Und morgen die Welt - Samira Mousa - E-Book

Und morgen die Welt E-Book

Samira Mousa

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Beschreibung

Einmal rund um den Globus - Mit Multipler Sklerose auf Weltreise Samira Mousa erhält mit Anfang zwanzig die Diagnose Multiple Sklerose. Als Reaktion darauf beschließt sie, ihren Job bei einer Berliner Musikagentur zu kündigen, startet einen erfolgreichen MS-Blog und wandert nach Santiago de Compostela. Berlin, Deutschland, ihr »altes« Leben reichen ihr schon bald nicht mehr. Sie sehnt sich nach Freiheit und Abenteuern, sie möchte leben, und zwar jetzt. Die MS ist ihr Warnschuss und so verabschiedet sie sich vom ewigen »Irgendwann mache ich das noch«, sagt ihrer Heimat Berlin Lebewohl und macht sich trotz aller Warnungen auf zu ihrem bisher größten Abenteuer: eine Reise um die Welt. Doch wird das hart erarbeitete Geld reichen? Was, wenn sich die Krankheit verschlechtert? Was, wenn sie Sicherheit und Festanstellung aufgibt, ihr Leben hinschmeißt, nur um in ein paar Monaten später pleite, gescheitert und krank zurückzukehren? Samira Mousa reist durch Europa, Asien, Amerika und wieder zurück nach Deutschland und lässt ihre Leser teilhaben an ihren Herausforderungen, Freundschaften und ihrem Weg zu sich selbst.

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Für Pablo

»Jeder menschliche Herzschlag, hatte er oft gesagt, ist eine ganze Welt voller Möglichkeiten. Und es schien mir, als verstünde ich nun zu guter Letzt, was er damit gemeint hatte. Er hatte mir sagen wollen, dass jeder menschliche Wille die Kraft in sich trägt, sein Schicksal zu gestalten.«

Aus: Shantaram von Gregory David Roberts

Inhalt

TEIL 1: AUFBRUCH

Ankunft im Regen

Anjas Anruf

Katerstimmung

Kein Kuss für Sun

Healing House

Augen der Einsamkeit

Herrlich festgeklebt

Bis hierhin und nicht weiter

TEIL 2: WACHSTUMSSCHMERZ

Zeitzonenwechsel

Corazón Mexicano

Die Bar Jardín – oder was von ihr übrig ist

Anpacken

Vallenato

Der Rohrbruch

Von Menschen umgeben und doch allein

TEIL 3: VERÄNDERUNG

Frito! Frito! Frito!

Planänderung

Panik

Das Penthouse

Es riecht nach Europa

TEIL 4: ANKUNFT

Casa Gaia

Zu gut, um wahr zu sein?

Abflug

NACHWORT

TEIL 1 AUFBRUCH

Ankunft im Regen

Das Klingeln meines Weckers bahnt sich seinen Weg in meinen Traum. Erst bemerke ich ihn kaum, ein kleines Störgeräusch, zu vernachlässigen. Nach wenigen Millisekunden aber pocht er so laut an mein Trommelfell, dass ich von einem Moment auf den anderen wach bin wie eine Katze auf nächtlicher Pirsch.

Ich haue auf den Alarmknopf des Weckers und taste neben mir in der Dunkelheit herum, auf der Suche nach einem Lichtschalter. Mats schläft neben mir, er hält meinen Fuß in seiner Hand. Wie in jeder Nacht, die wir zusammen verbringen. Ich schalte das Licht an und werfe einen Blick auf die Anzeige des Weckers. Kurz vor fünf Uhr morgens. Showtime. Heute geht es los.

Acht Monate Weltreise liegen vor mir wie ein großes Geschenk, auf dessen Öffnung ich 28 Jahre gewartet habe. Viel zu lang. Endlich ist es so weit, endlich darf ich die Bänder lösen und diese verheißungsvolle Zukunft auspacken, die, da bin ich mir sicher, dort draußen auf mich wartet. Ich muss hier weg, weit weg, weg aus Berlin, weg aus Deutschland, raus aus dem tristen Oktobergrau, das sich unbarmherzig und kalt gegen das Fenster drückt.

Wie ein Korsett habe ich in den letzten Jahren plötzlich die Enge gespürt, in die mein Leben, mein Umfeld, meine Verpflichtungen und meine Krankheit mich eingesperrt haben. Ich habe seit fünf Jahren Multiple Sklerose. Ich habe seit zehn Jahren Fernweh. Ich arbeite seit acht Jahren in der Berliner Technoszene, seit zehn Jahren hinter Bars – und seit zwei Jahren an mir. An meinem Inneren. Die Diagnose MS riss für mich ein Loch im Boden auf, in das ich unbarmherzig und hart hineingestoßen wurde. Freifall mit Anfang zwanzig. Lange versuchte ich, den Schmerz, die Unsicherheit, die betäubende Angst zu verdrängen. Ließe ich die Krankheit nicht an mich heran, würde ich, so dachte ich, auch nichts von ihr merken. Ich hatte falsch gedacht. Einige Jahre blieb ich unberührt von der Multiplen Sklerose, machte weiter wie zuvor, lebte für meinen Job und mit der Angst und dem ständigen Versteckspiel. Doch irgendwann kam der nächste Krankheitsschub, der mich aufweckte. Auf einmal spürte ich die harten, kalten Streben des Hamsterrads, in dem ich mich täglich abrackerte, ganz deutlich unter meinen Füßen. Plötzlich begriff ich, dass ich nicht für mich, sondern für eine Firma arbeitete und dass das einzige Ziel dieser Arbeit war, weiter die Karriereleiter hinaufzusteigen, um noch mehr und »wichtigere« Arbeit zu bekommen. Ich hatte mir freiwillig eine Möhre vor die Nase binden lassen und war wie versessen hinter ihr hergerannt. Jeden Tag.

Bis heute. Bis jetzt.

