Aldi - Einfach billig - Andreas Straub - E-Book

Aldi - Einfach billig E-Book

Andreas Straub

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Beschreibung

Aldi – das ist das Vorbild aller Discounter und für viele Kunden inzwischen Kult. Aldi setzt Maßstäbe. Seine Gründer wurden zu den reichsten Deutschen. Ganz im Stillen. Denn noch nie gelang ein tiefer Blick hinter die Kulissen. Der ehemalige Aldi-Süd-Manager Andreas Straub bricht jetzt die Mauer des Schweigens. Erstmals enthüllt ein Insider aus eigener Erfahrung, wie er den Arbeitsalltag bei Deutschlands Discounter Nummer eins erlebt hat. Extrem hoher Arbeitsdruck, Einschüchterung und Willkür, Entlassungen als Personalpolitik, perfide Überwachungsmethoden und Spitzeleien, Kostendruck und der rigide Umgang mit Lieferanten: Straubs Bericht aus der Innenwelt der Billigpreise ist ein schockierendes Beispiel für die Verrohung in der Arbeitswelt. «Ein mutiges und aufrüttelndes Buch, das nach sofortigen Veränderungen ruft.» Günter Wallraff

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Seitenzahl: 402

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Andreas Straub

Aldi - Einfach billig

Ein ehemaliger Manager packt aus

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

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Zum Geleit

Was Sie jetzt lesen, habe ich nicht geplant zu schreiben. Aber irgendwann, nachdem ich ein wenig Abstand von meiner Tätigkeit bei Aldi Süd hatte, wurde mit klar, dass ich meine Erlebnisse und Erfahrungen aufschreiben muss. Ich hatte mich verändert. Mein Manager-Job bei Aldi hatte mich verändert. Und nicht zum Guten.

Ich schreibe über meine persönlichen Erfahrungen. Aber nicht nur. «Aldi – Einfach billig» ist ein auf zahlreichen Belegen, Dokumenten, umfangreichen Notizen und Tagebucheinträgen basierendes Memoire. Sämtliche Inhalte und noch die kuriosesten Geschichten, die jetzt folgen, beruhen zumeist auf meinen Erlebnissen oder bisweilen zumindest auf detaillierten Berichten. Ich habe sie nachgeprüft, im Nachhinein recherchiert und dann nach bestem Wissen und Gewissen aufgeschrieben.

Von Günter Wallraff habe ich gelernt, dass gerade ein Buch, welches Missstände aufdeckt, spannend und unterhaltsam geschrieben sein sollte. Ich versuche, es so zu schreiben, dass es einer möglichst großen Leserschaft zugänglich wird. Unter anderem deshalb verwende ich viel wörtliche Rede. Sie stellt indessen keine Zitation im strengen Sinne dar. Die Dialoge wurden zwar möglichst detailgetreu, basierend auf meiner Erinnerung und den Aufzeichnungen, niedergeschrieben, dennoch dienen sie vorwiegend dazu, die Ereignisse «miterlebbar» zu machen. Meine Leser sollen hautnah dabei sein.

Natürlich habe ich alle Namen geändert, die in diesem Buch vorkommen. Das gilt auch für charakteristische Beschreibungen der vorkommenden Personen. Nichts davon ist erfunden, aber bisweilen habe ich früheren Kollegen Merkmale zugeschrieben, die zu anderen gehören. Persönlichkeitsschutz war mir wichtig. Es geht mir nicht darum, diese Menschen bloßzustellen. Es soll deutlich werden, was die Arbeitsbedingungen bei Aldi, die ich erlebt habe, mit Menschen machen. Ich habe deshalb auch jeden Hinweis vermieden, der Außenstehenden – und sicher auch den meisten «Insidern» – verraten könnte, an welchen Orten der Bericht spielt.

Auch dass dieses Buch in der Gegenwart geschrieben ist, dient der besseren Einfühlung und Verständlichkeit. Diese Gegenwart dauerte von 2007 bis 2011. In der Zeit war ich bei Aldi beschäftigt, genauer: in einer von über 30 Regionalgesellschaften bei Aldi Süd. Auf diese Zeit und diese Region beziehen sich meine Beschreibungen von Strukturen, Bedingungen und Abläufen. Details mögen sich geändert haben, das Große und Ganze wohl nicht.

Der Leser wird hoffentlich schnell merken, dass ich keinerlei «Rachegefühle» gegen Aldi und meine früheren Kolleginnen und Kollegen hege. Ich schreibe dies nicht zuletzt, weil ich es mir heute erlauben kann. Und so viele andere, die unter diesen Bedingungen leiden, bedauerlicherweise eben nicht.

 

Andreas Straub, März 2012

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Billig kostet!

Vorwort von Günter Wallraff

Ein 27-jähriger, studierter Betriebswirt schreibt ein Buch? Vieles kann man da erwarten, aber nicht das hier. Andreas Straub ist ein politisch interessierter Zeitgenosse, allerdings keiner, der sich für «die da unten» besonders engagiert oder gar am kapitalistischem System Grundsätzliches auszusetzen gehabt hätte. Bei Aldi, so findet er nach dem Studium, ist Schwung drin. Er heuert dort an und wird mit 23 Jahren einer der jüngsten Bereichsleiter des Konzerns, eine Art Leitender Angestellter mit der Befugnis, Mitarbeiter zu entlassen. «Ich war vom Discountprinzip fasziniert», sagt er über seine Einstellung. Und jetzt stellt er Aldi, die Mutter aller Discounter, als Urübel hin? Obwohl Aldi doch wirklich nicht Lidl oder Schlecker ist! Das sind die Schmuddelkinder der Branche. Aber Aldi! Aldi ist doch der Saubermann, wenn auch der Saubermann unter den Billigheimern.

