Tatort Mosel - Mischa Martini - E-Book

Tatort Mosel E-Book

Mischa Martini

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Beschreibung

Ein Promi aus der Trierer Geschäftswelt liegt ermordet auf einer Moselinsel. Nach und nach geraten immer mehr lokale Polit- und Geschäftsgrößen in Verdacht. Walde und Gabi stochern in einem Sumpf aus Korruption und Vetternwirtschaft.

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Verlag Michael Weyand

*

Mischa Martini

TATORT MOSEL

*

© Verlag Michael Weyand Gmbh, Friedlandstr. 4,54293 Trier, www.weyand.de, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden

Ein besonderer Dank an Gabriele Belker, Marie Therese Frigerio, Birgit Weyand und Hans-Joachim Kann für Lektorat und wertvolle Anregungen.Satz: Verlag Michael Weyand Gmbh, TrierTitelentwurf: Bob, Trier

ISBN 978-3-942 429-46-7

*

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Verhaltensweisen von Menschen an der Mosel und anderswo sind zufällig, mitunter unvermeidlich.

*

Im Prinzip, glaube ich, wollte ich meiner Umgebung Gutes tun. Das ging aus zwei Gründen nicht: weil ich daran gehindert wurde und weil ich aufgegeben habe. Es sind immer die Menschen mit den besten Absichten, aus denen am Ende Monster werden.

Frédéric Beigbeder

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Sollte sich jemand über die eine oder andere zufällige Übereinstimmung beschweren, so möchte ich daran erinnern, dass das Leben selbst (das der Fantasie in Sachen Erfindungsgabe weit überlegen ist) auch nur reiner Zufall ist.

Andrea Camilleri

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Dieses Buch ist allen gewidmet, die bemerkt haben, dass etwas faul ist, auch wenn sie selbst schwach sind und es nicht ändern können.

Freitag, 22. März

Die drei Männer traten aus der Kneipe auf die dunkle Gasse. Es war spät geworden. Von Westen blies ein kühler Wind. Kurz und Fellrich wandten sich nach rechts, Räumer grüßte mit einer knappen Armbewegung und wendete sich nach links, dem Wind entgegen. Er raffte seinen Trenchcoat und hielt ihn mit einer Hand über der Brust zusammen. Auf der leicht ansteigenden Gasse war er allein unterwegs. Der Hochwasserschutzdamm zur Rechten versperrte ihm den Blick auf den Fluss. Als er den kleinen Platz mit der Bushaltestelle erreichte, sah er die Uhr an der Auffahrt zur leeren Moselbrücke vor sich: 1:20 Uhr. Aus einem Reflex heraus verglich er die Zeit mit seiner sekundengenauen Glashütte-Uhr. Er nickte zufrieden. Auch die genaue Uhrzeit gehörte zum positiven Stadtbild, ebenso wie regelmäßig geleerte Papierkörbe, gefegte Straßen, funktionierende Straßenbeleuchtung, gepflegte öffentliche Anlagen, jahreszeitlich dekorierte Schaufenster. Seine Gedanken wurden von einem Graffito unterbrochen, das er an der Ecke zum Parkplatz an einer Hauswand entdeckte.

Diese Schweine gehörten eingesperrt, eine gehörige Tracht Prügel sollte ihnen verpasst werden und obendrein gehörten ihnen die Kosten für die Sanierung aufgebrummt, dachte er. Da nützten alle Bemühungen desAktivkreises wenig, wenn solche lichtscheuen Drecksäcke mit ihrer Pseudokunst die Wände verschandelten.

Räumer schaute sich um. Er fühlte sich plötzlich beobachtet. Die Straße lag wie ausgestorben da. Der Wind kam jetzt von der Seite. Räumer glättete den Mantel und zog den Schlüssel aus der Tasche. Auf dem kleinen Parkplatz war es so dunkel, dass er seinen schwarzen Wagen auf Anhieb nicht sehen konnte. Wo hatte er ihn noch gleich abgestellt? Er drückte die Infrarotfernbedienung am Schlüsselbund. Ihm war, als habe er einen Schatten gesehen. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und drückte immer wieder den in der ausgestreckten Hand gehaltenen Schlüssel. Endlich flackerten gelbe Lichter auf. Dreimal hintereinander zeigten sie ihm den Weg zu seinem Wagen. Der Abstand zum daneben geparkten Auto war nur gering. Räumer musste sich seitwärts zur Wagentür bewegen.

Als er sich zum Türgriff beugte, schlug seine Stirn hart an die Scheibe. Eine Feuerwerksrakete explodierte in seinem Kopf und leuchtete die Innenwände seines Schädels aus. Seine Schläfe wurde gegen den Holmen oberhalb des Seitenfensters geschleudert. Mit einem ohrenbetäubenden Böller endete das Feuerwerk.

Räumer erwachte. Sein Kopf rollte hin und her. Er versuchte, die Augen zu öffnen, musste sie aber gleich wieder schließen, so sehr brannten sie. Er versuchte es noch einmal und konnte einen Moment lang blinzeln. Unter seinen Schuhen lief der Weg rückwärts.

Er versuchte, die Füße zu bewegen.

Er hatte keine mehr, auch keine Beine, keine Hände, keine Arme, keine Hüfte. Wieder schaffte er es, das Auge ein wenig zu öffnen. Das waren doch seine Beine, die da über den Boden geschleift wurden?

