Aktenzeichen LEBEN - Uwe Hartig - E-Book

Aktenzeichen LEBEN E-Book

Uwe Hartig

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Beschreibung

Uwe Hartig, Autor mit über 35 Jahren bei der Kriminalpolizei, enthüllt, was niemand sehen möchte – Abgründe, die selbst dunkelste Albträume übersteigen. Seine Geschichten spiegeln eine Welt zwischen Gut und Böse, in der Leben und Tod oft nur Sekunden trennen. Aus der Perspektive des Erfahrenen Ermittlers beschreibt er Fälle, die die Seele erschüttern, und Entscheidungen, die Narben hinterlassen. Hier gibt es keine Fiktion, nur die brutale Realität der menschlichen Psyche. Ein Buch, das unter die Haut geht – und Fragen stellt, die man nicht mehr loswird.

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Seitenzahl: 91

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Uwe Hartig

Aktenzeichen Leben

Kurzgeschichten

Uwe Hartig

Aktenzeichen Leben

Tatsachen und Fiktion

Kurzgeschichten

Texte: © 2025 Copyright by Uwe Hartig

Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by Uwe Hartig

Verlag:

Uwe Hartig

Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Im Leben treibt uns Schatten und treibt uns Licht.

Der Täter sucht in der Dunkelheit seine Schuld zu

verstecken und das Opfer mit in unendliche Abgründe zu ziehen.

Allein der Ermittler taucht hinab in die stinkende Flut des Verbrechens und bringt aus den tiefsten Tiefen Hoffnung hervor.

Die Hoffnung auf Wahrheit.

Uwe Hartig

Schon über drei Jahrzehnte hinweg habe ich als Kriminalpolizist gearbeitet, eine Zeit, die von vielfältigen Fällen, technologischem Wandel und tiefgreifender Menschenkenntnis geprägt war. Diese lange Dienstzeit hat mir ermöglicht, ein breites Spektrum an Kriminalitätsformen zu erleben.

Ich müsste lügen um zu sagen, dass ich alle hier niedergeschriebenen Fälle frei erfunden habe.

Es liegt an Ihnen lieber Leser das zu ergründen.

Finden sie die Wahrheit.

Viel Erfolg dabei,

Uwe Hartig

Mein Weg zur Kriminalpolizei  

Der Appellplatz dampfte im kalten Morgenlicht, 300 Männer in steifen grünen Uniformen. Der General der Volkspolizei stand kerzengerade auf der Tribüne, sein Blick schweifte über uns wie über ein Feld voller Werkzeuge. „Jeder von euch ist ein Pfeiler des Friedens!“, rief er, „Ein Soldat des Sozialismus. Es lebe die Deutsche Demokratische Republik!“

Sein Redeschwall brandete gegen uns – Pflicht, Disziplin, Vaterland. Die volle Breitseite. Am Ende, fast beiläufig: „Wer ein persönliches Gespräch wünscht, vortreten.“  

Stille. Nur das Rascheln von Uniformen im Wind. Meine Sinne waren plötzlich angespannt, als hätte ein wildes Tier seine Witterung aufgenomen. Es gibt nur wenige Chancen im Leben und ich wusste sofort, das war eine davon.

Ich trat vor. Aus der ersten Reihe. Mein Kompaniechef, ein Mann mit dem Nacken eines überfressenen Mastschweins, funkelte mich an. Seine Lippen formten ein stummes „Du…“.  

Die Retourkutsche ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte Urlaub zur Silberhochzeit meiner Eltern beantragt. Unter fadenscheinigsten Begründungen wurde der Urlaubsbeginn herausgezögert, erst spät am Abend, als kein Zug mehr fuhr, durfte ich die Kaserne verlassen. Ein bisschen haben wir noch spät in der Nacht bei meinen Eltern gefeiert. Manchmal habe ich mir vorgestellt, wie ich dieses Ungetüm packe und aus dem Fenster werfe. Aber dann könnten sie diese Zeilen nicht lesen, das wäre doch auch schade, Oder?

Weiter.

Eine Stunde später klopfte ich an die Eichentür des Generals.  

