Albträumer - Andy Strauß - E-Book

Albträumer E-Book

Andy Strauß

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Beschreibung

Ein Reporter liebt eine Frau. Kurz darauf zündet sie sich an. Dann passieren verschiedene Dinge. Ein Bär räumt in einer Discothek auf, ein echter Bär. Der Schützenverein rettet die Nacht. Irgendwie stecken alle unter eine Decke, sie ist kariert. Am Ende passiert noch etwas Unerwartetes. Der Roman, bestehend aus 24 Scherben oder Splittern, alle scharf, funkelnd und fesselnd wie Diamanten, erzählt die Geschichte einer Region, die abgehängt scheint vom nach Wohlstand und Mehr strebenden Deutschland. In diesem Landstrich, den die Zeit zu vergessen droht, zwischen Schraubenfabrik und Schützenverein, entfalten sich Schicksale und Geschichten, wie sie nur aus der Feder von Andy Strauß stammen können.

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Seitenzahl: 172

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Albträumer

Andy Strauß

Roman

– Anti-Pop –

2. Auflage Mai 2019

Titelbild: Thomas van de Scheck

www.tvds.de

©opyright by Andy Strauß & Ubooks

Satz: nimatypografik

eISBN: 978-3-86608-625-8

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher

Genehmigung des Verlags gestattet.

Inhalt

Vorspiel

1 Feuer und Flamme für Annabette

2 Christ isst

3 Recht fertige kurze schlüsse

4 Die Rechnung, bitte.

5 Das ist nicht mein Bett

6 Catwoman

7 Des Pudels Kern

8 Sperrmüll

9 Lieber Tee Toujours und andere Lügen

10 Ruhige Nächte

11 Ohne Waffen

12 Die wwweite Welt

13 Genau benommen

14 Prepaid

15 Fluch der Karibitch

16 FundamenTrümmer

17 Unwissend

18 Icy birds and trees

19 Am Ende der Befehlskette

20 Willkürenritt

21 Träumercedes

22 Alles, was er konnte, was not going deeper underground

23 Ich sitze im Wartezimmer und zu Hause verändert sich Greta

24 Sein oder sein lassen

Nachspiel

Abspann (statt Blumen)

Vorspiel

Entbindungsstation. Neugeborenenzimmer. Gedimmtes, ungewöhnlich warmes Licht aus Energiesparlampen. Leise, an einen Wasserfall erinnernde Geräusche aus Lautsprecherboxen. Das typische, erste Setting der postnatalen Existenz von Hier und Heute.

Für die anwesenden, neuen Menschen spielt die Zeit keine Rolle. Ein Gestern existiert nicht und ein Morgen befindet sich außerhalb des Vorstellbaren. Eben erst aus der Sicherheit des Daseins innerhalb eines vertrauten Körpers verbannt und an die wirkliche Welt übergeben, schlafen hier sieben unbefleckte Existenzen einen traumlosen Schlaf. Vierzehn bislang ungeöffnete Augen. Neue Köpfe, denen noch Worte fehlen, um überhaupt irgendetwas zu beschreiben. Alles neu macht die Geburt, die Geburt, die macht das schon.

Noch sind sie nur Neuankömmlinge, formbare Masse. Was sollen sie auch träumen, wo sie doch noch nichts wissen?

Alle werden sie, insofern sie nicht vorzeitig ein Unglück ereilt, zwangsläufig Protagonisten eines Spiels sein. Ein Spiel, dessen brutale Regeln nur eine überhebliche Lebensform wie der Mensch erdacht haben kann. Ein hochgradig kultivierter Mensch. Erdacht, ohne sie zu verstehen. Verdacht.

Regeln sind gut, wenn sie für Fairness sorgen. Regeln sind nicht gut, wenn sie für Sorgen sorgen. Recht ist ein auf Konsens basierender Vertrag, der sinnvoll einschränkt, um Freiheit zu schenken.

Unrecht aber sind Regeln, die Recht sind, weil sie einer kleinen Gruppe gerade recht gelegen kommen. Eine Gruppe mit Macht macht noch keinen Konsens. Dennoch sind diese die Regeln des Spiels.

Mein Rat an die Neuankömmlinge wäre, zu träumen, sobald sie dazu fähig sind und dann nach dem zu streben, was sie gesehen haben. Es gibt nur ein Leben, das es zu leben gilt, und das ist das eigene. Die eigenen Wünsche, beschränkt nur durch einen sinnvollen Konsens.