Das Auge gehorchte nicht mehr. Er spürte seine Zunge, sie war auf einmal ganz heiß. Nein, kalt. Alles wurde kalt. Er hatte noch einen Kopf. Nur noch einen Kopf. Und der wurde in kaltes Wasser getaucht ...

… morgen früh sollte sein Wagen zur Inspektion abgeholt werden, das traf sich gut, da konnten sie auch gleich die Sommerreifen aufziehen ...

In seinem Kopf gab es wieder eine Explosion. Es fehlten diesmal die Farben und statt des Knalls erschien das Gesicht seiner Tochter in den Funken. Sie lachte ihn an, sie saß auf ihrem Pferd, trabte an der Longe, er drehte sich mit, sie entfernte sich, es wurde immer dunkler …

Das Bild stand am Ende eines Tunnels, in den er sich immer schneller rückwärts hinein bewegte. Das Bild wurde kleiner, bis es nur noch als ein winziger heller Punkt zu sehen war …

Donnerstag, 28. März

Walde trug sein Fahrrad die Kellerstufen hinauf. Durch den kleinen Verbindungsflur, wo es in den nächsten Monaten stehen sollte, rollte er es in den Garten. Dort hatte er bereits ein paar Werkzeuge, Lappen, Putzzeug und einen Eimer mit warmem Wasser bereit gestellt.

Ein leichter Wind bewegte die gelb blühenden Forsythien. Zwischen den Hausdächern und den noch kahlen Bäumen der gegenüberliegenden Allee schien die Sonne aus einem wolkenlosen Himmel herab.

Walde war am Vormittag als einer der ersten Zeugen im Prozess gegen zwei Chirurgen aufgerufen worden, die illegale Organtransplantationen vorgenommen hatten. Er hätte, aus dem Zeugenstand entlassen, den weiteren Prozessverlauf beobachten können, zog es aber vor, diesen schönen Nachmittag im Freien zu genießen. Wahrscheinlich würde es dem Staatsanwalt nicht gelingen, die beiden Ärzte für den Tod der fünf Afrikaner verantwortlich zu machen, die vor etwa einem Jahr jämmerlich ertrunken waren.

Walde stellte das Rad auf Sattel und Lenker. Die Reifen hatten über die Wintermonate nur wenig an Druck verloren. Er wusch den Rahmen und die Räder ab. Dann polierte er sämtliche Chromteile. Besondere Mühe gab er sich mit Felgen und Speichen, die bald im Sonnenlicht glänzten. Die Bremsen waren in Ordnung. Zum Schluss spannte er die Kette nach und fettete sie ein.

Von seinem Liegestuhl aus, in dem er sich nach getaner Arbeit räkelte, blickte er zu dem verwaisten Schwalbennest unter dem Balkon der ersten Etage. Im vorigen Jahr hatte es bis Anfang Mai gedauert, bis die ersten Vögel durch den Garten gejagt waren. In den letzten Jahren seines Lebens hatte Waldes Vater sich immer mehr dafür interessiert, wann die ersten Wildgänse über das Moseltal flogen und die Schwalben in ihre Nester zurückkehrten. Inzwischen überbrachte Walde die Nachrichten ans Grab seines Vaters. In diesem Jahr waren die Wildgänse vier Tage früher gekommen. Nach dem fortgeschrittenen Stand der Vegetation zu urteilen, würden die ersten Schwalben bereits gegen Ende April wieder hier eintreffen.

Walde langte nach dem in die Höhe ragenden Hinterrad und gab ihm einen kräftigen Schwung. Mit geschlossenen Augen, das Gesicht der wärmenden Sonne zugewandt, lauschte er dem Surren des rotierenden Rades. Er dachte an sein superteures Mountainbike, das ihm vor zwei Jahren gestohlen worden war und nickte dabei ein.

Ein Martinshorn ließ ihn aufschrecken. Er schaute auf die Uhr. Er hatte mehr als eine Stunde geschlafen. Ihn fröstelte. Leicht benommen räumte er Lappen und Werkzeuge zusammen, kippte das Schmutzwasser aus dem Eimer unter den Forsythienstrauch und drehte das Rad um. Er freute sich darauf, dass ab dem kommenden Osterwochenende wieder die Sommerzeit galt und er die längeren Abende zu Radtouren nutzen konnte.

Oben in der Wohnung räumte Walde den Eimer und das Werkzeug in die Besenkammer. Auf dem Weg zum Schlafzimmer, wo er sich umziehen wollte, warf er einen Blick auf die beiden Telefone auf dem Dielenschrank. Acht Anrufe in Abwesenheit. Als er die Nummern abfragte, tauchte immer die gleiche auf. Es war das Vorzimmer des Polizeipräsidenten.

Walde seufzte. Während er die Rückruffunktion betätigte, hörte er die Mailbox des Handys ab. Die Stimme der Vorzimmerdame klang dringlich.

»Bock hier, Sie haben …«

»Gut, dass Sie sich melden«, sie ließ ihn nicht ausreden, »ich verbinde Sie gleich weiter.« Es knackte in der Leitung.