Jetzt ist aufstehen angesagt, denn sonst hebt mein Flieger nach Bangkok ohne mich ab. Ich ziehe meinen Fuß vorsichtig aus dem Griff meines Freundes, schlüpfe aus dem Bett und schleiche in die Küche. Draußen herrscht absolute Stille, oder eben so viel Stille, wie man sie in Berlin-Friedrichshain bekommt. Irgendwer ist außer mir noch wach im Haus, ein Wasserkessel pfeift, der Ton wird hundertfach von den Wänden des Innenhofes zurückgeworfen. Wer zur Hölle benutzt heutzutage noch Wasserkessel, frage ich mich, während ich auf den Knopf von Mats’ übergroßer vollautomatischer Kaffeemaschine drücke, mit der ich mir seit Jahren einen kleinen Kampf liefere. Heute zeigt sie sich kooperativ und tut, was sie soll: Kaffee machen. Starken Kaffee für einen langen Tag. Schwarz wie die Nacht vor dem Fenster, die noch nicht weichen will. Mats hat nie Milch zu Hause. In Asien gibt es eh kaum Milchprodukte, schießt es mir durch den Kopf, während ich auf das heiße Getränk puste und noch mal im Kopf mein Gepäck durchgehe. Es besteht zu zwei Dritteln aus Medikamenten. Während meine gesamte Kleidung für den Trip in einen Packwürfel passt, der in etwa die Größe eines Tetra Paks aufweist, muss ich mit den bunten Pillen, die mich beim Kampf gegen die MS unterstützen sollen, echt Tetris spielen. Hier noch eine Blisterpackung reingestopft, da auch noch eine. Und noch eine in die Mappe mit den wichtigen Dokumenten gesteckt. Nur für den Fall.

»Weltreise mit MS? Samira, du bist wahnsinnig. Was da alles passieren kann!« Während ich meinen Kaffee austrinke und mich ein letztes Mal an meinem kleinen Handgepäcksrucksack zu schaffen mache, schießen mir die Kommentare meiner Freunde durch den Kopf. Wahnsinnig, bin ich das? Ängstlich, das bin ich gerade. Doch der Schmerz, den mir das Fernweh bereitet, ist größer als die Angst. Größer als die MS. Ob das reichen wird? Wird ein Schmerz, ein unbestimmter Drang, genug sein? Ich habe alles aufgegeben. Meinen Job gekündigt. Ich habe meine Wohnung untervermietet, meinen Kleiderschrank ausgeräumt und seinen Inhalt im Keller verstaut. Was ich jetzt noch habe, passt in meinen 36-Liter-Rucksack. Außerdem habe ich nun vor allem eines: Zeit. Und eine für mich gerade ausreichende Menge an Plänen. Und das war’s dann auch schon.

»Musst du nicht langsam los?« Mats ist aufgestanden und steht mit leicht zusammengekniffenen Augen vor mir im Flur. Wie schafft er es nur, schon um diese Uhrzeit so glatt und schön auszusehen, als käme er gerade aus der Sauna statt aus dem Bett? Seine Augen in der Farbe von dunklem Mahagoni werden von kräftigen Augenbrauen betont. Er hat hohe Wangenknochen und einen unregelmäßigen Dreitagebart. Über seiner sinnlichen Oberlippe prangt seit Neuestem ein kleiner Schnurrbart, der ihn aussehen lässt wie einen Gentleman direkt von der Titanic. Ich selbst habe zwar vor ein paar Minuten versucht, meine Haare etwas zu bändigen, doch in der von der Dusche feuchten Luft im Badezimmer hat es keine Minute gedauert, bis meine Locken sich wieder ringelten, als hätte ich mit nassen Fingern in eine Steckdose gefasst.

»Ja, ich weiß«, sage ich. »Ich habe Angst.«

Langsam kommt Mats näher und nimmt mich in den Arm. Wenigstens sein schwerer Atem verrät, dass er gerade noch geschlafen hat. »Ich werde dich vermissen«, sagt er.

Ich werde dich auch vermissen, denke ich. »Ich muss los«, sage ich. Wir lösen uns voneinander und schauen uns eine Weile an, wie bei einer traurigen Version von »Wer zuerst blinzelt«. Ich blinzle zuerst.

»Na komm, lass uns noch einen Kaffee zusammen trinken«, sagt Mats und geht in die Küche, aus der sofort das mechanische Rattern seines Kaffeemaschinenmonsters erklingt. All diese kleinen Dinge, die unseren Alltag sonst wie selbstverständlich füllen, erscheinen mir heute … rührend. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht beim Anblick meines Freundes in Socken und Unterwäsche in Tränen auszubrechen. Das wäre nicht fair – uns beiden gegenüber. Anderthalb Monate werden vergehen, bis wir uns wiedersehen werden. Anderthalb Monate, die wir beide als intensive Wachstumsphase für uns selbst nutzen wollen, um danach noch mehr am anderen, an unserer Beziehung zu haben. Sie ist gut, unsere Beziehung. Solide, aufregend, spontan. Liebevoll. Ich liebe diesen Mann.

»Ich liebe dich«, sagt er wie aufs Stichwort und setzt sich mit seinem Kaffee mir gegenüber an den Tisch. »Keine Eifersucht«, fügt er hinzu.

»Keine Eifersucht«, wiederhole ich und berühre unterm Tisch seine Sockenfüße mit meinen. Anderthalb Monate.

Als ich am S-Bahnhof in den Flughafenbus umsteige, geht hinter den rauchenden Schornsteinen des Westhafens gerade langsam die Sonne auf. Mir ist kühl, trotz der leichten Outdoor-Jacke, die ich trage. Sie ist das Abschiedsgeschenk, das ich bekam, als ich die Künstleragentur verließ, in der ich zuvor gearbeitet hatte. Ich weiß, dass man mich dort nicht gern gehen ließ. Ich musste meine Euphorie fast verbergen, das Gefühl der Erleichterung, als ich an meinem letzten Tag im Büro den Laptop zuklappte. Natürlich habe ich meinen Job geliebt. Die Agentur gehört zu einem prestigeträchtigen, alteingesessenen Technoclub in Berlin. Elektronische Musik hat seit meiner späten Jugend mein Ich, meine Interessen und mein soziales Umfeld geprägt. Nicht selten begannen meine Wochenenden am Donnerstag und endeten Montagabend, nur unterbrochen von ein paar Stunden unruhigem Schlaf und Laugenbrezeln. Das war meine Welt, mein Alles – das war ich. Ich war ein Teil der Berliner Szene, die ich vergötterte, als bedeute ich ihr genauso viel wie sie mir. Dass das nicht der Fall war und dass die Protagonistinnen in ihr so austauschbar sind wie die Speichen eines Rades, war eine der schmerzhaftesten Erkenntnisse überhaupt, die mich erst traf, als ich anfing, professionell in diesem Feld zu arbeiten. Plötzlich war Techno, waren Partys nicht mehr Exzess, Spaß und stundenlange sinnlose Gespräche. Mit einem Mal ging es um Deals, Macht, Break-evens und Sales. Ich lernte – und ich war gut darin. Ich gab, was ich konnte.