So liegen sie da, die sieben. Noch nur nackte Existenz, so lange nur geformt von dem, was sie führt, bis sie mit Selbstständigkeit beginnen und Fesseln lösen. Dann liegt es in ihrer dann größeren Hand.

Ein Träumer unterscheidet sich nur durch das Leben seiner Träume vom Albträumer.

Hoffen wir für ihren zukünftigen Schlaf nur das Beste.

1

Feuer und Flamme für Annabette

In der Fernsehzeitschrift, die alle vierzehn Tage ins Haus schneit und mit deren Hilfe ich die Abende von zwei Wochen im Voraus planen kann, ist Pretty Woman als Tagestipp für einen Donnerstag besonders hervorgehoben. An diesem Donnerstag wird es genau zwei Monate, also vier Fernsehzeitschriften her sein, dass ich Annabette zum letzen Mal gesehen habe. Vielleicht wäre alles ganz einfach, wenn ich nicht zu früh aufgegeben hätte, aber es war viel zu viel in zu viel zu kurzer Zeit geschehen. Dabei hatte alles so gut angefangen mit uns.

Zum ersten Mal trafen wir uns auf dem Markt. Sie stand hinter zahllosen Boxen und Kisten voller Kartoffeln, Spargel und Zwiebeln, flankiert von Tischen mit frischem Obst aus fernen Ländern. Marktfrau, wie sie war, feilschte sie mit jedermann und reichte ihren Abnehmern nach abgeschlossenem Handel meist noch ein Stück kostenloses Obst mit ihren fingerkuppenfreien Wollhandschuhen, die sie vor der plötzlich wiedergekehrten Kälte des schon fortgeschrittenen Frühlings schützen sollten. Ihr Körperbau war sicherlich nicht der beste, aber auf jeden Fall war er auch nicht verachtenswert schlecht, nur eben hier ein bisschen zu viel und dort ebenfalls ein bisschen zu viel. Ihre Nase war für die Fülle ihres Gesichtes viel zu schmal geschnitten und man konnte ihr die niedrige Außentemperatur ansehen, ihre Augen glänzten leicht schielend in den Tag hinein. Eingerahmt war ihr Gesicht allerdings von den schönsten Haaren, die wohl jemals ein Mensch auf dem Kopf tragen durfte, pechschwarz, leicht gewellt und gesund. Die Spitzen ragten bis kurz unter den Ort, an dem sich wohl ihre Brustwarzen befanden, und das war bei ihr sehr tief. Als ich vor ihr stand und meinen Spargel bestellte, pustete sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, dabei Kondenswolken ausstoßend, die in meine Richtung waberten. Ich war irritiert, ergriffen, konfus und konnte an nichts anderes denken, als diese Wolken in mich einzusaugen. Sie schmeckten wie eine Melange aus Apfelmost und Knoblauch, frisch und verdorben in einem und sie machten, dass es um mich geschehen war. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass ich immer schüchtern war. So schüchtern, dass ich mich kaum traute, bei der Bäckerin eine Quarkbrezel zu bestellen, aber in diesem Fall schlug mich die Macht der Liebe mit der Wucht einer Dampflok unter Volllast, durchbohrte meine Gedanken, sprengte meine Verhaltensmuster und noch bevor ich begriff, was geschah, waren wir in eine Gespräch verwickelt.

Das laute Treiben des Marktes verstummte unter dem Reigen, den unsere Herzen schlugen. Dass mir ein Taschendieb mein Portemonnaie stahl, war mir egal, ebenso die instabile Situation in Krisen- und Kriegsgebieten oder jegliche Form der Umweltbelastung, die zum Schmelzen der Polkappen führt, plötzlich alles nichtig. Die jäh aufgeflammte Liebe warf einen Vorhang aus Rauch um uns, der uns für alle anderen Menschen der Welt unsichtbar machte. Wir waren eins im Rauch.