Aber auch dieser Discounter, zu dem geizgeile pelzbehangene Damen ebenso laufen wie die mit jedem Euro rechnenden Hartz-IV-Empfänger, hat reichlich viel Dreck am Stecken. Oder anders gesagt: Leider sorgt auch Aldi dafür, dass es seinen Beschäftigten sehr dreckig gehen kann, wenn sie dort ihr Brot verdienen müssen.

Das Preisdiktat für Firmen, die von so einem Discountmoloch abhängig sind, wird nicht zuletzt auch von der «Geiz ist Geil-Mentalität» und somit von uns Konsumenten gefordert und gefördert. Daraus resultiert eine Abwärtsspirale, die unmittelbare Konsequenzen für die Qualität der Waren und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten hat. Denn die Niedrigpreispolitik – das ist ja der Kern dieses Prinzips – wirkt sich auf vielfältige Weise fatal aus. Zum einen für die Zuliefererbetriebe, einschließlich der Logistikunternehmen und der Landwirte. Denn ihnen diktieren die Einzelhandelskonzerne, die 90 Prozent des Marktes beherrschen[1], die Produktionsbedingungen: billig, billig, billig.

Das hat sogar das Europäische Parlament auf den Plan gerufen; es beklagt die negativen Folgen der Supermarktmacht für die Arbeitsbedingungen in der Nahrungsmittelindustrie, für die Landwirtschaft und für die Umwelt.[2] Und zwar hierzulande sowie besonders auch bei Zuliefererbetrieben in den Ländern des Südens. In der EU-Erklärung heißt es, «dass große Supermärkte ihre Kaufkraft dazu missbrauchen, die an Zulieferer (sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU) bezahlten Preise auf unhaltbare Niveaus zu drücken und ihnen unfaire Bedingungen zu diktieren». Dieser Missbrauch habe «nachteilige Folgewirkungen sowohl auf die Qualität der Beschäftigung als auch auf den Umweltschutz». Denn die Einkäufer der Supermärkte erzwingen durch erpresserische Preisdiktate bei den Bauern hochindustrialisierten Ackerbau und Billigviehzucht – beides zerstört die Böden, verunreinigt das Wasser und die Luft. Auf diese Weise machen die Supermärkte zwar die Ernährung billig – aber auf Kosten der Gesundheit.

So sind die Produkte vom Acker und aus dem Stall häufig mit Spritzmitteln und Antibiotika belastet. Werden sie industriell weiterverarbeitet, erzwingt das Billigprinzip von den Nahrungsmittelherstellern höchst durchrationalisierte Massenproduktion, bei der nicht nur regionale Vielfalt und die regionale Anbindung an Produzenten verloren geht. Mit dem Einsatz von Konservierungsmitteln, Geschmacksverstärkern, Aromastoffen und diversen Zusatzprodukten aus der Chemieküche – alle natürlich von den einschlägigen Behörden zugelassen – kommen Lebensmittel auf unseren Tisch, die häufig nicht gesundheitsförderlich sind.[3] Die Bundesländer haben deshalb sogar eine eigene Internetseite eingerichtet, auf der sie ständig aktuelle Warnungen vor dem Verzehr bestimmter Lebensmittel veröffentlichen, www.lebensmittelwarnung.de.[4]

Es ist zum Gruseln. Und es ist eben auch eine Folge des «Discountprinzips». Genauso wie die dauerhaften Niedrigstlöhne in den Zuliefererbetrieben in China, der Türkei oder sonstwo eine Folge der Marktmacht der Discounter sind. In diesen Ländern lässt zum Beispiel auch Aldi Textilien nähen. Und behauptet, mit Monatslöhnen von 30 Euro bei 12 Stunden täglicher Höchstleistungsarbeit habe er nichts zu tun (so berichtet der Aldi-Check des WDR, nachzuhören bei you tube[5]).

Nicht zuletzt zahlen die Beschäftigten des Einzelhandels beim «Discountprinzip» drauf: die Arbeits- und Lohnbedingungen sind im gesamten Einzelhandel miserabel. Auch wenn Aldi besser zahlt als mancher Konkurrent: die brutale Personalpolitik sorgt immer wieder für negative Schlagzeilen. So strahlte der NDR vor zwei Jahren eine Dokumentation über den Discounter aus[6], in der Beschäftigte darüber klagen, wie sie schikaniert und gemaßregelt wurden. Auch der Aldi-Check des WDR berichtet von unbezahlten Überstunden, unbezahlten Pausen und unbezahlten Vor- und Nacharbeiten. Eine exakte Arbeitszeiterfassung gebe es bei Aldi nicht, Aldi sei auch nicht daran interessiert.[7]

Andreas Straub gehört nicht zum Kreis derer, die das schon immer wussten. Gerade das macht seine Geschichte, die er hier erzählt, so glaubwürdig und wertvoll. Man kann ihm eben weder vorwerfen, er sei einer von diesen typischen Kritikastern und habe ja schon immer nur das Negative sehen wollen. Noch kann man ihm vorhalten, er wolle sich nachträglich an seinem Arbeitgeber rächen, weil er seinen Job verloren habe. Dafür ist sein Buch zu sachlich, zu faktenreich und erkennbar ohne jeden Versuch geschrieben, sich im Nachhinein zu rechtfertigen.

