit private Besorgungen zu machen, zum Beispiel eine neue Brille zu kaufen. Das hörte sich so gut an, daß Walde schon früh beschloß, in den Staatsdienst zu gehen. Wäre er Finanzbeamter geworden, hätte es seinen Vater umgebracht, die hatte er ganz besonders gehaßt.

Walde umschließt die warme Kaffeetasse: »Ein Mofafahrer, wahrscheinlich identisch mit dem Täter von Föhren, hat ein siebenjähriges Kind angesprochen und ist, als andere Kinder auftauchten, abgehauen. Das da«, Walde deutet zum Pflaster an seinem Kopf, »ist bei der Verfolgung passiert.«

»Was sagt der Doc?«

»Er hat rasiert und geklammert, ist nichts weiter.«

»Na ja, es bleiben ja noch genug Locken übrig. Sie haben ziemlich viel traffic ausgelöst mit ihrem Großalarm!«

»Großalarm ist etwas übertrieben. Wir haben Sommerferien, und im Streifendienst sieht es nicht besser aus als in meiner Abteilung oder bei Kollegin Wagner.«

Stiermann stöhnt: »Manpower fehlt, irgendwann müssen die Leute ja Urlaub machen. Wenn ich an die ganzen Überstunden denke, die kann ich ja nicht einfach canceln. Wir haben im Moment einen Boom bei den Hauseinbrüchen.«

»Wie immer in den Sommerferien«, Walde knöpft den Kragen seines Hemdes zu und versucht, die Ärmel über seine Ellenbogen zu ziehen.

»Was ich damit sagen will ist, könnten Sie diese, ich nenne sie mal größeren Einsätze bitte auf ein Minimum reduzieren? Sie wissen ja, wir machen zur Zeit die Aktion PRÄSENZ VOR ORT. Ein Bergwerk ist da die falsche Location.« Stiermann nippt an seinem Glas, sein Schnauzbart stößt einen Eiswürfel an, der auf und ab wippend zum Rand dümpelt. »Das gibt ein gutes Feedback von den Bürgern, wenn unsere Leute mehr in den Wohngebieten auftauchen.«

»Ich habe bei der Sache mit dem Mofafahrer kein gutes Gefühl«, Walde verkneift sich, Feeling zu sagen, »Herr Präsident. Wenn ein Einbrecher erst nach dem fünften Delikt gefaßt wird, ist das etwas anderes als hier, wo es Schlimmes zu verhindern gilt.«

»Ich höre, Sie arbeiten mit Frau Wagner im Team, das gefällt mir. Nur denken Sie an die Verhältnismäßigkeit. Ihr Engagement in Ehren, aber legen Sie hier nicht die Maßstäbe an, die für Kapitalverbrechen gelten? Sie wissen, was ich über den Fall Nicole denke. Der Täter ist schon lange nicht mehr hier.«

Er wartet einen Augenblick, und als Walde nichts entgegnet, steht er auf. »Halten Sie mich auf dem Laufenden und stimmen Sie bitte bis Ferienende größere Aktionen vorher mit mir ab.«

Er schüttelt Walde die Hand: »Ich möchte ein Briefing von heute. See you.«

4

Die drei Kerle werden Doris Morgen allmählich lästig. Es reicht schon, wenn vorbeifahrende Autofahrer sie anglotzen oder Bauarbeiter ihr vom Gerüst nachpfeifen. Zu Fuß auf der Straße sind die Männer meistens feige. Es sei denn, sie sind nicht allein, wie diese Blödmänner, die jetzt schon eine Weile dicht hinter ihr hergehen.

Doris bleibt vor einem Schaufenster stehen und schaut zurück. Die drei bleiben ebenfalls stehen. Einer nuschelt irgendwas auf Französisch, und die beiden anderen grinsen sie an. Sie geht weiter. Es ist früher Abend, die Geschäfte haben noch geöffnet, kein Wölkchen ist am blauen Himmel. Sie geht über einen Parkplatz. Hier schließen ruhigere Wohnstraßen an die City an.

