Aktuelle psychiatrische Diagnostik - Markus Jäger - E-Book

Aktuelle psychiatrische Diagnostik E-Book

Markus Jäger

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Beschreibung

Leitfaden für die tägliche Arbeit: - Praxisnahe Einführung sowie Vor- und Nachteile der Diagnosesysteme ICD 10 und DSM 5. - Überblick über verschiedene Krankheitsmodelle in der Psychiatrie. - Entwicklungsgeschichtliche Aspekte, aktuelle Ansätze und Zukunftsperspektiven. Zuverlässiger Begleiter für die Diagnosestellung: - Konkrete, praxisnahe Fallbeispiele. - Beschreibung verschiedener Hilfsinstrumente. - Zahlreiche Tabellen und Abbildungen. - Hilfe bei der Anwendung diagnostischer Algorithmen.

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Aktuelle psychiatrische Diagnostik

Ein Leitfaden für das tägliche Arbeiten mit ICD und DSM

Markus Jäger

17 Abbildungen

Geleitwort

Die Diagnose stellt eine entscheidende Grundlage allen ärztlichen Denkens und Handelns dar. Sie übertrifft an Bedeutung noch die aus den diagnostischen Entscheidungen abzuleitenden Elemente, etwa Prognose, Therapie, Prävention und Rehabilitation. Da jedoch in der alltäglichen Anwendung die theoretischen Implikationen des ärztlichen Diagnostizierens und Klassifizierens weitgehend in den Hintergrund treten, können nicht nur bei medizinischen Laien bedeutsame Missverständnisse entstehen. Vor allem droht bei unreflektierter Anwendung der diagnostischen Termini stets die Gefahr einer Reifizierung, also einer Verwechslung der Diagnosen mit real existierenden Tatsachen in der konkreten Lebenswelt. Demgegenüber wurde in der deutschsprachigen Psychopathologie etwa bei Karl Jaspers, Kurt Schneider, Werner Janzarik und Gerd Huber immer wieder betont, dass es sich bei den Diagnosen unseres Fachgebiets um nicht mehr und nicht weniger als Konventionen handelt. Diese repräsentieren keine wirklichen Sachverhalte, sondern bilden lediglich den aktuellen, durch Konsens erreichten Sprachgebrauch bei der Verständigung über die psychischen Störungen und ihre klassifikatorische Einordnung ab.

Markus Jäger, der sich seit vielen Jahren intensiv mit diesen Themen auseinandergesetzt hat, analysiert diese und andere Probleme der psychiatrischen Diagnostik in einer sehr methodenbewussten, systematischen und historisch informierten Form. Unter Berücksichtigung der philosophischen und wissenschaftstheoretischen Dimensionen ärztlichen Denkens und Handelns erstrecken sich seine Ausführungen von den Ursprüngen abendländischer Medizintheorie in der griechischen Philosophie über die französischen und deutschsprachigen Schulen mit Herausbildung einer empirisch-wissenschaftlichen Orientierung bis hin zu den methodologischen Grundlagen der beiden wichtigsten aktuellen Klassifikationssysteme.

Ein besonderer Akzent liegt auf der Bedeutung der Psychopathologie als dem Ausgangspunkt jeder Lehre von psychischen Störungen und ihrer Klassifikation. Zu Recht wird Psychopathologie hierbei im Sinne von Karl Jaspers in einem umfassenden Sinn als eine Methodenlehre verstanden, in der es um die Erfassung, Beschreibung und Ordnung sämtlicher krankhafter Erlebnis- und Verhaltensweisen geht. Psychopathologie stellt daher, wie es Janzarik formuliert hat, die wesentliche Grundlagenwissenschaft unseres Faches dar und somit weit mehr, als es die verkürzte Anwendung im gegenwärtigen, an der angloamerikanischen Literatur orientierten Sprachgebrauch nahelegt, wo „psychopathology“ als Sammelbezeichnung für die Summe aller vorkommenden Symptome und abnormen Phänomene im psychischen Bereich gilt.

Neben der differenzierten Darstellung der Herausbildung der diagnostischen Konventionen in den europäischen Schulen unseres Faches, liegt ein weiteres Schwergewicht auf den heute in Wissenschaft und praktischer Anwendung dominierenden Klassifikationssystemen in der internationalen Psychiatrie, also der ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation und des DSM-IV-TR der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung sowie ihren Neufassungen in der geplanten ICD-11 und dem soeben erschienenen DSM-5. Sehr hilfreich ist die kenntnisreiche und konzise Diskussion der aktuellen Veränderungen in den beiden internationalen Klassifikationen, wozu auch die Tendenzen hin zu mehr dimensionalen anstelle der gewohnten typologisch-kategorialen Ansätze psychiatrischer Diagnostik gehören. Ebenso wichtig erscheint die vergleichende Darstellung einzelner Krankheitsbilder und ihrer Symptomatologie vor dem Hintergrund bewährter diagnostischer Verfahren in unserem Sprachraum, etwa des AMDP-Systems, das zu einem unentbehrlichen Instrument für jeden geworden ist, der über die knappen, glossarhaften Beschreibungen der gegenwärtigen Kriteriologien hinaus eine vertiefte Erfassung psychopathologischer Phänomene anstrebt.

Bei aller Anerkennung der Vorzüge und Errungenschaften, die mit der Einführung der operationalisierten Klassifikationssysteme, insbesondere für eine zuverlässige Verständigung über Länder- und Schulengrenzen hinaus, verbunden waren, sind aber auch die damit einhergehenden Einschränkungen, Gefahren und Verluste zu beachten. Zwar hat die Ablösung des klinisch-idiografischen Vorgehens beim Stellen psychiatrischer Diagnosen durch die Festlegung klar definierter Algorithmen für deskriptiv-symptomatologische Ein- und Ausschluss- sowie Zeitkriterien die Reliabilität beträchtlich erhöht. Erkauft wurde dies allerdings mit schwerwiegenden Nachteilen beim derartig operationalisierten, vorwiegend auf beobachtbares Verhalten ausgerichteten Vorgehen. Zu nennen sind etwa der Verlust von ganzheitlichen Betrachtungsweisen, die Vernachlässigung der Erlebnispsychopathologie, die Aufgabe traditionsreicher Konzepte und infolgedessen auch eine gewisse Trivialisierung des diagnostischen Prozesses. Dies bringt nicht unbeträchtliche Gefahren bei einer kurzschlüssigen Fehlanwendung von Merkmalslisten in den Händen psychopathologisch und klinisch unzureichend geschulter Personen mit sich.

Wegen solcher Verkürzungen der diagnostischen Kultur im gegenwärtigen Alltagshandeln wie auch bei Forschungsvorhaben ist die hier geleistete, außerordentlich sorgfältige Aufarbeitung und Darstellung klinisch-psychopathologischer Erträge in der europäischen Psychiatrie so fruchtbar. Zwar sind implizit viele Elemente, etwa aus der Krankheitslehre Kraepelins und aus den didaktisch wie heuristisch ungemein klaren Ausführungen Kurt Schneiders zu Differenzialdiagnostik und -typologie einschließlich der Symptome ersten Ranges, weiterhin in den modernen Klassifikationssystemen enthalten. Ein tieferes Verständnis der heutigen diagnostischen Konventionen entsteht aber erst aus der Vergegenwärtigung und vergleichenden Analyse der ideengeschichtlichen Entwicklungsstränge, wie es hier ebenso kundig wie differenziert geschieht. Dieses Buch ist daher außerordentlich zeitgemäß und verhilft in einer Periode klassifikatorischer Umbrüche zu einer gediegenen Grundlage, um bei allen Veränderungen in diagnostischen Termini und Konzepten die Bedeutung gerade der subjektiven Psychopathologie und des inneren Erlebens unserer Patienten nicht aus dem Blick zu verlieren.

Aachen, im Dezember 2014

Henning Saß

Vorwort

Die Diagnose steht im Mittelpunkt des ärztlichen Denkens und Handelns. Was für die Medizin im Allgemeinen zutrifft, ist auch im Fach Psychiatrie und Psychotherapie gültig. Auch hier setzt jedes rational begründete Handeln im Regelfall eine Diagnose voraus. Weiterhin wird der Psychiater häufig um gutachterliche Stellungnahmen gebeten, was ohne eine vorherige diagnostische Einordnung kaum möglich ist. Allerdings wird, im Gegensatz zu den übrigen medizinischen Fachdisziplinen, in der Psychiatrie der Wert der Diagnose immer wieder infrage gestellt. Dies ist nicht selten auch mit einer heftigen Kritik an der gesamten Fachdisziplin verbunden. Ein Grund hierfür ist sicherlich, dass sich die psychiatrische Diagnostik nur in wenigen Fällen auf konsistente, naturwissenschaftliche Befunde stützen kann. So stößt hier die Verwendung von apparativen Verfahren rasch an ihre Grenzen. Dies mag beim Patienten gelegentlich auch das Gefühl hervorrufen, dem Psychiater schutzlos ausgeliefert zu sein. Tatsächlich haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, dass die psychiatrischen Diagnosen nicht unerheblich von der subjektiven Einstellung des jeweiligen Diagnostikers abhängen. Auf der anderen Seite bereitet es aber auch dem Psychiater manchmal Unbehagen, im Einzelfall zu einer diagnostischen Einordnung zu kommen. Diese muss er dann jedoch gegenüber Patienten und deren Angehörigen sowie unter Umständen auch gegenüber Gerichten und Behörden vertreten.