Bevor ich sie verlassen musste, verabredeten wir uns für den nächsten Abend um einundzwanzig Uhr in einer Tittenbar. Unser erstes Date sollte etwas außergewöhnliches, für immer in Erinnerung bleibendes werden, da waren wir uns einig. Dann gab sie mir noch das Pfund Spargel, das Kilo Kartoffeln und einen Pfirsich für umsonst mit und frei von Scherz und Schwere tänzelte ich kitschtriefend nach Hause. Die Liebe rumorte in meinen Eingeweiden, und da an Essen nicht zu denken war, verschenkte ich den Spargel weiter an meinen Nachbarn, der in der letzten Zeit sehr traurig wirkte, obwohl er früher so oft im rosafarbenen Bademantel durch den Garten lief und seine Begonien goss. Bis zu unserem Date saß ich die meiste Zeit bei geöffnetem Fenster auf der Toilette, aß zwischendurch ein Paar Salzstangen, trank Cola und ließ per Telefon meine Bankkarten sperren. Ich dachte an sie und was ich wohl machen würde, wenn sie nicht käme. Ich feilte an kreativen Selbstmordmethoden, stellte mir vor, mit einer Achterbahn zu fahren und gerade an dem Punkt, an dem der Achterbahnwagen ganz oben ist, ganz kurz, bevor er in die Tiefe stürzt, einen Anker nach hinten auszuwerfen, der mit einem Seil um meinen Hals befestigt ist. Dachte daran, mit einer falschen Waffe Polizisten zu drohen und dafür fünf Warnschüsse in den Kopf zu kassieren. Dachte an vieles, bis sich dann rausstellte, dass ich umsonst gedacht hatte, denn sie war am nächsten Abend tatsächlich gekommen. Und sie war schön, noch überragend viel schöner als vorher. Ihre Funktionskleidung vom Markt war ersetzt durch anziehende Kleidung, deren Funktion eher das Verhüllen unattraktiver Teilchen und das Hervorheben der Sahnestücke war. Und Sahnestücke hatte Annabette wirklich, richtige Sahnetorten waren es fast, und ich konnte es kaum erwarten, die Kirschen von oben zu naschen. Ihre Haare waren in einem wohl langwierigen Akt in eine Form gebracht, die berauschender nicht sein konnte und ihre Pickel hatte sie mit einem Abdeckzauberstift unter die Oberfläche gehext. Sie war Rubens Traum, eine Wuchtbrumme mit Mannequinappeal und sie ließ die Tänzerinnen in der Tittenbar alt aussehen, egal wie viel und womit diese wackelten.

Wir waren berauscht von einander, tranken Wodka, Sambuca und Rum, leckten heftig in einem Separee, berührten uns überall und es gab wirklich viel zu berühren an ihr. Irgendwann gegen fünf Uhr morgens kamen wir dann zu dem Schluss, bei ihr zu Hause weiter zu machen, denn der Alkohol ließ uns zwischenzeitlich bereits häufiger abwechselnd in traumlose Sekundenschläfe fallen. Nachdem ich meine Kleidung und sie ihren Körper zurechtgerückt hatte, torkelten wir gen Bar, um dort noch einen letzten Absacker zu nehmen. «Mein Richard Gere», flüsterte sie mit träger Zunge, als ich ihren Deckel von meinen letzten Barreserven bezahlte und meine Ohren wurden dabei nass. «Meine kleine, fette Esmeralda», dachte ich und bevor ich es schaffte, ihr in den Hintern zu kneifen, knallte der Barkeeper die Shotgläser mit dem Schlummertropfen auf den Tisch. Wir hatten zwei Zentiliter bestellt, bekam als meistkonsumierende Kunden des Abends aber zur Belohnung vierzig Milliliter vorgesetzt. Der Stifter dieser Bonusration schien nicht nur Barkeeper, sondern auch Besitzer des Ladens zu sein, leicht daran zu erkennen, dass er die sowohl die einzige männliche Bedienung als auch – zum Glück – die einzige Bedienung mit Kleidung oberhalb der Gürtellinie war. Er hatte schmierige, viel zu gegelte Haare und in der linken Ecke seines obszönen Grinsens glänzten zwei bis drei Goldzähne. In seiner rechten Hand hielt er ebenfalls ein Schnapsglas, das er anprostbereit in unsere Richtung reckte und, wie um sich zu rechtfertigen, schleimte er mit angehobener Augenbraue: «Ich wollt mit euch Rum machen.» Annabette, der dieser niveaulose Witz anscheinend gefallen hatte, griff nach ihrem Glas, holte zum anstoßen aus und lallte dem Brustherbergsvater tief aus ihrem Magen «Du bisss widssssig» entgegen. Die Kombination aus den Aufgaben Glas festhalten und Arm in Richtung anderes Glas bewegen war dann im nächsten Augenblick anscheinend gehörig zu viel Multitasking für ihr überflutetes Gehirn, wobei ich noch davon ausgegangen war, dass sie aufgrund ihrer Masse mehr Alkohol vertrüge als ich. Erst fiel ihr Glas auf den Tresen, dann ihr Kopf hinterher.