„Genosse General, gestatten Sie, dass ich eintrete?“  

Er saß hinter einem Schreibtisch, der größer war als die Küchenbaracke.

Ohne aufzublicken: „Ah, der Genosse Idealist. Eintreten, Setzen.“  

Wir sprachen über Dynamo Dresden, wovon ich überhaupt keine Ahnung hatte und über den Sieg der Arbeiterklasse im europäischen Wettbewerb. Seine Stimme war glatt wie Propaganda. Plötzlich, ohne Übergang: „Was wollen Sie wirklich?“  

„Zur Kriminalpolizei. Um die Feinde des Sozialismus … direkter zu bekämpfen.“  

Er lachte kurz, trocken wie Stroh. „Träumer. Dafür braucht man mehr als Mut. Parteibuch. Verbindungen.“  

„Ein Bekannter von mir kam letztes Jahr zur Kripo. Sein Vater schreibt Romane über Bergarbeiter. Ohne Parteibuch.“ Ich hielt seinen Blick aus. „Gibt’s jetzt Sonderregeln für Künstlerkinder, Genosse General?“  

Seine Finger krümmten sich um die Tischkante. „Sind Sie Parteimitglied?“  

„Da steh’n wir uns in nichts nach – die Kripo und ich.“  

Sein Schnurrbart zuckte. Sekunden tickten. Dann lehnte er sich zurück, die Stimme ein Raunen: „Sie sind entweder ein Dummkopf … oder der Einzige hier mit Eiern. Ich weiß nicht warum, aber das gefällt mir. Also: Sie bewerben sich bis Freitag als SED-Kandidat. Ich schau mir diesen … Fall mit dem Schriftstellersohn an. Und falls Sie durch den Test fallen – Sie waren nie hier. Wir brauchen jeden verdammten Mann im Kampf gegen die imperialistisch kriminellen Kriegstreiber, Weitermachen Genosse!“  

Eine Woche später lag der Brief auf meinem Bett. „Eignungstest Kriminalpolizei – 08:00 Uhr, Polizeipräsidium Alexanderplatz.“ Mein Kompaniechef, der mich beim Lesen erwischte, knirschte so laut mit den Zähnen, dass es vermutlich in Moskau zu hören war.  

Am nächsten Appell stand ich wieder in der Reihe. Der General hielt eine Rede über „Aufstieg durch Leistung“. Als sein Blick mich streifte, zwinkerte er mir fast unmerklich zu. Sozialismus war halt doch manchmal flexibel.

Mein turbulenter Einstand bei der Kripo Prenzlauer Berg  

Als ich frisch bei der Kriminalpolizei in Prenzlauer Berg anfing, am Ende der ära Deutsche Demokratische Republik dachte ich noch: Junge, jetzt wird’s ernst! Mord, Raub, internationale Verbrecherbanden! Stattdessen bekam ich im Flüsterton, als würde ich ab jetzt ein Staatsgeheimnis tragen, zwei „Spezialgebiete“ zugeteilt: 1. Diebstahl von Wäscheleinen (weil man damals noch die Wäsche auf den Dachböden der Altbauten aufhing oder auf den Dächern selbst, wo das möglich war) und 2. Diebstahl von Kinderwagen. Kinderwagen waren Mangelware in der DDR, die Wohnung zu klein für den Wagen, blieb nur der Hausflur. Hauptsache, die Decken in den alten Häusern waren hoch, findige Geister bauten sich eine zusätzliche Etage in die hohen Räume.  

Fall 1: Die gestohlene West-Jeans  

Eines Mittwochs – Hackepeter-Tag, aber dazu später – meldete sich Frau Karge aus der Schönhauser Allee. Ihre blaue Jeans aus dem „Westen“ sei von der Leine geflitzt. Eine Jeans aus der BRD! Das war, als hätte jemand im Sozialismus einen Ferrari geklaut. Ich stieg also heroisch aufs Dach, wo wir Kollegen sonst gerne spazieren gingen (man konnte über die Dächer im Prenzlauer Berg blockweise rumlaufen, wenn man die Falltüren kannte). Zwischen flatternden Betttüchern fand ich dann die Jeans … in flagranti, wie sie um einen Schornstein geschlungen war. Der „Dieb“? Eine Sturmbö, die sie aus dem Fenster der Rentnerin geweht hatte. Frau Karge meinte nur: „Die Jeans ist halt windiger als mein Ex-Mann.“ Meine Aktennotiz: „Fall gelöst. Täter: Naturgewalt. Zeugen: drei Tauben.“  Ich fühlte mich trotzdem gut.

