Albert Schweitzer, Denken, glauben, leben - Volker Schoßwald - E-Book

Albert Schweitzer, Denken, glauben, leben E-Book

Volker Schoßwald

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Beschreibung

Ein Menschenfreund, ein Idol, ein Vordenker für die Gleichheit aller Menschen, ein... Albert Schweitzer ist kaum plakativ zu erfassen, weil er sehr viele Facetten aufweist und auch immer wieder versuchte, neue Denkwege zu gehen, wenn er auf die Situation nicht mehr mit seinen bisherigen Antworten reagieren konnte. In diesem Buch werden die theologischen, anthropologischen, philosophischen und ethischen Aspekte seines Denkens und Wirkens skizziert.

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Inhaltsverzeichnis

1 Der neue Glauben muss mystisch sein

2 Zur Einleitung: Der rationale Mystiker

3 Schweitzers Lebensweg

4 Im Urwald

5 Lamabarene!

6 Die Mystik des Apostels Paulus

7 Der große Denker und Täter

8 Der große Theologe

9 Entsprechungen: Jesus und Albert

Zweiter Teil

10 Albert Schweitzers Geschichte erzählt

11 Anhang: Friedrich Bomhards Tagebuch

12 Anhang: Blitzlicht zu Jean Paul Sartre

13 Anhang: Denken und Toleranz

14 Literatur

1 Der neue Glauben muss mystisch sein

2 Zur Einleitung: Der rationale Mystiker

3 Schweitzers Lebensweg

3.1 Von Kaysersberg nach Straßburg

3.2 Straßburg und Paris: Theologe und Organist

3.3 1896: „Ich habe mir mein Glück durch nichts verdient…“

3.4 Afrika 1913

4 Im Urwald

5 Lamabarene!

5.1 1914: Krieg, die Niederlage des Menschen

5.2 Schweitzer wird Vater

5.3 Predigt über „Ehrfurcht“

5.4 Afrika, zum zweiten: 1924 und eine neue Station

5.5 Weihnachten 1929: Wieder in Lambarene

5.6 Albert Schweitzer, Superstar

6 Die Mystik des Apostels Paulus

7 Der große Denker und Täter

7.1 Schweitzer als Ikone des 20. Jahrhunderts

7.2 Die Weltformel e=mc

2

ungleich Ehrfurcht

8 Der große Theologe

8.1 Die Leben-Jesu-Forschung

8.2 Die Kulturkritik und die Ethik

9 Entsprechungen: Jesus und Albert

9.1 Anderssein

9.2 Gottes Geschöpfe

9.3 Was ist wirklich etwas wert?

9.4 Vom Provinzler zum Weltbürger

9.5 Perspektivwechsel

9.6 Das Reich Gottes

Zweiter Teil

10 Albert Schweitzers Geschichte erzählt

10.1 Ein Start „Dritter Klasse“

10.2 Auf schwankendem Schiff

10.3 Flussfahrt durch den Dschungel

10.4 Lambarene

10.5 Das Freiluft-Spital

10.6 Zuflucht im Hühnerstall

10.7 Der vielseitige Koch

10.8 Tiere des Dschungels

10.9 Bambus und Wellblech

10.10 „Sie sind verhaftet, Doktor!“

10.11 Ein Gang durchs Spitaldorf

10.12 Ein Kind weint

10.13 Gefangen im Kloster

10.14 Traurige Heimat

10.15 Alter Hut und neue Kraft

10.16 Auf dem Fluss

10.17 Der „Neger von Colmar“

10.18 Der Ruf in den Urwald

10.19 Der große Tausch: Stadt gegen Urwald

10.20 Ein Briefkasten in Paris

10.21 Kind im kalten Winter

10.22 Umzug mit dem Pferdewagen

10.23 Tod und Teufel

10.24 Das Herrenbüble...“

10.25 Der freundliche Mausche

10.26 Die Vogeljagd

10.27 Ankunft in Lambarene

10.28 Onkel Albert

10.29 Albert und der Friedensnobelpreis

11 Anhang: Ludwig und Albert Schweitzer, Friedrich Bomhards Zeugnisse

12 Anhang: Blitzlicht zu Jean Paul Sartre

13 Anhang: Denken und Toleranz

13.1 Die Bösen sind immer die andern

13.2 Ein Glaubensheld und Polemiker

13.3 Das Begreifen des Unbegreiflichen: Kleingeist contra Spinoza

13.4 Lessing und die dumme Vernunft: Die Aufklärung

13.5 Muss Toleranz Intoleranz tolerieren?

13.6 Lässige Lessingworte im Radio

14 Literatur

Zum Gedächtnis an meinen Vater Helmut, der mir Albert Schweitzer nahebrachte

Zum Vermächtnis an meine Söhne Martin und Levi, dass sie etwas von Albert Schweitzer in ihrem Leben aufgreifen mögen

1 Der neue Glauben muss mystisch sein

Mystisch ist der Glaube mit Bodenhaftung

Wer einfach nur in das Leben und Wirken von Albert Schweitzer eintauchen möchte, beginnt am besten mit dem zweiten Teil, der narrativ mit Schweitzers Biografie umgeht.

Glauben zu definieren ist immer wieder eine Herausforderung, zugleich muss eine solche Definition scheitern, weil zum Glauben Gott gehört und Gott als „Wesen“ zu definieren sprengt die realen Möglichkeiten von uns Menschen. Wir können von Gotteserfahrungen berichten, wir können dann auch konstruieren, wie sich die Welt mit unserem Gott aus unserer Sicht darstellt, aber wir gehen einen entscheidenden Schritt zu weit, wenn wir Gott in eine Definition einbauen. Karl Barth legte dies 1919 unmissverständlich in seinem Römerbriefkommentar dar und daran hat sich nichts geändert: Die Rede von Gott ist Unmöglichkeit. Wenn wir von Gott reden, dann tun wir etwas Unmögliches. Andererseits behielt Wittgenstein nicht recht mit seinem Diktum, worüber man nicht reden könne, davon müsse man schweigen.