»Mensch, Bock, wo stecken Sie denn? Wir versuchen seit Stunden, Sie zu erreichen!« Polizeipräsident Stiermann verzichtete ebenfalls auf eine Begrüßung. Das war nicht seine Art. Walde überlegte, was los sein könnte. Um einen dringenden Fall konnte es sich nicht handeln. Es war ihm nicht bekannt, dass sich der Chef jemals persönlich darum gekümmert hatte, einen Mitarbeiter zu einer Ermittlung zu rufen.

»Hallo, sind Sie noch da?«, dröhnte es aus dem Telefon.

»Ja, was gibt's?«

»Warum antworten Sie nicht, wo sind Sie denn?«

»Zu Hause.« Walde schaute auf die Uhr. »Ich habe Feierabend.«

Dass er nicht gerade zu den Lieblingen des Präsidenten zählte, hatte Walde in der Vergangenheit schon öfter zu spüren bekommen.

»Wir haben seit Stunden versucht, Sie zu erreichen.« Stiermann ließ nicht locker.

»Ich hatte einen Gerichtstermin. Mein Handy war ausgeschaltet.« Walde ging mit dem Hörer am Ohr in die Küche.

»Da haben wir es auch versucht, aber Sie waren schon weg.« Stiermanns Entrüstung wich einem genervten Ton.

»Jetzt bin ich ja da, was gibt es denn?« Walde nahm sich eine Banane aus der Obstschale. Er spürte, dass er schlechte Laune bekam. Sollte er sich rechtfertigen, dass er mal ein paar Stunden nicht erreichbar gewesen war? Er hielt die Banane wie einen Revolver in der Hand.

»Ich brauche Ihre Hilfe. Es war auch niemand in Ihrem Dezernat erreichbar.«

Walde sagte nichts und hielt sich die Spitze der Banane an die rechte Schläfe.

»Hallo, Herr Bock? Sind Sie noch da?«

»Ich weiß leider immer noch nicht, worum es geht, im übrigen hatte Grabbe heute Stallwache«, antwortete Walde.

»Ja, das ist mir bekannt, dennoch wollte ich Sie mit dieser Aufgabe betrauen.« Stiermanns Ton wurde freundlicher. »Es ist eine etwas delikate Angelegenheit. Es geht um den verschwundenen Herrn Räumer, Sie wissen?«

»Nein.« Walde schälte die Banane.

»Da läuft schon seit Tagen eine Vermisstenmeldung. Es geht um d e n Räumer, Inhaber des gleichnamigen Möbelhauses, Chef des Aktivkreises und und und.«

»Ist er tot?« Walde biss die Spitze der Banane ab.

»Nein, das heißt, ich weiß es nicht.« Stiermann zögerte. »Das ist kein gewöhnlicher Fall. Herr Räumer bekleidet eine äußerst exponierte Stellung, hat sich sehr um unsere Stadt verdient gemacht.«

Walde biss ein großes Stück ab.

»Herr Bock?«

»Mhm«, versuchte es Walde mit vollem Mund.

»Tun Sie mir den Gefallen und sprechen Sie mit seiner Frau.«

»Mit wem?«, fragte Walde.

»Ich habe Sie nicht verstanden.«

Walde schluckte und wiederholte seine Frage.

»Frau Räumer, sie wird noch im Geschäft sein, in der Brotstraße. Sie ist sehr besorgt. Kann ich auf Sie zählen?«

Walde seufzte.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden, frohe Ostern, see you.«

Walde stand da, in der Linken den Hörer, in der Rechten die halb gegessene Banane. Er schaute zum Fenster hinaus auf die Spitzen der Weide, deren zartes Grün sich im Wind bog. Was wäre, wenn irgend ein X-beliebiger Mann vermisst würde? Wer schaffte es schon, wegen einer Vermisstenanzeige zum Präsidenten vorgelassen zu werden? Bei sogenannten Promis wurde gleich die Mordkommission auf Trab gebracht. Waldes Freundin Doris hatte früher für Räumer gearbeitet. Sie hatte ihm von dessen nicht immer legalen Geschäften einiges erzählt.

Gedankenverloren biss er in die Banane. Zu spät merkte er, dass er den Hörer zwischen den Zähnen hielt.

Walde kaufte sich bei Calchera ein Schokoladeneis. Er schob sein Rad durch die belebte Simeonstraße. Übermorgen, am Karsamstag, würde hier kaum ein Durchkommen sein. Am Hauptmarkt waren die Straßencafés bereits gut besucht. Auch vor Ulis Kneipe war kein Stuhl mehr frei.

Walde hatte sich telefonisch im Präsidium über die Sache Räumer kundig gemacht. Außer dass er seit sechs Tagen mitsamt seinem schwarzen Jaguarverschwunden war, hatte er nichts in Erfahrung bringen können.

An der Konstantinstraße kettete Walde sein Rad an den Gitterzaun einer verwaisten Baustelle. Im Schaufenster des Möbelhauses Räumer prüfte er, ob das Eis Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hatte.

Walde betrat den Laden. In dem weitläufigen Raum glaubte er, allein zu sein. Hinter der Tür befand sich eine Accessoireabteilung mit den verschiedensten Dekorationen für Festtafeln. Sein Blick fiel auf einen silbernen Kerzenleuchter. Er blieb stehen und drehte das herabbaumelnde Preisschild um.