Als sie nur wenige Minuten später wieder zu sich kam, hatten wir die drei feinen Schnitte, die Teile ihres Schnapsglases in ihrem Gesicht hinterlassen hatten, bereits mit Pflastern versorgt, denn sie waren nicht zu tief und durch den Alkohol ausreichend desinfiziert. Sie sagte, dass ihr sowas noch nie passiert sei, dann lächelte sie mich an und sagte weiter, dass ich sie regelrecht umhauen würde. Auch ich lächelte ernstgemeint, denn eine Frau mit solchen Haaren und dem Humor in einer Situation wie dieser war mehr als perfekt für mich. Irgendwie fand ich mich in ihr wieder. Wir verließen die Tittenbar, der Schleimbolzen, der mir beim Verarzten unerwartet klar und souverän zur Seite gestanden hatte, warf mir noch einen mitleidigen Blick hinterher, dann erfrischte uns die kühle, frühmorgendliche Luft. Wir waren jetzt nur noch eine Taxifahrt von unserem ersten, gemeinsamen Höhepunkt entfernt und beide von einer Vorfreude erfüllt, die kaum zu bändigen war. Um die Wartezeit auf unseren gerufenen Chauffeur zu verkürzen, zog sie eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Jackentasche hervor, steckte mir und sich selbst eine in den Mund, kramte dann erst das Feuerzeug aus ihrer Tasche und entzündete erst meine Zigarette und dannᅠ…

…ᅠhörte ich plötzlich Schreie! Das kannst du dir nicht vorstellen, wie laut das war, voll so, als ob da jemand gerade am abkacken is’! … Klar Mann, ich sofort ans Fenster und rausgeschaut und da rannte dann ne richtig fette Alte … was? … Nee Mann! So richtig fett! … Ja Mann! So richtig richtig fett eben! … Halt’s Maul, ich erzähl das jetzt! Jedenfalls, die rannte da, immer so im Kreis, Alter. Und ey, ich schwör, die hat der Kopf gebrannt! … Neeeee Alter, kein Scheiß, direkt vom dem Stripladen da … ja Mann! Und der Typ bei ihr, so voll der Gammlkerl eigentlich, der stand einfach nur rum und ich denk nur so, Junge, du bist echt ma saucool. Hätt’ ich auch nichts gemacht, bei so ’ner Fetten … Was? … Ne, Alter! Das is ja der Scheiß, Akku war leer … Klar, Alter, fett Klicks hätt das gegeben, ich schwör, so hart. Und bei dir so? … Ah ja, der Typ mit dem Bein, lol! Ich glaub, das is’n Fake, aber auf jeden gut gemacht, das Blut sieht sauecht aus. Hab ich fünf Sterne für gegebenᅠ…