Bei Albert Schweitzer spricht sein Leben von Gott. Er ist teilweise inkarnierte Verkündigung, aber das, was er sagte oder schrieb, interpretiert sein Leben zugleich.

Das alte Pfarrhaus in Günsbach, heute agiert dort ein Esoteriker. Die Büste Albert Schweitzers scheint unverzichtbar, aber diesem wiederum war der Verstand unverzichtbar als eine der kostbarsten Gaben Gottes.

Die Kirche von Günsbach – der Turm hat eine spitze Haube, seinerzeit war es ein Zwiebelturm.

2 Zur Einleitung: Der rationale Mystiker

„Am 13. Oktober 1905, einem Freitag, warf ich in Paris in einen Briefkasten der Avenue de la Grande Armee Briefe ein, in denen ich meinen Eltern und einigen meiner nächsten Bekannten mitteilte, daß ich mit Anfang des Wintersemesters Student der Medizin werden würde, um mich später als Arzt nach Äquatorialafrika zu begeben.“1 Das, was Albert Schweitzer damals einer kleinen Öffentlichkeit mitteilte, erreichte im Laufe der Jahre und Jahrzehnte die Weltöffentlichkeit. Aus dem eigenwilligen jungen Mann wurde eine Ikone des 20. Jahrhunderts. Albert Schweitzer war mehr als nur der putzige Urwalddoktor a la Daktari, der einen Pelikan streichelt und mit ernster Miene auf den Leistenbruch eines schwarzen Kindes blickt.

1905, mit dreißig Jahren war er kein Nobody mehr. Als Philosoph hatte er sich durch seine Dissertation über Kant einen Namen gemacht, an der Universität lehrte er als Theologe, der über das Messianitäts- und das Leidensgeheimnis habilitiert hatte, er konzertierte auf der Orgel, mit der er sich auch technisch auskannte2 und hatte sich musikwissenschaftlich durch „J.S.Bach, le musicien-poète“ hervorgetan. Wenn dieser Mann eines nicht brauchte, dann war ein neues Betätigungsfeld. Wenn dieser Mann eines nicht nötig hatte, dann das Haschen nach Anerkennung.

Der Weg wäre ziemlich ungewöhnlich gewesen. Selbst für reputierte Mediziner erscheint das Ansehen „im Urwald“ als ein sozialer Abstieg. Einen Prominentendoktor in Straßburg3 hätte man noch akzeptiert, aber den Theologieprofessor4 Schweitzer, der aus purem Humanismus wieder die Studentenbank drücken würde, konnte der wohlmeinende Kollege Professor Fehling aus der medizinischen Fakultät nur verständnislos anblicken: „Als ich mich bei Professor Fehling, dem damaligen Dekan der medizinischen Fakultät, als Student anmeldete, hätte er mich am liebsten seinem Kollegen von der Psychiatrie überwiesen.“5 Schweitzer, der promovierte Jesusschüler, sah ganz klar: Diejenigen, die Ärzte haben, brauchen mich nicht unbedingt, aber die, die keine Ärzte haben, die brauchen einen Arzt. (Mk.2,17) Wenn ich nicht der approbierte Salonlöwe in Europa bin, aber die kranken Menschen in Afrika kuriere, dann ist es genau das Richtige. Ich will kein Held sein, sondern ganz demütig dienen.

Da Schweitzer kein Masochist, sondern ein Idealist war, setzte er für dieses Ziel seine Stärken, zu denen seine Reputation gehörte, punktgenau ein.

Sein Vorbild, der Zimmermannssohn Jesus trat seinerzeit auch mit dreißig Jahren an die Öffentlichkeit6, aber im Kontrast zu seinem Nachfolger quasi aus dem Nichts heraus. Jesu Erfolgsstory war zunächst ziemlich kurz, vermutlich drei Jahre, also nicht einmal eine Legislaturperiode des Bundestags. Andererseits gibt es von Jesus heute nicht nur gemalte Ikonen, sondern er ist weltweit eine symbolische Ikone nicht nur bei Christen. Der Name Jesu wird auch kommerziell gerne genutzt und noch lieber gegen die Kirchen ausgespielt. Jesus ist immer noch eine erstaunliche Autorität, und zwar gerade als Symbol, oder als Ikone, und dies oft in Abgrenzung zur biblischen Überlieferung und vor allem zur kirchlichen Lehre. Die Existenz Gottes wird gerne mit der Theodizeefrage bestritten, aber die Existenzberechtigung der Kirche häufig mit Bezug auf Jesus7. In der heutigen Tendenz zur religiösen Patchworkidentität8 spielt eher ein fiktiver Jesus eine Rolle als dass an sein bezeugtes Wirken gedacht würde. Ob allerdings eine Patchworkreligiosität überhaupt tragfähig ist, werden erfahrene Seelsorger bezweifeln.

Als Jesu „Nachfolger“ Albert Schweitzer 1965 starb, kannte ihn „jedes Kind“; heute hat dies nachgelassen, aber wo er bekannt ist, fungiert auch er als Ikone. Schweitzer ist weniger eine Gestalt abendländischer Geistesgeschichten oder humanistischen Idealismus als ein Mythos. Wie bei allen Mythen steckt im Mythos Albert Schweitzer eine zeitlose Wahrheit, die in seiner Lebensgeschichte anschaulich wird. Wie nur wenige Menschen eignet er sich als Beispiel dafür, wie anscheinende Widersprüchlichkeiten nicht nur akzeptiert werden müssen, sondern auch konstruktiv gelebt werden können.