Dann kam die Krankheit, und von einem Tag auf den anderen hatte ich, so glaubte ich, ein schreckliches Geheimnis zu hüten. Auch darin war ich gut. Denn trotz meiner Krankheit gab ich weiterhin alles. Ich flog geschäftlich nach Tel Aviv, nach Panama und Kolumbien, in die Türkei, nach Beirut. Barcelona, London, Amsterdam. Im Koffer CDs unseres Labels, Kopfschmerztabletten für den Morgen danach und, versteckt ganz weit unten, meine MS-Basistherapie. Plötzlich übernachtete ich in Viersternehotels und flog nur noch Star Alliance. Ich aß in teuren Restaurants und lernte, wie man sich die Stoffserviette richtig über den Schoß legt, dass man das Besteck von außen nach innen benutzt und wie man Scampi mit dem Messer aus der Schale pellt. Ich lernte, die höchstmögliche Gage auf Deutsch, Englisch und Spanisch auszuhandeln. Ich verstand, was man sagen und was man nicht sagen durfte. Meistens landete ich dann sonntagabends, erschöpft von der Arbeit auf den internationalen Events, zurück im vertrauten Grau Berlins, schleifte meinen Hintern ins Bett und kam vor Dienstag nicht mehr heraus. Je mehr sich die Seiten meines Passes mit Stempeln aus fernen Ländern füllten, die zu bereisen immer mein Traum gewesen war, desto leerer fühlte ich mich. Denn ich sah diese Länder nicht. Ich erlebte sie nicht. Ich setzte einen kleinen Zeh auf ihren Boden, bis es am nächsten Tag weiterging: in die nächste Stadt, auf die nächste Party. Ja, wie war Panama City, wie war Bogotá denn? Ich hätte es nicht sagen können. Ich wusste es nicht. Es fühlte sich an, als tanzte mein Traum vom Reisen, vom Weltenbummeln, von der Karriere vor mir her. Das war mir nicht genug. Ich musste aufhören, Länder zu konsumieren, und anfangen, sie zu genießen.

»Wir bitten alle Passagiere des Flugs EW765 nach Bangkok, sich zum Boarding zu Gate C37 zu begeben!«, tönt es aus den Lautsprechern. Ich bin mittlerweile am Düsseldorfer Flughafen. Um mich herum bricht diese ulkige Abflugshektik aus: Dickbäuchige Männer, die jetzt schon so braun gebrannt sind, als lebten sie in Thailand und nicht in Deutschland, schieben ihre Wampen in Richtung Gate. Ihre nervösen Ehefrauen haben säuerliche Mienen. Kinder quengeln in den Armen ihrer Mütter. Bitte lass sie nicht neben mir sitzen, denke ich unwillkürlich. Ich bin – sagen wir es mal so – kein großer Fan von Kindern. Und noch weniger von lauten Kindern.

Wir steigen ein, und meine Sorge bleibt unbegründet: Die Babys halten Sicherheitsabstand. Dafür sitzt neben mir ein junger Mann mit blonden Haaren. Er hat sie zu einem Dutt hochgebunden und trägt einen rötlich schimmernden Dreitagebart. Das ist sicherlich so ein Typ, der alles tausendmal besser weiß. So ’n blöder deutscher Besserwisser-Backpacker. Hoffentlich lässt er mich in Ruhe, schießt es mir durch den Kopf. Wenn ich auf meinen Geschäftsreisen eines gelernt habe, dann das: Nichts ist schlimmer als erzwungene Kommunikation auf einem Langstreckenflug. Small Talk ist nämlich nur dann entspannt und easy, wenn er schnell wieder vorbei ist und man nicht über mehrere Stunden angegurtet nebeneinandersitzt.

»Hey, I’m Martin«, sagt mein Sitznachbar prompt, bevor ich mir meine Kopfhörer aufsetzen kann. Er streckt mir die Hand hin, die wie sein Kinn und seine Unterarme von rotem Haar überzogen ist.

»I’m Samira«, antworte ich und bin erstaunt, dass es sich bei ihm doch nicht um einen Deutschen handelt.

»Ich komme aus den USA«, sagt er lachend, als er mir meine Verwunderung ansieht. Mist. Bei den meisten Amis, die ich kenne, ist ein unbändiges Mitteilungsbedürfnis vorprogrammiert … Ich entschuldige mich und sage ihm, ich sei müde. Schnell setze ich meine Kopfhörer auf. Sorry, Man.

Ich muss tatsächlich eingenickt sein. Hastig fummle ich mir die Kopfhörer von den Ohren. »Was ist los?«, frage ich Martin, der mich mit einer sanften Hand auf meiner Schulter geweckt hat.

»Nichts«, grinst er. »Aber es gibt was zu essen! Ich dachte mir, du hast bestimmt Hunger.«

Oh, Martin. Du guter, guter Mensch. Ich habe dich falsch eingeschätzt. Dankend drehe ich mich zum Gang und sehe den verheißungsvollen Wagen mit den Tabletts näher kommen. Ich habe tatsächlich so großen Hunger, dass es mir egal ist, dass die Nudeln in einer undefinierbaren Soße schwimmen und nach Pappe mit Ketchup schmecken.

»Hab ich es mir doch gedacht«, sagt mein rotbärtiger Sitznachbar, während auch er es sich, so gut es eben geht, schmecken lässt. »Wohin reist du weiter?«, fragt er mich.

»Ich fliege gleich weiter nach Chiang Mai«, lautet meine Antwort. »Dort habe ich vor, an meinem Buch zu arbeiten«, erzähle ich ihm. Außerdem: Yoga, gutes Essen, Meditation, Ausflüge. Fahrrad in den alten Straßen fahren, Anschluss finden, vom Laptop aus arbeiten. Einfach leben.

»Echt? Ich liebe Chiang Mai! Ich hab selbst mal vier Jahre dort gewohnt«, fällt er mir begeistert ins Wort. »Aber Fahrrad fahren? Nee. Lass das mal lieber, das ist da echt gefährlich.«

Na, endlich packt er den erwarteten Erklärbär aus, denke ich mir. Doch während sich zwischen uns ein tatsächlich interessantes Gespräch entwickelt, entspanne ich mich langsam. Er scheint ganz einfach das zu sein, was ich ihm aus einem unerfindlichen Grund nicht zugetraut habe: ein guter Kerl. Und das Beste: Er ist in zwei Wochen auch in Chiang Mai!