Er pfiff schockiert, es musste sich bei dem Stück um echtes Silber handeln. Jetzt erblickte er eine Verkäuferin hinter einem Kassentisch, wo sie etwas für eine Kundin einpackte. Walde steuerte auf sie zu.

»Wo kann ich Frau Räumer finden?«

»Moment bitte.« Die Frau schlug ein Band um eine Ecke des Päckchens. »In welcher Angelegenheit?« Jetzt griff sie nach einer Schere.

»Es ist privat.« Walde verfolgte ihre Bewegungen. Dann fügte er an: »Meine Name ist Bock, Frau Räumer erwartet mich.«

»Zahlen Sie bar oder mit Karte?«

Die Kundin zog eine Plastikkarte aus ihrem Portemonnaie. Walde überlegte, ob er hier nach einer Osterüberraschung für Doris suchen sollte.

Die Verkäuferin telefonierte inzwischen. Kurz darauf kam eine kleine, dunkel gekleidete Frau aus dem hinteren Teil des Geschäftes. Sie lächelte Walde freundlich an.

»Herr Bock?«

Walde nickte.

»Räumer.« Sie schüttelte ihm die Hand. »Kommen Sie bitte ins Büro.«

Sie führte ihn eine Treppe höher, durch eine große Sitzmöbelabteilung, wo weit mehr Kundenandrang als im Parterre herrschte. Von dort gingen sie in einen langen Gang, von dem links und rechts Glastüren in kleine erleuchtete Büros führten.

Der Raum, den sie betraten, unterschied sich in Größe und Ausleuchtung nicht von den anderen, die Walde im Vorbeigehen gesehen hatte. Anstelle eines zweiten Schreibtisches gab es hier eine Sitzgruppe, in der Frau Räumer ihm einen Platz anbot. Walde ließ sich eine Tasse Kaffee einschenken.

»Vielen Dank, dass Sie es einrichten konnten«, eröffnete sie das Gespräch. »Ich mache mir große Sorgen um meinen Mann.«

»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Frau Räumer, könnte es vielleicht sein, dass Ihr Mann eine Auszeit genommen hat? Es wäre nicht das erste Mal, dass…«

»Ich kenne meinen Mann.« Sie schaute Walde eindringlich an. »Glauben Sie mir, ich kenne ihn wirklich. Ich habe zuerst seine Freundin anrufen lassen.«

Walde nippte an seinem Kaffee. Diese Frau hielt sich nicht mit Floskeln auf.

»Natürlich auch auf dem Reiterhof und in allen Krankenhäusern«, fuhr sie fort. »Er hat in den letzten Tagen viele wichtige Termine versäumt. Auch beim Neubau wird er dringend gebraucht. Das passt alles ganz und gar nicht zu ihm.«

Sie zündete sich eine Zigarette an. »Er kümmert sich persönlich um alles. Das lässt er nicht von einem auf den anderen Tag im Stich.«

»Ich denke, eine Vermisstenanzeige in der Zeitung könnte uns weiterhelfen«, schlug Walde vor.

»Damit möchte ich noch ein wenig warten.« Sie nahm einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. »Das Aufsehen könnte seinen öffentlichen Ambitionen schaden, für den Fall, dass er wieder…« Sie sprach nicht weiter.

Für einen Moment rechnete Walde damit, dass sie in Tränen ausbrechen würde.

Das Telefon klingelte unbeachtet. Nach dem vierten Läuten verstummte es.

»Wir haben keinen konkreten Ansatz, ich muss gestehen, dass wir wenig tun können.«

»Er war… ist nicht krank, und es gibt auch keine finanziellen Probleme. Ich habe etwas zusammengestellt, das Ihnen weiterhelfen könnte.« Frau Räumer ging zum Schreibtisch und kam mit einem Blatt in der Hand zurück, das sie Walde reichte.

»Hier stehen Namen, Anschriften, Telefonnummern von Personen, mit denen mein Mann in letzter Zeit zu tun hatte, auch die Namen der Leute mit denen er den vergangenen Freitagabend verbrachte.«

Walde überflog die Liste. Der Chef der IHK war ebenso dort zu finden wie der Wirtschaftsdezernent der Stadt, Bosse von Industriebetrieben und Kaufhäusern und die Vorsitzenden der Stadtratsfraktionen.

»Ich habe mit dem Gedanken gespielt, eine Detektei einzuschalten, aber ich habe von Ihren Erfolgen gehört und wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ...« Ihr Stuhl war um einiges höher als der Ledersessel, in dem Walde saß, dennoch schaute sie zu ihm auf.

Er faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Innentasche seiner Jacke: »Meine Abteilung wird sich darum kümmern. Sobald ich eine Spur habe, werde ich mich bei Ihnen melden.«

In einer Buchhandlung in der Fleischstraße entschied sich Walde für einen Krimi. Die Buchhändlerin, die ihn beraten hatte, packte das Buch in Geschenkpapier.

Anschließend kaufte er noch Lebensmittel ein. Als er wieder zum Hauptmarkt kam, hing auf jeder Seite der Lenkstange eine Tüte. Der Menschenstrom war inzwischen noch dichter geworden.

»Iiiaah, Iiiaah.«

Walde schaute sich um.

