SOKO Mosel - Mischa Martini - E-Book

SOKO Mosel E-Book

Mischa Martini

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Beschreibung

Nach dem Erfolg des Debüt-Krimis "Akte Mosel" hat Kommissar Walde wieder einen kniffligen Fall zu lösen. Mysteriöse Drohungen, hochgradig vergiftete Zigaretten, der Chef des Wachdienstes verschwindet – ein Tabakkonzern wird im großen Stil erpresst. Geht es um Geld oder steckt Rache dahinter?

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Verlag Michael Weyand

*

Mischa Martini

SOKO MOSEL

*

© Verlag Michael Weyand, Friedlandstr. 4, 54293 Trier

www.weyand.de, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Gabi Belker, Birgit Weyand, Dr. Hans-Joachim Kann, Marie Therese Frigerio

Umschlaggestaltung: Bob, Trier

Satz: Verlag Michael Weyand, Trier

ISBN 978-3-942 429-47-4

*

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit Verhaltensweisen von Menschen an der Mosel und anderswo sind zufällig, vielleicht unvermeidlich.

1

Kurz nach Mitternacht bog Jan Lorenz in den schmalen Stichweg ein, der hoch zum Haus führte. Er schaltete in den ersten Gang zurück. Der Renault quälte sich die steile Straße hinauf.

Als das Haus hinter einer Kurve auftauchte, sah Lorenz einen Lichtschein, wie von einer Taschenlampe, hinter einem der Fenster aufblitzen. Ganz kurz nur, so dass er einen Moment überlegte, ob er sich nicht getäuscht haben könnte. Wer stattete ihm einen nächtlichen Besuch ab? Er parkte den Wagen unweit vom Haus in einem kleinen Waldweg und nahm die große Maglite aus dem Handschuhfach. Nach kurzem Zögern ließ er den Haustürschlüssel wieder in die Hosentasche zurückgleiten.

Das Gebäude thronte oberhalb des Dorfes auf einem terrassierten Grundstück mit parkähnlichen Ausmaßen. Das ganze Gelände war mit einem hohen Drahtzaun umgeben. Lorenz schlich sich lautlos daran entlang und leuchtete ab und zu auf nasse Brennnesseln und Gestrüpp, die ihm Schuhe und Hosenbeine dunkel färbten.

Er suchte die Lücke im Zaun, wo sich der Überlauf des untersten Teiches befand. Endlich erfasste der Lichtkegel den Durchschlupf. Das Kraut, das sonst die Stelle ver-deckte, lag flach auf die Erde gedrückt. Lorenz schlüpfte auf dem Rücken liegend unter dem Draht hindurch.

Der Himmel war wolkenverhangen. Vom Dorf drang nur spärliches Licht in den großen Garten. Ein nach Insekten schnappender Fisch brachte kurzzeitig die düstere Oberfläche eines Teiches in Wallung. Danach war nur noch das Dauerquaken der Frösche zu hören. Lorenz mied die verräterischen Kieswege zwischen den Weihern und schlich über Steinplatten, Rasen und Beete zum Haus. Die Taschenlampe blieb ungenutzt, sie sollte notfalls als Schlagwaffe dienen. Er war in seinem Leben an einem Punkt angelangt, wo Angst keine Rolle mehr spielte. Er hing an nichts mehr.

Die Tür zum Wintergarten war angelehnt. Wo vorher die kleine Scheibe in Kopfhöhe gewesen war, klaffte eine dunkle Öffnung. Er hatte richtig vermutet. Der Eindringling war auf diesem Weg ins Haus gekommen. Oder waren es mehrere? Lorenz tastete mit dem Fuß nach vorn, es knirschte. Er zog den Parka aus, beugte den Oberkörper weit zur Tür hinein und legte die Jacke auf den Boden. Vorsichtig huschte er durch die Tür und hörte das leise Knacken der Glasscherben unter dem dicken Stoff.

Drinnen war es ruhig. Lorenz umkurvte die großen Kübel mit den Pflanzen, die hier überwintert hatten. In der nächsten Woche sollten sie wieder ihren Platz im Garten einnehmen. Lautlos rollten seine weichen Sohlen auf den Terrakottafliesen ab.

Lorenz lauschte eine Weile, bevor er die Küche betrat. Mit der linken Hand tastete er sich vor, um nicht gegen einen Stuhl zu stoßen.