»Du musst unbedingt im Healing House vorbeikommen«, sagt er. Dort, erklärt er mir, habe er damals gewohnt. Ein Haus am Rande der Altstadt, in dem, so sagt er, Menschen ihr Seelenheil fänden.

»Klingt wie eine Sekte …«, sage ich.

Er lacht, warm und weich und gar nicht aufgesetzt. »Nein, keine Sekte. Es ist einfach ein wunderbarer Ort. Menschen öffnen sich dort, sie teilen ihre Ängste und Träume und ihre dunklen Gedanken. Vor allen anderen. Jeden Freitag findet dort ein Open Mic statt. Was da passiert – das ist Magie.«

Ich habe auch Lust auf Magie, und wir tauschen Nummern aus. Als das Flugzeug mit einem leisen Rumpeln auf der regennassen Landebahn aufsetzt, bin ich fast traurig, dass ich nicht früher den Kontakt zu Martin gesucht habe. Ich bin froh, dass er mich nicht ohne ein Wort hat davonkommen lassen. Wie gut, dass er durch meinen hart antrainierten Schutzwall aus Arroganz und Unsicherheit gestochen hat, um mal zu schauen, was für eine Samira wirklich dahintersitzt. Er hat mich geknackt wie eine Nuss, die sich in ihrer harten Schale schon lange nicht mehr wohlfühlt. Thank you, Martin.

An der unübersichtlichen Passkontrolle in Bangkok verlieren wir uns recht schnell aus den Augen. Doch ich weiß: Wir werden uns wiedersehen.

Der Weiterflug nach Chiang Mai verläuft ohne Probleme. Unter mir erstrecken sich zwischen grauen Wolkenfetzen die dunkelgrün bewaldeten Berge. Sie werden von der Sonne in goldenes Licht getaucht, und ich fühle mich so aufgeladen vor Glück, als würden diese Strahlen direkt in mich hinein und durch mich hindurch scheinen. Immer noch kann ich es kaum fassen: Ich habe mich wirklich getraut. Ich habe all meinen Mut, meine Hoffnung und das Quäntchen Naivität, das mir die MS noch nicht genommen hat, in einen Topf geschmissen und bin losgeflogen. Habe ich Angst? Natürlich. Aber es ist eine gute Art von Angst. Die Art von Angst, die einen befällt, bevor man vom Zehn-Meter-Turm springt. Denn man weiß, wie stolz man auf sich sein wird, nachdem man sich nur getraut hat. Meine Diagnose vor fünf Jahren war mein Weckruf, mein Sprungturm. Und nun breitet sich mein Abenteuer vor mir aus wie ein unendlich tiefer See. An seinen mir noch unbekannten Ufern werden mein Geist und meine Seele wachsen können. Ich werde dort wachsen können. Das habe ich mir fest vorgenommen.

Es ist bereits später Nachmittag, als wir über der größten Stadt im Norden Thailands durch die sich immer mehr zusammenziehende graue Wolkendecke stoßen und uns langsam der Landebahn nähern. Wir setzen mit einem sanften Ruck auf, und kurz darauf stoppt das Flugzeug. Alles um mich herum beginnt zu wuseln, zu packen und zu räumen. Ich selbst habe ja nur mein kleines Handgepäck und lehne mich entspannt zurück. Aufkommender Regen schlägt gegen das Fenster neben meinem Sitz. Der ganze Flughafen scheint im Nebel zu versinken, und ich gebe mir Mühe, mich davon nicht runterziehen zu lassen.

Endlich, nachdem auch ich das Flugzeug verlassen und die Passkontrolle hinter mich gebracht habe, stehe ich draußen vor dem kleinen Flughafengebäude. In der tropischen Hitze, die hier trotz des grauen Wetters herrscht, fühlt es sich an, als besprenkelte man mich mit Badewasser. Während sanfter Nieselregen auf mich niederstiebt, suche ich mir ein Taxi und springe hinein. Die Adresse meiner Unterkunft scheint nicht weithin bekannt zu sein, und so quälen wir uns im Schneckentempo und bei mittlerweile strömendem Regen durch die trostlosen Straßen. Über uns ziehen sich Stromkabel dahin, gespannt zwischen Strommasten, die unter der Last der an ihnen befestigten Kabelmengen einzuknicken drohen wie Streichhölzer. Ich habe mir online eine Unterkunft gemietet, ein Einzelzimmer in einem Gasthaus. Dort, so hoffe ich, werde ich die perfekte Mischung aus Gesellschaft und Privatsphäre finden.

»Du willst hin dort? Sicher?«, fragt mich der Taxifahrer mit einem Stirnrunzeln.

Ich deute das als schlechtes Zeichen. »Ja, genau, zu der Adresse. Wieso? Ist das so unüblich, dorthin zu wollen?«

Der Taxifahrer fängt an, leise zu lachen. »Nein, ist okay, ist okay. Du sehen, es ist okay«, brabbelt er vor sich hin. Jetzt bin ich wirklich verunsichert.

Der Regen wird immer stärker, wir fahren quasi durch einen Wasserfall hindurch. Die Scheibenwischer dienen mittlerweile nur noch dem guten Ton, haben aber sonst keinerlei Wirkung. Zu viel Wasser. Ich fühle mich wie in einem U-Boot, der Regen ist so laut, dass er die Welt, die sich außerhalb des Autos abspielt, komplett übertönt und meinen Kopf ganz ausfüllt. Wir surfen quasi die Straße entlang, bevor das Taxi endlich vor einer kleinen Einfahrt hält. Nichts deutet auf ein Gasthaus hin. »Aussteigen!«, sagt der Taxifahrer barsch. Ich zahle, ziehe schnell den Regenschutz über meinen Rucksack und gehorche. Plötzlich erkenne ich eine kleine Gestalt, die durch den Regen auf mich zukommt. Es ist eine alte Dame, deren Gesicht einer Rosine gleicht: Tiefe Falten führen von Nase, Augen und Mund zum Kinn. Doch sie lächelt, und in der Hand hält sie einen Regenschirm. Trotz meines Protests schiebt sie mich darunter und läuft selbst durch den Regen. Ein kurzer Fußweg führt uns um das Haus herum auf den Hinterhof, wo ein weiteres niedriges Gebäude steht. Es ist aus dunklem Holz gebaut, das nass vom Regen glänzt wie ein polierter Flügel.