Die drei sind jetzt dicht hinter ihr. Doris bleibt stehen und dreht sich um. Auch die Männer halten an, einer reagiert später und schwankt zu den anderen zurück. Alle haben kurzgeschorene Haare.

»Mon amour, chérie, ma petite ...«, lallt einer der Bubis mit schmachtender Miene.

»Es reicht!« Doris redet den Sprecher direkt an, der einen Kopf kleiner ist als sie. Sie beschleunigt ihre Schritte, die Gruppe folgt. Es sind nur noch ein paar Meter bis nach Hause. Bis auf ihre Verfolger ist niemand auf der Straße. Die Geräusche der Stadt und das Kichern überschwemmen ihren Kopf.

Endlich ist sie vor ihrem Haus angelangt. Über eine längere Strecke des Bürgersteigs klafft eine metertiefe Baugrube. Zwischen rotweiß gestreiftem Absperrband balanciert sie über die Bretter. Sie schließt auf und spürt eine Hand an ihrem Hintern. Sie drehte sich um und schlägt den Mann aus voller Drehung mit der flachen Hand. Es klatscht wie ein Peitschenhieb, und der Typ fällt rücklings, vom Zischen des reißenden Bandes begleitet, in die Grube. Unten zappelt er wie ein auf den Rücken gefallener Käfer. Blut läuft ihm aus der Nase. Die beiden anderen starren mit nach vorn gebeugten Oberkörpern in die Grube. Unten richtet sich der Kerl stöhnend auf und greift nach den Händen seiner Kumpel.

Im Treppenhaus schlägt Doris die Haustür zu und sinkt auf die Stufen. Arme und Beine kribbeln. Ein Druck auf ihren Augen läßt die Wände milchig erscheinen. Die dunklen Punkte kreisen immer schneller. In den Ohren rauscht eine mächtige Brandung. In ihrem Unterleib wird es kalt. Der Atem geht hechelnd. Der kalte Klumpen zieht sich ruckartig zusammen. Sie reißt die Einkaufstüte vor den Mund und atmet hinein. Knisternd zieht sie sich zusammen und dehnt sich wieder aus.

»Was ist mit Ihnen, Frau Morgen, haben Sie einen Asthmaanfall?« Die Frau aus der Parterrewohnung steht neben ihr. »Soll ich einen Arzt rufen?«

Doris’ Atem bekommt wieder Rhythmus. Sie nimmt die Tüte vom Mund und schüttelt den Kopf. Die Nachbarin versucht, ihr aufzuhelfen.

»Danke, es geht schon wieder.«

Doris geht langsam die Treppe hoch. Sie traut ihren Beinen noch nicht und hält sich am Geländer fest. Die Frau wartet im Treppenhaus, bis Doris ihre Wohnungstür schließt. In der Küche öffnet sie die Tür zum Balkon, die Katze streift ihr um die Beine. Sie füllt die Schale mit Wasser und schaut in den Garten, zu dem Minka über ein angrenzendes Dach und einen Kirschbaum gelangt. Von der Straße aus hält man es kaum für möglich, daß sich hinter der geschlossenen Häuserfassade der Sichelstraße, mitten in der Innenstadt, so tolle Gärten verbergen.

Doris geht ins Bad. Nach dem Duschen läßt sie ihr kurzes Haar draußen in der Sonne trocknen.

Hat sie dem Kerl das Nasenbein gebrochen? Wird er zur Polizei gehen oder etwas anderes gegen sie unternehmen?

Doris war nach dem Modedesignstudium – bei Grafik schaffte sie die Aufnahmeprüfung nicht – als Erstzuschneiderin in einem Düsseldorfer Modehaus gelandet. Gleich nach der Hochzeit überredete ihr Mann Leo sie zum Umzug nach Trier, wo er eine Gebäudereinigung eröffnete, in der sie bis zur Trennung mitarbeitete. Was heißt, sie arbeitete mit? Sie schmiß den Laden, während Leo jedem Rock hinterherjagte. Nachher hatte sie auch noch einen Großteil der von Leo verursachten Schulden am Hals und war froh über Räumers Jobangebot.