Plötzlich wurde sein Arm mit brutaler Wucht auf den Rücken gerissen und nach oben bis zum Schulterblatt gedrückt. Er stöhnte laut. Die Taschenlampe polterte zu Boden. Seine Schulter schmerzte höllisch. Jemand trat ihm die Beine weg. Er schlug hart auf die Fliesen und japste nach Luft. Blitzschnell wurden seine Unterarme auf dem Rücken zusammengezurrt. Hände tasteten ihn grob am ganzen Körper ab. Dann ließ der Druck nach. Das Deckenlicht flackerte auf.

Eine Stimme befahl: »Liegen bleiben!«

Lorenz war nicht nach Aufstehen zumute. Jeder noch so flache Atemzug tat weh. Er hörte Schritte. Mit äußerster Überwindung wendete er den Kopf. Er hatte seine Brille verloren und sah etwas verschwommen einen bulligen Mann in schwarzen Jeans und schwarzer Lederjacke aus dem Wintergarten in die Küche zurückkommen. Der Mann warf den verdreckten Parka auf den Esstisch und entnahm ihm die Brieftasche. Nach einem prüfenden Blick auf Lorenz’ Führerschein musterte er den am Boden Liegenden: »Jan Lorenz? Hört sich norddeutsch an. Was machen Sie hier?«

»Das fragen Sie mich?«

Mit überraschender Schnelligkeit kniete der fremde Mann auf Lorenz’ Rücken, packte ihn im Nacken am Hemdkragen und bog seinen Kopf nach hinten: »Ich kann auch anders!«

Obwohl ihm die Gurgel abgedrückt wurde, versuchte Lorenz zu nicken.

Der Angreifer ließ los. Lorenz drehte im letzten Moment sein Gesicht zur Seite. Schläfe und Wangenknochen krachten auf die Fliesen. Glas knirschte. Er war auf seine kaputte Brille gefallen.

»Also!«

»Das Haus gehört einem Freund. Der hatte einen Schlaganfall. Ich kümmere mich.«

»Aha, und was sonst?«

»Wie, was sonst?«

»Was arbeiten Sie?«

»Nichts.«

»Schon im Ruhestand?«

»Ja, aber um das zu erfahren, hätten Sie auch anrufen können.«

»Aufstehen!«

Der Mann packte Lorenz am Oberarm und riss ihn unsanft hoch. Lorenz kam schwankend auf die Beine und wurde aus der Küche durch die Diele in das Wohnzimmer gestoßen. Dort nahm der Bullige ein schmales Plastikband aus der Jackentasche. Mit der gleichen Schlaufe waren wohl bereits seine Arme gefesselt. Er führte Lorenz vor einen schweren Eichenschrank, der offensichtlich schon durchwühlt worden war. Der Eindringling schloss einige Türen. Er rammte eine große Schublade in den Schrank. Dabei stopfte er den überquellenden Inhalt mit Gewalt ins Fach zurück. Lorenz’ Hände fesselte er an den Metallgriff der Lade. Dazu musste Lorenz leicht in die Knie gehen. Er stand wie ein Opfer am Marterpfahl.

Der Einbrecher nahm ihm gegenüber auf der Couch Platz. Vor ihm, auf dem niedrigen Tisch mit der dicken Glasplatte, stapelten sich Aktenordner und Zeitungen.

»Was sollen die Drohungen?«, blitzte er Lorenz gereizt an.

»Welche Drohungen?«

Der Mann langte in seine Jackentasche und zog ein Zigarettenpäckchen hervor. Es war mit Zeitungsschnipseln beklebt. Lorenz erkannte es sofort.

»Die passenden Lücken hab’ ich hier gefunden«, der Kerl schlug mit der flachen Hand auf einen Packen Zeitungen auf dem Glastisch.

Lorenz hielt es nicht mehr in der gehockten Stellung aus. Er streckte seine Beine weit nach vorn und lehnte sich mit dem Rücken an die Türen des Oberschranks.

»Drei Stück habe ich davon gefunden. Was soll das?«

Lorenz schwieg.

Der Bullige las vor: »NICHTS BLEIBT UNGESTRAFT!«

Seine Augen verengten sich. Er presste die Lippen zusammen: »Was soll der Spruch?«

Lorenz hatte viel Erfahrung mit Menschen in angespannten Situationen. Er wusste, dass die Entrüstung des Mannes nicht gespielt war. Der war mit Haut und Haaren bei der Sache.