Eines seiner großen Werke, über dem er teilweise gezwungener Maßen jahrelang saß, war die „Mystik des Apostels Paulus“. In ihr kommt er vor allem auf das „Sein in Christo“ zu sprechen. Darin sieht er eine Vergegenwärtigung des Reiches Gottes durch die christliche Existenz. Es wird spannend sein, seine Lebensgeschichte auch daraufhin zu betrachten, wie weit sie wie „Reich Gottes“ wirkt.

Schweitzer wollte vor allem identisch sein. Bei ihm musste intellektuell wie praktisch alles stimmig sein. Natürlich gelingt das nie; das ist gerade einem lutherischen Theologen klar. Wir sind nicht vollkommen und schaffen auch nichts vollkommenes. Und doch lässt sich eine Identität, die sich in der Lebensführung bewährt, erkennen. Gerade an den Stellen, wo man sich selbst korrigieren muss, wo man Fehler, Fehlentwicklungen, falsche Bewertungen zugeben muss, wird deutlich, ob man im kritischen Umgang mit sich selbst treu bleibt. Im Griechischen gibt es für „Treue“ das Wort Πίστη. Dieses Wort bedeutet im Neuen Testament zugleich „Glaube“. Wir merken schon hier, wie Glaube und Identität zusammen gehören. Das macht die Beschäftigung mit Albert Schweitzer so spannend: Glauben und Leben sind verbunden wie die Fäden in einem gewebten Stoff. Ob der Weber nun ich selbst bin oder ob Gott meinen Lebensstoff webt, ist eine eher poetische Frage, die sich am besten mystisch erschließen wird. Schauen wir uns den praktischen Mystiker an.

1 A. Schweitzer, aus meinem Leben und Denken, S.65

2 A. Schweitzer, Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst, 1906

3 1871 1918 war Straßburg Hauptstadt des Reichslandes Elsass-Lothringen.

4 „Am 1. März 1902 hielt ich meine Antrittsvorlesung vor der theologischen Fakultät zu Straßburg über die Logoslehre im Johannesevangelium.“ Leben S.36

5 Leben S.76 (Hardcover S.83)

6 Lk.3,23.

7 Siehe auch Volker Schoßwald, Allmacht, 2015

8 Mit diesem Begriff ersetze ich den gängigeren „Synkretismus“.

3 Schweitzers Lebensweg

3.1 Von Kaysersberg nach Straßburg9

Albert Schweitzers Lebensweg begann in der Provinz und er endete in der Provinz. Kaysersberg im Oberelsass und Lambarene in Gabun sind abgelegene Orte, weltabgeschieden. Umso erstaunlicher ist, welche Wirkung der Elsässer auf diesem Globus erzielen konnte. Am 14.1.1875 erblickte er als zweites Kind des lutherischen Pfarrers Ludwig (Louis) Schweitzer in Kaysersberg das Licht der Welt10.

Jean-Paul Sartre pointiert die Vorgeschichte in seiner Autobiographie „Die Wörter“ süffisant: Es begann mit einem Elsässer Lehrer, der 1850 aus wirtschaftlichen Gründen „Krämer“ wurde. Um den Verlust für die Bildungswelt zu kompensieren, sollten seine Kinder entsprechende Berufe ergreifen. Einer sollte die Seelenbildung übernehmen, also Pastor werden. Dafür wählte er Charles aus. Doch der floh, rannte einer Zirkusreiterin hinterher, woraufhin der erboste Vater sein Bild gegen die Wand dreht und die Erwähnung des Namens verbot. Der zweite Sohn Auguste war so selbstlos, den Weg des Vaters zu wählen und Geschäftsmann zu werden, ein recht erfolgreicher, wie Sartre bemerkte. Louis hingegen war noch nicht vorgeprägt und wurde vom Vater zum Pfarrer umfunktioniert. Sartre: „Louis trieb später den Gehorsam so weit, daß er seinerseits einen Pastor erzeugte, Albert Schweitzer, dessen Laufbahn bekannt ist.“11 Als Johannes Paul Sartre dies schrieb, war Albert bereits 89 Jahre alt, die deutsche Ausgabe von Sartres autobiographischem „Die Wörter“ erschien in seinem Todesjahr.

Mit seinen kleinen Kindern Luise und Albert übernahm der junge Pfarrer noch im selben Jahr eine Pfarrstelle im nahegelegenen Günsbach, wo Adele, Marguerite und Paul zur Welt kamen und Albert die Dorfschule besuchte.

An den ersten Schultag erinnerte er sich in seinem autobiographischen Film als Tag der Tränen, weil ihm klar war, dass nun die Freiheit – vor allem sich in der Natur zu tummeln - zu Ende ging. Mit neun Jahren kam der aufgeweckte Schüler auf die Realschule nach Münster/Elsass und dann aufs Gymnasium nach Mülhausen. Er selbst erlebte sich als mäßigen Schüler an; was in ihm schlummerte, erwachte erst später. Dazu trug in den höheren Jahrgangsstufen der Schuldirektor Wilhelm Decke bei, der im Latein- und Griechischunterricht den Schülern ein lebendiges Verständnis für die alte Philosophie vermittelte, verbunden mit dem neueren Denken, etwa von Schopenhauer. 1893 legte Schweitzer die Abgangsprüfung ab und durfte dann durch Vermittlung seiner Pariser Verwandten in Paris bei Charles Marie Widor Orgelunterricht nehmen.