…ᅠsich selbst. Ich bin mir nicht sicher, wie das passieren konnte. Vielleicht hatten ihre groben Poren zu viel vom Rum in sich aufgesaugt, oder es hatte sich in ihren Haaren angesammelt oder es war einfach das Haarspray, von dem sie sicherlich viel auf sich trug, jedenfalls war ihr Kopf der reinste Zunder. Und plötzlich war ich machtlos. Die jäh entflammte Annabette warf einen Vorhang aus Rauch um mich, der mich lähmte. Mein Mund stand offen und ich spürte einen Fluss aus Speichel mein Kinn entlang rinnen, doch ich war nicht mal in der Lage, ihn durch das Schließen meines Mundes zu stoppen oder ihn mit meinem Ärmel fortzuwischen. Was genau dann kam, schaffe ich nicht in Worte zu fassen. Zwar sind die Bilder tief in meinen Kopf eingebrannt, doch fehlt mir die Kraft, es zu formulieren. Annabette brannte vielleicht nur eine Minute lang, aber für mich war es eine Ewigkeit, in der ich in mir gefangen war. Gelöscht wurde sie vom Barkeeper, der auch den Krankenwagen rief, die mittlerweile ohnmächtige Annabette in einem Bett stabil auf die Seite legte und mit nassen Tüchern kühlte, sowie den Taxifahrer fortschickte und mich in eine Decke wickelte. Er blieb die ganze Zeit ruhig, ganz so, als gehöre das Löschen brennender Menschen zu seinem Tagesgeschäft. Bis der Krankenwagen kam, saß ich auf einem viel zu gepolsterten Holzstuhl neben dem Bett in diesem Hinterzimmer, das sonst Stundenweise gebucht werden kann, hielt Annabettes Hand und versuchte, mit ihr zu reden. Viel Sinnvolles wollte allerdings nicht aus mir herauskommen, nur tröstende oder betroffene Floskeln, aber was ist in solchen Momenten schon sinnvoll. Und selbst wenn mir etwas Sinnvolles eingefallen wäre, sie hätte es ohnehin nicht gehört. «Wie lieb sie sich um die Kleine kümmern!», sagte eine der barbusigen Angestellten, als sie mir einen Kaffee brachte, den ich vor Zittern zum größten Teil verschüttete. Ob nackt oder nicht, ich hätte sie jetzt gerne in den Arm genommen und geweint, denn an Annabettes Körper traute ich mich nicht. Ihr Gesicht war unter den Tüchern nicht zu sehen, ich fürchtete dass sie zerbrechen könnte. Der Notarzt brauchte nicht weniger als zwanzig Minuten und lobte den Chef des Etablissements für seine treffliche Wegbeschreibung, die optische Kennzeichnung der Unglücksstelle und für das sachgemäße Kühlen der betroffenen Hautpartien. «Solche Ersthelfer bräuchten wir überall, dann könnte oft Schlimmeres vermieden werden», sagte er zu mir, woraufhin ich mich aus dem Hinterzimmer schlich. Statt meiner assistierte ihm das Mädchen, welches mir den Kaffee gebracht hatte, immer noch oberkörperfrei. Man konnte fast meinen, dass sie ihre Brüste gerade nicht beruflich, sondern einfach aus purer, nudistischer Freude zur Schau stellte. Wie ich durch die Tür hören konnte, bewies der Arzt Taktgefühl und reagierte professionell gelassen auf seine illustere Gehilfin, gab ihr trocken seine Anweisungen und machte, was er zu machen gelernt hatte. Weniger taktvoll war eine andere Dame, die in dem Laden als Tänzerin arbeitete und mich neben der Tür lehnen sah. «Hey Kleiner, wenn du keine Lust hast zu warten, bis die Ménage à trois mit Doktorspielchen da drinne vorbei ist, kannst du auch mit mir in das andere Zimmer da hinten kommen. Wie sieht’s aus?» Während sie das fragte, drückte sie ihren Körper sehr eng an mich. Wäre mir nicht mein Geld abhanden gekommen, ich weiß nicht, ob ich nicht darauf eingegangen wäre. Es wäre mir nicht um den Sex gegangen, aber ich brauchte jetzt Nähe, brauchte so etwas wie eine Mutter, zumal sie mich ja auch Kleiner nannte. Und wenn diese Mutter einen wunderschönen Busen und wahnsinnige Hüften hat, umso besser. In die Verlegenheit ihr irgendwie antworten zu müssen, kam ich glücklicherweise nicht, denn die Rettungssanitäter hatten sich endlich auch eingefunden und die Tänzerin musste Platz für die Trage machen. Ich folge ihnen, erst in das Hinterzimmer, wo sie Annabette auf die Trage legten und dann in den Rettungswagen, wo Annabette Schläuche für eine Infusion in den Arm gestochen bekam. Ihre Augen waren das einzige, was man von ihrem Kopf sehen konnte, der Rest war mit gesalbten Binden versehen. Und aus diesen Augen schaute mich Annabette die ganze Fahrt über angstvoll und trotzdem voller Vertrauen an, so als wisse sie nicht, was und warum das gerade geschehe, aber sie dank mir wisse, dass das, was passierte, schon seine Richtigkeit habe.