»Haben Sie bei FARMERS gearbeitet, oder bestanden irgendwelche Beziehungen zu unserer Firma?«

Lorenz schüttelte den Kopf.

»Was ist es denn? Ökofanatiker oder sonst eine Spinnerei, he?«, der Mann nahm ein Telefonbuch in die Hand und kam auf Lorenz zu.

»He?«

Klatschend schlug er ihm das Buch links und rechts gegen den Kopf: »Was wollen Sie, he?«

Er brüllte und schlug weiter. Lorenz erinnerte sich an jahrzehntealte Verhörmethoden. Schläge mit Telefonbüchern taten weh, hinterließen bei den Opfern aber keine nennenswerten Spuren. Das galt jedoch nicht für die Telefonbücher selbst. Lorenz hatte sich wohl an den Scherben der Brillengläser im Gesicht verletzt. Der Buchumschlag in der Hand des FARMERS-Mannes färbte sich blutrot. Bei diesem Gedanken musste Lorenz lachen.

Der Schläger hielt inne. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er keuchte.

Lorenz bemerkte eine Narbe im Gesicht seines Peinigers. Sie verlief in der Mitte seines dunklen Schnäuzers von der Oberlippe bis zur Nase.

»Wie ist das passiert?«, fragte Lorenz.

»Was passiert?«

»Das mit der Narbe unter Ihrer Nase.«

»Sag mal, kann es sein, dass du nicht ganz bei Trost bist?«, der Schläger zog die Lederjacke aus und warf sie über die Couch. »Hör gut zu, wir wissen jetzt, wer hinter diesen Drohungen steckt. Also, wag es ja nicht, nochmals in die Nähe von FARMERS zu kommen.«

Er steckte sich eine filterlose Zigarette an. Es war eine FARMERS aus einem Päckchen ohne Steuerbanderole, wie sie die Mitarbeiter der Fabrik jeden Monat stangenweise bekamen.

Er nahm einen Ordner vom Tisch und blätterte darin. »Du interessierst dich für Panzer?«

»Das gehört meinem Freund.«

»Was hat der mit Panzern zu tun?«

»Nichts.«

»Kommt jetzt schon wieder die Arschlochtour?«, der Mann von FARMERS schleuderte den Ordner in Lorenz’ Richtung und verfehlte ihn nur knapp.

»Der war Psychologe bei der Bundeswehr.«

»Und du?«

»Ich war auch da«, leierte Lorenz.

»Auch Psycho?«

»Nee.«

»Was denn?«

»War geheim.«

Der Schläger griff nach einem Fotoalbum und setzte zum Wurf an. Es gehörte zu den wenigen persönlichen Dingen, die Lorenz mit hierher gebracht hatte. Lorenz sagte blitzschnell: »Hatte was mit Ostabwehr und so zu tun.« Er wurde unruhig, als der andere das Album aufschlug.

»Ihre Frau?«, der Bullige drehte eine Seite in Lorenz’ Richtung.

»Ja, ja.«

»Sieht gut aus!«

»Ja, ja«, Lorenz schlug mit den Handflächen hinter sich an die Schublade. Seine Finger waren schon taub.

»Wo ist sie?«

»Ja, ja«, Lorenz wollte nicht zuhören. Er konnte mit niemandem über seine Frau sprechen. Im Moment konnte er noch nicht einmal an sie denken.

»Ich habe gefragt, wo sie ist.«

»Ja, ja, ist ja schon gut«, Lorenz nickte.

»Ist sie abgehauen?«

»Ja, ja«, erst jetzt spürte Lorenz, dass er mit dem Hinterkopf gegen die Schranktür schlug.

Der Mann auf der Couch bemerkte die Anspannung: »Tut wohl noch weh?«

»Ja, ja«, Lorenz’ Atem verlor den Rhythmus, er schloss die Augen.

»Vergiss die Schlampe!«, der Bullige war aufgestanden und kam mit dem Album auf Lorenz zu. »Ist doch immer dasselbe mit den Ludern, da macht die hier auch keine Ausnahme.« Er stellte sich ganz dicht vor Lorenz und riss ein Foto vom Karton.