3.2 Straßburg und Paris: Theologe und Organist

Mit 18 Jahren begann er sein Theologiestudium in Straßburg und belegte zugleich Philosophie. Wie belastungsfähig er war, bewies er 1894 beim Militär (das Elsass war damals deutsch); als es im Herbst ins Manöver ging, packte er sein griechisches Testament ein, um sich auf die Prüfung durch Professor Holtzmann über die Synoptiker vorzubereiten und „da ich damals so robust war, daß ich keine Müdigkeit kannte, kam ich an den Abenden und an den Ruhetagen auch wirklich zum Arbeiten.“12 Diese Lebensweise zieht sich durch sein Leben.

Die Thematik, die er im Manöver erarbeitete, beschäftigte ihn lange Jahre: Wer war Jesus wirklich und was wollte er? Schon bei der Prüfungsvorbereitung fragte er sich, ob sein verehrter Lehrer, der renommierte Synoptikerforscher Julius Holtzmann mit der historisch-kritischen Zuordnung der Aussendungsworte Jesu Mt.10 recht hatte, wenn er sie für nachösterliche Gemeindebildung hielt, denn „Spätere wären doch nicht darauf gekommen, ihm Worte in den Mund zu legen, die sich nachher nicht erfüllten. Der lapidare Text zwang mich anzunehmen, daß Jesus wirklich Verfolgungen für die Jünger und ein daran anschließendes alsbaldiges Erscheinen des überirdischen Menschensohnes in Aussicht gestellt habe, ohne daß die nachfolgenden Ereignisse ihm darin recht gaben.“13 Schweitzer denkt hier folgerichtig und bedient sich der historisch-kritischen Methodik, um eine zwingendere Schlussfolgerung als sein geschätzter Lehrer zu ziehen.14 Die historisch-kritische Methode in der exegetischen Theologie entzündete sich zunächst an Ungereimtheiten. Wenn beispielsweise parallele „Berichte“ über die Taten Jesu bei Markus, Matthäus, Lukas oder gar Johannes sich unterschieden und man nicht jedes Mal davon ausgehen wollte, dass ein ganz ähnliches Ereignis ein bis viermal stattgefunden hatte, musste man Kriterien finden, welche Erzählung wohl dem historischen Ereignis am nächsten kam. Ob eine Erzählung in sich schlüssig ist, wäre ein solches Kriterium; ob die eine oder andere Version erfahrungsgemäß realistischer war oder besser bzw. schlechter zu anderen Jesusgeschichten passte, war ein weiteres Kriterium. Ob eine Geschichte etwas Neues enthielt oder Erzählungen aus andren Quellen entsprach, führte ebenfalls zu entsprechenden Schlussfolgerungen. Freilich liegt es immer im Ermessen des Theologen oder des Rezipienten, welchen Weg er für den überzeugendsten hielt. Das ließ diese „Wissenschaft“ relativ willkürlich erscheinen, wenn man sich mit den gleichzeitig blühenden Naturwissenschaften und beispielsweise ihrem Kriterium der Wiederholbarkeit verglich.

Über die Aussendungsreden kam er zu der Schlussfolgerung, dass Jesus kein „Reich Gottes auf Erden“ erwartet habe, sondern „eines, das mit dem baldigen Anbruch der übernatürlichen Weltzeit zu erwarten sei.“15 Den ganzen Komplex fasste er in seiner epochalen theologischen Dissertation „Kritische Darstellung unterschiedlicher neuerer historischer Abendmahlsauffassungen“ 1901 zusammen. Unter ihrem zweiten Titel „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ (seit 1913) ist dies bis heute ein Standardwerk. Schweitzer schließt die Versuche, ein historisches Jesusbild zu zeichnen, ab. Er selbst ordnet Jesus als Menschen mit einem messianischen Bewusstsein ein.

Zum Thema seiner philosophischen Dissertation kam es 1898 im Regen. Professor Theobald Ziegler bat ihn auf der Treppe vor der Universität unter seinen Regenschirm und schlug ihm als Thema Kants Religionsphilosophie vor.16 Zunächst reiste Schweitzer nach Paris, studierte an der Sorbonne und nahm bei Widor Unterricht. Sein als innovativer Philologe bekannter Onkel Charles17 führte ihn in die universitäre Gesellschaft von Paris ein. Das war auch später sehr hilfreich, als er etwa Unterstützung brauchte, um als deutscher Arzt auf französischem Territorium zu arbeiten oder auch ganz banal, um finanzielle Ressourcen zu erschließen.

Schweitzer kehrte zur philosophischen Promotion wieder nach Straßburg zurück, und war dort ab Dezember 1899 auch Prediger in St. Nicolai. Sein zweites theologisches Examen fiel etwas knapp aus, da er sich in Hinblick auf seine ausstehende Dissertation nicht breit genug vorbereitet hatte. Im Nachhinein klingt es amüsant, dass er bei der mündlichen Prüfung über den Dichter eines bestimmten Kirchenliedes nichts zu sagen wusste und es damit begründete, dass er das Lied für zu unbedeutend gehalten hatte, um sich merken, von wem es sei. Der große Organist war ansonsten ein großer Bewunderer von Spitta, jenem Dichter. Pikanterweise saß in der Prüfungskommission auch Friedrich Spitta saß, der Sohn des Dichters… Alle waren entsetzt, Schweitzer aber bestand dennoch.

Sein Lebensrückblick verdeutlicht, welche Bandbreite er in jenen spannenden Jahren um die Jahrhundertwende abdeckte. Über die Studien zum Abendmahl kam er auf die umfassende Leben-Jesu-Forschung des zu Ende gehenden Jahrhunderts; er setzte es auf die ihm eigene Art in Beziehung zum damaligen Christentum.