Uli stand vor seinem Café und grinste ihn an: »Ich wusste doch, dass ihr beide reagieren würdet, der kleine Drahtesel und der große drahtige Esel.«

»Brrr.« Walde blieb stehen und streichelte den hoch aus dem Rahmen ragenden Sattel des Rades.

»Du bist doch nicht im Dienst? Oder sind das Beweisstücke, die du da mit dir führst?«, fragte Uli. »Komm rein, wir trinken was!«

»Nur kurz, ein paar von den Sachen hier müssen bald in den Kühlschrank.« Walde schloss sein Rad an ein Geländer, das eine Treppe zu einer unterirdischen öffentlichen Toilette sicherte. Dann folgte er Uli tütenbepackt durch das Bistro an der Theke vorbei, wo Elfie, Ulis Freundin und Mitinhaberin der Gerüchteküche, werkelte. Er grüßte sie und ging mit Uli in das kleine Redaktionsbüro des Käsblatts. Seit dem Ausscheiden aus der örtlichen Tageszeitung gab Uli ein unregelmäßig erscheinendes Stadtmagazin als Verleger, Redakteur und Anzeigenvertreter in Personalunion heraus. Der Redaktionsraum, in dem gerade zwei Rechner Platz fanden, lag mitten in der Gerüchteküche. Eine Glaswand erlaubte den Gästen, Uli beim ‘Zeitungsmachen’ zuzusehen.

»Was treibt dich um?«, nahm Uli das Gespräch wieder auf.

»Stiermann höchstpersönlich, ich muss mich jetzt auch schon um Vermisstenanzeigen kümmern.«

Uli räumte Papiere zur Seite und stellte zwei kleine Weingläser auf den Tisch: »Aber der Räumer ist ja auch nicht irgendwer.« Er schenkte Weißwein ein.

»Woher weißt du ...?« Walde war überrascht.

»Das ist seit Tagen Gesprächsthema Nummer eins an unserer Theke.«

»Und?«, fragte Walde.

»Was, und?«

»Was sagt man zu Räumers Verschwinden?«

»Außer nicht ernst gemeinten Vermutungen, dass er sich mit einer jungen Angestellten auf eine Südseeinsel davongemacht hat, herrscht allgemeine Ratlosigkeit. Gibt es bei dir was Neues?«

Walde, der besonders bei Uli darauf bedacht war, Berufliches von Privatem zu trennen, befand sich in einer unangenehmen Lage. Zum einen hatte er von Uli freimütig Auskunft erhalten, zum anderen wollte er ihm keine Ermittlungsergebnisse mitteilen.

»Willst du mich an eure Pressestelle verweisen?« Uli zog Walde das Glas weg.

»Nee, ist schon gut. Das Ganze ist wirklich merkwürdig. Bis heute Mittag habe ich gar nichts von Räumers Verschwinden gewusst. Das hätte mich wahrscheinlich auch nicht interessiert…«

»…wenn nicht höheren Ortes Interesse gezeigt worden wäre«, beendete Uli den Satz.

Walde nickte und leerte sein Glas.

Freitag, 12. April

Walde saß, ein mit Käse belegtes Baguette kauend, auf dem Sofa und zappte durch das Vorabendprogramm. Auf dem kleinen Tischchen neben ihm standen ein Teller mit der anderen Hälfte des Baguettes und ein Schälchen grüne Oliven. In einer halben Stunde war er mit Harry und anderen Kollegen im Muselfesch am Zurlaubener Ufer verabredet.

Die Wetteraussichten waren glänzend. Sonnig und bis zu 20 Grad sollte es am Wochenende werden. Waldes Stimmung war bestens. Der Frühling, seine liebste Jahreszeit, kündigte sich nach einer längeren Regenperiode seit gestern wieder an. Ein arbeitsfreies Wochenende lag vor ihm.

Vor seiner Wohnung hupte zum wiederholten Male ein Auto. So ein Dämlack, dachte Walde. Er hätte am liebsten einen Blumentopf nach dem Fahrer geworfen.

Die Nachricht von einem Bombenattentat lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Walde griff nach dem zweiten Baguette und schob sich zwei Oliven in den Mund.

Es klingelte Sturm. Walde sprang auf und lief zur Sprechanlage.

»Wo bleibst du denn?«, zeterte eine genervte Stimme.

»Wie bitte?«, fragte Walde.

»Hast du mich nicht gehört? Mach endlich auf!«

Gabis Pumps klapperten auf der Holztreppe.

»Sag nur, du hast das Hupkonzert veranstaltet!« Walde sah Gabi entgegen, die auf ihren maskulin sehnigen Beinen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herauf flitzte.

»Was kann ich dafür, dass bei dir vor der Haustür kein Parkplatz zu kriegen ist.« Sie zog ihren Rock soweit herunter, dass er wieder ein paar Zentimeter ihrer Oberschenkel bedeckte.

»Ich dachte, wir sind im Muselfesch verabredet.«

»Freu dich, du kannst dein Auto stehen lassen, ich hole dich ab.«

»Ich wäre zu Fuß gegangen, sind ja nur ein paar …«

»Um so besser, dann ist dir das erspart geblieben.« Sie schob sich an Walde vorbei in die Diele und machte die gegenüberliegende Tür auf.