Lorenz warf einen Blick auf die lächelnde Frau mit den kurzen blonden Haaren und den vielen Sommersprossen. Mit einem gewaltigen Ruck beugte er sich tief nach vorn und rammte seinem Gegenüber den Kopf in den Bauch. Hinter ihm sauste die schwere Schublade aus dem Fach. Lorenz drehte sich um die eigene Achse. Das Gewicht des Kastens zog seine Hände nach unten. Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen, um nicht nach hinten zu fallen. Der Bullige hob die Fäuste vor den Brustkorb. Im gleichen Moment traf ihn die Schublade mit voller Wucht in Kniehöhe. Er taumelte, verlor den Halt und stürzte rückwärts gegen den Glastisch. Es knackte, als würde ein Tischtennisball zertreten. Lorenz’ Drehung wurde vom Fernsehschrank gestoppt. Wieder prallte er auf die linke Körper- und Kopfseite. Aus der Schublade klirrten Bestecke zu Boden.

Lorenz rappelte sich auf, schüttelte Tischdecken und Krimskrams aus der Lade. Der FARMERS-Mann lag regungslos auf dem Teppich. Seine Augen waren zur Zimmerdecke gerichtet. Lorenz beugte sich über ihn. Er sah ein kleines Blutrinnsal am Ohr.

2

Das Martinshorn dröhnte. Harry pappte mit der linken Hand das Blinklicht aufs Dach, mit der rechten schlug er das Lenkrad scharf ein. Der Wagen sauste quer über die Allee in die Saarstraße. Soeben hatten sie über Funk erfahren, dass ganz in der Nähe eine Entführung im Gange sei. Das Opfer sollte sich im Kofferraum eines silbernen Audi A4 befinden.

Harry gab der Zentrale durch, dass er die Verfolgung aufgenommen habe.

»Setzt mich da vorn ab, ich muss zur Pressekonferenz«, sagte Kommissar Walde zu seinem Assistenten.

»Och, wir schaffen das schon!« nörgelte Harry.

»He, du gehörst zur Mordkommission, falls du das vergessen hast.«

»Entführung ist auch ein Kapitalverbrechen! Komm, lass uns vorher noch den Typen schnappen. Der wird den Presseheinis als Zugabe serviert.«

Walde konnte sich ausmalen, was gerade im Kopf seines Assistenten vorging. Eine Entführung zu vereiteln, war für ihn noch heldenhafter, als einen Ertrinkenden aus der Mosel zu retten. Und dabei noch mit 140 Sachen durch die Stadt rasen zu dürfen, setzte dem Ganzen das Sahnehäubchen auf.

An der Kreuzung Südbahnhof war die Straße verstopft. Die Autofahrer reckten neugierig die Köpfe, als sie das Blaulicht bemerkten, machten aber keine Anstalten, eine Gasse zu bilden.

Harry legte eine Vollbremsung auf den Asphalt und wendete mit immer noch quietschenden Reifen. Die Seitenstraßen, durch die sie den Stau umfuhren, waren gepflastert. Walde dankte allen Heiligen, dass es wenigstens nicht regnete. Er versuchte zu telefonieren, wurde aber so heftig durchgeschüttelt, dass seine Finger immer wieder die falschen Tasten trafen. Beim dritten misslungenen Wählversuch gab er auf.

Walde griff nach dem Funkgerät am Armaturenbrett.

»Was machst du?«, fragte Harry.

»Ich sage Bescheid, dass Grabbe die Presseleute hinhalten soll.«

Sie gelangten wieder zurück auf die Saarstraße. Harry fuhr auf der Straßenmitte und wedelte wie ein Skifahrer beim Slalom durch den Verkehr.

»Das geht jetzt nicht, wir können doch im Moment nicht den Funk mit so einer Lappalie blockieren…«, schrie er rüber.

»Wir suchen doch einen Audi?«, unterbrach Walde.

»Einen silbergrauen Audi A4, Kennzeichen TR-K, Rest unbekannt«, ergänzte Harry.

»Den hast du gerade überholt.«

Harry schaute in den Rückspiegel: »Nee, das ist ein Golf.«

»Und dahinter fährt ein A3…«

»Wir sind aber hinter einem A4 her!« Harry warf beide Hände in die Höhe, dabei brach der Wagen leicht zur Seite aus.

»Okay, Harry, ganz von vorn. Jemand hat per Notruf eine Entführung gemeldet. Kennzeichen TR-K, nur Buchstaben, die Zahlen konnte er sich nicht merken, Audi A, nur Buchstaben.«

Harry schaltete das Martinshorn aus: »Ich habe verstanden, der Zeuge hat vielleicht wirklich Schwierigkeiten mit Zahlen, und es kann auch ein A3 sein. Halt dich fest!«

Sie schlitterten rechts in eine Parkbucht. Sie war gerade lang genug, dass sie zum Stehen kamen. Hinter dem Golf fuhr der silberne Audi an ihnen vorbei. Ein Mann saß am Steuer.