Fall 2: Das Baby-Drama  

Doch der Höhepunkt folgte zwei Tage später: Notruf wegen eines gestohlenen Kinderwagens mit Baby drin! Zeugen schworen, Gebrüll gehört zu haben. Großalarm! Zehn Streifen, Suchhunde, ich mit Megafon: „Geben Sie das Kind raus, wir wissen, dass Sie da sind!“ Nach zwei Stunden fand sich der Wagen … hinterm Müllcontainer. Und darin? Eine Puppe mit Kopf aus Pappmaché, die „Mama“ quietschte, wenn man sie drückte. Die Kollegen lachten sich kaputt. „Willkommen im Club, Grünschnabel! Das ist Werner Brettschneider, unser Ex-Lehrer, der seit seiner Pensionierung Puppen klaut, um sie zu ‚erziehen‘. Den kennt hier jeder!“ Alle Kollegen waren eingeweiht und hatten schön mitgespielt. Irgendwann später konnte ich schon darüber lächeln. 

Nochmal zum Einstand mit Hackepeter  

Am Ende gab’s Hackepeter und Doppelkopf im Büro, bei verschlossener Tür. Hauptkommissar Bröske klopfte mir auf die Schulter: „Wenn du’s hier überlebst, überlebst du alles.“ Werner Brettschneider kam übrigens später selbst vorbei, um seine Puppe abzuholen – in einem geklauten Kinderwagen, versteht sich. Ich hab’s gelassen. Immerhin: mittwochs war ich dabei. Und die Wäscheleinen-Diebe? Den einen oder anderen habe ich gefangen, am Ende konnte ich die Haupttäter an zwei Händen abzählen und an der Art und Weise des Diebstahls erkennen. Es waren die Zeiten da man im Prenzlauer Berg den Eindruck hatte, jeder würde jeden kennen und es in jedem Mietshaus den EINEN/E gab, der/die alles wusste. Wenns gegen den Staat ging, war man sich-offizielle/inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit –ausgenommen- einig und erntete vesrtändnisloses Schweigen. Bei einer Jeans aus dem Westen und anderen Mangelwaren hörte der Spaß schnell auf.

Liebe Karin, (Putzfrau,1 x wöchentlich)

Abschiedsbrief

Liebe Karin, (Putzfrau,1 x wöchentlich)

GEHEN SIE NICHT REIN!

Rufen Sie lieber den Notdienst oder die Polizei oder sonst wen.

Die finden da, wenn alles gut geht, eine Leiche. Meine

Soll so sein, war lange geplant, aber der Termin stand noch nicht fest. Nun hat es sich halt so ergeben.

Tut mir leid für ihren Job bei mir! Aber allen kann man es nie recht machen.

Auch im Nachhinein stets der Ihre

Prof. Dr. Gerhardt Schöneberger

Applaus  

Der Wind pfiff durch das gekippte Fenster im vierten Stock, als Eisenmann und ich die Wohnung betraten. Ein kalter Hauch strich über meinen Nacken, als würde sich der Tod selbst verabschieden. Makaber, dachte ich, während mein Blick an den Fotos an den Wänden kleben blieb. Sie lächelte in Schwarz-Weiß, umschmeichelt von Scheinwerferlicht, die Beine in einer Arabesque erstarrt – eine Ballerina, die einst ganz Europa verzaubert hatte. Jetzt lag sie vier Stockwerke tiefer auf dem Asphalt, ein zartes Bündel, um das sich bereits die Absperrbänder der Schutzpolizei schlängelten.  