Dazu hätte es Anlass gegeben. Denn Andreas Straub hat ja den harten Stil des Hauses Aldi eine ganze Zeit lang mit gemacht. Schon seine ersten Tage beginnen in einem Klima von Einschüchterung und Denunziation, die ihm die Augen hätten öffnen können. Gut, dass er sie geschlossen hielt, möchte ich sagen, sonst würden wir nicht erfahren, dass der Zusammenschiss, den sein kleiner Vorgesetzter vom größeren Vorgesetzten einzustecken hatte, tatsächlich Alltag war. Besonders die sogenannten «Trennungsgespräche» – das erste hat Straub an seinem zweiten Tag miterleben dürfen – haben bei Aldi nach dem Zeugnis des Autors etwas derart Verachtendes und Zerstörerisches an sich, dass selbst mir beim Lesen der Atem stockte. Das Ziel dieser Gespräche: Der Angegriffene soll freiwillig aufgeben, Aldi will keinen Kündigungsschutzprozess, in dem sich das Unternehmen öffentlich vor Gericht rechtfertigen muss. Der «Überflüssige» soll einen Aufhebungsvertrag unterschreiben, Schweigegebot inklusive. Dann gibt es für die Personalverantwortlichen keine Scherereien mehr. Gegenüber Straub brüstet sich der Verkaufsleiter ganz ungeniert: «Unzählige habe ich rausgenommen. Ich habe noch nie die Freisetzung eines Mitarbeiters bereut. Es war immer richtig und gerechtfertigt.»

Ich will nicht weiter vorgreifen. Lesen Sie selbst. Sie werden bei Ihrem nächsten Aldi-Filialbesuch, sollten Sie doch wieder rückfällig werden, anders in die Runde schauen, den Beschäftigten wissender und verständnisvoller begegnen. Vielleicht entschließen Sie sich auch, fortan zur Konkurrenz zu gehen. Ach nein, Unsinn, dort ist es ja auch nicht besser. Das wissen wir zum Beispiel von Ulrike Schramm de Robertis, seit sie 2010 ihr Buch «Ihr kriegt mich nicht klein» veröffentlicht hat.[8] Die Einzelhändlerin hat fünf Kinder, einen bewundernswerten Kampfesmut und eine Lebensfreude, von der sich ihre Kolleginnen immer wieder anstecken ließen und die auch die Fernsehzuschauer bewundern konnten, als die erste Betriebsrätin des Lebensmitteldiscounters Lidl in den Talkshows von Maischberger bis Anne Will auftrat.

Schikanieren, anschreien, um Überstundenvergütung betrügen, bespitzeln, überwachen, ja sogar testklauen – von solchen Methoden hat auch sie geschrieben. Es sind die Methoden, denen heute im Prinzip fast alle Beschäftigten im Einzelhandel ausgesetzt sind, wenn sie unter der Fuchtel großer Konzerne wie der Lidl/Schwarz-Gruppe, Tengelmann/Plus/Kik/Schlecker oder Aldi stehen. Nicht jeder muss das schon erlebt haben. Aber die Gefahr, gezielt gemobbt zu werden, besteht zu jeder Zeit. Und das weiß, wer dort arbeitet, und das macht sie oder ihn gefügig.

Andreas Straub hat sozusagen von einer «höheren» Warte aus erlebt, und später selbst erlitten und analysiert, dass solche Erfahrungen nicht auf einzelne Choleriker oder ein paar besonders gemeine Vorgesetzte zurückzuführen sind. Straub schildert uns, wie im mittleren Management dieser Firmen ganz zwangsläufig und bewusst ein «Führungs»-Stil herausgebildet wird, der verantwortlich für das harsche bis brutale Regime in den Filialen ist, in manchmal ekelerregenden Formen.

Bei Aldi werden zum Beispiel sogenannte «Testkäufe» durchgeführt, um die Fehlerquote bei den Kassiererinnen und Kassierern festzustellen. Dabei ist es durchaus möglich, Beschäftige an den Kassen gezielt «hereinzulegen», etwa, indem in einen Karton mit Nudeln das ein oder andere Produkt gepackt wird, das ähnlich aussieht, aber teurer ist. Je nach «Schärfe» der Kontrolle, so Straub, können 10 bis 20 Prozent Fehler «produziert» werden. «Die Testkäufe bringen für Aldi einen sehr angenehmen Nebeneffekt. Durch die konsequente Abmahnpolitik sind viele Mitarbeiterakten mit gerichtsrelevantem Material ‹angefüttert›. Selbst wenn nur eine oder zwei Abmahnungen vorliegen, ist es in den Trennungsprozessen besser, als gar keine zu haben. So können Kassenkräfte leicht ‹freigesetzt› werden.» Auch er habe zahlreiche Abmahnungen geschrieben, bekennt Andreas Straub.

Filialleiter zur Übung, Bereichsleiter, Jahresgehalt 80000 Euro, Prokurist in spe – auf diesen, nach oben zeigenden, Aldi-Hierarchieebenen bewegte sich der Autor dieses Buches. Unten mussten die Verkäufer und Verkäuferinnen, die die Umsätze machen, ausbaden, was oben verhackstückt und ausgeheckt wurde. Und es ging und geht immer um dasselbe: Steigerung der Umsätze und Verringerung der Kosten. Kosten können durch billigere Einkäufe gesenkt werden – das ist das Geschäft der Einkaufsabteilung und Thema für ein Fortsetzungsbuch. Für die Verkaufsabteilung heißt Kostensenkung in erster Linie: die Personalkosten verringern, älteren, teureren Beschäftigten kündigen, die anderen zu Höchstleistungen antreiben und jeden Ansatz von Gegenwehr unter den Beschäftigten unterbinden.

Ein ehemaliger Regionalverkaufsleiter eines Konkurrenzdiscounters berichtet mir beispielsweise, wie dort teilweise mit unliebsamen Mitarbeitern verfahren wird. In einem besonders eklatanten Fall erhielt er von seinem Vorgesetzten die Anweisung, einer langjährigen Betriebsrätin, die «weggeschossen» werden sollte, eine Flasche Schnaps in die Tasche zu legen, die sie in ihrem Spind deponiert hatte. Beim Verlassen der Filiale musste sie eine Taschenkontrolle über sich ergehen lassen, bei der sie «des Diebstahls überführt» wurde. Sie wurde fristlos entlassen.