Mit Einführung der operationalisierten Diagnosemanuale wurde der Versuch unternommen, die psychiatrische Diagnostik objektiver und zuverlässiger zu gestalten. Heute stehen insbesondere Manuale wie DSM-5 und ICD-10 zur Verfügung. Hierin sind für jede Störung klare diagnostische Leitlinien bzw. Ein- und Ausschlusskriterien formuliert, welche zumeist auch schon für jedermann im Internet abrufbar sind. Dieser Umstand kann jedoch im Falle einer oberflächlichen Betrachtung zu einer Scheinsicherheit sowie zu erheblichen Missverständnissen führen. Das vorliegende Buch möchte deshalb grundlegend in das praktische Arbeiten mit DSM-5 und ICD-10 einführen. Darüber hinaus soll aber auch eine eingehende Reflexion der psychiatrischen Diagnostik erfolgen. Ohne eine solche Reflexion, so lautet die Kernthese dieses Buches, ist die Anwendung von DSM-5 und ICD-10 nicht möglich.

In Kapitel ▶ 1 wird eine kurze Einführung in die Thematik aus Sicht der Medizin im Allgemeinen gegeben, die speziellen Themen der Psychiatrie werden hierbei nur am Rande erwähnt. Anschließend daran bilden die beiden nächsten Abschnitte den Mittelpunkt des Buches. In Kapitel ▶ 2 wird die aktuelle psychiatrische Diagnostik dargestellt. Neben Ausführungen zu DSM-5 und ICD-10 wird hier auch die Diagnostik auf Symptom- und Syndromebene behandelt. Außerdem wird ein kurzer Ausblick auf die Entwürfe für die ICD-11 gegeben. In Kapitel ▶ 3 wird dann das praktische Arbeiten mit DSM-5 und ICD-10 bei ausgewählten Störungen dargestellt. Dies wird auch durch verschiedene klinische Fallbeispiele illustriert. Hieran anschließend kommen in Kapitel ▶ 4 Probleme, Lösungsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven der psychiatrischen Diagnostik zur Sprache. Die nächsten beiden Abschnitte sollen dann zur Vertiefung und Abrundung der Thematik beitragen, wobei einige Gedanken bewusst wiederholt werden. In Kapitel ▶ 5 wird auf die Sonderstellung der Psychiatrie innerhalb des medizinischen Fächerkanons eingegangen. In Kapitel ▶ 6 werden die Meilensteine in der Entwicklung der psychiatrischen Diagnostik dargestellt. Kapitel ▶ 7 beinhaltet schließlich eine kurze Zusammenfassung der Thematik und einen Ausblick auf die Zukunft der psychiatrischen Diagnostik.

Der Ursprung dieses Buches geht auf meine bereits 1998 abgeschlossene Dissertation zurück. Hierbei habe ich mich erstmals mit dem Problem der psychiatrischen Diagnostik beschäftigt. Einige der in meiner Dissertation aufgeführten Kasuistiken sind auch in das Buch eingegangen. Darüber hinaus bauen dessen Ausführungen ganz wesentlich auf frühere Beiträge in verschiedenen psychiatrischen Fachzeitschriften auf und fassen diese zusammen. Insbesondere wurden hieraus auch einige Abbildungen und Tabellen übernommen. Schließlich steht dieses Werk auch in einem engen Zusammenhang mit meinem durch die Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekt zur Identifizierung von Verlaufstypen schizophrener Psychosen.

Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, bei dem ich später auch meine Facharztweiterbildung absolviert und meine Habilitation abgeschlossen habe. Danken möchte ich auch Herrn Priv.-Doz. Dr. Ronald Bottlender und allen damaligen Kollegen der Münchener Klinik für die vielen fruchtbaren Diskussionen sowie die Unterstützung, die mir in dieser Zeit zuteil wurde. Ein besonderer Dank gilt hierbei Herrn Dr. Anton Strauß, der mich bereits im Rahmen meiner Dissertation mit großem Einsatz betreut hat. Er hat mir auch die entscheidenden Impulse zur Beschäftigung mit der Thematik der psychiatrischen Diagnostik gegeben und mich am Beginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit intensiv begleitet. Bedanken möchte ich mich insbesondere auch bei Herrn Prof. Dr. Thomas Becker, auf dessen Initiative hin dieses Buch schließlich entstanden ist. Mit seiner Hilfe konnte ich in Günzburg/Ulm die Auseinandersetzung mit dem Thema der psychiatrischen Diagnostik fortführen. Ohne seine kritischen Anregungen und Hinweise sowie die Gewährung von Freiräumen in der Klinik wäre das Buchprojekt nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt auch allen Kollegen der Günzburger Klinik, wobei Herr Priv.-Doz. Dr. Karel Frasch, Herr Dr. Fabian Lang und Herr Prof. Dr. Reinhold Kilian namentlich erwähnt werden sollen. Für intensive Gespräche zu den Grundlagen der Psychiatrie möchte ich mich bei Prof. Dr. Matthias Bormuth aus Oldenburg bedanken, bei dem ich im Sommer 2014 einige Zeit als Karl-Jaspers-Gastprofessor verbringen durfte. Bei meiner Frau, Stephanie Jäger, möchte ich mich für das Korrekturlesen bedanken. Ihr sei das Buch auch in Dankbarkeit gewidmet. Abschließend gilt mein Dank dem Thieme Verlag, welcher das vorliegende Buch ermöglicht hat, mit Frau Dr. Kristina Michael und Frau Laura Bohnert.