Harry rührte sich nicht.

Walde hielt sich mit beiden Händen die Schläfen: »Worauf wartest du? Willst du ihm Vorsprung geben?«

»Nee, ich habe nur über was nachgedacht«, die Sirene heulte auf, und sie preschten zurück auf die Straße.

»Über was?«

»Früher, auf der Polizeischule, da waren Verfolgungen für mich das Interessanteste.«

»Ja, das ist nichts Neues«, stöhnte Walde genervt.

»Also, da haben wir wirklich alle Varianten durchgespielt…«

»Guck bitte nach vorn.«

»Aber den Fall, dass der Täter von der Polizei unbemerkt überholt wurde, den hatten wir nicht. Ganz sicher, da hab…«

»Pass doch auf!«

Sie überfuhren eine rote Ampel und zwangen einen Vespafahrer zu einem gefährlichen Schlenker auf den Bürgersteig.

Hinter der Basilika St. Matthias hatten sie den Audi eingeholt. Nach wenigen Metern fuhr der Fahrer rechts ran, um Platz zu machen. Harry setzte den Wagen quer davor, sprang mit gezückter Dienstpistole heraus und rief: »Gib mir Feuerschutz!«

Walde kam hinterher. Er hatte mal wieder keine Waffe dabei.

Hinter der Frontscheibe hielt der Audifahrer die Hände hoch. Harry riss die Tür auf und schrie: »Langsam aussteigen und keine falsche Bewegung!«

Ein sichtlich geschockter Mann stieg vorsichtig aus dem Wagen.

»Hände aufs Dach, Beine auseinander!«, befahl Harry.

Walde tastete den Mann nach Waffen ab. Dann legte er ihm die Handschellen an.

Sein Assistent zog den Zündschlüssel ab und ging zum Kofferraum. Der Deckel schnappte auf.

Drinnen kauerte ein leichenblasser Mann. Harry streckte ihm eine Hand entgegen. Der Mann starrte auf die Pistole in der anderen Hand und machte keine Anstalten herauszukommen.

»Es ist alles vorbei, Sie sind in Sicherheit«, versuchte Walde ihn zu beruhigen.

Zwei Streifenwagen trafen ein. Die Polizisten versuchten, Schaulustige abzudrängen. Die Gaffer schienen einer Pilgergruppe anzugehören. Sie trugen Wanderschuhe und dreiviertellange Hosen. Einer hielt ein geschmücktes Kreuz in beiden Händen.

Der Entführte stand nun endlich neben dem Kofferraum. Er sagte immer noch kein Wort.

»Sollen wir Ihnen einen Arzt rufen?«, fragte Walde.

Das Opfer schüttelte den Kopf.

Der Kidnapper meldete sich: »Darf ich etwas dazu…«

»Bevor Sie eine Aussage machen, möchte ich Sie über Ihre Rechte belehren«, unterbrach ihn Harry. »Alles, was Sie…«

»Das ist bestimmt ein, ein Missverständnis…«, stotterte der Fahrer.

»Ich muss Sie über Ihre Rechte aufklären, sonst…«

»Wir machen eine Probefahrt.«

Das Opfer nickte. Jetzt fiel Walde am Blaumann des Entführten der Schriftzug eines Autohauses auf.

»Ich bin Servicetechniker. Da gibt es so ein klapperndes Geräusch im Heck. Niemand konnte die Ursache herausfinden. Deshalb bin ich im Kofferraum mitgefahren.«

3

An der großen Klingeltafel standen zwei Dutzend Namen. Lorenz trug die Lederjacke des Bulligen und eine Baseballkappe. Sie hatte im Auto des FARMERS-Mannes gelegen, das er erst nach längerem Suchen hinter dem Haus in einem Waldweg gefunden hatte.

Der Schlüssel passte auf die Haustür. Das Appartment des Wachmanns lag im zweiten Stock, ein spärlich möblierter Wohnschlafraum mit Kochnische. Lorenz schlug ein Mief aus abgestandenem Rauch und Schweiß entgegen. Der schäbige Teppich wies Trittspuren auf. Das Bett war ordentlich gemacht, in einem billigen Regal standen Taschenbücher an einen dicken Packen übereinander gestapelter Magazine gelehnt. Lorenz las den obersten Titel KRIMINALISTIK. Kein einziges Bild hing an den vergilbten Wänden.