Die Frau redet in schnellem, leisem Thai auf mich ein, während ihre kleinen Augen mich aus ihren tiefen Höhlen anfunkeln wie kleine schwarze Käfer. Ihre Haare liegen klatschnass an ihrem Kopf an, doch sie scheint sich daran nicht zu stören. Dennoch deutet sie meine flehenden Blicke in Richtung Türschloss richtig und lässt mich endlich hinein. Schnell schließt sie die Tür hinter uns, und es umfangen uns zugleich Dunkelheit und Stille. Diese ist im Gegensatz zum vorher herrschenden Straßenlärm so intensiv, dass ich unbewusst flüstere, als ich nach meinem Zimmer frage. Als Antwort schaltet die Dame das Licht an und führt mich unter emsigem Getrappel ins Obergeschoss. Das ganze Haus wirkt eingestaubt und verlassen. Wie lange hier wohl schon keine Gäste mehr übernachtet haben? Meinen Unmut lasse ich mir nicht anmerken, als die Frau mir mein Zimmer zeigt und von einem Ohr zum anderen grinst. Wieder erhalte ich alle nötigen Infos in mir unverständlichem Thai. Ich nicke höflich und trete ein. »WiFi?«, frage ich noch. »Oooh! No WiFi! Broken!«, lächelt die Frau. Meine böse Vorahnung bestätigt sich also. Denn wenn ich eines wirklich dringend zum Arbeiten brauche, dann ist es WLAN. Seit drei Jahren arbeite ich nun daran, mir ein Geschäftsmodell aufzubauen, mit dem ich überall auf der Welt arbeiten kann. Schreiben in Thailand, Bloggen in Kolumbien, Beratungen von der Strandhütte in Mexiko aus: Das alles ist kein Problem für mich. Wenn es denn Internet gibt. Dieses schreiben sich die meisten Hotels zwar auf die Fahne, doch oft findet man es schlicht und einfach nicht vor – so wie hier.

Ich schnaube, nehme den Schlüssel entgegen und versuche mir noch ein halbwegs freundliches Dankeschön abzuringen. Die Dame trippelt von dannen, und ich höre, wie unten die Tür ins Schloss fällt. Prompt umgibt mich wieder diese gedämpfte Stille, unterbrochen nur vom Geräusch des Regens, der unermüdlich gegen die dünnen, gewellten Fensterscheiben prasselt, und dem leisen »Pock pock pock« der Wassertropfen, die von meinem Rucksack auf den Holzboden fallen. Es ist wirklich herrliches Holz: Der Boden, das Dach und die Balken, die es halten, sind aus alten, dunklen Bohlen gefertigt, die wie die nächtliche Oberfläche des Meeres glänzen. Ich fahre mit meinen Händen darüber, möchte es fühlen, möchte ankommen. Ich spüre die alten Risse, die Unebenheiten, den Staub. Diese Art von Haus steht hier oft schon über hundert Jahre. Mit einem Mal ist es mir richtig unangenehm, die typische Deutsche zu sein, die sich wegen des Schmutzes und des fehlenden Internets beschwert. Ich widerstehe dem Impuls, der kleinen Dame nachzulaufen, um mich bei ihr zu entschuldigen, und schaue mich in meinem Zimmer um.

Bastmatten liegen auf dem Boden, an der Wand steht ein schmales Einzelbett. Daneben ein kleiner Hocker aus demselben Holz, mit Schnörkeln verziert. Sonst nichts. Ich stelle meinen Rucksack in eine Ecke, schäle mich endlich aus den viel zu warmen Kleidungsstücken, die ich vor vielen Stunden in Berlin angezogen habe, und lege mich probeweise aufs Bett. Es ist herrlich hart, genau so, wie ich es mag. Die Laken riechen gut, irgendwie warm und trocken. Ihr Geruch vermischt sich mit dem deutlichen Heugeruch, den die Bastmatten auf dem Boden verströmen, zu einer beruhigenden Duftmischung. Sie lässt mich entfernt an die Tage denken, an denen meine Mutter mit meinem Bruder und mir ins Berliner Umland gefahren ist, um dort auf dem Heuboden einer Scheune, die zu einem Kinderbauernhof gehörte, zu spielen. Danach waren wir immer völlig erschöpft, aber auch glücklich. Wir aßen Stockbrot am Feuer, während unsere Wangen glühten und die Nacht sich um das knisternde Lodern der Flammen schloss. Das Entfernen der pikenden Strohhalme, die überall in unserer Kleidung steckten, würde meine Mutter wieder einige Stunden Arbeit kosten. Sie hatte es nicht leicht, so ganz allein mit zwei Kindern. Nie hatten wir Geld, nie hatten wir Überfluss. Aber wir hatten ja uns.

Ich starre an die Decke, die ebenfalls mit Bastmatten bedeckt ist, und lasse mich treiben. Eingehüllt in den Geruch meiner Kindheit, in den Geruch des thailändischen Waschmittels und mit dem stetigen Klopfen des Regens an die dünnen Scheiben im Ohr döse ich ein.

Anjas Anruf

Als ich Stunden später völlig orientierungslos und verwirrt aufwache, habe ich einen Riesenhunger. Ein Blick nach draußen verrät mir, dass der Regen sich mittlerweile gelegt hat. Nun ist der Weg gesprenkelt von großen Pfützen, in denen sich immer wieder für Sekundenbruchteile das Licht der vorbeifahrenden Motorroller und Tuk-Tuks spiegelt. Ich fühle mich klebrig und matt. Auch ein bisschen allein. Aber gut. So, so gut. Da draußen liegt es, das Abenteuer, für das ich so lange gekämpft habe. Für das ich nach der Arbeit noch unzählige Stunden zu Hause am Laptop gesessen, Bücher durchgewälzt, Webseiten durchforstet und mir einen massiven Druck gemacht habe. Dieser löst sich nun – zumindest für einen kleinen Moment. Denn die wahren Herausforderungen, die stehen mir noch bevor. Das weiß ich.

Vorsichtig, um auf den glatten Stufen nicht auszurutschen, schleiche ich ins Bad. Immer noch bin ich komplett allein. Durch das fehlende Internet fühle ich mich wie abgeschottet von der Welt, die da draußen vor den Holzmauern doch so laut und einladend tobt. Ja, ich komme, denke ich und stelle mich unter die Dusche. Der Wasserstrahl, der sich aus ihr ergießt, ist eiskalt wie ein Bergbach. Er küsst meine Haut, meinen Kopf und meinen Geist wach. Hurtig springe ich aus der Dusche und rubbele mich trocken. Ich habe eine Gänsehaut. Ein Blick in den Spiegel. Eine klein gewachsene junge Frau mit einem runden Gesicht sehe ich da. Etwas blass ist sie. Die braunen Haare hängen ihr nass in die Stirn und wirken fast schwarz in dem schummrigen Licht. Die Augen, meine Augen, schauen mich an. Erwartungsvoll. Gespannt. Bereit, sich diese ganze verdammte Stadt, ja dieses ganze verdammte Leben endlich selbst unter den Nagel zu reißen.