Ihre Liebe zur Kunst hat sie sich erhalten. Sie erledigt für den Trierer Kunstverein die Öffentlichkeitsarbeit und steht ab und zu Künstlern Modell.

Anstatt wie üblich im Kulturzentrum tagt der Kunstverein heute in einem Biergarten. Als Doris aus dem kühlen Treppenhaus tritt, dessen dicke Außenmauern bisher die Hitze nicht ins Innere haben dringen lassen, wird ihr wieder bewußt, wie heiß es ist. Bis zum Brauereigarten ist die rechte Hand, in der sie ihre Mappe hält, naß geschwitzt. Sie wischt die Handfläche an ihrer Jeans ab.

Am Tisch des Kunstvereins trifft sie gleichzeitig mit Joachim Ganz ein.

»Hallo, Doris, heiß heute«, mit einem kurzen Klopfen auf die Tischplatte grüßt er die Anwesenden. Da kann sich Doris die lästigen Shakehands ebenfalls sparen.

Sie rückt sich einen Metallstuhl mit Holzsitz zurecht und bestellt Viez-Sprudel. Ein purer Viez hätte sie gleich umgehauen. Ihre Tischnachbarn üben da weniger Zurückhaltung. Die erste Runde Steinkrüge mit frisch gezapftem Bier und die 0,2-Liter-Gläser mit herbem Elblingwein sind bereits geleert.

»Du bist blaß«, sagt Joachim zu Doris.

»Ein paar blöde Typen haben mich angemacht.«

»Wo?«

»Bei mir vor der Haustür. Aber du siehst auch ein wenig verknittert aus, habt ihr letzte Nacht noch ausgiebig Maries Geburtstag gefeiert?«

»Nein, ich habe heute die Vorauswahl für die Versteigerung des Großen Ring treffen müssen, insgesamt 50 Proben.«

»Bei dieser Hitze?«

»Der Termin wurde schon vor Monaten festgelegt, da konnte noch niemand ahnen, daß der Sommer ausgerechnet in den August fallen würde.«

»Aber du hättest den Wein ausspucken können.«

»Erstens hasse ich Spucken, deswegen gucke ich mir ungern Fußballspiele an, zweitens wäre das eine Sünde gewesen bei so edlen Tropfen, wie ich sie heute vorgesetzt bekam.«

»Du Armer, in deinem Job muß man wohl einiges schlucken.«

»Das kannst du glauben, und dazu noch Schläge einstecken. Nach der Probe stand der Mann mit dem Hammer auf der Kellertreppe. Ich mußte mich glatt zwei Stündchen hinlegen.«

»Im Büro?«

Joachim überhört die Frage: »Na, jedenfalls werde ich so langsam wieder nüchtern.« Er schlürft geräuschvoll sein Mineralwasser, als wäre er noch bei der Weinprobe.

»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!« Helga Ungers eröffnet die Sitzung des Kunstvereins.

»Ich begrüße Sie recht herzlich zu unserer heutigen Vorstandssitzung.«

Doris zerrt Block und Kuli aus ihrer Mappe.

»Frau Dern läßt sich entschuldigen, sie fliegt morgen in aller Frühe in die Staaten. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, daß sie dort Ausschau hält nach dem ein oder anderen Objekt für unsere deutsch-amerikanische Ausstellung im nächsten Jahr.«

»Und nach dem ein oder anderen gutgebauten zweibeinigen Subjekt, das die Objekte herstellt«, murmelt Jo für alle hörbar dazwischen.

»In der Einladung wurde für heute nur ein Tagesordnungspunkt angegeben. Gibt es weitere Vorschläge?« fährt Helga Ungers ungerührt fort.

Schweigen.

»Das ist nicht der Fall. Dann komme ich zu unserem heutigen Thema: die Vorbereitung der Herbstausstellung mit Grafiken ...«

Doris’ Kuli gibt den Geist auf.