Günzburg/Ulm, im Dezember 2014

Markus Jäger

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Vorwort

1 Diagnose als Grundelement ärztlichen Denkens

1.1 Medizin als wissenschaftliche Heilkunde

1.1.1 Zwei Fallbeispiele als Einführung

1.1.2 Was ist Medizin?

1.1.3 Beschreiben, Ordnen und Klassifizieren

1.1.4 Kritik an der Medizin

1.2 Diagnose, Prognose und Therapie

1.2.1 Medizin als praktische Wissenschaft

1.2.2 Grundelemente ärztlichen Denkens und Handelns

1.2.3 Nomothetisches und idiografisches Vorgehen

1.3 Ebenen der Diagnostik

1.3.1 Unterscheidung der diagnostischen Ebenen

1.3.2 Symptomebene

1.3.3 Syndromebene

1.3.4 Nosologische Ebene

1.4 Diagnose als Zuordnung

1.4.1 Diagnose als Wahrscheinlichkeitsaussage

1.4.2 Kategoriale und dimensionale Ansätze

1.4.3 Praktisches Vorgehen in der Diagnostik

1.4.4 Diagnostische Zuordnung als Testoperation

1.4.5 Frage nach der Validität einer diagnostischen Zuordnung

1.5 Krankheitsmodelle

1.5.1 Ontologische und funktionelle Modelle

1.5.2 Real- und Nominaldefinitionen

1.5.3 Konzeption von Krankheitsentitäten

1.5.4 Krankheitsentitäten und diagnostische Validität

1.5.5 Krankheitsmodelle und die Frage nach der Ätiologie

1.6 Probleme des Krankheitsbegriffs

1.6.1 Naturalistische und normativistische Auffassungen

1.6.2 Versuch einer Krankheitsdefinition

1.6.3 Krankheit als Rechtsbegriff

2 Aktuelle psychiatrische Diagnostik

2.1 Psychopathologie als Grundlage der psychiatrischen Diagnostik

2.1.1 Bedeutung der Psychopathologie

2.1.2 Psychopathologie als Methodenlehre

2.1.3 Gefahr einer reduktionistischen Sichtweise

2.2 Psychiatrische Diagnostik auf Symptomebene

2.2.1 Instrumente zur psychopathologischen Befunderhebung

2.2.2 Befunderhebung mit dem AMDP-System

2.2.3 Befunderhebung mit der Hamilton Depression Scale

2.2.4 Befunderhebung mit der Positive and negative Syndrome Scale (PANSS)

2.2.5 Probleme bei der Verwendung von Rating-Skalen

2.3 Psychiatrische Diagnostik auf Syndromebene

2.3.1 Konzeption von psychopathologischen Syndromen

2.3.2  Psychopathologische Syndrome im AMDP-System

2.3.3 Psychopathologische Syndrome in der PANSS

2.3.4 Möglichkeiten einer dimensionalen Diagnostik

2.4 Psychiatrische Diagnostik auf nosologischer Ebene

2.4.1 Würzburger Diagnoseschema

2.4.2 Klassifikationssysteme der WHO und der APA

2.4.3 DSM-III als Reaktion auf Reliabilitätsprobleme

2.4.4 Weiterentwicklung zu ICD-10 und DSM-5

2.5 Überblick über die psychiatrische Diagnostik im DSM-5

2.5.1 Revisionsprozess und Gliederung des Manuals

2.5.2 Grundlegende Prinzipien des DSM-5

2.5.3 Aufbau der Klassifikation im DSM-5

2.5.4 Weitere Instrumente und Modelle im DSM-5

2.6 Überblick über die psychiatrische Diagnostik in der ICD-10

2.6.1 Psychische Störungen im Rahmen des Klassifikationssystems der WHO

2.6.2 Aufbau der Klassifikation in der ICD-10

2.7 Entwürfe für die psychiatrische Diagnostik in der ICD-11

2.8 Charakteristika der operationalen Diagnosesysteme

2.8.1 Verwendung eines kategorialen Systems

2.8.2 Deskriptiver Ansatz

2.8.3 Verzicht auf ein explizites Krankheitsmodell

2.8.4 Verwendung von Ein- und Ausschlusskriterien

2.8.5 Elementaristischer psychopathologischer Ansatz

2.8.6 Prinzip der Komorbidität

2.9 Strukturierte diagnostische Interviews

2.9.1 Strukturierte Interviews auf verschiedenen diagnostischen Ebenen

2.9.2 PSE, CATEGO und SCAN

2.9.3 Strukturiertes klinisches Interview für das DSM (SKID)

3 Praktisches Arbeiten mit DSM-5 und ICD-10

3.1 Verwendung von diagnostischen Algorithmen

3.2 Schizophrenie

3.2.1 Konzeptuelle Grundlagen der Schizophrenie

3.2.2 Diagnostik der Schizophrenie im DSM-5

3.2.3 Diagnostik der Schizophrenie in der ICD-10

3.2.4 Fallbeispiele zur Diagnostik der Schizophrenie

3.2.5 Probleme bei der Schizophreniediagnose

3.3 Schizoaffektive Störungen

3.3.1 Konzeptuelle Grundlagen der schizoaffektiven Störungen

3.3.2 Diagnostik der schizoaffektiven Störungen im DSM-5

3.3.3 Diagnostik der schizoaffektiven Störungen in der ICD-10

3.3.4 Fallbeispiele zur Diagnostik schizoaffektiver Störungen

3.3.5 Probleme bei der Diagnostik von schizoaffektiven Störungen

3.4 Depressive Störungen

3.4.1 Konzeptuelle Grundlagen der depressiven Störungen

3.4.2 Diagnostik depressiver Störungen im DSM-5

3.4.3 Diagnostik depressiver Störungen in der ICD-10

3.4.4 Fallbeispiele zur Diagnostik depressiver Störungen

3.4.5 Probleme bei der Diagnostik von depressiven Störungen

3.5 Anpassungsstörungen

3.5.1 Konzeptuelle Grundlagen der Anpassungsstörungen

3.5.2 Diagnostik der Anpassungsstörungen im DSM-5

3.5.3 Diagnostik der Anpassungsstörungen in der ICD-10

3.5.4 Fallbeispiel zur Diagnostik von Anpassungsstörungen

3.5.5 Probleme bei der Diagnostik von Anpassungsstörungen

3.6 Dissoziative und somatoforme Störungen

3.6.1 Konzeptuelle Grundlagen der dissoziativen und somatoformen Störungen

3.6.2 Diagnostik von dissoziativen und somatoformen Störungen im DSM-5

3.6.3 Diagnostik von dissoziativen und somatoformen Störungen in der ICD-10

3.6.4 Fallbeispiel zur Diagnose eines dissoziativen Stupors

3.6.5 Probleme bei der Diagnose von dissoziativen und somatoformen Störungen

3.7 Emotional-instabile bzw. Borderline-Persönlichkeitsstörungen

3.7.1 Konzeptuelle Grundlagen der Persönlichkeitsstörungen

3.7.2 Diagnostik der Borderline-Persönlichkeitsstörung im DSM-5

3.7.3 Diagnostik der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen in der ICD-10

3.7.4 Fallbeispiel zur Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung

3.8 Komorbiditätsprinzip

3.8.1 Konzeptuelle Grundlagen des Komorbiditätsprinzips

3.8.2 Komorbiditätsprinzip in DSM-5 und ICD-10

3.8.3 Fallbeispiel zum Komorbiditätsprinzip

3.9 Probleme bei der diagnostischen Entscheidungsfindung

3.9.1 Differenzierung auf Symptomebene

3.9.2 Zeitkriterien und Abwägung zwischen Symptombereichen

3.9.3 Simulation, Aggravation und Dissimulation

4 Probleme, Lösungsansätze und Zukunftsperspektiven

4.1 Kritik an der Diagnostik in DSM-5 und ICD-10

4.1.1 Gefahr einer diagnostischen Inflation

4.1.2 Unzureichende Beachtung des Gesamtbilds

4.1.3 Vernachlässigung der subjektiven Psychopathologie

4.1.4 Gefahr einer Trivialisierung der Diagnostik

4.1.5 Reliabilität auf Kosten der Validität

4.2 Diagnose und Nosologie

4.3 Syndromale und nosologische Diagnostik

4.3.1 Forderung nach einer syndromalen Diagnostik

4.3.2 Polysyndromale Diagnostik in DSM-5 und ICD-10

4.3.3 Probleme einer syndromalen Diagnostik

4.3.4 Verbindung von syndromalen und nosologischen Ansätzen

4.4 Dimensionale und kategoriale Diagnostik

4.4.1 Unterscheidung zwischen kategorialen und dimensionalen Modellen

4.4.2 Quantitative und qualitative Vorgehensweise

4.4.3 Forderung nach dimensionalen Ansätzen

4.4.4 Dimensionale Ansätze in DSM-5 und ICD-10

4.5 Klinisch-intuitive und algorithmische Diagnostik

4.5.1 Praktisches Vorgehen in der Diagnostik

4.5.2 Grenzen der algorithmischen Diagnostik in DSM-5 und ICD-10

4.6 Nomothetisches und idiografisches Vorgehen

4.7 Neurobiologische und psychopathologische Fundierung

4.7.1 Neurobiologische Fundierung der Psychiatrie

4.7.2 Versuche einer Validierung von psychopathologisch konzipierten Entitäten

4.7.3 Entwürfe einer funktionellen Psychopathologie

4.7.4 Research Domain Criteria (RDoC)

4.7.5 Rolle der Psychopathologie in der psychiatrischen Diagnostik

4.7.6 Frage nach der Validität psychiatrischer Diagnosen

4.8 Bedeutung der Verlaufsforschung für die Psychiatrie

4.8.1 Etablierung einer psychopathologischen Verlaufstypologie

4.8.2 Verbindung von quantitativen und qualitativen Methoden

4.8.3 Verbindung von psychopathologischen und neurobiologischen Ansätzen

4.9 Vorschlag eines triaxialen Diagnosemodells

4.9.1 Konzeption der diagnostischen Achsen

4.9.2 Folgerungen für ein Diagnosesystem

4.10 Diagnostik im Kontext einer personalisierten Psychiatrie

4.11 Diagnostik im Kontext einer evidenzbasierten Psychiatrie

5 Sonderstellung der Psychiatrie in der Medizin

5.1 Psychiatrie als Natur- und Kulturwissenschaft

5.1.1 Kurze Geschichte der Psychiatrie

5.1.2 Probleme der Psychiatrie als medizinische Fachdisziplin

5.1.3 Möglichkeit eines biperspektivischen Zugangs

5.2 Leib-Seele-Problem

5.2.1 Bedeutung des Leib-Seele-Problems für die Psychiatrie

5.2.2 Dualistische Positionen

5.2.3 Monistische Positionen

5.2.4 Verbindung von Monismus und Dualismus

5.3 Kritik der Antipsychiatrie

5.3.1 Begriff der Antipsychiatrie

5.3.2 Michel Foucault

5.3.3 Erving Goffman

5.3.4 Ronald D. Laing

5.3.5 Thomas Szasz

5.3.6 Würdigung der Antipsychiatrie

5.4 Krankheitskonzepte in der Psychiatrie

5.4.1 Definition psychischer Krankheit

