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Ratgeber der Mut macht Als bei Samira Mousa mit Anfang zwanzig Multiple Sklerose diagnostiziert wird, merkt sie schnell: So viel Unsicherheit, so viele Fragen – und überall kursieren Horrorszenarien ... Ja, es stimmt: MS ist unheilbar und schränkt die Lebensqualität in unterschiedlicher Stärke ein. Aber auch das stimmt: Es ist möglich, mit MS ein selbstbestimmtes Leben zu führen, der Krankheit aktiv zu begegnen und den Verlauf positiv zu unterstützen. Wie das gelingt, zeigt die erfolgreiche Bloggerin und Autorin. Sie erzählt von ihrem persönlichen Umgang mit MS und davon, wie man an einem Schicksalsschlag wachsen kann. Vor allem aber teilt sie mit ihren Leserinnen und Lesern viele Gedanken, die dabei helfen, einen konstruktiven und ganz eigenen Umgang mit der Angst und Unsicherheit zu finden. Krankheit mit 1.000 Gesichtern Multiple Sklerose ist bei keinen zwei Menschen auch der Welt gleich. Deshalb nennt man sie auch „die Krankheit der tausend Gesichter“. Samira Mousa teilt in ihrem Buch alle Erfahrungen, die sie in Bezug auf ihre Symptome gemacht hat und zeigt, wie man mit der Unberechenbarkeit der Erkrankung umgehen kann. Sie liefert eine Fülle von medizinischen Informationen, Tipps zu den Themen Ernährung, Sport, Entspannung oder Reisen. Für alle, die ein selbstbestimmtes und glückliches Leben mit MS führen möchten.
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2020
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»Fakt ist:
Eine chronische Krankheit diagnostiziert zu bekommen, fühlt sich erstmal wie ein kräftiger Tritt in die Magengegend an. Ein Tritt dahin, wo es weh tut. Der einen nach Luft schnappen lässt. Was folgt? Ein Wasserfall von Fragen, ein Strom von Ängsten und am Ende ein tiefes Loch ohne Boden. Aber ich bin davon überzeugt: Die Stärke, deine MS anzunehmen und an ihr zu wachsen, liegt bereits in dir – wir können sie gemeinsam herauskitzeln
GELEITWORT
DIE KRANKHEIT MIT DEN TAUSEND GESICHTERN – DIAGNOSE MS
Der Anfang meiner MS-Geschichte
Zwischen Schock und Hoffnung
Ein Jahr der Angst
Ich akzeptiere die Krankheit
Raus aus dem Netz aus Lügen
Ich setze alles auf eine Karte
Und heute?
Zunächst ein Schock: Die Diagnose MS
Erste Anzeichen einer MS
Neurologische Untersuchungen
Das Gedankenkarrussel
Im Krankenhaus
Zehn Dos und Don’ts direkt nach der Diagnose
Was ist Multiple Sklerose?
Die Verlaufsformen der MS
Typische MS-Symptome
Sehnerventzündung und Augenprobleme
Empfindungsstörungen: Taubheit, Kribbeln und „Ameisenlaufen“
Chronische Erschöpfung und Fatigue
Muskelkrämpfe und Spastiken
Schwindel und Störungen des Gleichgewichts
Blasenstörungen und Inkontinenz
Sexuelle Funktionsstörungen
Kognitive Störungen
Depressionen und andere psychische Störungen
Weitere Symptome
NACH DER DIAGNOSE – WIE GEHT ES WEITER?
Wem erzähle ich von meiner MS?
Soll es mein Arbeitgeber wissen?
„Mama hat MS – und jetzt?“
Hilfe einfordern und annehmen
Therapiemöglichkeiten
Schubtherapie mit Kortison
Basistherapie
Alternative MS-Therapien
Reha und Physiotherapie
Familienplanung und Partnerschaft
Kann ich mit MS Kinder bekommen?
Das schaffen wir gemeinsam: Partnerschaft und MS
MS und die Psyche
Wege aus der Grübelfalle
„Kneif mich mal!“ – eingebildete und echte Symptome
Mit gesundheitlichen Rückschlägen umgehen
Wie du trotz MS zuversichtlich bleibst
Psychotherapie bei MS
Glücklich trotz MS
GUT UND SELBSTBESTIMMT LEBEN MIT MS
MS-gerechte Ernährung
Grundlegende Empfehlungen
Häufig angewandte Ernährungsformen bei MS
Gibt es „die“ richtige Ernährung?