Während ich mich anziehe, klopft es unten an der Tür. Ich schlüpfe schnell in das lange, leichte Kleid mit dem schwarz-weißen Muster, das mir für meinen ersten Abend angemessen erscheint, und laufe hinunter, um zu öffnen. Die kleine Rosinendame steht wieder da. Wieder breit lächelnd hält sie mir einen Zettel hin, auf den eine Nachricht gekritzelt wurde. Ich nehme ihn entgegen, und die Frau legt ihre Hände vor der Nase zu einem wai zusammen. Diese typische thailändische Geste wird mir noch oft begegnen. Sie kann vieles bedeuten: einen Gruß, eine Entschuldigung, ein Dankeschön. Je nach Höhe der aneinandergelegten Hände gibt sie auch Auskunft über den sozialen Status der begrüßten Person. Ein wai auf Brusthöhe wird meist verwendet, wenn zwei Menschen sich noch nicht kennen oder wenn das Gegenüber den gleichen sozialen Status innehat wie man selbst. Den wai auf Gesichtshöhe bekommen farangs, wie Ausländer hier genannt werden, oft zu sehen – er wird angewendet, wenn man etwas an einem Marktstand kauft, wenn man Fotos macht, wenn man einfach freundlich und offen ist. Der wai über der Stirn ist Mönchen und Buddhastatuen sowie dem Inneren von Tempeln vorbehalten. Beim Beten lehnen sich die Gläubigen dreimal nach vorn, mit den zusammengelegten Händen über dem Kopf. Die Handflächen werden in der Vorbeuge geöffnet und berühren den Boden. Natürlich weiß ich all das in diesem Moment noch nicht, und so lächle ich die Frau einfach nur vergnügt an und bedanke mich für die Nachricht. Während die Rosinendame zwischen den immer wieder aufblitzenden Pfützen davontrippelt, setze ich mich mit dem Stück Papier an den Tisch in der kleinen Küche im Erdgeschoss. Die Tür lasse ich offen, um den Abendwind, der hier leise weht, und mit ihm die Gerüche und Geräusche von draußen endlich hereinzulassen. Ich lade sie ein, mich abzuholen.

Ich falte den feucht gewordenen Brief auf. Er stammt von Sun, meinem Vermieter, mit dem ich vor meiner Anreise auch schon lockeren Kontakt gepflegt habe. Er scheint sehr nett zu sein und spricht passables Englisch. »Sorry Samira, dass ich hier nicht so sein konnte als du angekommen«, steht da. »Ich arbeiten. Morgen wenn willst du ich kommen und ich zeigen dir alles. Mit Internet gerade kaputt aber ich machen gut. Morgen. Dein Sun.«

Nachdem ich die Nachricht gelesen habe, hole ich meinen kleinen Rucksack und trete damit hinaus. Ich habe seit Stunden nichts gegessen und spüre neben dem Drang nach Nahrung auch das Verlangen, endlich zu sehen, wo ich hier gelandet bin. Die viel befahrene Straße vor dem Haus führt mich in Richtung Altstadt. Ich selbst wohne am Rand dieses Bereiches, der wohl der touristischste und am besten erschlossene ist. Immer wieder laufen Menschen an mir vorbei, die Karren ziehen oder schieben, von denen köstliche Gerüche aufsteigen: Ingwer, Zitronengras, brennender Chili, der mich husten lässt, sobald ich sein Aroma einatme. Die Menschen starren auf den Boden, sind angespannt unter der Last ihrer Wagen. Doch manchmal hebt sich hier und da ein Blick, der mich neugierig mustert. Chiang Mai ist zwar eine recht touristische Stadt, aber auf meinem Weg ins Zentrum ist mir noch kein anderer Reisender begegnet. »Sawatdee kha«, sage ich und lächle die mir entgegenkommenden Händler an. Manch ein Mund öffnet sich, den Gruß erwidernd, zu einem zahnlosen Grinsen.

Am Ende der Straße explodieren das Licht und die Gerüche zu einem wahren Feuerwerk: der Nachtmarkt am Southgate. Hier reihen sich Stände jeder Farbe und Größe aneinander. Daneben schlängelt sich der träge, die Altstadt umgebende Fluss, Mae Nam Ping, aus einem Tunnel heraus. Das metallene Geräusch der Kellen in den Woks der Garküchen, das klingt, als schlüge man mit einem Ast gegen eine Regenrinne, lockt mich genauso wie die Aromen, die hier in der Luft liegen. Mir bekannte und mir völlig fremde Zutaten werden über Gasfeuern erhitzt, blitzschnell von Köchinnen umgerührt und dann mit einer routinierten Bewegung auf einen Plastikteller manövriert. Zu hungrig, um lange über meine Wahl nachzudenken, entscheide ich mich für den erstbesten Stand. Neugierig blicke ich auf die Teller der Menschen, die um mich herum ihr Essen herunterschlingen: Gemüse, Reis, Chilis. »Ich hätte gern das Gleiche!«, sage ich zu der Frau hinter dem Wok und deute verstohlen auf den Teller meines Nachbarn. Sie nickt abgeklärt. »Sitzen!«, sagt sie. Ich bestelle noch eine eiskalte Kokosnuss und setze mich dann auf einen der kleinen Plastikhocker, die hier um die Tische herumstehen. Es dauert nicht lange, bis ein großer dampfender Berg mit Essen vor mir steht. Ich mache kurzen Prozess – der Wasserspinat, der hier morning glory heißt, schwimmt in einer dunklen Soße aus Soja, Essig und Zucker. Das Essen ist himmlisch, salzig, süß, wärmend. Die Chilis treiben mir die Tränen in die Augen. Es könnte auch die Freude über diesen Ort, über Asien, über Thailand sein. Ich bin angekommen.