Der verantwortliche Regionalleiter, der mir diesen und ähnliche Fälle gebeichtet hat und selber daran psychisch zerbrochen ist, bemüht sich nun um Wiedergutmachung. Als Erstes bereite ich ein Treffen mit der gekündigten Mitarbeiterin vor.

Auch mehrere Aldi-Angestellte erzählen mir während meiner Recherchen von grausamen Zuständen. Sie berichten von Mobbing, Strafversetzungen, Einschüchterungsversuchen und willkürlichen Schikanen. Es sind viele und individuelle Fälle, sogenannte «Einzelfälle». Doch drängt sich da der Eindruck auf, hinter den immer gleichen Geschichten steckt Methode und System. Straubs Buch jedenfalls zeigt die Strukturen und Zusammenhänge auf. Als Manager erhielt er Einblicke, die der Öffentlichkeit bislang verwehrt blieben. Bislang.

In den meisten Filialen von Aldi Süd existieren keine Betriebsräte. In den Filialen, die Andreas Straub unter sich hatte, gab es auch keine. Am Ende seines Buches fordert er, dass bei Aldi und den anderen Einzelhandelsriesen endlich Interessenvertretungen der Arbeitnehmer gegründet werden müssen. Ich stimme ihm da voll zu. Zwar gibt es bei Aldi Nord Betriebsräte, jedoch gilt ihre interne Stellung als äußerst schwach. Die Einzelhandelskonzerne behandeln ihre Beschäftigten nämlich auch deshalb so überdurchschnittlich schlecht, weil sie, landauf, landab betriebsratsfreie Zonen schaffen. Bei Aldi nicht anders; der Aldi-Check des WDR berichtete zum Beispiel von einer versuchten Betriebsratswahl in München, die unter anderem dadurch verhindert wurde, dass Leitende Angestellte von Aldi Süd ihre Mitarbeiter gedrängt haben, gegen die Wahl zu stimmen und zwar auf einer Versammlung, zu der mehr als dreißig Mitarbeiter per Taxi auf Firmenkosten hingekarrt wurden.[9]

Aber zu einer erfolgreichen Betriebsratsarbeit gehört auch, dass die Beschäftigten sich in Gewerkschaften zusammenschließen. Andreas Straub hat manches Mal mit ansehen müssen, wie erfolgreich einzelne Kollegen von ihren Vorgesetzten fertig gemacht wurden. Der Grund: In der Filiale bestand keinerlei Solidaritäts- und Verantwortungsgefühl füreinander. Jeder duckte sich weg, jeder hoffte, dass er nicht der nächste sein würde, und viel zu viele waren bereit, denjenigen fallen zu lassen, den der Chef gerade zum Abschuss freigegeben hatte.

Ich komme deshalb noch einmal auf Ulrike Schramm de Robertis zurück. Sie hat erfahren, dass ein Konzern zum Nachgeben gezwungen werden kann und zum Beispiel Betriebsratswahlen dulden musste – und dann sogar eine wie sie als Vorsitzende. Die Angst der Oberen vor solcher Gegenwehr, das erleben selbstbewusste Beschäftigte hautnah, nimmt mitunter lächerliche Züge an. Sie legt die zentrale Schwäche einer Personalpolitik bloß, die Methoden der psychologischen Kriegsführung und des Mobbing einsetzt. Wenn diese Methoden nämlich nicht ziehen, wenn Kündigungsvorhaben der Personalmanager und ihre Attacken auf Mitarbeiter nicht so laufen, wie sie es sich vorstellen, Mitarbeiter sich zur Wehr setzen oder sich gegenseitig beistehen, reagieren sie verunsichert, sind plötzlich mit ihrem Latein am Ende, stehen kleinlaut und armselig da.

Es ist erstmal ein Zeitgewinn, bis sie dann unter Umständen zum nächsten Schlag ausholen. Wenn bis dahin keine Verteidigungslinie unter den Beschäftigten steht, wird es existenziell gefährlich. Das hat auch Andreas Straub zu spüren bekommen. Als sein Verkaufsleiter ihn, der zunehmend selbstbewusster wurde und mit Gegenargumenten aufwartete, aus dem Unternehmen wegzumobben begann, reagierte er verschreckt, verstört und wurde schließlich krank. So wie es Zigtausenden ergeht.

Der leitende Psychologe einer psychosomatischen Klinik, die sich auf die Behandlung von Mobbingbetroffenen spezialisiert hat, betreut eine wachsende Zahl von Patienten, die Opfer systematischer Verfolgung an ihrem Arbeitsplatz geworden sind. Mit Methoden, die das Selbstwertgefühl zerstören sollen, den Betroffenen sozial isolieren und in Angst und Schrecken versetzen sollen, damit er schließlich aufgibt und nicht länger auf seine Rechte pocht. Und sei es auch nur das Recht auf ein faires Arbeitsgerichtsverfahren. Dieser Klinikpsychologe sagte mir über die Folgen: «Diese zielgerichteten systematischen Feindseligkeiten und Attacken führen längerfristig gesehen zu einer Art Lähmung. Die Patienten können sich gegen die Zermürbungsstrategie ihres Arbeitgebers oder der Vorgesetzten nicht mehr wehren. Das mündet schließlich in Angststörungen bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen. Und kann bis hin zum sozialen Tod führen.»