Während er weiterhin sich Organist weiterbildete, entstand ein weiteres bahnbrechendes Werk, diesmal über Johann Sebastian Bach. Durch glückliche Umstände konnte er ein Exemplar der sonst nicht mehr erhältlichen Gesamtwerke Bachs erwerben. Einer Pariser Dame nahmen sie zu viel Platz in ihrer Bibliothek weg und sie gab sie dem wissbegierigen jungen Mann für nur 200 Mark ab. Er schrieb das Werk zunächst für den französischen Markt – folglich in französischer Sprache -, da dort ein grundlegendes Werk fehlte. Nach seinem Erscheinen gab es Nachfrage auf dem deutschen Markt. Schweitzer, zweisprachig aufgewachsen, fühlte sich nicht in der Lage, sein eigenes Buch zu übersetzen und schrieb naheliegender Weise ein neues – mit doppeltem Umfang. Schweitzers Werk wurde zum Klassiker auch bereits durch den ersten Satz, in dem er subjektive und objektive Künstler unterschied und Bach den objektiven zuordnete, der mit den Mitteln, die ihm zu Verfügung standen, arbeitete.18

Er war jedoch nicht einfach der Theoretiker, sondern auch der Praktiker; er setzte Bach an der Orgel um19. Wissbegierig, wie er war, wollte er auch das Instrument, die Königin der Instrumente, durch und durch kennen, beschäftigte sich mit dem Orgelbau, veröffentliche eine umfangreiche Studie darüber und engagierte sich für Erhaltung und fachgerechte Restaurierung – damit Rettung! – alter Orgeln, z.B. die Silbermann-Orgel in St. Thomas in Strasbourg. „In Afrika errettet er alte Neger, in Europa alte Orgeln“, zitiert er seinen Freundeskreis20.

3.3 1896: „Ich habe mir mein Glück durch nichts verdient…“

In frommen Biographien liest es sich so: „Ich habe mit Gott nie etwas anfangen können. Ich liebte das Leben und das Geld. Eines Tages kam ich an einer Kurve ins Schleudern und mein Auto prallte gegen einen Baum. Mein Leben hin an einem seidenen Faden. Da kam ich zur Besinnung, da stellte ich mir die Frage nach dem Sinn des Lebens, da fand ich zu Gott, da übergab ich meinen Leben Jesus…“ Das ist die klassische Variante: Unglück stellt Leben in Frage, neue Positionen werden bezogen.21

Bei Albert Schweitzer war es umgekehrt. Der junge Mann aus dem Pfarrhaus wuchs behütet unter Menschen in ärmlichen Verhältnissen eines Gebirgsdorfs auf. Dank seines Elternhauses durfte er in weiterführende Schulen gehen und studieren. Dieses Glück stellte er als Selbstverständlichkeit in Frage. Der Heilige Geist, es war just Pfingsten, gab ihm 1896 eine spezielle Wegweisung: „An einem strahlenden Sommermorgen, als ich… in Pfingstferien zu Günsbach erwachte, überfiel mich der Gedanke, daß ich dieses Glück nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen dürfe, sondern etwas dafür geben müsse. Indem ich mich mit ihm auseinandersetzte, wurde ich, bevor ich aufstand, in ruhigem Überlegen, während draußen die Vögel sangen, mit mir selber dahin eins, daß ich mich bis zu meinem dreißigsten Lebensjahre für berechtigt halten wollte, der Wissenschaft und der Kunst zu leben, um mich von da an einem unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen.“22

Hat er sich auch hier an Jesus orientiert. Als einziges biographisches Datum überliefert Lukas den Beginn der Wirksamkeit mit 30 Jahren. (Lk.3,23) Was er vorher machte, wissen wir nicht. Aber er wird weder studiert haben noch Orgelbau betrieben.

Schweitzer gönnte sich eine Zeitspanne, die Fülle des Lebens auszukosten, erfolgreich und berühmt zu sein. Zugleich begab er sich gezielt, aber beiläufig, auf die Suche nach einer konkreten Aufgabe. Nicht das Spektakuläre stand für ihm auf der To-do-Liste, sondern das, wo Demut gefragt ist, sich weniger Freiwillige finden würden.

Er stöberte in seinem Umfeld herum und betätigte sich zunächst bei der Unterstützung von Nicht-Sesshaften, in seinen Worten „Vagabunden“. Hier erkannte er mit der Zeit, dass das Ganze organisiert werden musste; da war Anderes als nur individuelle Mildherzigkeit gefordert.

Im „Diaconat Thomana“ kümmerte er sich um arme Familien. Dazu brauchte er Geldmittel, die er „erbetteln“ musste. Seiner Einschätzung nach machte er dies ungeschickt, entwickelte aber zunehmend Kompetenzen, so dass er in seinen späteren Jahren extrem erfolgreich „bettelte“.

Zu seinem Erstaunen war diakonische Hilfe von Ehrenamtlichen gar nicht überall erwünscht. Als er 1903 eine relativ große Wohnung bezog und einen Teil davon für verwahrloste Kinder zur Verfügung stellen wollte, waren die Fürsorgeorganisationen auf freiwillige Mitarbeit nicht eingestellt. Nach dem Brand des Straßburger Waisenhauses schlug der Direktor Schweitzers Angebot, Kinder bei sich aufzunehmen, aus, ließ ihn nicht einmal ausreden.