Nach meinem Mahl trete ich den Heimweg an. Mein Kopf fühlt sich an wie ein Koffer, in den man unendlich viele Dinge hineingepresst hat und auf den man sich nun draufsetzen muss, damit er überhaupt zugeht. Überall quellen Gedanken heraus. Meine Nase brennt von all den feurigen Gerüchen, die über dem Nachtmarkt liegen. Sie dringen in meine Kleidung, in meine Haare und klammern sich an meine Haut. Als ich in meinem neuen Zuhause ankomme, rieche ich noch immer wie ein frisch frittiertes Hähnchen in Currysoße. Ich fühle mich, als beträte ich ein Tonstudio, so geräuscharm ist es hier drin im Gegensatz zu draußen. Augenblicklich entspannen sich meine Schultern. Ich bin nach wie vor allein, und so ziehe ich direkt im Erdgeschoss meine Hose und das durchgeschwitzte Curryshirt aus und mache es mir in Unterwäsche auf dem Sofa bequem. Ich lege meine Füße hoch, umfasse meine Beine. Meinen Körper so zu spüren, fiel mir noch lange Zeit nach der MS-Diagnose schwer. Mein Körper, dieses Stück Fleisch, das meine Seele umgibt und ihre Befehle auszuführen hat, richtete sich plötzlich gegen mich – so schien es mir. Mein Körper, den ich bis dahin nicht groß beachtet hatte – außer wenn es darum ging, dass er möglichst dünn und schön zu sein hatte –, muckte plötzlich auf. Manchmal wundert es mich nicht, dass er anfing, sich zu beschweren, nach all dem, was ich ihm über die Jahre angetan hatte. Aus Nachlässigkeit. Aus jugendlichem Leichtsinn. Aus Ignoranz. Aus Hochmut. Alle anderen würde es treffen, aber mich nicht. Dachte ich. Bis sich alles änderte und ich zum ersten Mal zu spüren bekam, dass ich nicht unabhängig von, sondern nur in und mit meinem Körper lebe. Die Diagnose MS, die mir im Jahr 2012 in Aussicht gestellt wurde und sich im Jahr 2013 durch einen erneuten Schub bestätigte, riss mich aus meiner naiven Blase. Völlig allein stand ich da mit dieser Nachricht. Und obwohl ich damals wie heute nur wenige Beeinträchtigungen hatte und habe – wofür ich endlos dankbar bin –, fühlte und fühlt es sich dennoch immer wieder so an, als sei ein Teil von mir mit der Diagnose verschwunden. Ein Teil, der »Ach, irgendwann mal …« sagen konnte, ohne dabei zu denken: Aber wer weiß, wann es zu spät sein wird? Mir wurde ein Stück meiner Leichtigkeit genommen. Dieses Stück werde ich nie zurückbekommen. Mir wurde ein Stück meiner Selbstbestimmtheit genommen. Auch dieser Teil – verloren. Und erst dachte ich, dass mir auch ein Teil meiner Identität genommen worden war. Doch heute, viele Jahre später, kann ich sagen: Durch die Diagnose sind auch andere, neue Dinge in mir gewachsen. Andere Gedanken, andere Verhaltensweisen und Charakterzüge sind an die Leerstellen getreten, die die Diagnose MS wie Sprenglöcher hinterlassen hat. Ich kann diese neuen Eigenschaften noch immer nicht zu jeder Zeit einordnen oder gar nutzen. Dann stehe ich ihnen gegenüber wie eine Erstklässlerin, der man Dezimalbrüche erklären will. Dann igele ich mich ein, laufe weg, betäube die Ängste und diese eine große, drohende Frage: Werde ich das schaffen?

Und so sitze ich da, auf meinem Sofa, umschlinge meine im Großen und Ganzen wunderbar funktionierenden Beine und versuche, dankbar zu sein. Der Raum wird nur von einer kleinen Lampe erhellt, deshalb dauert es einige Minuten, bis mein Blick auf den neuen Zettel auf dem Tisch fällt. Er enthält eine Nachricht von meinem Gastgeber Sun, der in meiner Abwesenheit hier gewesen zu sein scheint: »Hi Samira, wenn ich da war warst du weg. Deswegen ich heute konnte nicht sagen hallo. Internet ich habe gemacht, jetzt geht. Morgen ich komme noch mal. Gute Nacht.« Darunter notiert stehen die Infos, mit denen ich mich ins Internet einwählen kann. Innerlich jubiliert die Bloggerin, die heute einen ganzen Tag auf Internetentzug war, und ich hole hastig meinen Laptop aus meinem kleinen Zimmer herunter. Ein paar Sekunden später sind Handy und Laptop mit dem Internet verbunden, und um mich bricht eine wahre Flut aus verschiedensten Mitteilungstönen los. Die digitalen Laute wirken futuristisch in diesen alten Mauern, fast wie Signale aus dem All. Mein Mail-Postfach. Mein WhatsApp. Mein Blog. Mein Unternehmen. Ich verbinde damit ein ambivalentes Gefühl: Einerseits freue ich mich darauf, endlich zu sehen, ob mein Geschäftsmodell aus der Ferne funktioniert. Anderseits hätte ich gern noch zwei, drei Tage, um überhaupt anzukommen, um einfach nur zu sein. Doch ich bin nicht stark genug und noch zu unerfahren, um mir diese Zeit zu nehmen. Also lege ich los und scrolle durch die Vielzahl an Nachrichten, die eingetrudelt sind. Mama, mein Bruder, mein Freund, zwei Freundinnen. Alle fragen, ob ich gut angekommen sei und wie es mir gehe. Nimmt man sein Sicherheitsnetz mit, egal wohin man geht, frage ich mich. Faktisch sind sie alle da. Rein praktisch liegen mehrere Tausend Kilometer zwischen mir und den Menschen, von denen ich weiß, dass sie alles für mich geben würden. Ich bin nun räumlich wirklich so weit von ihnen getrennt, wie ich mich manchmal fühle, wenn die Krankheit und die mit ihr verbundenen dunklen Gedanken mich in ihre ganz eigene, zerstörerische Welt entführen.

Schnell schicke ich ein paar Sprachnachrichten nach Berlin, wo es gerade mal Mittagszeit ist. Ich wünschte, ich könnte all die bisher gesammelten Eindrücke in meine Nachrichten packen, könnte alle Geräusche und Gerüche zusammen mit meinen digitalen Zeilen übermitteln. Doch so bleibt es bei: »Ich bin gut angekommen, mir geht es gut, es ist toll hier. Kuss.« Im Gegensatz zu den privaten Nachrichten schweigt das Mail-Postfach meines Unternehmens. Mechanisch klicke ich immer wieder auf das kleine Symbol mit dem Briefumschlag. Keine neue Mail. Keiner will, dass ich etwas für ihn schreibe. Zumindest noch nicht. Mein Online-Business besteht im Wesentlichen aus drei Bausteinen: Zum einen ist da mein Blog, chronisch fabelhaft. Auf diesem Blog helfe ich Menschen dabei, einen positiven Umgang mit ihrer MS-Erkrankung zu erlernen. Ich hole die Betroffenen dort ab, wo die Ärzte sie meist allein lassen: bei Fragen, die den Alltag, die Ernährung, ihre Beziehungen und ihr Umfeld betreffen. Das zweite Standbein, von dem ich zu leben gedenke, ist mein Buch über den Jakobsweg. Ihn bin ich im September 2017 gelaufen, und auf dieser Reise möchte ich die Erfahrungen, die ich unterwegs gesammelt habe, endlich in ein Buch packen. Mein drittes Standbein möchte ich mir als freie Texterin aufbauen. Auf diesem Gebiet gleicht meine Vorarbeit dem Berliner Flughafen: schon lange geplant, aber immer noch nicht fertig. Vor mir liegt jede Menge Arbeit, und endlich, endlich habe ich auch die Zeit dafür.