Dass nicht nur der soziale Tod, sondern sogar Selbstmord die Folge solcher Unternehmensunkultur sein kann, ist am Beispiel der französischen Telekom europaweit bekannt geworden. Die Zahl der Selbstmorde in diesem Unternehmen stieg infolge der knallharten Sanierungspolitik rapide an und wurde, wenigstens in Frankreich, zu einem öffentlich diskutierten Skandal. In Deutschland gibt es keine Meldepflicht von Selbstmorden in Unternehmen wie in Frankreich. Aber auch aus deutschen Konzernen der Telekommunikation und verwandten Branchen erreichen mich immer wieder Hilferufe von psychisch Angeschlagenen, die nicht mehr weiterwissen. Auch eine Form von Wachstum, die ihre Ursachen im herrschenden ökonomischen Wachstumswahn hat, in der Jagd nach immer mehr Umsatz, immer weniger Kosten und immer mehr Profit. Da existieren in einigen Konzernen «Rankinglisten» von sogenannten «Minderleistern», die genau wissen (sollen), dass von ihnen jährlich eine festgelegte Quote (z.B. 10 Prozent) zu «entsorgen» ist.

Während ich das niederschreibe, vertraut sich mir ein weiterer Personaler an, den eine große Einzelhandelskette einkaufen wollte. Kein Billigdiscounter, sondern ein «seriöser» Konzern. Er wurde angehalten, Mitarbeitern, die die Firma loswerden wollte, «mit einer Strafanzeige bei der Polizei zu drohen.» Das sei «gerade in ländlichen Filialen ein starkes Druckmittel», wurde ihm klar gemacht. Dem Personaler wurde nahegelegt, er solle den Kündigungsopfern vorhalten, «was denn die Nachbarn dann von Ihnen denken würden» …

Sind diejenigen, die all das verantworten, schlechte Menschen? Sicher auch. Aber wie sind sie so geworden? Entscheidend ist, dass der Zwang, die Shareholder oder, wie im Falle von Aldi, die Privateigentümer eines Konzerns zu bedienen und das Betriebsergebnis optimal zu steigern, sie zu moralisch verwerflichen, manchmal sogar kriminellen Handlungen treibt. Vielleicht wären solche Arbeitgeber froh, wenn es gar keine Kündigungsschutzbestimmungen mehr gäbe, die sie beachten müssten. Dann müssten sie auch nicht derart brutal handeln, tricksen, lügen und Psychoterror ausüben. Aber da es noch nicht so weit ist, greifen sie zu allen denkbaren Methoden, um den Kündigungsschutz auszuhebeln. Und wer das nicht mitmacht, zeigt eben Führungsschwäche, ist ein «Weichei».

Andreas Straub hat versucht, als er nach einem Jahr Einarbeitungszeit schließlich selber Bereichsleiter wird, einen weniger rabiaten Weg bei Aldi einzuschlagen. Nicht der übliche Draufschläger zu werden und trotzdem die Umsatz- und Renditezahlen einzufahren. Er hat sich damit keine Freunde gemacht. Sie haben sich letztlich seiner entledigt, weil er den Stil des Hauses nicht übernommen hat. Die typische Aldi-«Einigung», ein Aufhebungsvertrag nach firmeneigenem Muster, hat bei Straub nicht funktioniert, er hat vor Gericht einen Vergleich erstritten.

Andreas Straub stand unter erheblichem persönlichen Druck, als er sein Buch niederschrieb. Aus seinem privatesten Umfeld bekam er heftige Kritik zu hören; er solle die Schreiberei sein lassen, ein solches Buch wäre eine unverfrorene Anklage, er werde nie wieder eine Arbeit als Führungskraft bekommen. Freundschaften gingen in die Brüche, er trennte sich von Menschen (wahrscheinlich den richtigen!), denen er sich nahe glaubte, als er sich nach gründlicher Selbstprüfung und Bedenkzeit zur Veröffentlichung dieses Buches entschloss. Ein mutiges und aufrüttelndes Buch, das nach sofortigen Veränderungen verlangt. Es sollte nicht zuletzt uns Konsumenten zum bewussten Kaufverhalten veranlassen und … kaum anzunehmen: Aldi zur grundlegenden Änderung seiner Personalpolitik. «Billig», das ist jedem nach der Lektüre dieses Buches bewusst, «billig» – für dieses Prinzip zahlen andere drauf!

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1.Ende und Anfang

Fahr einfach. Und sei bitte still, denke ich nur. Aber der Taxifahrer erzählt unaufhörlich weiter. Von seinen Kindern, von seinem neuen Flachbildfernseher, über Fußball und davon, dass Taxifahren eigentlich das Allerletzte sei, er aber dennoch nichts lieber tue.

Und abermals schaut er mich prüfend an: «Sie sehen nicht gut aus. Nein, wenn ich mir Sie genau anschaue, sehen Sie gar nicht gut aus.» Kein Wunder, denn ich bin gerade entlassen worden. Mein Arbeitgeber hat mir zum Ende nächsten Monats – Juristen nennen dies «ordentlich» – gekündigt. Ist das das Ende meiner Karriere? Das Ende meiner Aldi-Karriere auf jeden Fall.

Kurz zuvor auf dem Parkplatz der Aldi-Zentrale: Ich habe meinen Dienstwagen aufgeräumt und die Autoschlüssel abgegeben. Mein Chef sagt noch: «Schauen Sie mir bitte mal in die Augen. Ich wünsche Ihnen alles Gute.» Ich reagiere nicht. Teilnahmslos wickle ich alles ab. Ich habe bereits auf Autopilot umgeschaltet. Zwar bin ich körperlich anwesend und funktioniere in diesem Schauspiel, in dem ich leider die Hauptrolle habe, gedanklich bin ich aber längst abgetaucht. Andere wären vielleicht ausgerastet. Hätten geschrien oder geheult. Mein Kopf ist leer. Im Hinterkopf tobt eine Mischung aus Schock, Wut, Trauer und Entrüstung.

Das Taxi kommt, und ich steige ein. Meine Adresse hat der Taxifahrer schon. Die Bezahlung ist bereits geregelt.

«Bei Aldi ist das immer perfekt organisiert», lobt der Taxifahrer. Möglicherweise ahnt er etwas. Jedenfalls stellt er sehr geschickte Fragen.