Auf der Führungsebene können auch heutzutage manche sozialen Einrichtungen noch Missionsgebiet sein. In der evangelischen Kirche unseres Jahrzehnts wird hart diskutiert, ob christliche Diakonie nur von Christen ausgeübt werden darf.23 Zwar ist alles andere Etikettenschwindel, aber auf der operativen Ebene stellt sich die Frage, ob man genügend christliche Mitarbeiter rekrutieren kann oder, im Interesse der Klienten, auf fachlich qualifiziertes, aber nicht christliches Personal zurückgreift. Sachgerecht wäre, die Arbeit so zu reduzieren, dass sie konfessionell und personell geleistet werden kann und ansonsten z.B. den Staat in die Pflicht zu nehmen.

Schweitzer selbst trennte bei seinem eigenen Projekt ganz klar zwischen der ärztlichen Tätigkeit und seiner Existenz als Pfarrer. Der medizinische Bereich blieb säkular, auch wenn seine persönliche Existenz als Christ auch für die Patienten sichtbar war.

Was Schweitzer wollte, war ihm im Prinzip seit 1896 klar, aber die Konkretion ergab sich erst 1904, freilich mit einer interessanten familiären Vorgeschichte. Schon als Kind war Albert fasziniert von den Missionsgottesdiensten seines Vaters. Dieser hatte dort immer wieder aus Schriften der Pariser Mission vorgelesen. Mehr beiläufig griff Schweitzer in seiner Wohnung im Thomasstift zum aktuellen grünen Heft, das er abonniert hatte. Doch irgendwas fesselte ihn diesmal eigenartig. Alfred Boegner, der Leiter der Pariser Missionsgesellschaft hatte einen Artikel „Les besoins de la Mission du Congo“ geschrieben, beklagte den Mangel an Mitarbeitern und schloss: „Menschen, die auf den Wink des Meisters einfach mit: Herr, ich mache mich auf den Weg, antworten, dieser bedarf die Kirche.“ Alberts Herz antwortete und das Ziel war klar.24 Jetzt galt es, zielgerichtet zu agieren, Medizin zu studieren und konkrete Pläne für den Kongo zu entwickeln.

Zielgerichtet? Ist Dr. Schweitzer noch ganz richtig im Kopf? Wir sind umgeben von Leuten, die es besser wissen als wir. So erlebte es auch der 30-Jährige. „Warum hast du nicht vorher mit mir darüber gesprochen?“ beklagten sich Freunde. Über die Theologen unter ihnen konnte er nur die Stirn runzeln: Wenn es ans Predigten ginge, würden sie bestimmt ganz tolle Worte dafür finden, dass der Apostel Paulus im Galaterbrief erklärte, er habe sich über seine Pläne nicht zuvor mit Fleisch und Blut besprochen.25 Es geschieht zu oft, dass Prediger wunderbare Formulierungen finden, ohne dass die Predigt an ihrem Leben ablesbar würde. Verändert Jesus etwas an deinem Leben? fragte Schweitzer nicht nur sich, sondern auch seine „Kritiker“.

Schweitzer irritierten seine „christlichen“ Gesprächspartner, die der Gedanke befremdete, „daß das Streben, der von Jesus verkündeten Liebe zu dienen, einen Menschen aus seiner Bahn werfen könne, obwohl sie es im Neuen Testament lasen und es dort ganz in der Ordnung fanden.“26 Die Bibel wird nicht dadurch zum Märchen, dass sich unglaubliche Geschichten darin finden wie die Erschaffung des Menschen aus Lehm, sondern dass Christen von etwas erzählen, das sie aufs eigene Leben nicht wirklich, nicht radikal beziehen. Natürlich stülpt Jesus dein Leben nicht täglich um 180° um. Das wäre nur noch Chaos. Aber grundlegende Veränderungen, die nicht selbstverständlich sind, provoziert er immer wieder.

Der Stil der Zeit hatte sich verändert. Der Wiener Arzt Sigmund Freud (1856-1939) steht nicht nur für die wissenschaftliche Psychotherapie, sondern auch für Ära, in der man begann, zu „psychologisieren“. Dies widerfuhr in jenen Jahren auch Albert Schweitzer und er beschwert sich darüber, dass „so viele Menschen sich das Recht nehmen wollten, alle Türen und Läden zu meinem Inneren aufzureißen!“27 Darüber, dass sein Motiv Frustration über mangelnde Erfolge sei, konnte er nur den Kopf schütteln. Im Kontrast zu den meisten Kritikern in seiner Umgebung hatte er es in mehrerer Hinsicht zu etwas gebracht. Besonders gewiefte Seelenschnüffler unterstellten „traurige Herzenserlebnisse“, denen sein Entschluss zu verdanken sei. Gutmütige Menschen, die sich nur dachten, dass der späte Junggeselle etwas sonderlich geworden sei, empfand er dazu im Kontrast geradezu als wohltuend.

Natürlich setzte er sich mit der Kritik auseinander. Sein Projekt sollte nicht daran scheitern, dass er beratungsresistent wäre. Er musste seine Möglichkeiten und Grenzen realistisch einschätzen und wenn sein Vorhaben scheitern sollte, musste er dies akzeptieren können.

Dass Menschen erwarteten, der bisher erfolgreiche Mann solle seine Positionen ausbauen, ist zwar naheliegend, aber er wollte ein Held sein, der seinen Weg nicht als Heldentum wahrnahm. „Es gibt keine Helden der Tat, sondern nur Helden des Verzichtens und des Leidens.. Ihrer sind viele. Aber nur wenige von ihnen sind bekannt…“28

Arzt wollte er werden, um „ohne irgendein Reden wirken zu können“.29 Reden konnte er auf Kanzel und Katheder schließlich genug. Später wirkte er durch Reden auf seinen Tourneen durch Europa, als er „um Geld bettelte“. Sein biographischer Bruch beinhaltete für ihn, dass er sich seine Zukunft „nicht als ein Reden von der Religion der Liebe, sondern nur als ein reines Verwirklichen derselben“30 vorstellte.