Antientzündliche Ernährung
Rauchen bei MS
Aktiv, gesund und ausgeglichen – mit MS
Sport
Stress – und wie du ihn reduzieren kannst
Meditation, Entspannung und Co.
Gleichgesinnte suchen
Entspannt durch den MS-Alltag: Top-10-Hilfsmittel
Trotz Einschränkungen gut leben
Hilfsmittel und Co.
Keine Angst vor Inkontinenz
Reisen mit MS
Im Ausland
Medikamente auf Reisen
Welche Reiseziele eignen sich?
Leben mit MS – drei Gründe, warum du es schaffst
1. Du wirst deine MS akzeptieren
2. Es haben schon viele vor dir geschafft
3. Du selbst nimmst der MS den Schrecken
SCHLUSSWORT
ANHANG
Wichtige Adressen
Blogs
Bücher und Filme
Krisentelefon
Liebe Leserin, lieber Leser,
was ist eigentlich Multiple Sklerose? Es gibt bereits viele wissenschaftliche Veröffentlichungen, die versuchen, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Die Forschung läuft weiter auf Hochtouren, schon heute aber können Medikamente bei vielen Patienten einen Teil der Krankheitsschübe verhindern und das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen. Multiple Sklerose ist zwar bis heute nicht heilbar, sehr wohl aber beeinflussbar.
Ärzte, Psychologen, Heilpraktiker oder Physiotherapeuten, die Krankheiten auf unterschiedliche Art begegnen, haben ein gemeinsames Ziel, und das ist die Gesundheit des Patienten. Aus ärztlicher Sicht geht es darum, eine passende Therapie zu finden, mit dem Ziel, dass es den Patienten besser geht. Für eine umfassende Betreuung bleibt im hektischen Klinikalltag aber oft keine Zeit. Hinzu kommt, dass sich in unserem digitalen Zeitalter, in dem alle mit allen verbunden scheinen, chronisch kranke Patienten trotzdem oft allein fühlen – mit ihren Sorgen und ihren Fragen: Was kann ich tun, um meine Behandlung zu unterstützen? An wen wende ich mich, wenn ich traurig und mutlos bin?
Auch Samira Mousa weiß: Die Diagnose für eine chronische Erkrankung zu bekommen, fühlt sich erstmal wie ein kräftiger Tritt in die Magengegend an. In ihrem Blog chronisch fabelhaft macht sie deutlich, dass Multiple Sklerose kein Grund ist, sich und seine Träume aufzugeben. In diesem Buch erläutert die Autorin ihren Leserinnen und Lesern, wie es möglich ist, ein aktives und glückliches Leben zu führen, und welche Faktoren dabei eine wichtige Rolle spielen. Die „richtige“ Therapie ist nur ein Teil davon. Sich zu informieren und für die eigene Gesundheit zu kämpfen, sich selbst kennenzulernen, eigene Bedürfnisse zu äußern und sich mit Menschen zu umgeben, die einem guttun, sind wichtige Teile für einen gelungenen Umgang mit jeder chronischen Erkrankung.
Professor Dr. med. Michael Sereda
Neurologe
Georg-August-Universität Göttingen (UMG),
Klinik für klinische Neurophysiologie
Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin
Die Nachricht, dass man Multiple Sklerose hat, schlägt wie eine Bombe ein und ist nicht leicht zu verkraften. Auch für mich war die Diagnose ein Schock. Welche Odyssee der Diagnose meiner MS vorausging und wie es mir in den ersten Wochen damit ging, liest du in diesem Kapitel, das dir außerdem einen Überblick über die verschiedenen Formen der MS und ihre Symptome gibt.
„Frau Mousa, noch können wir dem Kind keinen Namen geben, aber es handelt sich wohl um eine Autoimmunerkrankung. Alles deutet darauf hin, dass Sie Multiple Sklerose haben.“
MS also, zwei neue Buchstaben, die ab jetzt – so fürchtete ich – mein Leben bestimmen würden.