»Das Wohnzimmer ist immer noch da vorn.« Walde deutete auf die offene Tür, aus der die Stimme des Nachrichtensprechers weitere schlechte Meldungen verkündete.

»Ich ziehe immer noch das Bett einer Couch vor, oh, ist noch ganz zerwühlt, wir sind doch allein?« Gabi senkte die Stimme und schaute sich um.

»Nein, Herr Stiermann ist noch da, warum fragst du?«

Gabi zögerte einen Moment: »Spaß beiseite, ist es dir noch zu hell, sollen wir erst nachher?« Sie deutete mit verschmitztem Lächeln mit dem Daumen in Richtung Bett.

»Ich überlege es mir noch.« Walde ging ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher ausschaltete und den Rest des Baguettes in den Mund schob.

»Es kostet natürlich nichts«, flötete Gabi und riss ihre dick geschminkten Augen noch ein Stück weiter auf.

Walde verschluckte sich und musste husten.

Ihre Hand traf ihn so fest auf dem Rücken, dass er für einen Moment das Husten vergaß. Er griff nach dem Wasserglas und machte ein paar Schritte weg von Gabi in Richtung Fenster, um in Ruhe in den Hustenpausen ein paar Schlucke zu trinken.

Als er wieder bei Atem war, sagte er: »Gewöhn dich endlich mal daran, dass du nicht mehr bei der Sitte bist.«

»Was hat das denn damit zu tun?«

»Viel, sieh dich doch an, wie du redest, wie du dich …« Er griff nach der zu engen Kordjacke, die eigentlich längst in die Kleidersammlung gehörte, aber manchmal trug er sie noch in der Freizeit.

Grabbe war sauer. Warum hatte er sich darauf eingelassen, auszuknobeln, wer heute Bereitschaft hatte. Wozu gab es Dienstpläne? Gelinkt hatten sie ihn! Und diesem Wasserschutzpolizisten Stadler traute er auch nicht. Heute war ein Umtrunk des Dezernats im Muselfesch. Umtrunk war das falsche Wort. Das würde sicher ein Besäufnis werden. Zuerst sollte wohl eine große Verarsche auf seine Kosten stattfinden. Ein Leichenfund auf der Moselinsel vor Zurlauben? Hatte Gabi schon wieder so eine dämliche Gummipuppe für ihn präpariert? Langsam sollten sie sich mal was Neues einfallen lassen.

Grabbe ließ sich von einem Streifenwagen zum Moselufer an den Anleger vor dem Wasser- und Schifffahrtsamt bringen.

Als er den schwankenden Steg betrat, wurde es ihm von einer zur anderen Sekunde bewusst: Die Kollegen brauchten nicht mal eine Gummipuppe zu verstecken. Im Dezernat war bekannt, wie empfindlich Grabbes Magen auf jede Art von motorisierter Fortbewegung reagierte. Selbst eine Autofahrt über kurvige Straßen machte ihm zu schaffen. Er schaute in das dunkelbraune Wasser. Stadler kam ihm entgegen.

»Bin gleich wieder zurück.« Der Mann in der maßgeschneidert aussehenden blauen Uniform drückte ihm die Hand und lief die Böschung zur Straße hoch.

Sein Kollege wartete an der Reling und half Grabbe ins Boot. Sie gingen ins Führerhaus. Grabbe blickte über den Fluss. Das Wasser strömte mit großer Geschwindigkeit vorbei.

»Können wir überhaupt auslaufen?«, fragte er, auf ein Kopfschütteln hoffend.

»Klar, Kollege, tragen Sie sich bitte noch ins Logbuch ein.« Der Wasserschutzpolizist reichte ihm eine dicke Kladde.

Grabbe war auf der Hut. Die Show hatte begonnen! Es handelte sich garantiert um dieses unselige Fotoalbum von Stadler, der über Jahrzehnte eine schaurige Sammlung von Wasserleichen angelegt hatte, die auf der ganzen Welt ihresgleichen suchte. Grabbe hatte davon gehört.

»Ich habe keinen Stift«, sagte er.

»Moment.« Der Mann zog einen Kuli aus der Innentasche seiner Uniformjacke.

»Haben Sie keinen Füller?« Grabbe fiel nichts Besseres ein.

Der Mann drehte sich um. Er kramte in einem Knobelbecher, der, mit allerlei Stiften bestückt, auf einem kleinen Regal neben dem Armaturenbrett stand.

Grabbe nutzte den Moment und warf einen Blick ins Album. Er erkannte nackte Füße an aufgequollenen Beinen. Sofort klappte er das Album wieder zu. Aber seine Phantasie war angekurbelt worden. Er stellte sich vor, was da noch zu sehen war. Die Verfärbungen, der aufgedunsene Leib, das Gesicht, wenn überhaupt noch erkennbar, wenn nicht die Fische schon ...

Die Tür wurde forsch aufgerissen. Stadler kam zurück.