5.4.2 Medizinisches Modell

5.4.3 Psychologische Modelle

5.4.4 Soziologische Modelle

5.4.5 Grenzen eines bio-psycho-sozialen Modells

5.4.6 Psychische Krankheiten als Rechtsbegriffe

5.5 Psychische Krankheiten als Störungen in DSM-5 und ICD-10

6 Meilensteine in der Entwicklung der psychiatrischen Diagnostik

6.1 Nosologische Anschauungen von Emil Kraepelin

6.1.1 Bedeutung von Emil Kraepelin

6.1.2 Krankheitsmodell von Kraepelin

6.1.3 Dichotome Einteilung der endogenen Psychosen

6.1.4 Psychopathologische Herangehensweise bei Kraepelin

6.1.5 Bezug von Kraepelin zur aktuellen Diagnostik

6.2 Konzept des exogenen Reaktionstyps von Karl Bonhoeffer

6.2.1 Bedeutung von Karl Bonhoeffer

6.2.2 Fehlende Spezifität verschiedener Noxen für das klinische Bild

6.2.3 Bezug von Bonhoeffer zur aktuellen Diagnostik

6.3 Methodologie von Karl Jaspers

6.3.1 Bedeutung von Karl Jaspers

6.3.2 Methodologische statt theoretische Ordnung

6.3.3 Unterscheidung zwischen Prozess und Entwicklung

6.3.4 Konzept des Typus bei Jaspers

6.3.5 Diagnoseschema bei Jaspers

6.3.6 Bezug von Jaspers zur aktuellen Diagnostik

6.4 Klinische Psychopathologie von Kurt Schneider

6.4.1 Bedeutung von Kurt Schneider

6.4.2 Ordnung der klinischen Psychopathologie

6.4.3 Differenzialtypologie und Schizophreniediagnose

6.4.4 Bezug von Schneider zur aktuellen Diagnostik

6.5 Ansätze in der Wernicke-Kleist-Leonhard-Schule

6.5.1 Konzept des psychischen Reflexbogens von Carl Wernicke

6.5.2 Gehirnpathologie von Karl Kleist

6.5.3 Aufteilung der endogenen Psychosen bei Karl Leonhard

6.5.4 Bezug der Wernicke-Kleist-Leonhard-Schule zur aktuellen Diagnostik

6.6 Gestaltpsychologische Konzepte bei Klaus Conrad

6.6.1 Bedeutung von Klaus Conrad

6.6.2 Gestaltanalyse des Wahns

6.6.3 Nosologische Überlegungen bei Conrad

6.6.4 Bezug von Conrad zur aktuellen Diagnostik

6.7 Multiaxiale Ansätze in der psychiatrischen Diagnostik

6.7.1 Bedeutung von Erik Essen-Möller

6.7.2 Prinzip der multiaxialen Diagnostik

6.7.3 Bezug von Essen-Möller zur aktuellen Diagnostik

6.8 Reliabilitätsprobleme in der psychiatrischen Diagnostik

6.8.1 Stengel-Report

6.8.2 Untersuchungen zur Reliabilität psychiatrischer Diagnosen

6.8.3 US/UK-Studie

6.8.4 Reliabilität und aktuelle Diagnostik

6.9 Syndromale und dimensionale diagnostische Konzepte

6.9.1 Syndrombeschreibungen in der traditionellen Psychopathologie

6.9.2 Quantitativ-statistische Ansätze in der Diagnostik

6.9.3 Dimensionale Modelle in der Persönlichkeitsdiagnostik

6.9.4 Dimensionale Konzepte und aktuelle Diagnostik

6.10 Einfluss des logischen Empirismus auf die psychiatrische Diagnostik

6.10.1 Grundlagen des logischen Empirismus

6.10.2 Deskriptive und theoretische Stufen wissenschaftlichen Arbeitens

6.10.3 Empirischer und systematischer Gehalt von wissenschaftlichen Konzepten

6.10.4 Bedeutung von operationalen Definitionen

6.10.5 Bezug des logischen Empirismus zur aktuellen Diagnostik

6.11 Die Strömung der Neo-Kraepelinianer

6.11.1 Bedeutung der Neo-Kraepelinianer

6.11.2 Nosologisches Modell der Neo-Krapelinianer

6.11.3 Neo-Kraepelinismus und Entwicklung diagnostischer Kriterien

6.11.4 Bezug des Neo-Kraepelinismus zur aktuellen Diagnostik

7 Zusammenfassung und Fazit

7.1 Rückblick auf die wesentlichen Gedankengänge

7.2 Notwendigkeit von Begriffsklärungen

7.3 Errungenschaften der modernen Diagnosesysteme

7.4 Grenzen von DSM-5 und ICD-10

7.5 Plädoyer für eine psychopathologische Fundierung der Diagnostik

7.6 Zukunft der psychiatrischen Diagnostik

8 Literaturverzeichnis

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

1 Diagnose als Grundelement ärztlichen Denkens

1.1 Medizin als wissenschaftliche Heilkunde

1.1.1 Zwei Fallbeispiele als Einführung

Die Diagnose steht im Mittelpunkt des ärztlichen Denkens und Handelns. Sie ist der entscheidende Wegweiser für prognostische Einschätzung und Therapie-Empfehlung.

Fallbeispiel Unterbauchschmerz 1

So stellt sich beispielsweise ein 25-jähriger Mann in der Notaufnahme eines Krankenhauses mit plötzlich aufgetretenen Schmerzen im rechten Unterbauch vor. Er berichtet über Appetitlosigkeit und Übelkeit. Die rektale Körpertemperatur beträgt 38,7 °C, die axilläre Temperatur beträgt 37,5 °C. Bei der Palpation des rechten Unterbauches zeigt sich ein Loslassschmerz. Im Labor fällt ein Anstieg der Entzündungswerte auf. In der Ultraschalluntersuchung zeigt sich ein vergrößerter Wurmfortsatz. Von den Ärzten wird eine akute Appendizitis diagnostiziert und bei zunehmenden Schmerzen und Temperaturanstieg die Indikation für eine Appendektomie gestellt. In der histopathologischen Untersuchung zeigt sich ein granulozytäres Infiltrat, welches den gesamten Wurmfortsatz erfasst.

Aufgrund von Anamnese, klinischem Befund und apparativen Zusatzuntersuchungen wurde hier eine Diagnose gestellt und die bei dieser Diagnose geeignete Therapie durchgeführt. Durch den histopathologischen Befund konnte die Diagnose bestätigt werden.

Was in dem aufgeführten Fallbeispiel trivial erscheint, ist jedoch in anderen Zusammenhängen keineswegs so selbstverständlich. So werden gerade im Fach Psychiatrie und Psychotherapie Sinn und Zweck der Diagnose bis heute recht kontrovers diskutiert.

Fallbeispiel Unterbauchschmerz 2

Eine 45-jährige Frau stellt sich bei ihrem Hausarzt vor. Sie berichtet darüber, dass sie seit Wochen unter Schmerzen im Unterbauch leide. Am Arbeitsplatz komme sie nicht mehr zurecht, da man sie hier fertigmachen wolle. Grund hierfür sei, dass sie unsaubere Finanztransaktionen aufgedeckt habe, die sie nun an die Öffentlichkeit bringen wolle. Sie bitte nun um ein Beruhigungsmedikament.

Hier tut man sich viel schwerer, eine Diagnose zu stellen und aus dieser klare Therapie-Empfehlungen abzuleiten.

Das vorliegende Buch möchte einen Überblick über die aktuelle psychiatrische Diagnostik geben und in das praktische Arbeiten mit DSM-5 und ICD-10 einführen. Das Fach Psychiatrie und Psychotherapie wird hierbei ausdrücklich als medizinische Fachdisziplin angesehen.

In diesem Kontext stellt sich zunächst die Frage, was eigentlich Medizin ist.

1.1.2 Was ist Medizin?

Aufgabe der Medizin ist es, Krankheiten zu heilen und das Auftreten von Krankheiten zu verhindern ▶ [183]. Doch fallen nicht alle solchen Bemühungen unter den Begriff der Medizin. Der Medizinhistoriker Paul Unschuld (geb. 1943) unterscheidet deshalb streng zwischen Medizin auf der einen und Heilkunde auf der anderen Seite ▶ [198]. Heilkunde ist hierbei der deutlich weiter gefasste Begriff. Er umfasst jegliche Versuche, Kranksein zu heilen oder auch vorzubeugen. Heilkunde ist sehr alt und geht bis in die prähistorische Zeit zurück. Heilkunde gibt es bis heute noch in vielfältiger Form. Medizin ist demgegenüber noch recht jung. Der Ursprung der europäischen Medizin liegt maßgeblich in der griechischen Antike. Medizin entstand aus dem Bemühen, Krankheit und Kranksein auf Naturgesetzlichkeiten zurückzuführen und wissenschaftlich zu erforschen ▶ [198]. Hierbei dürfte die vorsokratische Naturphilosophie eine wichtige Rolle gespielt haben. Medizin ist demnach ein Teil der Heilkunde, und zwar der wissenschaftliche Teil der Heilkunde. Medizin in diesem Sinne ist eine empirische Wissenschaft. Akut auftretende Bauchschmerzen im rechten Unterbauch, die mit Fieber und einem Loslassschmerz einhergehen, werden beispielsweise nicht als Ausdruck eines Wirkens von diffusen Kräften angesehen, sondern auf Naturgesetze zurückgeführt.

Die Entwicklung der Medizin war zu allen Zeiten stark von kulturellen Faktoren und den vorherrschenden Weltanschauungen beeinflusst. Dieser Umstand wurde beispielsweise von Henry Sigerist (1891–1957) ▶ [183] und von Paul Unschuld ▶ [198] sehr anschaulich dargestellt. So gibt es beispielsweise eine klare Korrespondenz zwischen der Viersäftelehre in der griechischen Medizin und den naturkundlichen Anschauungen der Vorsokratiker. Die Entwicklung der modernen Anatomie ist ohne Zweifel eng mit dem Gedankengut der Renaissance verbunden. Die zellularpathologischen Anschauungen eines Rudolf Virchow (1821–1902) haben durchaus eine Entsprechung in dessen sozialpolitischen Anschauungen. So kommt der Gedanke von „Zellen“ im Sinne von kleinen, eigenständigen Einheiten als Basis aller Lebensvorgänge der demokratischen Überzeugung von Virchow recht nahe ▶ [198]. Die enge Verbindung von gesellschaftlichen Anschauungen und medizinischen Theorien in Form von Erklärungsmodellen kann bis in die heutige Zeit hinein beobachtet werden. Dies trifft vor allem auch für das Fach Psychiatrie und Psychotherapie zu. Hier gibt es einen besonderen Bezug zu soziokulturellen Faktoren.