Stille. Wie ein dumpfer Schlag trafen mich die Worte meines Arztes, den ich ursprünglich wegen Schmerzen in den Augen und Kopfschmerzen aufgesucht hatte. Die Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf: Eine unheilbare Krankheit? Ich? Kann gar nicht sein! Ich hatte weder eine Ahnung davon, was Multiple Sklerose überhaupt ist, noch wusste ich auch nur im Ansatz, was das für mich bedeuten würde. Man sah mich traurig an, ich sah traurig und verwirrt zurück. MS also, zwei neue Buchstaben, die ab jetzt – so fürchtete ich – mein Leben bestimmen würden.
Seit diesem Tag sind über sechs Jahre vergangen. Diese Buchstaben – und mit ihnen die Krankheit – haben mein Leben zwar nicht bestimmt, aber sehr verändert. Ich möchte dir gleich verraten, dass die meisten Änderungen zum Positiven hin stattgefunden haben und dass meine Geschichte keine Leidensgeschichte ist. Ich werde dir nicht nur erzählen, warum, sondern werde dir auch viele Ideen, Anregungen und Tipps mit auf den Weg geben: auf deinen ganz eigenen, einzigartigen Weg mit deiner ganz eigenen, einzigartigen MS. Multiple Sklerose ist bei keinen zwei Menschen auf diesem Planeten gleich. Man nennt sie deswegen auch „die Krankheit der tausend Gesichter“.
Alle Erfahrungen, die ich in Bezug auf meine Symptome und meinen Verlauf gemacht habe, sind einzigartig. Genauso werden deine Symptome, dein Verlauf, dein Umgang damit einzigartig sein. Diese Unberechenbarkeit ist wohl eine der beängstigendsten Eigenschaften der Multiplen Sklerose. Als kämpfe man gegen einen Feind, der ständig die Meinung ändert – so kam es mir zu Anfang vor. Doch ich habe einen Umgang mit dieser Unberechenbarkeit gefunden. Ich möchte mein Leben nicht als täglichen Kampf gestalten, und es ist wunderbar zu wissen, dass diese Entscheidung allein in meiner Hand liegt. Ich habe gelernt, meine Ängste, meine Hoffnungen und Unsicherheiten gleichermaßen anzunehmen, und bin an ihnen gewachsen.
Die Diagnose MS trifft einen fast immer unvorbereitet. Meist wird MS im Alter zwischen 20 und 40 diagnostiziert, Frauen sind dabei deutlich häufiger als Männer betroffen. Man steht in diesem Alter meist am Anfang oder schon mitten in der Karriere, man hat Wünsche, Träume, hat so viel vor. Auch bei mir sah es nicht anders aus: Ich war damals 23, meine Abschlussprüfungen zur Veranstaltungskauffrau standen an. Eine Übernahme danach im Betrieb – einem angesehenen Club für elektronische Musik – war bereits bestätigt. Ich hegte Pläne. Ich träumte von mir als Businesslady, als starke Person, als Künstleragentin. Geschäftsreisen, schicke Hotels, teure Nachtclubs – das alles sah ich schon vor meinem inneren Auge. Da wollte ich hin, und ich würde alles dafür tun.
Ich schob zu dieser Zeit teilweise halsbrecherische Nachtschichten, gefolgt von drei oder vier Stunden unruhigem Schlaf, bevor ich wieder im Büro saß. Die Geschäftsreisen, die Hotels, die Nachtclubs flogen an mir vorbei. Ich arbeitete viel, schlief kaum, und tauchten einmal Symptome von Unwohlsein oder Erschöpfung auf, trieb ich sie mir mit einer fast militärischen Strenge aus. Weitermachen. Bloß nicht zum Stillstand kommen. Bloß nicht nachgeben, und schon gar nicht dem immer lauter flehenden Körper. Ich trieb keinen Sport, rauchte, lebte für die Nacht und genoss all dies in vollen Zügen. Nur manchmal wunderte ich mich über hartnäckige Schwindelepisoden, wenn ich besonders viel um die Ohren hatte. Doch die Ärzte beruhigten mich: Ich müsse nur mal etwas entspannen, mich auf eine Wiese legen, in den Himmel gucken. Das machte ich einen oder zwei Tage lang, als der Schwindel und die Erschöpfung zu stark wurden. Und danach ging es wieder an den Schreibtisch.