«Ich bin gerade entlassen worden», versuche ich den Fahrer in möglichst sachlichem Ton zu informieren. Er wendet den Blick von der Straße ab und schaut mir in die Augen: Sein Mitgefühl ist echt. Trotzdem halte ich mich zurück, bleibe vorsichtig. Ich äußere mich nur vage.

«Was haben Sie denn falsch gemacht?», fragt er mich. Gute Frage. Ich weiß es selbst nicht so genau. Aldi hat mir ohne Angabe von Gründen gekündigt. Mir fällt keine Antwort ein.

«Nicht, dass Sie mich jetzt falsch verstehen», beschwichtigt der Taxifahrer schnell. «Oft ist bei so was Pech im Spiel. Ich kann Ihnen da Geschichten erzählen …»

Mir bleibt heute nichts erspart. Er quasselt in einer Tour.

«Schalten Sie doch ein wenig das Radio ein», schlage ich vor. «Drehen Sie ruhig etwas lauter.» Gott sei Dank, er macht es. Das Radio dröhnt. Wie mein Kopf. Aber der Fahrer schweigt. Meine Gedanken kehren zu den Ereignissen zurück, die zu meiner Kündigung geführt haben.

Seit längerem hatte ich Zweifel an meiner Tätigkeit gehegt. Sie füllte mich nicht mehr aus. «Obwohl» die Stimmung in meinen Filialen gut ist, habe ich ordentliche Zahlen abgeliefert. Ich bin ein erfolgreicher Jungmanager. Bis es zum Bruch mit meinem Vorgesetzten kommt. Eine Intrige, die ins System passt. Ich werde gemobbt. Über Wochen und Monate hinweg. Bis ich krank werde. Unmittelbar nach meiner Rückkehr versucht die Geschäftsleitung von Aldi, mich zur Unterschrift eines Aufhebungsvertrags zu drängen. Ich soll gehen. Ein Geschäftsführer und zwei Prokuristen sitzen mir gegenüber. Drei gegen einen. Stundenlang reden sie auf mich ein. Aus anfänglichem Reden wird bald Brüllen. Die Vorwürfe werden immer abstruser und immer persönlicher. Ich soll mürbe gemacht werden. Aber ich bleibe standhaft, unterschreibe nichts. Das Gespräch endet in einer Sackgasse. Die Geschäftsleitung von Aldi weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als mir zu kündigen. Grundlos. Ich muss die Schlüssel meines Dienstwagens abgeben und werde vom Hof gejagt. Nach drei Jahren treuer und erfolgreicher Arbeit. Routiniert wird das Taxi bestellt – noch während unseres Gesprächs.

«Wir sind gleich da», reißt mich der Taxifahrer aus meinen Gedanken und dreht das Radio leiser.

«Von dieser Firma hört man ja viel. Ich weiß nicht, was die mit Ihnen gemacht haben, aber Sie sehen wirklich nicht gut aus.»

Ein erneuter Blick in den Spiegel verrät mir: Er hat recht.

«Ja, keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht», antworte ich.

«Ich sage Ihnen eins: Es geht immer weiter! Wenn Sie mal so viel Scheiß in Ihrem Leben mitgemacht haben wie ich … Kopf hoch! Sie kommen schon wieder auf die Beine!», ermuntert er mich.

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Ein guter Mensch. Ich bedanke mich, und wir wünschen uns gegenseitig alles Gute.

In der Wohnung lege ich die wenigen Sachen, die mir geblieben sind, einfach irgendwo ab. Meine Lieben informiere ich später. Ich müsste berichten und erklären. Würde aufmunternde Worte hören. Danach ist mir nicht zumute. Das Nötigste erledige ich und rufe meinen Anwalt an. Er hat schon einige Fälle gegen Discounter verhandelt, kennt ihr Geschäftsgebaren. Ich kann nichts tun als warten. Mir ist übel. Aber ich möchte jetzt nicht alleine sein. Nebenan ist eine Eckkneipe. Seit zwei Jahren wohne ich hier und habe sie noch nie betreten. Es ist früher Nachmittag. In der Kneipe sitzen ein paar dubiose Gestalten. Ich trage noch meinen teuren Anzug. Ich werde angeschaut, als käme ich von einem anderen Stern. Sie reden über Fußball, Autos und Frauen. Ich setze mich dazu und bestelle für mich und meine gerade gewonnenen neuen Freunde ein Bier nach dem anderen. In acht Tagen ist Weihnachten. Prost!

Von Mercedes zu Aldi – spinnst du?

Mein Name ist Andreas Straub. Mit 22 Jahren stellt mich ein Aldi-Süd-Geschäftsführer ein, mit 23 bin ich der jüngste Bereichsleiter. Meine beiden jüngeren Geschwister bezeichnen mich als zielstrebig und überlegt. Der Schulleiter meines Gymnasiums bescheinigte mir einen «politisch denkenden Kopf». Ich bin koffeinsüchtig und liebe das Risiko. Eine gute Mischung, um dieses Buch zu schreiben. Meine Eltern sind einfache, bescheidene Menschen. Meine Mutter ist gelernte Sekretärin, mein Vater ist Mechaniker. Seit fast vierzig Jahren ist er in der IG Metall. Er war zeitweise Betriebsrat, obwohl er nach eigenem Bekunden nicht viel von Betriebsräten hält. Als «Arbeitersohn» bin ich eine Ausnahme im Gymnasium gewesen. In einer schwäbischen Kleinstadt gehe ich zur Schule, schließe als bester Schüler meines Jahrgangs ab. Ich erhalte mehrere Ehrungen. Während meiner Schulzeit bin ich als Schulsprecher aktiv, initiiere einige Projekte und engagiere mich vielfältig. Beispielsweise organisiere ich mit anderen Schulsprechern eine Großdemo gegen den Irakkrieg, über die in lokalen Medien berichtet wird. Ich arbeite viel mit meinem Schulleiter zusammen. Er ist für mich Vorbild und Mentor. Im Leben im positiven Sinne Spuren zu hinterlassen, gibt er mir mit auf den Weg.