Medizin als wissenschaftliche Form der Heilkunde ist mit einer Professionalisierung der hierbei tätigen Berufsgruppen verbunden. Dies trifft natürlich insbesondere für die Ärzteschaft zu, schließt aber auch andere Berufsgruppen wie zum Beispiel klinische Psychologen, Psychotherapeuten oder Gesundheits- und Krankenpfleger ein. Charakteristisch ist hierbei, dass in geregelten Studien- bzw. Ausbildungsgängen ein Spezialwissen erworben wird.

1.1.3 Beschreiben, Ordnen und Klassifizieren

Medizin als wissenschaftliche Form der Heilkunde ist im Wesentlichen eine empirische Wissenschaft. Als solche strebt sie nach möglichst objektiven Erkenntnissen, welche durch Beobachtungen oder geeignete Experimente überprüft werden können. Der erste Schritt ist hierbei eine genaue Beschreibung der beobachteten Phänomene ▶ [64]. Hierzu ist eine präzise Terminologie erforderlich. Mit Hilfe einer solchen Fachsprache soll eine hohe Übereinstimmung zwischen verschiedenen Beobachtern erreicht werden. Im zweiten Schritt sollen die einzelnen beobachtbaren Phänomene in eine sinnvolle Ordnung gebracht und mit Hilfe von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten bzw. Theorien erklärt werden ▶ [64]. Eine auf bestimmten Gesetzmäßigkeiten beruhende Ordnung kann schließlich in einemKlassifikationsschema zum Ausdruck gebracht werden. Man spricht dann auch von einerTaxonomie.

Die Naturwissenschaften haben inzwischen zumeist eine allgemein anerkannte Terminologie entwickelt. Als Beispiel sei die Formelsprache der Chemie genannt. Gesetzmäßigkeiten in der Physik werden zumeist mit Hilfe der Mathematik beschrieben, beispielsweise in Form von Differenzialgleichungen. Das Periodensystem der Elemente bildet die Taxonomie der Chemie, die auf Carl von Linné (1707–1778) zurückgehende Systematik der Lebewesen bildet die Taxonomie der Biologie.

Die Medizin befasst sich mit der Behandlung von Krankheiten. Auch hier wurde eine spezifische Terminologie entwickelt, um die vom Patienten geschilderten Symptome und die vom Arzt erhobenen Untersuchungsbefunde präzise zu beschreiben. Auf der Suche nach Erklärungsmodellen und Gesetzmäßigkeiten stützt sich die Medizin vor allem auf die Naturwissenschaften. Auch gibt es vielfältige Bemühungen, Klassifikationssysteme für Krankheiten aufzustellen. Im Gegensatz zur Chemie oder zur Biologie gibt es in der Medizin bisher jedoch noch keine allgemein anerkannte Systematik.

1.1.4 Kritik an der Medizin

Die Medizin als wissenschaftliche Form der Heilkunde war in der Vergangenheit und ist bis heute einer zum Teil recht vehementen Kritik ausgesetzt. Als Beispiel soll hier auf die Ausführungen des ehemaligen katholischen Priesters und Gesellschaftskritikers Ivan Illich (1926–2002) eingegangen werden. Dieser hatte sich erstmals 1975 mit den Problemen der modernen Medizin auseinandergesetzt ▶ [76]. Sein Buch mit dem deutschen Titel „Die Nemesis der Medizin“ kann heute als ein Klassiker der medizinkritischen Literatur bezeichnet werden. Von Illich wurden hierbei insbesondere die wissenschaftliche Heilkunde sowie die Professionalisierung des Gesundheitssystems kritisiert. Die etablierte Medizin habe sich, so Illich, zu einer Gefahr für die Gesundheit entwickelt. Es sei zu einer „Medikalisierung“ von großen Bereichen des Lebens gekommen ▶ [76]. Von dieser Entwicklung profitiere insbesondere auch die pharmazeutische Industrie. Die umfangreichen Ausführungen von Illich lassen sich im Wesentlichen in drei Thesen zusammenfassen:

Durch die ärztliche Behandlung wird mehr Schaden angerichtet als Nutzen erzielt.

Die wirklichen Ursachen der Krankheiten in gesellschaftlichen Systemen werden durch die Medizin verschleiert. Hierdurch werden die krankmachenden politischen Verhältnisse einer Gesellschaft gefördert.

Die Medizin nimmt den einzelnen Menschen die Fähigkeit, selbst zu gesunden und die Umwelt aktiv zu gestalten.

Ähnliche Argumente wie die von Illich werden bis heute regelmäßig in Bestsellern oder auch in Feuilletons oder anderen Medien vorgebracht. Hierbei wird zumeist ein Missbehagen an der etablierten Medizin zum Ausdruck gebracht. Neue Gedanken oder gar Lösungsmöglichkeiten für die benannten Probleme sind eher nicht zu erwarten.

Trotz dieser Kritik an der Medizin scheint die Nachfrage an den professionellen medizinischen Leistungen jedoch ständig zu steigen. Eine echte Alternative zur wissenschaftlichen Medizin ist nicht in Sicht. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass der heutige Medizinbetrieb nicht allen Bedürfnissen von Patienten und Angehörigen gerecht wird. Auch sind heute die Patienten durch die Medien und insbesondere durch das Internet erheblich besser informiert, als dies in früheren Zeiten der Fall war. Hierdurch ist auch der Wunsch der Patienten nach Selbstbestimmung deutlich gestiegen.

1.2 Diagnose, Prognose und Therapie

1.2.1 Medizin als praktische Wissenschaft

Medizin versteht sich als wissenschaftliche Heilkunde. Dennoch ist ihr Status als Wissenschaft durchaus umstritten. Eine fundierte Auseinandersetzung mit den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Medizin findet sich beim Heidelberger Philosophen und Mediziner Wolfgang Wieland (geb. 1933). Hierbei werden zunächst drei Arten von Wissenschaften unterschieden ▶ [207]:

theoretische Wissenschaften

angewandte Wissenschaften

praktische Wissenschaften

Die theoretischen Wissenschaften zielen auf reine Erkenntnis ab. Eine mögliche praktische Anwendung dieser Erkenntnisse spielt hierbei zunächst keine Rolle. Beispiele für theoretische Wissenschaften sind Physik, Chemie und Biologie, aber auch Mathematik und Philosophie. Die angewandten Wissenschaften bemühen sich hingegen darum, die Erkenntnisse der theoretischen Wissenschaften für praktische Zwecke zu nutzen. Typische Beispiele hierfür sind die verschiedenen Ingenieurwissenschaften. Die angewandten Wissenschaften befinden sich jeweils in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zu bestimmten theoretischen Wissenschaften, deren Anwendung sie eben sind. So kann beispielsweise der Maschinenbau als angewandte Physik bzw. Mathematik angesehen werden. PraktischeWissenschaften sind demgegenüber immer primär auf konkrete Handlungen im Einzelfall bezogen. Sie stehen im Gegensatz zu den angewandten Wissenschaften in keinem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu bestimmten theoretischen Wissenschaften, auch wenn sie maßgeblich von deren Erkenntnissen Gebrauch machen ▶ [207].

Medizin kann in diesem Zusammenhang als eine praktische Wissenschaft angesehen werden. Ziel der Medizin ist Verhinderung und Heilung von Krankheiten. Hierbei steht zunächst primär der einzelne Patient im Vordergrund. Die Medizin kann sich maßgeblich auf die Naturwissenschaften, allen voran auf die Biologie, aber auch auf die Erkenntnisse von Psychologie und Sozialwissenschaften stützen. Wie jedoch diese Erkenntnisse der theoretischen Wissenschaften auf den Einzelfall anzuwenden sind, dafür ist eine eigenständige Methodenlehre erforderlich ▶ [207].

1.2.2 Grundelemente ärztlichen Denkens und Handelns

Die Medizin als praktische Wissenschaft benötigt eine eigene Methodologie ▶ [207]. Diese ist im Wesentlichen von drei Grundelementen geprägt ▶ [156]:

Diagnose

Prognose

Therapie

Mit Hilfe derDiagnose werden die individuellen Beschwerden des Patienten und die erhobenen Untersuchungsbefunde Begriffen aus der medizinischen Fachterminologie zugeordnet. Dies ist meist mit einer Abstraktion vom individuellen Fall zugunsten von regelmäßig vorkommenden Zeichen und Mustern verbunden. Grundlage einer jeden diagnostischen Zu- bzw. Einordnung sind Anamnese und klinische Untersuchungen sowie apparative Zusatzuntersuchungen. Am Ende des diagnostischen Prozesses steht meist die Einordnung der Beschwerden und Befunde in ein Klassifikationssystem und die Zuordnung zu einer Krankheitsbezeichnung. So werden beispielsweise plötzlich auftretende Schmerzen im rechten Unterbauch, Übelkeit und Appetitlosigkeit, welche klinisch mit Fieber und Loslassschmerz, laborchemisch mit erhöhten Entzündungswerten sowie sonografisch mit einer feststellbaren Verdickung des Wurmfortsatzes verbunden sind, als Appendizitis eingeordnet (Kap. ▶ 1.1).