Er zielte Äquatorialafrika an, weil er von dort durch Missionare gehört hatte, dass ein Arzt „das Notwendigste des Notwendigen“31 war. Diese Missionare litten darunter, dass sie den Menschen, die mit Gebrechen zu ihnen kamen, nicht helfen konnten, weil ihnen die Kompetenzen fehlten. Dafür wollte Schweitzer nun etliche Jahre studieren. Das dauert ja ewig! Aber er verglich sich mit Hamilkar und Hannibal, die die Eroberung Roms durch die aufwändige Eroberung Spanien und den anschließenden Zug (mit Elefanten) durch die Alpen vorbereiteten. Damals ging es von Afrika nach Europa, bei ihm von Europa nach Afrika, damals ging es um Macht, diesmal ging es um Liebe.

Nun tauchte leviathanmäßig ein Problem auf: Der Arzt, der da kommen sollte, kam im Auftrag der Pariser Missionsgesellschaft und ihr ehrenwertes Komitee hatte inhaltliche Probleme mit den bisherigen theologischen Veröffentlichungen des dreifachen Herrn Doktor. Einige Mitglieder des Komitees protestierten dagegen, „die Dienste eines Missionsarztes anzunehmen, der nur die rechte christliche Liebe, nicht aber auch den rechten Glauben hätte.“32 Diese etwas süffisante Formulierung geht auf Schweitzers Konto und er gesteht einige Zeilen weiter, dass es ihn reizte, darüber zu diskutieren, „ob eine Missionsgesellschaft angesichts des Evangeliums Jesu sich das Recht zutrauen dürfe, den leidenden Eingeborenen ihres Arbeitsgebietes den Arzt zu versagen, weil er in ihrem Sinn nicht rechtgläubig genug wäre.“ Aber vor dieser Diskussion hatte er noch viel zu tun.

Sein Studium finanzierte er – zugleich Dozent für Theologie an der Universität – unter anderem durch Orgelkonzerte. Dabei lernte er in Paris Persönlichkeiten aus ganz Europa kennen. So mancher konnte ihm in verschiedenen Situationen hilfreich werden; um den Armen zu helfen, musst du manchmal einen Draht zu den Reichen haben.

Angetan erzählte er von einer Begegnung mit dem Architekten Gaudi, der gerade die Sagrada Familia in Barcelona baute und mit dem er mystisch kommunizieren konnte. Ausgangspunkt war der Esel, auf dem die Heilige Familie nach Ägypten geflohen war. Schweitzer fühlte sich durch ihn besonders angesprochen und Gaudi erklärte, er habe gerade einen solchen Esel gesucht und ganz schwer gefunden, der es eben nicht das Ideal eines Esels war, sondern ein armer, alter, müder Esel war, der so zur Heiligen Familie passte.

Das passte wiederum zur Theologie Albert Schweitzers, der eben nicht Nietzsches Übermenschen propagierte, sondern Gottes Zuwendung zu den armen Menschen. Wer freilich das Schweitzer-Denkmal in Günsbach betrachtet, glaubt, eine Übermenschen-Darstellung vor Augen zu haben: Schweitzer wird gerne als heroischer Denker dargestellt. Daran ist er sicherlich nicht unschuldig, aber es passt nicht zur Ganzheitlichkeit seines Lebenswerkes.

Die Schweitzer-Büste oberhalb von Günsbach wirkt sehr nitzscheaisch

1.1.1 Promotion: Die psychiatrische Beurteilung Jesu

Mehr als beim Theologen und Philosophen gehört es beim Arzt dazu, zu promovieren. Schweitzer wählt sich für seine lediglich 46 Seiten (die Korrektoren werden erleichtert gewesen sein) ein ehr abgelegenes Thema, nämlich die psychiatrische Beurteilung von Jesus. Natürlich hatte sich der Theologe bei seinen Studien über das Leben Jesu Gedanken über die Stellung Jesu zur Realität machen müssen. Schweitzer selbst war vorgeworfen worden, er hätte Jesus zu einer von Wahnideen beherrschten Persönlichkeit gemacht. Schweitzer setzte sich nun mit Arbeiten von Medizinern auseinander, die er für eher unbedeutend hielt: De Loosten, Willam Hirsch und Binet-Sanglé. Sie hatten vermutet, dass er paranoid gewesen sei und pathologischen Größenwahn verbunden mit Verfolgungsideen entdeckt. Schweitzer konzediert ein vermutlich ausgeprägtes Selbstbewusstsein bei Jesus – der ihm da vermutlich nicht unähnlich war - und konnte auch bei der Taufgeschichte Halluzinationen nicht ganz von der Hand weisen33. Dass ein bald anbrechendes Weltende und messianisches Reich eine Wahnidee sei, hielt Schweitzer entgegen, dass dies keine individuelle Vorstellung von Jesus war, sondern in seiner Zeit beheimatet. Jesus griff auf Vorstellungen zurück, die verbreitet waren.

Den kritischen Ärzten unterstellt Schweitzer wohlwollend, dass sie historisch zu wenig informiert gewesen seien und anstatt die historisch-kritischen Analysen zur Kenntnis zu nehmen, einfach alles, was sie in den Evangelien finden konnten, zusammen geworfen hätten. Sie hatten faktischen einen fiktiven Patienten gezeichnet. In der Tat würde kein ernst zu nehmender Arzt einen Patienten behandeln, den er nur aus Erzählungen Dritter kennt. So etwas machen vielleicht sensationslüsterne Journalisten, aber keine ernstzunehmenden Schulmediziner.34

1.1.2 Kann „Glaube“ geprüft werden?

Der Aufbruch rückte näher. Natürlich war noch das theologische Problem mit der Missionsgesellschaft zu lösen.35 Man lud Schweitzer vor das Komitee, um ein Glaubensexamen anzustellen. Ich wollte mir so etwas bieten lassen, nicht vor diesen Scheinheiligen erscheinen 36. Jesus – so Schweitzer - hatte bei der Berufung seiner Jünger kein Examen verlangt, sondern einfache und unbedingte Nachfolge.