»Freitagabend.« Er hob resignierend die Hände. »Es scheint, heute haben alle etwas Besseres vor, als eine Bootsfahrt zu machen. Ich glaube, ein Arzt ist nicht mehr nötig. Darf ich?« Er nahm Grabbe das Album aus der Hand. »Was meinen Sie, Herr Grabbe, sollen wir uns das mal ansehen?«

Grabbe registrierte wieder, wie sehr das Schiff schon am Anlegesteg schwankte. Er zermarterte sich den Kopf, wie er dieser Situation entrinnen konnte. Seine Augen stierten in die braunen Fluten. Ein Baumstamm sauste vorbei. Grabbe hob die Hand und folgte mit dem Zeigefinger dem hüpfenden Ungetüm: »Was passiert, wenn uns so einer trifft?«

»Dann saufen wir ab und unsere Frauen kriegen die Pension«, kam es trocken von Stadler. Er wartete einen Moment. Als Grabbe nichts entgegnete, schlug er ihm leicht auf den Rücken: »Späßle gemacht, keiner hat gelacht. Was ist jetzt, wollen Sie sich die Person auf der Insel ansehen?«

Grabbe nickte. Er hatte das Gefühl, als habe er eben dem Henker zugenickt, der nun den Strick drehte, an dem er gleich baumeln würde.

Ein Z 3 Roadster Cabrio stand mit offenem Verdeck in zweiter Reihe neben dem Bordstein.

»Frau gönnt sich ja sonst nichts!«, rief Gabi dem zögernd einsteigenden Walde zu. Er hatte Probleme, seine langen Beine unterzubringen. Zum Verstellen des Sitzes kam er nicht mehr. Kaum hatte sie den Rückwärtsgang eingelegt, machte der Wagen einen Satz. Walde wurde nach vorn geschleudert und gleich darauf, als er nach dem Gurt greifen wollte, nach hinten in den Ledersitz gepresst.

Mit quietschenden Reifen fuhr Gabi los, um nach wenigen Metern an einem Stopp-Schild abzubremsen. Walde klinkte den Gurt ein und langte mit der rechten Hand nach dem Haltegriff an der Tür.

»Sag mal, wo hast du die Kohle für dieses Geschoss her?«, rief Walde.

Auf der kurzen Geraden bis zu der roten Ampel gab sie Vollgas. Als sie zum Bremsen ansetzte, sprang die Ampel um. Sie ging mit hohem Tempo in die dahinter liegende Linkskurve, beugte sich weit zur Beifahrerseite hin und lächelte: »Hast du Schiss? Oder warum guckst du so?«

»Guck lieber geradeaus«, Walde wies nach vorn, wo sie auf einen vorausfahrenden Pkw zurasten. Ihm war kalt, aber die Jacke ließ sich nicht zuknöpfen.

Gabi zog nach links und scherte dicht vor dem Wagen wieder ein.

»Wenn der jetzt …«, Gabi fixierte den Rückspiegel, »… schieß ich nach hinten.«

Gegen die tief über den Palliener Felsen stehende Sonne klappte sie die Sonnenblenden herunter.

»Da«, schrie sie. Walde zuckte zusammen. »Dieser Rowdy gibt mir Lichthupe. Nimm meine Knarre aus dem Handschuhfach! Baller ihm eine! Aber guck, dass du meine Kopfstützen nicht triffst.«

Gabi parkte vorwärts in die enge Lücke ein. Mit einem Ruck kam der Wagen zum Stehen. Gleich riss sie die Tür auf, stieg aus und angelte sich ihre Handtasche vom Rücksitz.

»Wo bleibst du denn?« Hinter dem Wagen stehend, hielt sie ungeduldig den Schlüssel in der Hand.

»Wenn du mir sagst, wie ich hier rauskommen soll.«

Zwischen Waldes Tür und dem daneben parkenden Wagen passte kaum eine Zeitung.

»Zick nicht rum und steig auf der Fahrerseite aus!«

Walde blieb nichts anderes übrig, als sich an der Tür hochzuziehen; sich oben an der Windschutzscheibe festhaltend, hangelte er sich über den Schaltknüppel auf die Fahrerseite und von dort ins Freie.

»Na, endlich«, kommentierte Gabi, als Walde um den Wagen herum kam.

»Und wie soll der in sein Auto kommen?« Walde deutete auf die zugeparkte Fahrertür des Nachbarwagens.

»Seine Sache, der steht viel zu weit links«, sie hielt inne. »Notier dir vorsichtshalber die Nummer. Falls nachher ein Kratzer in der Tür ist, knall ich den Kerl über den Haufen!«

»Ist deine Pistole noch im Handschuhfach?«

»Keine Bange, das Schätzchen steckt hier drin.« Sie klemmte die Handtasche mit dem linken Ellenbogen fest und hakte sich mit der rechten Hand bei Walde unter.

Sie gingen über einen schmalen Teerweg Richtung Moselufer. Auf dem Hochwasserschutzdamm kam ihnen ein Radfahrer entgegen, der mit einer Hand ein langes Brett wie eine Lanze auf dem Lenkrad balancierte.

»Buenos Días, Caballero!«, grüßte Gabi den auf seinem rostigen Drahtesel vorbeistrampelnden Abklatsch des Ritters von der traurigen Gestalt. Ihr genügte ein kurzer Blick, um eine Person von Kopf bis Fuß zu taxieren.

»Ob der noch seine Rosinante findet?«, fragte sie zu Walde gewandt.

»Rosinante hieß sein Gaul, du meinst wahrscheinlich Dulcinea.«

»Ist doch egal, Klugscheißer, wir beide wissen, was gemeint ist.«

Das Schiff der Wasserschutzpolizei war noch zu weit stromaufwärts, als dass sie es hätten sehen können.