Ich schob zu dieser Zeit teilweise halsbrecherische Nachtschichten, gefolgt von drei oder vier Stunden unruhigem Schlaf, bevor ich wieder im Büro saß.
Nebenbei paukte ich für die Abschlussprüfungen als Eventmanagerin. Es war in der Berufsschule, wo ich eines Morgens das erste Mal einen starken Schmerz in den Augen spürte. Ich dachte, es läge an meiner Übermüdung, und gab nicht viel drauf. Das würde sich schon einrenken, das tat es ja irgendwie immer. Doch die Tage vergingen, und auch eine Woche später – mittlerweile hatte sich noch ein stechender Kopfschmerz im vorderen Bereich des Schädels dazugesellt – wurde ich meine Schmerzen nicht los. Jede Bewegung des Augapfels schmerzte in etwa so, als stäche man mir mit einer Nadel von hinten in die Augenhöhle. Es durchfuhr meinen Kopf wie Blitze. An diesem Tag, als ich mir doch ein paar Sorgen zu machen begann, fiel mir auch auf, dass ich plötzlich nicht mehr erkennen konnte, was der Lehrer an die Tafel schrieb. Alles schien verschwommen und doppelt. Ängstlich wandte ich mich an eine Kommilitonin, die eine Netzhautablösung vermutete. Ich bekam einen riesigen Schreck, meldete mich krank und ging zur Augenärztin. Die würde das schon richten, dachte ich mir. Ich rief auf der Arbeit an: Ich bin kurz beim Arzt wegen Kopfschmerzen, danach komme ich direkt ins Büro.
Man ließ mich einige Tests durchführen, und die Ärztin schaute beunruhigter drein, als es mir für einfache Kopfschmerzen angebracht schien. „Ich würde Sie gerne weiter zu einem Neurologen schicken“, sagte sie, als wir feststellten, dass ich die Farbe Rot auf beiden Augen anders wahrnahm. Auf dem einen Auge war Rot nämlich Orange. Das mutete mich seltsam an, irgendwie fand ich es sogar spannend: Was so etwas wohl auslösen könnte?
Beim Neurologen kam ich sofort dran – die Augenärztin meinte, ich solle sagen, es sei sehr dringend. Und so blickte ich abwechselnd mit dem rechten und dem linken Auge auf ein Schachbrettmuster, das sich bewegte. Ich wurde vom Neurologen untersucht, gepiekst, gekratzt, mit einem Reflexhämmerchen bearbeitet. Alles soweit in Ordnung, aber die Augen … „Frau Mousa, Sie müssen ins Krankenhaus. Die Leitfähigkeit Ihrer Sehnerven ist auf beiden Augen sehr unterschiedlich, Sie haben eine Sehnerventzündung.“
Der Sehnerv führt vom Gehirn zur Pupille, durch ihn werden die Bilder, die das Auge sieht, ins Gehirn geleitet. Und dort saß also eine Entzündung. Ich dachte im ersten Moment an eine Art Bindehautentzündung. Dass es sich hierbei um eine Entzündung im Nervensystem handelt oder was das bedeuten kann – das war mir trotz des Namens nicht klar. Ich wollte nur so schnell wie möglich raus, denn ich wollte ja später noch zur Arbeit fahren. „Das sollten Sie absagen“, meinte der Neurologe. „Gehen Sie nach Hause, packen Sie ein paar Sachen und dann fahren Sie bitte in die Notaufnahme. Stellen Sie sich auf einen mehrtägigen Krankenhausaufenthalt ein.“
Langsam wurde mir bewusst, dass es hier um etwas Ernsteres ging. Ins Krankenhaus? Dann muss es wirklich schlimm sein, dachte ich. Ich fuhr nach Hause, packte, sagte die Arbeit mit den Worten ab, dass ich nicht wüsste, wann ich wiederkommen würde, und fuhr zum Krankenhaus. Auf der Station für Neurologie machte man weitere Tests mit mir – wieder das Schachbrett, aber auch viele andere Untersuchungen fanden statt. Irgendwann teilte man mir ein Bett in einem Vierbettzimmer zu. Alle waren ungefähr drei- bis viermal so alt wie ich, und mir wurde mulmig: Was habe ich hier verloren?