Lorenz setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Rechner ein. Seine Hände schwitzten in den gelben Gartenhandschuhen. Er nahm das Notizbuch des Toten aus der Innentasche und zog die Lederjacke aus.

Die Festplatte war übersichtlich angeordnet. Außer Betriebssystem und Programmen gab es nur zwei Ordner. Auf dem einen stand PRIVAT, der andere hieß FARMERS. Lorenz öffnete den Internet-Explorer; weder Lesezeichen noch e-Mail-Adressen waren angelegt. Im Privatordner fanden sich nur belanglose Schreiben an Versicherungen und Behörden. Die Datei FARMERS war durch ein Passwort geschützt. Lorenz grinste. Solche Barrieren zu knacken, gehörte über zwei Jahrzehnte zu seinem Job. Im Notizbuch des Wachmannes fand er unter P eine vierstellige Nummer; es war der Pin seines Kontos oder Handys und der Schlüssel zu den geheimen Aufzeichnungen. Lorenz war ein wenig enttäuscht, dass es so leicht war.

Der FARMERS-Ordner war überraschend umfangreich. Lorenz beschränkte sich auf die Dateien jüngeren Datums. Hauptsächlich enthielten sie Personalien und Hunderte von Autokennzeichen mit Uhrzeit und Datum. Der Mann hatte anscheinend jedes Fahrzeug notiert, das an der Fabrik vorfuhr, und mit den registrierten Nummern der Mitarbeiter verglichen. So war er wohl auf ihn gestoßen. Mit Hilfe der Funktion Suchbegriff stieß Lorenz vier Mal auf die Nummer des Autos seines Freundes Wieckmann, das er seit Monaten benutzte. Er veränderte die Nummern.

Als er mit der Festplatte fertig war, wandte er sich einer Box mit Disketten zu.

Lorenz zog einen Koffer vom Schrank und warf Kleidung, Toilettenzeug, Schuhe und was ihm sonst noch für eine Reise mitnehmenswert erschien, hinein. Durch seine vielen Dienstreisen hatte er reichlich Erfahrung im Packen. In einem Buch aus dem Regal fand er Schecks und zehn Hundertmarkscheine. Den spartanischen Kühlschrankinhalt stopfte er in eine Tüte. Im Bad hing über der Toilette ein Foto. Es zeigte eine Gruppe grinsender Polizisten in Uniform. Ein gelber Zettel pappte darauf. LECKT MICH AM ARSCH las Lorenz. Als er die handgeschriebene Notiz abriss, entdeckte er den Bulligen darunter. Er war etwas jünger und schlanker, hatte aber bereits den unverkennbaren Schnurrbart samt Narbe unter der Nase. Lorenz klebte den Zettel mitten auf den Tisch.

Es begann zu dämmern, als er das Gebäude verließ. Die Tüte mit den Lebensmitteln warf er in den Container neben der Haustür. Unterwegs hielt er an einer Kleidersammelbox an. Er zog die schwarze Lederjacke aus und stopfte sie mitsamt den Kleidern aus dem Koffer in die Klappe. Es war kühl, gut dass er selbst noch eine Jacke mitgenommen hatte.

Über die Grenze fuhr er bei Sonnenaufgang. Das war für ihn früher die schönste Zeit des Tages gewesen. Da fühlte er sich manchmal unbesiegbar. Besonders, wenn er vom Nachtdienst nach Hause fuhr und sich darauf freute, ins warme Bett zu kriechen, zu Isabelle…

Er stellte den Wagen des Bulligen auf dem großen Parkplatz des Luxemburger Flugplatzes Findel ab. Der erste Linienbus brachte ihn zum Bahnhof in die Stadt. Den Koffer mit dem Toilettenbeutel ließ er im Bus stehen. Als er an einem Bahnhofskiosk die Kaffeetasse zum Mund führte, meldete sich der Schmerz wieder. Für einen Moment tat ihm jeder einzelne Knochen so weh, dass er hätte schreien können. Der Gedanke an Isabelle tröstete ihn.

4

»Gratulation!«, der Kollege hinter der Glasscheibe im Eingang des Präsidiums grinste breit. Die Schlappe von der Entführung hatte sich also bereits herumgesprochen.

Harry und Walde ignorierten die Häme.

Die Glastür glitt zu. Sie verzichteten auf den stark frequentierten Fahrstuhl und wandten sich zum Treppenhaus.