Aber wäre das große Ziel nicht einen Kniefall vor einem Forum von Heuchlern wert? Schweitzer wählte einen Zwischenweg: Er schlug vor, die Mitglieder einzeln zu besuchen. Nachdem klar wurde, dass er den Eingeborenen die historisch-kritische Methode nicht näherbringen würde, wurde sein Anerbieten – immerhin wollte er die finanzielle Seite alleine stemmen! – angenommen. Ein Mitglied trat aus; dieser Akt wird das Komitee bereichert haben.

Einflussreiche Freunde bewirkten, dass der lediglich in Deutschland diplomierte Mediziner in der französischen Kolonie arbeiten durfte. Inzwischen war es Februar 1913 und Schweitzer schraubte 70 Kisten zu, damit sie ihm nach Bordeaux vorausgesandt würden. Gestempelt: ASB – Albert Schweitzer Breßlau. 1912 hatten Helene Breßlau und Albert Schweitzer geheiratet. Acht Jahre nach Beginn des Medizinstudiums war es so weit: Die Schweitzers reisten nach Französisch-Äquatorialafrika aus.

3.4 Afrika 1913

Über dem Kalenderblatt stand der 21. März, die Tag- und Nachgleiche im Jahr 1913. Karfreitag. Damals war Jesus jünger gewesen als er selbst heute. Mit 38 Jahren begann er ein neues Leben. Was erwartete ihn alles?! Er liebte die Spannung.

Nun stand er am Bahnhof. Die Kirchenglocken läuteten zur Todesstunde Jesu in Günsbach. Familie und Freunde begleiteten die Schweitzers zum Bahnhof. Die Dampflok spukte Dampf, pfiff und der Zug setzte sich in Bewegung. Zunächst ging es nach Straßburg, wo sie sich noch einmal von Freunden verabschieden konnten und dann begann das Abenteuer Afrika mit dem zuckelnden Zug nach Bordeaux. Als sie Günsbach verließen, gehörte es zu Deutschland. Bei ihrer unfreiwilligen Rückkehr vier Jahre später war es französisch. Dazwischen lagen viele Tote und die kulturbewusste Nation Deutschland hatte ihr bestialisches Antlitz gezeigt, etwa durch den erstmaligen Einsatz von Giftgas im Krieg. Schweitzers Kulturkritik fiel entsprechend scharf aus: Das Christentum ist in Europa nur äußerlich angeklatscht wie Putz, die Herzen sind unberührt.

Auf seiner ersten Fahrt musste sich Schweitzer darüber noch keine Gedanken machen, aber kritische Überlegungen drängten sich trotzdem auf.

Von Anfang an war klar, dass Europa ein Problem für Afrika ist. Die Ausbeutung durch die Kolonialmächte war ein durchgehendes Thema – und die Vertreter der Kolonialmächte waren oft genug die Handelsleute. Aber bereits nach einem Jahr ergriffen die Ausläufer des europäischen Krieges, der sich zum Weltkrieg ausweitete, auch die abgelegenen Gebiete in Afrika. Die Schweitzers wurden interniert und 1917 bis zum Kriegsende nach Frankreich gebracht – als Angehörige einer feindlichen Macht.

Zunächst aber begann es gut. Der Zug tuckerte durch das schöne elsässische Tal bis zur großen Stadt am Rhein, bis Straßburg. Dort machten sie bei sich zu Hause Station. Mit den Freunden feierten sie noch einmal einen Abschied. Am Sonntagmorgen standen sie am Bahnhof. Als sie Straßburg verließen, sahen sie von der hinteren Plattform der Eisenbahn, wie der Turm des Münsters langsam in der Ferne verschwand. Ein Turm, für den zweiten hatte das Geld nicht mehr gereicht. Reichte das Geld, das Schweitzer zusammengebettelt hatte, für sein Vorhaben?

Natürlich reisten die Schweitzers mit der Bahn. Natürlich reisten sie in der dritten Klasse, der sogenannten Holzklasse. Herr Dr. Dr. Dr. Schweitzer begründete dies mit dem ihm eigenen Witz damit, "weil es keine vierte gibt".

Der Eifelturm grüßte in Paris, das Zeichen der Weltausstellung vierzehn Jahre zuvor. Heute am Ostersonntag spielte ihnen zu Ehren sein Lehrer, der große Organist Charles Widor auf der Orgel von St. Sulpice eines seiner neuen Stücke.

Aus dem Bahnhof des Quai d’Orsay unter Paris fuhr ihr Zug Richtung Bordeaux. Der Weg war weit, der Zug zuckelte gemütlich, sie passierten Städte und Dörfer. Die Leute, die sie vom Zug aus sehen, hatten sich herausgeputzt. Natürlilch nicht zu Ehren des Reisenden, den sie gar nicht wahrnahmen, sondern zu Ehren des Herrn, an dessen Auferstehung sie dachten. Es war Ostersonntag.

Der Zug brachte sie nach Bordeaux. Aus Schweitzers Mund im späteren autobiographischen Film klingt es zutreffend wie „Porto“. Dort gelangen sie zum großen Hafen für die Ozeandampfer.