Langsam wurde mir bewusst, dass es hier um etwas Ernsteres ging. Ins Krankenhaus? Dann muss es wirklich schlimm sein, dachte ich.
Ich bekam eine intravenöse Kortisonstoßtherapie. In den nächsten Tagen schlossen sich weitere Tests an, eine Nervenwasserentnahme aus der Wirbelsäule, ein MRT, ein CT. Ich wurde durchleuchtet wie ein Gepäckstück am Flughafen. Und dann, nach fünf Tagen, endlich ein paar Infos: Ich habe wohl eine Autoimmunerkrankung, die Multiple Sklerose heißt. Man könne es noch nicht eindeutig sagen, aber es deute alles darauf hin.
Ich war verständlicherweise äußerst verunsichert. MS, das hatte ich schon mal gehört. Was war das noch mal? Natürlich zückte ich sofort mein Handy und begann zu googeln. Eine Horrormeldung jagte die nächste: MS macht inkontinent. Bei MS wird man zum Pflegefall. MS schickt einen direkt in den Rollstuhl. MS ist schlimm, ist schrecklich, ist das Ende des Lebens so wie du es kennst. Das stand da schwarz auf weiß, und in mir breitete sich eine dumpfe, drückende, lähmende Angst aus. Würde ich nun also von heute auf morgen ein Pflegefall werden? Wegen stechender Kopfschmerzen? Die Szenarien überschlugen sich in meinem Kopf. Mein Freund wird mich waschen müssen, dachte ich. Ich werde Windeln tragen müssen wie die alten Damen, die hier mit mir im Zimmer liegen. Ich werde bettlägerig, ich werde ein Schatten meiner selbst werden.
Ich wollte mein Leben auf der Überholspur führen, reisen, mich selbst finden, Träume wagen.
Mit diesen Ängsten ließ man mich allein. Kein Pflegepersonal, das mich aufgeklärt hätte. Auch die Ärzte taten sich schwer damit, mir mehr zu sagen als: „Unter Umständen kann man mit MS durchaus ein annähernd normales Leben führen.“ Aha. Ich hatte aber keine Lust, ein unter Umständen annähernd normales Leben zu führen. Ich wollte mein Leben auf der Überholspur führen, reisen, mich selbst finden, Träume wagen.
Ich verstehe bis heute nicht, warum es niemanden in diesem Krankenhaus interessierte, was in einem solchen Moment in einer Person vorgeht. Warum wurde mir nicht zugehört? Warum gab es niemanden, der sich Zeit genommen hätte, sich mit mir hingesetzt und mir erklärt hätte, was diese Krankheit nun ist? Und was sie sein kann, aber auch nicht sein muss? Ich werde nie wissen, warum ich so hängengelassen wurde. Aber in diesem Moment begann meine Reise zu meinen eigenen Antworten, zu Techniken und zu Wissen, das mir dabei geholfen hat, ein glückliches, positives, selbstbestimmtes Leben zu führen. Und zwar immer, jeden Tag. Mit MS. Und mit so viel mehr, nämlich dem, was einen Menschen wirklich ausmacht.
Ich wurde bald aus dem Krankenhaus entlassen, ohne gesicherte Diagnose. An diesem Tag begann ein Jahr der Angst, denn man sagte mir: „Wenn es noch einen weiteren Schub gibt, dann gilt die Diagnose als gesichert.“ Ich erinnerte mich an das, was ich im Internet über Multiple Sklerose gelesen hatte, und begann, wie verrückt nach weiteren Symptomen in meinem Körper zu suchen. Mein Fuß kribbelt! Ein neuer Schub? Ich schmeiße ein Glas Wasser um – habe ich die Kontrolle über meine Hände verloren? Ich stolpere – werde ich ab morgen nicht mehr gehen können? Alles wurde plötzlich potenziell zu einem MS-Symptom. Meine Mutter, mein Bruder und ich lebten in Angst vor dem, was die Krankheit mir antun würde. Ich fiel in ein dunkles Loch, jeden Tag getrieben von der Angst, dass heute mein letzter Tag als die Person sein könnte, die ich kannte: als Samira, die es liebt zu kochen, die gerne flirtet und feiert, die sich schminkt und reist und all das macht, was eine junge Frau eben so macht.