Die nächsten drei Tage blieb ich bei Annabette im Krankenhaus, denn erstens wollte ich bei meinem Mädchen sein und zweitens hatte ich gar keine Möglichkeiten, zurückzukommen. Meine Geldbörse war gestohlen und die Idioten von meiner Bank ließen sich nur schwer davon überzeugen, meine neue EC-Karte an die Adresse eines Krankenhauses zu schicken. Zum Glück waren die Leute vom Krankenhaus menschlicher und erlaubten mir dank geringer Auslastung, im Zimmer von Annabette zu nächtigen, was sicherlich nicht selbstverständlich ist. Als die Bankkarte dann doch ankam, nutzte ich den Geldautomaten im Krankenhaus, kaufte Blumen für Annabette und leistete mir dann ein Taxi zur Tittenbar, wo mein Volvo darauf wartete, mich nach Hause zu fahren. Ich führ den Umweg über die Feldwege, schaute mir die Wiesen an und stellte fest, dass es innerhalb der letzten drei Tage wesentlich wärmer, fast schon sommerlich geworden war. Außerdem merkte ich, dass ich Annabette trotz der fehlenden Haare und all der sicherlich bleibenden Narben immer noch für mich wollte.

Dann blieb ein paar Tage lang alles gleich. Ich erwachte zu Hause, frühstückte gediegen, erledigte ein bisschen Arbeit, fuhr zum Krankenhaus, redete händchenhaltend mit Annabette oder schaute händchenhaltend mit ihr fern und schlief dann wieder zu Hause. Irgendwann aber erhielt ich vormittags einen Anruf von der Polizei, mit der Aufforderung, einen Termin wegen einer Aussage zu machen. Ich wusste nicht, worum es gehen sollte, schlug als relativ braver Bürger aber vor, Annabette heute ein bisschen warten zu lassen und noch am Nachmittag desselben Tages bei den Grünen aufzulaufen.

Die uniformierte Dame hinter kugelsicherem Glas am Empfang sagte, ich solle mich in Zimmer acht melden, und drückte auf eine Taste, welche die Sicherheitstür zum Inneren des Gebäudes öffnete. Viel war hier nicht los und die Sicherheitsmaßnamen kamen mir zunächst übertrieben vor, wurden dann aber, als ich in Zimmer acht war und den Beamten sah, gerechtfertigt. Die Tür, so kam es mir vor, hatte gar nicht den Zweck, die Beamten im Inneren vor Amokläufern von außen zu schützen, sondern musste installiert worden sein, um die Außenwelt vor dem Monster aus Zelle acht zu schützen. Hastig fraß er die Reste eines Hühnerschenkels, bevor er mich eines ersten, abschätzigen Blickes würdigte und ohne wirklich vorher zu schlucken fuhr er mich an: «Ich habe gar nicht herein gesagt, wie unhöflich von mir… ach nein, konnte ich ja auch nicht, sie haben ja nicht geklopft», dabei Geflügelstückchen über seinen Schreibtisch verteilend. Wie ein Mensch mit Lehrauftrag schickte er mich tatsächlich noch einmal vor die Tür, um richtiges Anklopfen zu üben. Da ich Annabette im Kopf hatte, einigte ich mich mit mir darauf, seine Spielchen anstandslos mitzuspielen, um möglichst schnell raus aus der Nummer zu sein. Der erste Teil des Gespräches zwischen dem kostümierten Rumpelstilzchen und mir verlief kühl und rein protokollarisch, es wurden nur persönliche Daten abgefragt, die ich mit meinem Reisepass, den ich nicht in meiner Brieftasche aufbewahrt hatte, verifizieren konnte. Erst als er nach meinem Beruf fragte und ich mit freier Journalist antwortete, wurde er widerwillig etwas höflicher. Nur nicht mit der Presse anlegen, Credo des Bollwerks. Dass ich nur gesellschaftlich unbedeutende Berichte für die Werkszeitung einer Schraubenfabrik schreibe und damit gerade so über die Runden komme, ging ihn ja nichts an. Nun aber begann der interessante Teil unseres Gesprächs, welchen das Schreibtischwesen mit folgender, wohl schon tausendmal benutzter Floskel begann: «Herr Schnittek, sie wissen, warum wir sie hergebeten haben?» Wusste ich natürlich nicht, woher auch, das einladende Telefonat war ja nicht gerade informativ gewesen. Ich also gestand meine Unkenntnis, obwohl ich vermutete, dass sie eventuell meine Brieftasche gefunden hatten. «Dann passiert es ihnen also öfter, dass Menschen in ihrer Gegenwart einfach so