Nach wenigen Stufen hörten sie lautes Geklapper. Das erste, was sie von der ihnen entgegen kommenden Person sehen konnten, waren die Schuhe. Ausgetretene, hochhackige Damenschuhe, die Fußspitzen nach außen gestellt, als ob jemand versuchte, eine Hühnerleiter vorwärts hinunterzusteigen.

Beiden war sofort klar, wem sie in die Arme liefen. Sie hätten nicht erst die muskulösen Waden unter dem viel zu kurzen Rock abwarten müssen. Gabi von der Sitte kam ihnen säbelbeinig entgegen. Auf den ersten Blick wirkte sie wie ein Mann in Frauenkleidern. Nicht wie ein Transvestit. Der gab sich in der Regel mehr Mühe mit seinem Äußeren. Sie glich eher einem Akteur aus einem lieblos ausstaffierten Männerballett. Gabi verfügte über einen Händedruck, der Steine zum Weinen bringen konnte. Wirklich berüchtigt war ihr gefürchteter Schulterschlag, mit dem sie meist ahnungslose Kollegen begrüßte. Wer in einer friedlichen Gesprächsrunde in der Polizeikantine plötzlich das Gefühl hatte, von einem Baseballschläger im Kreuz getroffen zu werden, konnte sicher sein, das Klappern von Gabis Stöckelschuhen überhört zu haben.

»Scheiße«, zischte Harry.

»Kopf hoch, Jungs, einen Exhi zu schnappen, ist auch nicht schöner.«

Was sie nicht erwähnte, war, dass es nichts Schlimmeres für einen Exhibitionisten geben konnte, als von Gabi erwischt zu werden.

»He, ihr zwei, macht nicht so betrippelte Gesichter!«

Die beiden schalteten die Ohren auf Durchzug.

Oben hatte die Pressekonferenz bereits begonnen. Grabbe saß vor den Mikrofonen. Zwei leere Plätze trennten ihn von Polizeipräsident Stiermann. Gegenüber saß eine Handvoll Repräsentanten der lokalen Presse. Für eine Stadt wie Trier ein enormes Aufgebot. Je nach Attraktivität des Anlasses konnte man froh sein, wenn wenigstens die Tageszeitung Interesse bekundete. Heute waren neben dem Trierischen Volksfreund auch RPR, SWR, der Wochenspiegel und ein Stadtmagazin vertreten. An der Tür lungerte ein hochaufgeschossener Mann mit Kamera. Harry fragte ihn, für wen er Fotos mache.

»Fürs Radio«, kam seine blöde Antwort.

Harrys Sinn für Humor war für heute restlos aufgebraucht. Walde ging dazwischen: »Nach Paragraph 14 des Ohmschen Gesetzbuches haben Sie sich gerade der Irreführung von Behörden strafbar gemacht. Sie haben wohl vergessen, wo Sie sich aufhalten…«

»Meine sehr verehrten Damen und Herren«, hob Grabbe an und schaute irritiert in die Runde, in der sich keine Frau befand. »Wie Herr Polizeipräsident Stiermann bereits ausführte, präsentieren wir Ihnen heute die Ergebnisse unserer Aktion „Präsenz vor Ort“.«

Stiermann winkte Harry und Walde und zeigte auf die beiden freien Plätze.

Als er sich hinsetzte, flüsterte Walde Grabbe zu: »Konnte denn niemand anderes einspringen?«

»Monika hat Urlaub und Sie waren ja… verhindert, und jetzt hat der Chef halt mich…«

»Ist schon gut, Sie machen das schon«, Walde verschränkte die Arme.

Grabbe zupfte an seiner Strickweste. Die Tür öffnete sich. Eine junge Frau kam herein. Sie nickte Grabbe und den Presseleuten zu und nahm auf dem freien Stuhl direkt gegenüber den Mikrofonen Platz.

»Entschuldigung«, hauchte sie in Grabbes Richtung. Der hatte den Faden verloren.

»Wo war ich geblieben?«

»Stehengeblieben«, verbesserte Harry.

»Ja, ähh, stehengeblieben.«

»Es ist nicht live, wird nur aufgezeichnet«, versuchte der Mann von RPR mit Blick auf die Mikrofone Grabbe zu beruhigen.