Jeder Morgen begann mit einem gründlichen Scan meines Körpers. Jedes Telefonat mit meiner Mutter begann mit ihrer ängstlichen Frage, ob „etwas Neues“ passiert sei. Etwas, das die Diagnose sichern würde. Etwas, das mich für den Rest meines Lebens an diese zwei Buchstaben fesseln würde. Das Jahr der Angst verging, und als meine Sehnerventzündung sich jährte, wurden meine Augen wieder schlechter. Wieder dieses vertraute Ziepen, wieder die verschwommene Sicht. Als hätte mein Körper die Uhr danach gestellt, als hätte er mich absichtlich ein Jahr zappeln lassen. Ich wusste, was das hieß, und ging zum Neurologen, der ebenfalls wusste, was das bedeutete. Wir sahen uns beide traurig an. Jetzt also wirklich: Multiple Sklerose. Mit allem, was dazugehört.
Ich taumelte wie benommen nach Hause. Diesmal bekam ich die Kortisonstoßtherapie ambulant bei meinem Neurologen. Morgens um acht stand ich auf der Matte und wurde für eine Stunde an den Tropf gehängt. Dann ging es schnurstracks in die Arbeit, an den Schreibtisch, in mein Leben, das vor einem Jahr noch so wild und frei und scheinbar ohne Sorgen gewesen war. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Versuchte zu lächeln. Um keinen Preis dürfte man herausfinden, was mit mir los war! Eine chronische Krankheit, na sowas – das gehört sich ja nicht. Ich wurde, während mein Körper sich dank des Kortisons wie mit Watte ausgestopft anfühlte, auf Arbeit immer unsicherer: Ist MS ein Kündigungsgrund? Verliere ich jetzt meinen Job? Also: lieber die Zähne zusammenbeißen und immer schön lächeln. Ich vertraute mich keinem meiner Kollegen an. Auch meine Chefs erfuhren nichts von mir. Nur mein Freund, den ich in dem schweren Jahr zuvor kennengelernt hatte, meine Familie und drei, vier enge Freundinnen wussten davon. Ich tat, was ich konnte, um mein „schreckliches Geheimnis“ – so empfand ich es damals – zu verbergen.
Um keinen Preis dürfte man herausfinden, was mit mir los war.
Nach der Diagnosestellung riet man mir zu einem Medikament: Eine Basistherapie solle so früh wie möglich beginnen, damit sie ihre größtmögliche Wirkung entfalten könne. Ich konnte nun also wählen zwischen Spritzen, Tabletten oder Infusionen. Man drückte mir einen Stapel bunter Broschüren in die Hand, die Medikamentenhersteller in Arztpraxen auslegen. In diesen Heften: lachende junge Frauen, Männer mit Hunden beim Spazierengehen, glücklich strahlende Familien. Mir war weder nach Lachen zumute noch fühlte ich mich auch nur im geringsten Ansatz glücklich ob des Privilegs, nun selbst entscheiden zu müssen, welches Medikament ich nehmen würde. Keines zu nehmen stand nicht zur Debatte, hatte mein Arzt gesagt, also musste eines her. Ich entschied mich, wurde eingestellt, und die Nebenwirkungen hielten sich glücklicherweise in Grenzen.
Irgendwie war mit der Diagnosestellung und mit dem Beginn meiner MS-Therapie ein wenig Ruhe bei mir eingekehrt. Es mag befremdlich klingen, dass die Diagnose auch eine Art Erlösung für mich war – aber so fühlte es sich an. Endlich konnte ich dem Kind einen Namen geben und hatte Gewissheit. Das war sehr entlastend. Nun würde ich beginnen können, einen – meinen – Umgang mit der Krankheit zu finden. Vorsichtig traute ich mich wieder an erste Reisen heran, zögernd begann ich, meinem Körper wieder einen Hauch mehr zu vertrauen. Mit dem Medikament, so dachte ich, sei ich nun auf der sicheren Seite und könnte eigentlich so weitermachen wie vorher. Und das tat ich mit voller Wucht: Mein Arbeitspensum stieg wieder an, ich ging viel aus, schlug mir die Nächte um die Ohren. Endlich würde ich der MS zeigen, wer am längeren Hebel sitzt! Ich würde meinem Körper ganz gehörig klarmachen, dass er keine Kraft hat, mich zu kontrollieren, und dass ich – wenn schon – dann mit wehenden Fahnen und so leidenschaftlich wie nur möglich zugrunde gehen würde.