Ich interessiere mich für Politik und Wirtschaft und beschließe schon früh, Internationale Betriebswirtschaftslehre (BWL) zu studieren. Ich habe die Qual der Wahl, entscheide mich schließlich für ein Nachwuchsprogramm von Daimler Benz. Das Angebot überzeugt mich. Nicht zuletzt, weil es mir eine finanzielle Unabhängigkeit von meinen Eltern ermöglicht. Ich absolviere ein Auslands-Studiensemester in Kopenhagen, mache ein Praktikum in Kanada und lerne, wie ein Großkonzern tickt. Das Studium ist stressig und kompakt. Meine Vorgesetzten bei Daimler sind zufrieden mit mir, preisen mich als «High Potential». Am Ende des Studiums gehöre ich zu den besten Absolventen meines Jahrgangs.

Mein weiterer Weg scheint vorgezeichnet: Ich würde, wie die meisten meiner Studienfreunde, eine Karriere im Daimler-Konzern anstreben. Ich bewerbe mich auf mehrere Stellen und schaue mir einige Abteilungen an. So richtig spricht mich aber nichts an. Alles hier ist klar geregelt, aber die Aufgaben interessieren mich nur mäßig. Der große Konzern kommt mir oft furchtbar langsam vor; viele Mitarbeiter sind frustriert, wirken kraftlos. Nicht wenige haben innerlich schon gekündigt – und machen daraus kein Geheimnis. Nein, es soll bitte etwas mehr Spannung und eine echte Herausforderung sein. Gerne auch ein Job, bei dem es anzupacken gilt, bei dem ich etwas bewegen kann.

Also suche ich in den Stellenanzeigen nach Alternativen. Von Banken und Unternehmensberatungen bis hin zur Entwicklungshilfe kann ich mir alles Mögliche vorstellen. Ich bin auf der Suche: nach meinen Interessen, Neigungen, Fähigkeiten und ein Stück weit nach mir selbst. Viele Informationstage, Zeitungsartikel und Gespräche später stoße ich auf eine Stellenanzeige von Aldi Süd: Managementnachwuchs werde gesucht. Aldi sucht Bereichsleiter im Verkauf. (Aldi verwendet mittlerweile – Stand Anfang 2011 – den Begriff «Regionalverkaufsleiter» für die Position. Zuvor «Bereichsleiter Filialorganisation», davor «Bezirksleiter». Selbst intern geistern alle Begrifflichkeiten nach wie vor durch die Flure. Daher bleibe ich aus Gründen der Einfachheit und Konsequenz bei «Bereichsleiter».)

Als ich im Internet nach «Bereichsleiter Aldi» suche, stoße ich zuerst auf einige Online-Foren, bevor ich auf die Homepage des Unternehmens treffe. Alleine zu einem Beitrag gibt es über 1500 Kommentare. Ich greife einige markante auf:

 

«60 – 70 h pro Woche sind die Regel.»

 

«Kleine, ungelernte Leute zusammenscheißen» sei die «Discounter-Mentalität».

 

«Menschenhass ist nützlich» und «Privatleben extrem schädlich».

 

Auf Partys kann der Satz «Ich arbeite bei Aldi» nicht eben Aufsehen erregen. Freunde fragen: «Von Mercedes zu Aldi – spinnst du?» Einige sind dennoch der Meinung, es handle sich bei dem Job um eine «anständige Tätigkeit». Aldi Süd schreibt auf seiner Homepage:

 

«Als Bereichsleiter gestalten und organisieren Sie Ihren Tag in weiten Teilen selbst. Sie sind Generalist, tragen Planungs-, Organisations-, Controlling- und Führungsverantwortung für etwa sechs Aldi-Süd-Filialen mit insgesamt 50 bis 70 Mitarbeitern. Sie genießen weitreichende Handlungsvollmacht. Kurz: Sie sorgen mit großer Selbständigkeit dafür, dass die Geschäfte laufen. Da steckt jeder Tag nicht nur voller Leben, sondern auch voller Abwechslung. Ihre Aufgabenbereiche sind sehr klar definiert: Sie werden vielfältig gefordert, Sie fällen Entscheidungen.»

 

Klingt schon besser. Welche Darstellung stimmt? Sind die anonymen Kommentatoren im Internet alle nur frustriert? Ehemalige Mitarbeiter, die den hohen Leistungsanforderungen des Unternehmens nicht gerecht werden konnten?

Ich war und bin vom Discountprinzip fasziniert. Die Idee, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Alles Überflüssige wegzulassen. Aldi ist der Pionier: einfach und klar organisiert, auf Leistung angelegt. Ein deutscher Exportschlager. Das Unternehmen ist solide finanziert, in Deutschland bestens aufgestellt und hat durch die weltweite Expansion eine große Zukunft vor sich. Als Kunde gehe ich gerne zu Aldi. Der Discounter ist beliebt. Viel mehr weiß ich nicht. Nach wie vor dringt wenig an die Öffentlichkeit. Gerade diese Verschlossenheit und Verschwiegenheit nach außen, die geheimnisvolle Aura, üben eine Anziehungskraft auf mich aus. Dieses riesengroße und gleichsam unbekannte Unternehmen Aldi: was ist das?