Ein Blick in die Runde zeigt ihr, daß sie die einzige ist, die der Vorsitzenden noch zuhört. Zwei Frauen und vier Männer, und wer macht die Arbeit? Klar. Die Herren der Schöpfung sitzen entspannt um den Tisch und gucken ungeniert in die Dekolletés der weiblichen Gäste. Im Biergarten kehrt Leben ein. Die Geschäfte haben soeben geschlossen.

»He, Jo, hast du einen Kuli dabei?« Doris stößt Joachim, der einer Schönen am Nebentisch in die halb aufgeknöpfte Bluse stiert, sachte einen Ellbogen in die Seite. Dieser kramt in seinen Hosentaschen und befördert nacheinander Schlüsselbund, Geldstücke, 50-Mark-Schein, Schweizermesser, Klapplupe und undefinierbare Brocken auf den Tisch. Doris wartet nur noch darauf, daß ein paar Kieselsteine und eine lebende Eidechse zutage kommen.

»Nee, tut mir leid, Doris, mehr hab’ ich nicht dabei.«

»Aber guck mal hier«, Jo legt einen der Brocken, ein kleines grünes, nicht ganz rundes Stück auf Doris’ Block.

»Das ist eine römische Münze, hab’ ich heute morgen gekriegt«, erläutert er. »Eine Mariana, das war die Schwester des Trajan ...«

»... können wir so verfahren?« Helga Ungers hebt ihre Stimme. »Ich bitte um Handzeichen, falls jemand dagegen ist ...« Sie schaut in die Runde. »Das ist nicht der Fall, dann stelle ich fest, daß der Vorschlag einstimmig angenommen worden ist.«

Erst bei den letzten Worten hat Jo wieder zugehört. Ihm bleibt nur noch übrig, es den anderen gleichzutun und auf die Tischplatte zu klopfen.

»Also, es geht um die Ausstellung im September.« Doris blickt in die Runde, »Einladungen und Vernissagebetreuung sind geregelt. Wir brauchen noch jemanden, der beim Aufbau hilft.«

»Warum gucken jetzt alle mich an?« fragt Jo.

5

Zuhause streift sich Walde vorsichtig sein verschwitztes Hemd über den Kopf. Dabei klappen die Ohren nach vorne. Der Lauscher unter den Schnüfflern, so hatte ihn Harry mal in Anspielung auf seine manchmal aus den Haaren ragenden Ohren genannt. Harry ist nicht nur Kollege, sondern auch ein Freund. Er ist der einzige, der ihm von Anfang an bei der Arbeit loyal zur Seite stand, als er als knapp 30-jähriger das Dezernat übernahm.

Nach dem Duschen, bei dem er den Kopf ausgespart hat, legt Walde STEELY DAN ein und greift zum Telefon: »Hallo, Anna, warum hast du nach der Fahrt nicht angerufen?«

»Sollte ich dich mitten in der Nacht wecken?«

»Und der Anrufbeantworter ...?«

»Da hätte ich wohl besser eine E-Mail geschickt, mein Lieber.«

»Ach, bin ich wieder dein Lieber? Gestern war ich noch dein Spatz!« Walde dreht die Musik leiser.

»Soviel ich weiß, magst du auch den Spatz nicht besonders«, sagt Anna.

»So hießen ja bisher wohl alle deine ... Freunde.«

»Plagt dich die Eifersucht?«

»Bitte, wir wollen doch jetzt nicht mit ...«

»Oh, entschuldige, ich habe vergessen, daß Donnerstagabend ist und gleich deine geliebte Probe beginnt. Warum rufst du an, wenn du keine Zeit hast?«

»Anna, wir müssen uns doch jetzt nicht streiten.«

»Wer macht denn hier Vorwürfe?«

»So war das nicht gemeint.« Walde ist aufgestanden und schaut auf die Straße, wo ein Krankenwagen mit Blaulicht vorbeirast.

»Was hast du gestern noch gemacht?« fragt Anna.

»Ich war im Nells Park.«

»Hab’ ich mir gedacht, daß du noch eines deiner Reviere aufsuchen mußtest.«

»Was heißt Reviere, ich bin kein Förster.«

»Aber einer, den das Jagdfieber nicht mehr losläßt.«