Ich rauchte weiterhin, denn das wollte ich mir jetzt nicht auch noch von der Krankheit nehmen lassen. Ich stresste mich, ich sagte unglaublich anstrengende Jobs zu. Nimm das, Körper! Die einzige Veränderung, die ich langsam in Gang setzte, war mehr sportliche Aktivität. Die MS hatte und hat bisher ja nie wirklich meine Beweglichkeit beeinträchtigt, und so gab es keine gute Ausrede, nun nicht doch mal ein wenig aktiv zu werden. Auch litt ich nicht unter Fatigue, der starken Erschöpfung, die manche Menschen mit MS empfinden. Aber im Großen und Ganzen lebte ich weiterhin auf Kollisionskurs mit meinem Körper, immer mit der bohrenden Angst im Nacken, dass ich eines Tages plötzlich doch im Rollstuhl sitzen würde.
Im Großen und Ganzen lebte ich weiterhin auf Kollisionskurs mit meinem Körper, immer mit der bohrenden Angst im Nacken, dass ich eines Tages plötzlich doch im Rollstuhl sitzen würde.
Warum die MS mich in dieser Zeit nicht mit einem erneuten Schub in meine Schranken wies? Viel Glück war dabei, denke ich, denn lange wäre es mit diesem Lebensstil wohl nicht gut gegangen. Das erste Mal spürte ich das etwa zwei Jahre, nachdem ich zum ersten Mal eine MS in Aussicht gestellt bekommen hatte. Mittlerweile hatte ich weiteren Menschen von meiner MS erzählt, und alle fragten mich, was meine Symptome seien. „Augenschmerzen und Probleme beim Scharfsehen“, sagte ich dann. Und je öfter ich diesen Satz wiederholte, desto bewusster wurde mir: Das ist zwar äußerst unangenehm, aber ich kann doch wirklich gut damit leben, oder? Mir fiel wie Schuppen von den Augen, dass das, was die Diagnose psychisch mit mir angestellt hatte, das eigentliche Problem geworden war: die ständige nagende Angst. Die Ungewissheit, wann nun das nächste schlimme Symptom auftreten würde. Und der feste, bittere Glaube daran, dass ich ganz bestimmt wahnsinnig großes Pech und den schwersten MS-Verlauf überhaupt haben würde.
Wie ein Knoten löste sich in meiner Brust langsam auf, was sich in zwei Jahren angestaut hatte. Ich spürte, wie meine Tage wieder heller wurden, wie ich langsam, aber sicher aus dem dunklen Loch hervorkam, in das man mich mit der Diagnose gestoßen hatte. Ich begann, meine sozialen Kontakte wieder mehr zu pflegen, und öffnete mich immer mehr Menschen: Ja, ich habe MS. Und ja, ich kann damit gut leben.
Je besser es mir ging, desto weniger nahm ich die MS als Bedrohung wahr. Ich überlegte: Was, wenn ich versuche, einfach die Seiten an der Krankheit irgendwie schätzen zu lernen, die mir guttun? Hatte mein Arzt nicht gesagt, es wäre wichtig, Stress zu vermeiden und sich z. B. wirklich krankschreiben zu lassen, wenn man krank ist? Das war mir davor nie in den Sinn gekommen. Er sagte auch, es sei wichtig, sich Termine so zu legen, dass man nicht von einem zum anderen hetzen müsse. Auch das klang logisch, aber an mir selbst ausprobiert hatte ich diese Tipps noch nie. Selbstfürsorge? Dieses Wort war ein Fremdwort für mich. Ich begann zögerlich, etwas netter zu meinem Nervensystem zu sein. Mich mehr zu trauen. Auch mal Nein zu sagen. Und die Ergebnisse waren verblüffend: Weder wurde ich entlassen noch verlor ich alle meine Freunde noch ging die Welt unter. Die drehte sich gemächlich weiter, während ich die ersten Lichtstrahlen am Ende des dunklen Tunnels sehen konnte. Ist es also doch möglich, mit MS aktiv zu leben? Ja sogar glücklich zu sein, auch wenn man MS hat?