Sie erreichten die Terrassen, die um diese Zeit nicht mehr bewirtschaftet wurden. Gegenüber reihte sich Kneipe an Kneipe in den ehemaligen Fischerhäusern der kleinen Gasse.

»Wenn in Zurlauben richtige Schiffe anlegen würden, hätten wir hier den Kiez«, bemerkte Gabi.

Stadler ließ die Maschine an. Der Kollege verließ das Führerhaus. Grabbe beobachtete, wie er eines der Taue löste, mit dem das Schiff an den Poldern des Stegs festgemacht war.

Wie konnte er halbwegs schadlos aus dieser Geschichte herauskommen? Grabbe spürte, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Die Motoren heulten. Das Schiff legte ab.

Grabbe suchte an der Rückwand der Kabine Halt. Das Schiff bewegte sich schräg in den Fluss hinein. Sein Blick blieb an einem Rettungsring hängen, der neben dem Armaturenbrett festgezurrt war.

Warum fiel ihm gerade jetzt die Szene aus Titanic ein, in der die Leute in ihren Rettungsringen und Schwimmwesten tot auf dem Wasser trieben?

Dieses Wasser da draußen war ganz und gar nicht ruhig. Hier würde er noch nicht einmal einen friedlichen Tod finden. Hier würde er jämmerlich in den Fluten ersaufen. Die beiden Wasserschutzpolizisten hatten den Verstand verloren, sich mit diesem Boot, das in diesen tosenden Fluten wie eine Nussschale wirkte, auf den Fluss zu wagen. Er hielt in seiner Verzweiflung inne. Am liebsten hätte er sich an die Stirn geschlagen. Warum war er nicht gleich darauf gekommen?

»Hätten wir nicht«, Grabbe räusperte sich, seine Stimme war belegt. »Hätten wir nicht durch die Pferdemosel zur Insel gelangen können?«

Pferdemosel hieß der schmale, nicht schiffbare Arm der Mosel, der die Insel unter der Kaiser-Wilhelm-Brücke vom Stadtteil Zurlauben trennte.

»Klar«, nickte Stadler. Das Boot raste schneller als die Strömung auf die Römerbrücke zu.

Grabbe hatte nicht mehr die Kraft, weitere Fragen zu stellen. Er war verloren. Nicht mehr lange und es war vorbei. Grabbe schloss die Augen …

»Ist Ihnen nicht gut?« Der zweite Wasserschupo tippte Grabbe an den Arm. Sie sausten unter der Brücke durch.

»Nein, nein, ich war in Gedanken.« Grabbe war ein schlechter Schauspieler.

»Haben Sie eigentlich …«, Grabbe wollte es nicht Kotztüte nennen. Allein das ausgesprochene Wort hätte Schlimmes auslösen können, »Tüten an Bord?«

»Gleich sind wir da.« Stadler legte den Maschinenhebel zurück. Das Boot verlangsamte seine Geschwindigkeit. Die Insel tauchte neben ihnen auf. Grabbe sah, dass die Strömung immer schneller an ihnen vorbei schoss und das Boot, langsamer werdend, an der Insel entlang fuhr.

»Die Maschine läuft rückwärts, aber ich krieg den Kahn nicht gehalten. So, Achtung, da, sehen Sie?« Stadlers Zeigefinger fixierte einen Punkt am grünen Ufer der Insel.

Grabbe sah etwas Helles. Eine Gummipuppe? Waren die Kollegen wirklich dermaßen phantasielos und hatten darum so viel Aufwand getrieben?

»Ist nicht mehr ganz frisch. Scheint angetrieben zu sein.« Stadler sprach vollkommen emotionslos. »Wir können hier nicht anlegen, ich fahre um die Insel herum.«

Er drehte den Maschinenhebel auf volle Fahrt. Nach wenigen Sekunden schoss das Boot zwischen den Pfeilern der Kaiser-Wilhelm-Brücke hindurch. In einem weiten Bogen wendeten sie hinter der Spitze der Insel und fuhren nun gegen den im Nebenarm etwas langsamer fließenden Fluss an. Stadler übergab das Steuer an seinen Kollegen.

In dem kleinen Fernseher hoch oben neben der Theke lief ein tonloses Fußballspiel. Dazu sang Keb’ Mo ‘And summertime in Compton was not like TV’. Beim Gitarrensolo riss Harry eine seiner beiden Krücken hoch und spielte eine Luftgitarrennummer. Wie immer am Freitagabend war der Muselfesch rappelvoll. Niemanden im Lokal schien das Fußballspiel zu interessieren. Die fünf am Tisch mussten laut reden, um sich gegen die Musik und die übrigen Gespräche in der Kneipe zu behaupten.

Hauptthema bei Waldes Kollegen war das heutige Schlussplädoyer der Verteidigung im Prozess gegen zwei Ärzte. Diese waren im letzten Jahr im Zuge der Entdeckung von fünf toten Afrikanern in einem gesunkenen Frachtschiff ins Fadenkreuz der Ermittlungen der Trierer Mordkommission geraten. Ihnen wurde Organhandel und illegale Transplantationen in großem Stil vorgeworfen. Dafür sollten sie den Tod der Afrikaner in Kauf genommen haben.