Auf der Grundlage von empirischen Erkenntnissen hinsichtlich regelmäßig vorkommender Verlaufsmuster, aber auch aufgrund von Kenntnissen von Ätiologie und Pathophysiologie lassen sich – basierend auf der diagnostischen Einordnung – nun prognostische Einschätzungen treffen. Schließlich führt die Diagnose in den meisten Fällen auch zu einerTherapie-Empfehlung, welche sich wiederum auf Überlegungen zur Ätiopathogenese sowie auf empirische Untersuchungen von verschiedenen Behandlungsmethoden stützen kann. So wird man bei einer akuten Appendizitis mit zunehmenden Schmerzen und Entzündungswerten im Regelfall eine operative Entfernung des Wurmfortsatzes empfehlen.

Im Mittelpunkt des ärztlichen Denkens steht die Diagnose. Sie kann somit durchaus als einer der Fundamentalbegriffe der Medizin und als der zentrale Orientierungspunkt ärztlichen Denkens bezeichnet werden ▶ [207]. Während dies in fast allen medizinischen Fachdisziplinen scheinbar unbestritten ist, wird der Stellenwert der Diagnose in der Psychiatrie jedoch immer wieder kritisiert und teilweise sogar ganz infrage gestellt.

1.2.3 Nomothetisches und idiografisches Vorgehen

Die Diagnose stellt immer eine Abstraktion vom Einzelfall zugunsten regelmäßig vorkommender Zeichen und Muster dar. Mit Hilfe der Einordnung in ein Begriffs- und Ordnungssystem wird versucht, die individuellen Beschwerden und Befunde des Patienten durch allgemeine empirische Gesetzmäßigkeiten zu erklären. Aus dem Patienten, der sich mit akut auftretenden Schmerzen im rechten Unterbauch in der Notaufnahme eines Krankenhauses vorstellt, wird im Laufe des diagnostischen Prozesses ein „Fall mit einer Appendizitis“. Die Therapie erfolgt dann aufgrund der Summe der Erfahrung, die zuvor bei ähnlichen Fällen gemacht wurden. Ein solcher Ansatz, der auf die Aufstellung und Anwendung von allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten abzielt, wird in der Wissenschaftstheorie als nomothetisch bezeichnet ▶ [209].

Der nomothetischen Vorgehensweise steht der idiografische Ansatz gegenüber, welcher sich mit der Beschreibung und Analyse des Einzelfalles beschäftigt ▶ [209]. Hier steht die Untersuchung des Einmaligen und des Besonderen im Vordergrund, während die Einordnung in ein allgemein gültiges Begriffs- und Ordnungssystem eher sekundär ist. In der Medizin bedeutet dies, sich mit den individuellen Charakteristika des einzelnen Patienten auseinanderzusetzen. Die Therapie erfolgt dann abgestimmt auf den individuellen Patienten. Nomothetische und idiografische Vorgehensweisen sind in der Medizin gleichermaßen bedeutsam. Sie können als zueinander komplementär angesehen werden.

1.3 Ebenen der Diagnostik

1.3.1 Unterscheidung der diagnostischen Ebenen

Unter einerDiagnose versteht man die Einordnung der individuellen Befunde und Beschwerden des einzelnen Patienten in ein wissenschaftliches Begriffssystem. Jede Diagnose bedeutet eine Abstraktion vom Einzelfall zugunsten regelmäßig auftretender Gesetzlichkeiten, welche systematisch erfasst und beschrieben werden können. Hierbei lassen sich grundsätzlich drei Ebenen voneinander unterscheiden:

Symptom

Syndrom

Nosologie

Auf allen drei Ebenen gibt es eine jeweils spezifische Fachterminologie. Nicht selten werden jedoch diese drei Ebenen verwechselt oder miteinander vermischt. Dies kann jedoch zu erheblichen Missverständnissen führen. Deshalb sollen im Folgenden die verschiedenen Ebenen ausführlich erläutert werden. Ebenso wird der Diagnosebegriff oft sprachlich ungenau verwendet. Unter der Diagnose versteht man den Prozess und das Ergebnis der Zu- bzw. Einordnung. Oftmals wird jedoch auch das zugeordnete Element des jeweiligen Begriffssystems fälschlicherweise als Diagnose bezeichnet ▶ [207].

1.3.2 Symptomebene

Unter einemSymptom versteht man einzelne subjektive Beschwerden des Patienten sowie objektiv erhebbare Untersuchungsbefunde. Im angelsächsischen Sprachraum wird hierbei auch zwischen sign (objektiver Befund) und symptom (subjektive Beschwerde) unterschieden. Das Symptom stellt die kleinste beschreibbare Einheit in der medizinischen Fachterminologie dar. Diagnostik auf der symptomalen Ebene bedeutet zunächst einmal, die Selbstschilderungen der Patienten in die medizinische Fachsprache zu übersetzen und den klinischen Untersuchungsbefund zu erheben. Letzteres erfordert je nach medizinischer Fachdisziplin spezifische Untersuchungstechniken. Im Falle der Psychiatrie sind hierbei Kenntnisse der Psychopathologie und Beherrschung von Explorationstechniken nötig.

Bei der Diagnostik auf der Symptomebene handelt es sich zunächst immer um eine Querschnittsdiagnostik, die auf einen bestimmten Zeitpunkt oder Zeitraum bezogen ist. Dies ist im Regelfall der Untersuchungszeitpunkt. Es kann jedoch auch versucht werden, Rückschlüsse auf die Vergangenheit zu ziehen. Dies ist jedoch immer mit einer erheblichen diagnostischen Unsicherheit verbunden.

1.3.3 Syndromebene

Unter einem Syndrom versteht man eine Kombination von bestimmten Symptomen, welche überzufällig häufig im Querschnitt miteinander auftreten. Über einen spezifischen Zusammenhang dieser Symptome, beispielsweise in Hinblick auf die Ätiopathogenese, wird hierbei zunächst noch keine Aussage getroffen. Früher wurden die Syndrome aufgrund von klinischer Beobachtung konzipiert. Deshalb tragen bis heute zahlreiche Syndrome den Namen ihres Erstbeschreibers. Heute werden jedoch auch zunehmend statistische Verfahren wie beispielsweise die Faktoren- oder Clusteranalyse zur Konzeption von Syndromen eingesetzt. Insbesondere trifft dies für das Fach Psychiatrie und Psychotherapie zu. Ähnlich wie bei der Diagnose auf der Ebene der Symptome handelt es sich auch bei der Diagnose auf der Syndromebene grundsätzlich um eine reine Querschnittsdiagnostik, Verlaufsaspekte spielen hierbei keine Rolle.

1.3.4 Nosologische Ebene

Unter einer nosologischen Einheit versteht man ein Element eines erfahrungswissenschaftlichen Ordnungs- und Klassifikationssystems. Mit Hilfe der Diagnose auf der nosologischen Ebene wird versucht, die verschiedenen Symptome und Syndrome in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Hierdurch sollen letztlich die Beschwerden des individuellen Patienten mit Hilfe von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und Theorien erklärt werden. Eine nosologisch fundierte Diagnostik setzt ein Klassifikationssystem voraus, welches auf erfahrungswissenschaftlichen Grundlagen aufbaut. Zumeist handelt es sich hierbei um naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Häufig sind mit einer nosologischen Diagnostik auch bestimmte Krankheitsmodelle verbunden, beispielsweise in Hinblick auf die Ätiopathogenese.

Oft ist lediglich bei der Zuordnung auf der nosologischen Ebene von Diagnose die Rede. Hierbei werden manchmal einzelne nosologische Einheiten als Diagnosen bezeichnet, was jedoch begrifflich ungenau ist. Anstatt von nosologischer Ebene wird gelegentlich auch von diagnostischer Ebene gesprochen, was ebenfalls eine begriffliche Unschärfe darstellt.

Im Gegensatz zur Diagnose auf der Symptom- und Syndromebene bezieht sich die nosologische Diagnostik nicht ausschließlich auf den Querschnittbefund, sondern auf den gesamten Krankheitsverlauf. Somit gehen neben dem aktuellen Untersuchungsbefund insbesondere auch anamnestische Angaben, aber auch die Ergebnisse von apparativen Zusatzuntersuchungen in die nosologische Diagnostik ein.

1.4 Diagnose als Zuordnung

1.4.1 Diagnose als Wahrscheinlichkeitsaussage

Mithilfe der Diagnose werden die individuellen Beschwerden und Befunde des Patienten in ein wissenschaftliches Begriffssystem eingeordnet. Diese Ein- bzw. Zuordnung kann auf drei Ebenen (Symptom, Syndrom, Nosologie) erfolgen. Unter der Diagnose versteht man den Prozess bzw. das Ergebnis dieser Zuordnung (▶ Abb. 1.1). Die syndromale sowie die nosologische Diagnose bauen auf der symptomalen Diagnose auf. Dies bedeutet, dass zunächst immer eine sorgfältige Erfassung der einzelnen Symptome erforderlich ist. Mit dem weiter gefassten Begriff Diagnostik werden alle Vorgänge bezeichnet, die erforderlich sind, um eine diagnostische Zuordnung zu treffen.

Diagnostik auf verschiedenen Ebenen.