„Da“, murmelte Eisenmann und deutete auf den Fernseher. Der alte Videorekorder surrte wie ein eingesperrtes Insekt, und auf dem Bildschirm tanzte sie. Federleicht, als schwebte sie, nicht stürzte. Ihr Kleid, ein weißer Nebel, wirbelte im Licht der Spotbeleuchtung. Ein Kontrast zum Leinentuch, das draußen über ihren gebrochenen Körper geworfen worden war.  

Auf dem Tisch standen zwei Kaffeetassen mit blassem Blümchenmuster, daneben eine Dose selbstgebackener Kekse. „Bitte bedienen Sie sich“, stand auf einem Zettel in zittriger Schrift. Eisenmann schenkte ein, ohne zu zögern. Der Kaffee roch nach Bitterkeit und Einsamkeit.Wir tranken aus.  

Der Abschiedsbrief lag zwischen uns, ein schlichtes Blatt Papier, das mehr erzählte als alle Akten der Welt. „Zwei Begegnungen haben mich reicher gemacht“, begann sie. Die erste: Ein Junge in einem zerbombten Kino nach dem Krieg, der ihr eine zerquetschte Dahlie schenkte, als sie hungrig und verloren vor der Ruine stand. Die zweite: Eine Pflegerin im Hospiz, die ihr jeden Abend heimlich eine Tasse Kakao brachte, obwohl das Personal streng rationierte. „Ich hatte genug“, schrieb sie. „Aber das Leben hatte keine Gnade mehr übrig.“  

Krebs, Endstadium. Die Schmerzen, die sie in den Briefzeilen nur andeutete, klangen zwischen den Zeilen. Eisenmanns Finger umklammerten die Tasse so fest, als wollte er sie zerbrechen. „Schande“, knurrte er, mehr ein Brummen als ein Wort. Über die Politik, die Menschen wie sie in die Finsternis treibt, statt ihnen eine würdige Tür zu öffnen.  

Ich trat ans Fenster, das noch immer einen Spalt offenstand. Unten sammelten sich Schaulustige wie Ameisen um einen Zuckerwürfel. Die Kollegen sicherten die Szene, ihre neonfarbenen Westen leuchteten grell gegen den grauen Asphalt. Irgendwo heulte ein Kind – oder war es der Wind?  

„Warum hier?“, fragte ich in den Raum. „Gegenüber dem Krankenhaus?“  

Eisenmann zuckte die Schultern. „Vielleicht ein letzter Trotz. Oder eine Bitte.“ Er nahm einen Keks, biss hinein, als prüfe er die Konsistenz von Verzweiflung. „Hätte sie springen müssen, wenn es einen anderen Weg gäbe?“  

Wir nickten uns zu, dieses stumme Einverständnis, das keine Worte brauchte. Die Leichenbesichtigung wartete, aber wir zögerten. In den Fotos an den Wänden lebte sie weiter: als junge Tänzerin im Rampenlicht, als Frau mit silbernem Haar, das noch immer stolz hochgesteckt war. Auf einem Bild hing ein Zeitungsausschnitt: „Ikone der 60er verabschiedet sich von der Bühne“. Der Springer-Verlag hatte damals eine Sonderausgabe gedruckt.  

Als wir hinuntergingen, blieb mein Blick an einem Spiegel hängen. Darin: unsere Gesichter, gezeichnet von zu vielen solcher Einsätze, und das offene Fenster, durch das sie ihren letzten Tanz vollendet hatte.  

„Sie trug Seidenstrümpfe“, sagte der Gerichtsmediziner später, als wir über die Leiche gebeugt standen. „Und Blumen im Haar.“ Frische Gänseblümchen, die jetzt platt auf dem Asphalt klebten.  

Eisenmann wandte sich ab. „Wie auf dem Video.“  

Im Streifenwagen, auf dem Rückweg, sagte er nichts. Aber ich wusste, was er dachte. Dass manche Tragödien nicht im Dunkeln sterben, sondern im Rampenlicht – selbst wenn es nur das kalte Blau der Polizeischeinwerfer ist.  

Blutige Zwiebeln