Während ich darüber nachsinne, was die nächsten Monate wohl bringen werden, klingelt mein Handy plötzlich Sturm. Anja, eine gute Freundin von mir, schickt eine Nachricht nach der anderen. Ruft an. Legt wieder auf. Ruft noch mal an. Vor meinem Handy sitzend beobachte ich das Spektakel, unfähig, abzunehmen oder mich zu bewegen. Irgendwas stimmt nicht. Irgendwas ist passiert. Irgendwas Schlimmes. Ein Kribbeln überzieht meine Füße und meine Hände, während ich in eine Art Ganzkörperstarre verfalle. Eine typische Reaktion meines Körpers, wenn ich unter Stress stehe, ein leiser Gruß meiner Dauerbegleiterin MS. Was ist los? Schließlich schaffe ich es, mich aus meiner Versteinerung zu lösen, und nehme den Hörer ab.

»Samira? Bist du da?« Ich höre, dass sie weint.

»Ich bin da!«, sage ich, und es fühlt sich so an, als rollte ein Stacheligel meine Kehle hinab bis in meinen Magen. Es ist also etwas passiert. Ich habe es gewusst.

»Samira … Es ist so scheiße«, stößt Anja unter immer heftiger werdendem Schluchzen hervor. »Ich hab es gewusst!«, schreit sie, und ich muss den Hörer etwas weiter weg von meinem Ohr halten.

»Anja, was ist denn los? Was ist passiert?«, sage ich sanft, während der Stacheligel in meinem Magen herumtollt.

»Henrik. Ich hab es einfach gewusst! Er hat …« Sie putzt sich die Nase. »Er hat eine Affäre!« Ihre Tränen scheinen durch das Telefon in mein Ohr zu laufen.

»Scheiße.« Das ist alles, was mir einfällt. Scheiße. Wieder gleitet sie ins Tal der Tränen hinab, in das ich hilflos rufe: »Anja – komm her, okay?« Ich sage diesen Satz, bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann. Es ist, als werfe ich meiner Freundin ein Rettungsseil zu, ohne zu wissen, wie ich sie daran hochziehen soll.

»Was?«, schluchzt sie.

Ich atme durch. »Pass auf, Anja. Du sitzt da in dieser verdammten Wohnung mit Henrik fest, der dich betrogen hat. Du bist selbstständig. Was hält dich in Berlin? Ich finde, du solltest herkommen. Komm bitte, bitte einfach her. Buch dir einen Flug. Last minute, morgen – flieg einfach los. Komm schon.«

»Aber … aber das ist doch deine Reise. Dein Abenteuer. Ich will dir nicht dazwischenfunken, ehrlich«, sagt sie.

»Ach was. Ich werde acht Monate Abenteuer haben, ganz für mich. Das ist jetzt einfach mal zweitrangig. Komm her, Anja. Scheiß auf das Geld für den Flug. Ich bin grad schon nebenbei am Schauen …«, sage ich und scrolle auf meinem Laptop durch die Flugsuchmaschine. »Na bitte: morgen früh um 8.15 Uhr, Berlin–Chiang Mai. 760 Euro, eine Woche. Geh an deine Notfallreserve und buch diesen verdammten Flug – denn das hier ist ein Notfall. Scheiß auf Henrik. Komm nach Chiang Mai.«

Kurz herrscht Schweigen auf der anderen Seite, ich höre, wie Anja etwas auf ihrem Laptop eintippt. Ein weiteres Schnäuzen, dann ist sie wieder da. »Okay«, sagt sie. »Ich komme.«

Katerstimmung

Die Sonne streckt ihre zarten Finger durch das mit Spinnweben verhangene, milchig-weiß schimmernde Fenster. Ich schaue auf mein Handy. Kurz nach sieben Uhr morgens. Ich nehme alles wahr: den Strohduft des Zimmers, die raue weiße Bettwäsche, die Staubkörner, die in den einfallenden Sonnenstrahlen tanzen … Doch ich habe keine Zeit für Tagträumereien. Heute Abend gegen neun kommt Anja an. Mir bleiben also nur noch knapp 14 Stunden für mich.

Beim Frühstück gehe ich in Gedanken den vor mir liegenden Tag durch. Anja wird heute bei mir schlafen, morgen sucht sie sich was Eigenes. »Es tut mir so leid, in deine Pläne reinzuplatzen! Du hast doch so viel zu tun mit deinem Buch und dem Blog …«, hat sie gestern Abend gesagt, kurz bevor wir aufgelegt haben. »Egal, das passt«, war meine Antwort, die wohl nicht nur sie, sondern auch mich beruhigen sollte. Anja hatte so durcheinander geklungen, so unglaublich traurig. Als hätte jemand von einer Sekunde auf die andere einen Mythos ihrer Kindheit enttarnt. Und irgendwie war Henrik ja auch ein solcher Mythos gewesen. Der Mythos des perfekten Freundes, Liebhabers, Verlobten. Gut sieht er aus, wenn auch nicht im klassischen Sinne. Seine Augen stehen vielleicht einen Tick zu weit zusammen, und ja, vielleicht könnte er ein paar Kilo weniger auf den Rippen haben. Nein. Es ist nicht Henriks Aussehen, das ihn so unwiderstehlich macht, es ist vielmehr seine perfekte Masche. Er ist – mir fällt kein weniger banal klingendes Wort ein – charmant. Er trägt sein langes blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, kocht wie eine italienische mamma und spielt Gitarre auf eine Art und Weise, die allen Frauen einen schmachtenden Blick in die Augen zaubert. Dieser Charme ist Anja nun, wie es scheint, zum Verhängnis geworden.