Abb. 1.1

Bei jeder diagnostischen Zuordnung handelt es sich um eine Singuläraussage, die jeweils nur den einzelnen Patienten betrifft. Dieser Bezug zum einzelnen Patienten ist auch charakteristisch für die praktischen Disziplinen, zu denen die Medizin in wissenschaftstheoretischer Hinsicht gezählt werden kann ▶ [207]. Die diagnostische Zuordnung kann richtig oder falsch sein. Im letzteren Fall spricht man auch von einer Fehldiagnose. Dies kann jedoch auch etwas differenzierter betrachtet werden. Jede Diagnose ist immer mit einer gewissen Unsicherheit verbunden. Symptome können beispielsweise nicht erfragt oder auch falsch gedeutet werden. Befunde können nicht korrekt erhoben werden oder, insbesondere im Fall von fremdanamnestischen Angaben oder auch von apparativen Zusatzuntersuchungen, zunächst nicht zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund lässt sich die Diagnose als Wahrscheinlichkeitsaussage auffassen ▶ [207]. Der Grad der Wahrscheinlichkeit ist hierbei vor allem vom Umfang der zur Verfügung stehenden Informationen abhängig. Diagnosen auf der nosologischen Ebene können letztlich als Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Vorliegen von Krankheiten gedeutet werden ▶ [192].

Im Falle einer akuten Appendizitis ist die Diagnose noch recht unsicher, wenn sich ein Patient mit Schmerzen im rechten Unterbauch, Appetitlosigkeit und Übelkeit vorstellt. Wenn sich in der klinischen Untersuchung ein Loslassschmerz ergibt, eine deutliche Differenz zwischen axiliärer und rektaler Temperatur auffällt, sich im Labor eine Erhöhung der Entzündungsparameter zeigt und in der Ultraschalluntersuchung eine Verdickung des Wurmfortsatzes auffällt, wird die diagnostische Einordnung schon deutlich sicherer. Steht dann noch die histopathologische Untersuchung zur Verfügung, nähert sich schließlich die Wahrscheinlichkeit für die richtige Diagnose einem Wert von 100% an (Kap. ▶ 1.1).

1.4.2 Kategoriale und dimensionale Ansätze

Jede Diagnose kann entweder in Form einer kategorialen oder einer dimensionalen Zuordnung erfolgen. Im Falle einer kategorialen Diagnostik werden die Beschwerden oder Befunde des Patienten qualitativ einer oder mehreren zuvor konzipierten Kategorien zugeordnet. Im Falle einer dimensionalen Diagnostik werden die Beschwerden und Befunde des Patienten hingegen quantitativ einer Position auf einer Größenskala zugeordnet. Dies kann entweder mit Hilfe einer Skala (eindimensional) oder auch mit Hilfe von mehreren Skalen (mehrdimensional) erfolgen. Der Begriff Dimension bezeichnet hierbei die Eigenschaften eines Größensystems, also das, was erfasst werden soll. Kommen mehr als zwei Dimensionen zur Anwendung, kann dies zumeist nicht mehr geometrisch, sondern nur noch algebraisch dargestellt werden. Im Gegensatz zu einer kategorialen diagnostischen Einordnung müssen hier keine Grenzziehungen vorgenommen werden, so dass eine weitaus feinere Differenzierung möglich ist.

In ▶ Abb. 1.2 soll der Unterschied zwischen der kategorialen und der dimensionalen Diagnostik veranschaulicht werden: Im dimensionalen Modell kann eine jede Kombination der Ausprägung zweier Merkmale, beispielsweise Körpergewicht (Dimension 1) und Blutdruck (Dimension 2) in Form eines zweidimensionalen Vektors dargestellt werden. Im kategorialen Modell müssen hingegen bereits vor einer jeden diagnostischen Einordnung Grenzziehungen im Sinne einer Definition von Cutt-off-Werten vorgenommen werden, um bestimmte Kategorien einzugrenzen.

Dimensionale und kategoriale Diagnostik.

Abb. 1.2

Die medizinische Diagnostik stützt sich derzeit überwiegend auf kategoriale Ansätze. Dies trifft insbesondere für die nosologische Ebene zu. Dies kann jedoch zum Problem führen, dass die Beschwerden und Befunde des individuellen Patienten sich nicht nur einer, sondern mehreren Kategorien zuordnen lassen. Man spricht in diesem Fall von einerKomorbidität. Schwieriger wird die Situation noch, wenn sich verschiedene Kategorien überlappen. Der Arzt und Epidemiologe Alvan R. Feinstein (1925–2001) bemühte sich darum, die in solchen Fällen auftretenden Probleme mit Hilfe der Booleschen Algebra und der Mengenlehre (Venn-Diagramme) zu lösen ▶ [47].

1.4.3 Praktisches Vorgehen in der Diagnostik

Die verschiedenen diagnostischen Ebenen (Symptom, Syndrom, Nosologie) bauen aufeinander auf. So gilt es im ersten Schritt, die vom Patienten geschilderten Beschwerden sowie die erhobenen Untersuchungsbefunde einzelnen Symptomen zuzuordnen. Im zweiten Schritt können dann die einzelnen Symptome zu Syndromen zusammengefasst werden. Im dritten Schritt erfolgt dann die nosologische Einordnung. Hier gehen neben der Querschnittsymptomatik auch anamnestische Angaben sowie die Ergebnisse von apparativen Zusatzuntersuchungen ein. Der Internist Walter Siegenthaler (1923–2010) unterscheidet im Prozess der diagnostischen Entscheidungsfindung zwei prinzipielle praktische Vorgehensweisen. Hierbei bezieht er sich ausschließlich auf die kategoriale Diagnostik ▶ [182]:

Gestaltmethode

hypothetiko-deduktive Methode

Bei Anwendung der Gestaltmethode erfolgt nach Sammlung aller relevanten Daten eine Zuordnung zu derjenigen Kategorie, mit der die höchste Übereinstimmung besteht. Dies erfolgt im Sinne einer Mustererkennung. Bei der hypothetiko-deduktiven Methode werden hingegen schrittweise verschiedene infrage kommende Kategorien ausgeschlossen, bis letztlich die zutreffende Kategorie übrig bleibt. Hierzu werden die einzelnen Merkmale hypothesengeleitet in Hinblick auf mögliche zutreffende Kategorien abgefragt. Dies erfolgt nach dem Prinzip des logischen Entscheidungsbaumes ▶ [182].

1.4.4 Diagnostische Zuordnung als Testoperation

Eine jede diagnostische Zuordnung lässt sich auch als Test auf das Vorliegen eines bestimmten Merkmals interpretieren. Folgt man diesem Ansatz, so lassen sich auf die Diagnose die Gütekriterien für psychologische Tests übertragen. Hierbei werden zumeist drei Kriterien unterschieden ▶ [123]:

Objektivität

Reliabilität

Validität

Die Objektivität bezeichnet das Ausmaß der Unabhängigkeit eines diagnostischen Testes vom jeweiligen Untersucher. Die Reliabilität bezeichnet die Zuverlässigkeit eines diagnostischen Testes und die Validität dessen Gültigkeit. Die drei genannten Gütekriterien bauen aufeinander auf: Objektivität ist die Voraussetzung für Reliabilität, und Reliabilität ist wiederum die Voraussetzung für Validität. Umgekehrt sind jedoch hohe Objektivität und Reliabilität noch keine Garantie für hohe Validität.

Im Bereich der Reliabilität lassen sich die Retest-Reliabilität, d. h. die Wiederholbarkeit eines diagnostischen Testes, die Paralleltest-Reliabilität sowie die innere Konsistenz unterscheiden ▶ [123]. Immer wieder wird auch der Begriff der Interrater-Reliabilität genannt, welcher die Übereinstimmung zwischen verschiedenen Untersuchern bezeichnet. Strenggenommen müsste dieser Begriff aber dem Gütekriterium der Objektivität zugeordnet werden. DieInterrater-Reliabilität wird häufig mit Hilfe des sogenanntenKappa-Wertes gemessen ▶ [29].

Die Validität bezeichnet die Genauigkeit bzw. Gültigkeit eines Testes ▶ [49]. Hierbei wird in der Testtheorie oft zwischen inhaltlicher Validität, Konstruktvalidität und Kriteriumsvalidität unterschieden. Für die diagnostische Zuordnung lassen sich die hierbei entscheidenden Charakteristika am anschaulichsten mit Hilfe eine Vierfeldertafel verdeutlichen (▶ Abb. 1.3).

Vierfeldertafel der diagnostischen Entscheidungsfindung.

Abb. 1.3

Durch einen diagnostischen Test soll überprüft werden, ob bei einem Patienten ein Merkmal vorhanden oder nicht vorhanden ist. Dieses Merkmal kann ein bestimmtes Symptom, ein bestimmtes Syndrom oder auch eine bestimmte Krankheit (nosologische Ebene) sein. Der diagnostische Test kann positiv oder negativ ausfallen. Somit sind vier verschiedene Konstellationen denkbar: Die Diagnose ist positiv und das Merkmal ist wirklich vorhanden (richtig positiv) bzw. das Merkmal ist nicht vorhanden (falsch positiv), die Diagnose ist negativ und das Merkmal ist vorhanden (falsch negativ) bzw. das Merkmal ist nicht vorhanden (richtig negativ). Auf der Grundlage dieser vier genannten Möglichkeiten lassen sich dann die wesentlichen Kennwerte eines diagnostischen Tests berechnen.