Grabbe war inzwischen so angespannt, dass er kaum noch Luft zum Sprechen hatte: »Bei der Aktion „Präsenz vor Ort” geht es in erster Linie um die Verhinderung von Versprechen durch die sichtbare Potenz der Polizei auf Straßen und Plätzen der Innenstadt, besonders in den Abendstunden.«

Die Presseleute schauten sich grinsend an.

»Wir haben im Vergleich zu anderen deutschen Städten eine niedrige Versprechensrate, dennoch gilt all unser Streben… äh… also all unser Streben geht dahin...«

»Das Versprechen zu bekämpfen?«, fragte die Frau.

Polizeipräsident Stiermann schnaufte wie einer seiner Namensvettern kurz vor dem Angriff.

Grabbe quälte sich und die anderen weiter: »Die Kriminalitätsstatistik wird von manchen Presseorganen – ich schließe die hier Anwesenden natürlich aus – oft gewaltig hochstilisiert«, er atmete tief durch, als er diese Hürde umschifft hatte.

»Dabei, und da werden Sie mir sicher beipflichten, passiert in Trier im Schritt wirklich deutlich weniger als in anderen Städten vergleichbarer Größe.«

Die Frau von gegenüber nickte heftig. Jetzt war am Tisch kein Halten mehr.

5

Nach wenigen Stunden Schlaf wurde Lorenz von Schmerzen geweckt. Er quälte sich aus dem Bett. Die Prellungen plagten ihn noch mehr als in der Nacht. Am schlimmsten war es, den Pullover anzuziehen. Durch die Schufterei der letzten Monate in Garten und Haus hatte Lorenz seine alte Fitness wieder erreicht. Das hatte ihn gestern vor schlimmeren Verletzungen bewahrt.

Der FARMERS-Mann lag in unveränderter Lage auf dem Teppich im Wohnzimmer, wo er sich an der Kante der Glasplatte das Genick gebrochen hatte. Lorenz holte aus dem Keller zwei Kartoffelsäcke, zog sie über Oberkörper und Beine der Leiche und verschnürte sie. Dann schleifte er das Bündel über die Fliesen in die Garage und legte es hinter dem Kombi ab. Anstrengung und Schmerz ließen ihm den Schweiß aus allen Poren schießen.

Nach einem ausgedehnten Bad frühstückte er. Isabelle lächelte ihm von dem an die Zuckerdose gelehnten Bild zu. Dieses Foto anzufassen, hatte der Eindringling teuer bezahlen müssen.

Die Motorsäge war frisch geölt. Lorenz legte sie in den Kombi und packte einen Benzinkanister, Arbeitshandschuhe und einen Klappspaten dazu.

Im Wald waren wie immer die Schranken an den Wegen oben. Auf den wenigen Kilometern begegnete Lorenz keinem Menschen. Der Buchenwald, in dem er den Kombi parkte, zeigte die ersten hellgrünen Blätter. Der Sturm letzten Dezember hatte hier gewaltig gewütet. Am Ende der am Boden liegenden glatten Stämme ragten mächtige Wurzeln in die Höhe. Wie vielarmige Kraken hielten sie Waldboden und größere Steinbrocken, die sie mit nach oben gerissen hatten, fest.

Lorenz warf die Motorsäge an und setzte bei einem bergauf liegenden Stamm direkt hinter dem Wurzelballen einen Schnitt an.

Als sich die Zähne durch den Stamm gefressen hatten, schnellte die Wurzel mit Wucht in ihre ursprüngliche Lage zurück.

Es funktionierte! Lorenz schaute sich nach allen Seiten um. Niemand war zu sehen.

Er nahm den Klappspaten aus dem Kombi. In der Grube hinter einem ausladenden Wurzelballen räumte er größere Steine weg. Im lockeren Sandboden hob er eine Mulde aus. An dem mächtigen Stamm setzte er gleich hinter der Wurzel die Säge an. Wenige Zentimeter bevor das Holz durchgeschnitten war, zog er die Kette heraus.

6

»Möchtest du?«

Walde bot Doris, die locker neben ihm hertrabte, seine Wasserflasche an. Als sie ablehnte, nahm er einen tiefen Schluck und steckte die Flasche in die Halterung am Rahmen zurück. Der Tacho zeigte konstant knapp über 10 Stundenkilometer an. Ein Fahrradfahrer kam ihnen entgegen. Walde ließ sich etwas zurückfallen und schaute auf Doris’ knappe Sportshorts, die gleichmäßig hin und her schwangen: »Der Kerl, der dir damals an den Hintern getatscht hat, ich glaube, ich hätte…«