Kennwerte eines diagnostischen Testes

Sensitivität bedeutet vereinfacht die Wahrscheinlichkeit, einen Kranken richtig als krank zu erkennen. Die Spezifität gibt hingegen die Wahrscheinlichkeit an, einen Gesunden richtig als gesund zu erkennen. Sensitivität und Spezifität eines diagnostischen Testes stehen häufig in einer gegenläufigen Abhängigkeit ▶ [49]. Je höher die Sensitivität, desto niedriger ist im Regelfall die Spezifität und umgekehrt.

1.4.5 Frage nach der Validität einer diagnostischen Zuordnung

Die entscheidende Frage in Hinblick auf die Vierfeldertafel (▶ Abb. 1.3) ist jedoch, wie entschieden werden kann, ob ein Merkmal tatsächlich vorhanden ist oder nicht. In der Testtheorie wird hierbei vom sogenanntenGoldstandard oder Referenzstandard ausgegangen, mit dem dann die Ergebnisse der diagnostischen Zuordnung verglichen werden können. Im Falle einer Appendizitis erscheint dies recht einfach. Da die nosologische Entität der Appendizitis aufgrund der pathologischen Anatomie konzipiert ist, kann das Ergebnis der histopathologischen Untersuchung als Referenzstandard verwendet werden. Die diagnostische Zuordnung in Folge von Anamnese, klinischem Befund, Laboruntersuchung und Sonografie können nun jeweils mit dem histopathologischen Befund als Referenzstandard in Beziehung gesetzt werden. Auf diese Weise lassen sich dann die entsprechenden Kennwerte berechnen (vgl. ▶ oben).

In vielen Fällen, insbesondere bei Störungen aus dem Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie, steht jedoch kein solcher Referenzstandard zur Verfügung. Hier ist dann die Frage nach der diagnostischen Validität nicht so einfach zu beantworten. Darüber hinaus kann ein diagnostischer Test erst dann durchgeführt werden, wenn zuvor entsprechende Merkmale auf der Ebene der Symptome, Syndrome und der Nosologie konzipiert wurden ▶ [48]. Diese Konzepte müssen nun auch wieder eine Validität aufweisen. Besonders problematisch ist dies auf der nosologischen Ebene.

1.5 Krankheitsmodelle

1.5.1 Ontologische und funktionelle Modelle

Unter dem Begriff der Nosologie wird die Lehre von der systematischen Beschreibung und Klassifikation von Krankheiten verstanden. Eng verbunden hiermit ist die Frage nach den Krankheitsmodellen. Klassifikationssysteme und Systematiken sind immer mit bestimmten Modellvorstellungen verbunden, welche wiederum ganz wesentlich von kulturellen Faktoren und Weltanschauungen beeinflusst sind (▶ [183], ▶ [198]).

Grundsätzlich lässt sich eine Unterscheidung zwischen einem ontologischen und einem funktionellen Krankheitsmodell treffen (▶ [39], ▶ [105]). Im ontologischen Modell werden Krankheiten als eigenständige Entitäten aufgefasst, welche unabhängig vom jeweiligen Patienten existieren. Das funktionelle Modell geht hingegen davon aus, dass es Krankheiten als eigenständige Entitäten gar nicht gibt. Vielmehr wird hier angenommen, dass es nur kranke Menschen gibt, bei denen bestimmten Funktionen gestört sein können. In ▶ Tab. 1.1 wird eine kurze Übersicht über diese beiden Modelle gegeben. Ontologische Krankheitsmodelle sind zumeist mit einer kategorialen Diagnostik verbunden, bei den funktionellen Modellen ist hingegen auch eine dimensionale Diagnostik denkbar.

Tab. 1.1

 Übersicht über ontologische und funktionelle Krankheitsmodelle.

Gesichtspunkte

Ontologisches Modell

Funktionelles Modell

philosophischer Hintergrund

Platon

Idealismus, Rationalismus

Aristoteles

Empirismus, Nominalismus

Grundannahmen

Krankheit als eigenständige, vom Individuum unabhängige Entität

Krankheit als Funktionsstörung des individuellen Organismus

Beispiele

spezifische Symptomverbindungen mit spezifischen Verlauf (Syndrom-Verlaufs-Einheiten)

spezifische Ursachen in Form von Krankheitserregern

Störung im Gleichgewicht der vier Säfte (Humoralpathologie)

quantitative Abweichung von einem physiologischen Zustand in Form einer Unter- oder Überfunktion

Protagonisten

Sydenham, Koch, Kraepelin

Hippokrates, Broussois, Bernard, Wernicke

1.5.2 Real- und Nominaldefinitionen

In Hinsicht auf verschiedene Krankheitsmodelle kann weiterhin zwischen Realdefinitionen und Nominaldefinitionen unterschieden werden. Diese Unterscheidung geht letztlich auf den Universalienstreit der scholastischen Philosophie zurück und wird auch in der aktuellen Wissenschaftstheorie diskutiert. Realdefinitionen gehen davon aus, dass es sich bei Krankheiten um unabhängige Entitäten im Sinne von objektiven Fakten handelt. Diese Anschauung wird gelegentlich auch in Anlehnung an den Philosophen Karl Popper (1902–1994) als Essenzialismus bezeichnet. Hierbei gibt es eine starke Überschneidung mit dem zuvor ausgeführten ontologischen Krankheitsmodell.

Nominaldefinitionen gehen demgegenüber davon aus, dass es sich bei Krankheiten lediglich um begriffliche Konventionen handelt. Krankheiten stellen in diesem Zusammenhang somit letztlich Konstruktionen dar, welche sich in der praktischen Verwendung als brauchbar erweisen müssen. Ein Vorteil von Nominaldefinitionen ist, dass man sich hier lediglich auf die Bedeutung von bestimmten Begriffen einigen muss und man diese Begriffe dann problemlos verwenden kann. Genau dieser Punkt kann auch im klinischen Alltag erhebliche Vorteile mit sich bringen und insbesondere die Kommunikation unter Ärzten erleichtern ▶ [170].

1.5.3 Konzeption von Krankheitsentitäten

Seit der Entstehung der Medizin im antiken Griechenland waren Ärzte darum bemüht, Ordnungs- und Klassifikationsschemata für Krankheiten zu entwerfen. Hiermit ging auch der Versuch einher, einzelne nosologische Entitäten voneinander abzugrenzen ▶ [48]. ▶ Tab. 1.2 soll eine Übersicht über einige wichtige Entwürfe der Neuzeit geben.

Tab. 1.2

 Meilensteine der Nosologie.

Personen

Entwürfe

Thomas Sydenham

klinische Verlaufsbeschreibungen

Giovanni Battista Morgani

pathologische Anatomie

Xavier Bichat

Gewebepathologie

Rudolf Virchow

Zellularpathologie

Robert Koch

pathologische Agenzien

Linus Pauling

molecular Disease Concept

Hierbei sind zunächst die Arbeiten von Thomas Sydenham (1624–1689) aus dem 17. Jahrhundert hervorzuheben, welcher Krankheiten aufgrund ihrer regelmäßig auftretenden Symptom- und Befundkombinationen einteilte. Diese Klassifikation beruhte wie die botanische Taxonomie auf der Ähnlichkeit der beobachteten Phänomene. Hierbei handelt es sich jedoch genau genommen lediglich um eine syndromale Ordnung. Eine Wende trat mit dem Aufkommen der pathologischen Anatomie im 18. Jahrhundert ein. Krankheiten konnten nun vorwiegend aufgrund ihres pathologisch-anatomischen Befundes klassifiziert werden, wobei die Einführung der Obduktion eine entscheidende Rolle spielte. Hier sind vor allem die Namen von Giovanni Battista Morgani (1682–1771) und Xavier Bichat (1771–1802) zu nennen. Mit Rudolf Virchow (1821–1902) wurde im 19. Jahrhundert die Zellularpathologie begründet, welche nun die Grundlage der Nosologie war. Nach der Entdeckung von pathologischen Agenzien wie Bakterien als Krankheitserreger versuchte man schließlich, Krankheiten aufgrund ihrer Ätiologie einzuteilen. Als Beispiel sei hier der Name von Robert Koch (1843–1921) erwähnt. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts spielt nun eine nosologische Ordnung aufgrund von molekularbiologischen Erkenntnissen eine immer bedeutendere Rolle. In diesem Zusammenhang sei auf die programmatische Arbeit von Linus Pauling (1901–1994) und Mitarbeitern zur Sichelzellanämie als molekulare Erkrankung verwiesen ▶ [148]. Bezeichnenderweise wurde diese Arbeit nicht von Ärzten, sondern von Naturwissenschaftlern verfasst. So wurde auch ab Mitte des 20. Jahrhunderts der Nobelpreis für Medizin oder Physiologie nicht mehr an Ärzte, sondern fast ausschließlich an naturwissenschaftlich orientierte Grundlagenforscher vergeben.

Bis heute gibt es kein einheitliches nosologisches System. Der Psychiater Robert Kendell (1935–2002) prägte hierbei die Metapher von einem alten Haus, welches häufig neu möbliert wurde, ohne dass man zuvor die alten Möbel beseitigt habe ▶ [105]. So gibt es heute eine Reihe von Prinzipien, auf denen nosologische Systeme aufbauen:

Symptomatik

Verlauf

Ätiologie

Pathologie

Pathophysiologie

1.5.4 Krankheitsentitäten und diagnostische Validität