Zu Aldi gibt es eine Vielzahl von Veröffentlichungen, überwiegend Ratgeber für Verbraucher. Jeder kennt Aldi und kann vermeintlich mitreden, Genaueres wissen aber nur sehr wenige. Aldi selbst hält sich sehr bedeckt, veröffentlicht nicht einmal Zahlen für das Gesamtunternehmen. Zur Philosophie und zu den Geschäftsprinzipien finden sich fast keine frei verfügbaren, neutralen Informationen. Von einem ehemaligen Aldi-Nord-Geschäftsführer gibt es mehrere Bücher, die jedoch allesamt einseitig positiv und völlig unkritisch geschrieben sind. Wenn Aldi diese Bücher in Auftrag gegeben hätte, wären sie vermutlich nicht anders ausgefallen. Obwohl Aldi eine solch enorme Größe erreicht hat und schon seit vielen Jahren am Markt ist, gibt es keine ernstzunehmenden Publikationen. Wo kommt Aldi her?

Nach dem Zweiten Weltkrieg übernehmen die Brüder Karl und Theo Albrecht den elterlichen Betrieb, der 1913 in Essen als kleines Lebensmittelgeschäft gegründet wurde. Sie eröffnen weitere Filialen. Mit dem Erstarken der Supermärkte sehen sie ihre Felle jedoch davonschwimmen. Sie versuchen aufzuspringen, scheitern aber mit ihrem Versuch, Selbstbedienungssupermärkte zu gründen. Die Konkurrenz ist bereits enteilt. Ihr nächster Versuch, Großmärkte für Gewerbetreibende unter dem Namen «Alio» zu etablieren, scheitert ebenso. Das dritte Konzept, eher eine Notlösung, wird der Volltreffer. Sie beschränken die Auswahl, bieten nur sehr wenige Produkte, die aber zu unschlagbar niedrigen Preisen an. Ab 1960 eröffnen sie schnell weitere Filialen. Das Konzept geht auf. Die Kette wächst. Die Wege der Brüder Karl und Theodor trennen sich, angeblich weil sie sich nicht einigen können, ob Zigaretten im Sortiment gelistet sein sollen oder nicht. Zunächst wird Deutschland in Nord und Süd aufgeteilt, später teilen sich die Brüder die Welt in Verkaufsgebiete auf. Für die Kunden ist die Trennung unerheblich, viele registrieren sie gar nicht. Das «Nordreich» bedient heute mit 35 Regionalgesellschaften und mehr als 2500 Filialen Nord- und Ostdeutschland, das «Südreich» mit 31 Regionalgesellschaften und über 1800 Filialen Süd- und Westdeutschland. Zusammen betreiben die Brüder somit mehr als 4000 Läden – allein in Deutschland.

Die Brüder Albrecht leben sehr zurückgezogen. Nur wenig wird über sie bekannt, die letzten öffentlich bekannten Fotos stammen aus den Achtzigern. Beiden wird sprichwörtlicher Geiz nachgesagt. Theo Albrecht soll einen gewünschten zusätzlichen Kleiderhaken für die Mitarbeiter in den Filialen aus Kostengründen abgelehnt haben. Karl Albrecht soll beispielsweise einen Filialleiter, der sich vier Kugelschreiber bestellte, gefragt haben, ob nicht einer genüge und mit wie vielen Kugelschreibern er denn gleichzeitig schreiben könne. In den Mitarbeitertoiletten von Aldi Süd soll er einen Ziegelstein in den Wasserkasten gelegt haben, um den Wasserverbrauch zu verringern.

Aber Sparsamkeit allein kann nicht der Grund sein, weshalb Aldi so erfolgreich wird. Denn die Albrecht-Brüder sind bis zum Tod von Theo Albrecht 2011 mit Abstand die reichsten Deutschen. Auf vordere Plätze in der Forbes-Liste der reichsten Menschen der Welt haben sie ein Abo. Das gemeinsame Familienvermögen wird 2011 auf 33 Milliarden Euro geschätzt.

Wie können zwei Menschen in gut fünfzig Jahren so unfassbar reich werden? Wie konnte das Unternehmen so profitabel und schnell wachsen? Auf den ersten Blick erscheint unlogisch, dass gerade diejenigen, die die niedrigsten Preise anbieten, damit am meisten Geld verdienen.

Die erste große Innovation im Handel ist nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland die Gründung von Supermärkten, die schrittweise die bis dahin dominierenden Tante-Emma-Läden ablösen. Die Albrechts verschlafen diesen Trend. Im Supermarkt sind die Artikel auf eine viel größere Verkaufsfläche verteilt, und der Kunde bedient sich selbst. Arbeitskosten sind in Deutschland seit jeher im internationalen Vergleich hoch. So besteht und bestand ein Anreiz, diese Kosten zu senken und durch den Produktionsfaktor Kapital zu ersetzen. Kapitalkosten sind im Gegensatz zu Arbeitskosten meistens fix und somit kalkulierbar. Eine verhältnismäßig große Anzahl an Verkaufspersonal im Tante-Emma-Laden (Produktionsfaktor Arbeit) wird also durch Verkaufsfläche (Produktionsfaktor Kapital) ersetzt. Der Kunde übernimmt die Arbeit der Bedienung selbst (Selbstbedienung), er spart dadurch Zeit und Geld. Da der Kunde dieses System gern annimmt, siegt schließlich der Supermarkt über Tante Emma.

Die nächste große Innovation, von den Albrechts federführend vorangetrieben, bestand in der Entwicklung des Discounts. Preise können weiter gesenkt werden, und der Kunde spart noch mehr Zeit, indem weiterer Verzicht geübt wird. Der Discounter reduziert sein Warenangebot auf die notwendigsten Artikel, verzichtet auf Service und Dekoration. Durch das geringere Warenangebot fallen weniger Kosten für die Lagerhaltung und für die Sortimentspflege an, gleichzeitig wird weniger Verkaufsfläche benötigt. In den Filialen wird möglichst wenig Personal eingesetzt, Kundenberatung findet nicht statt. Auf teure Markenartikel wird verzichtet, stattdessen werden günstige Waren unter Eigenmarken verkauft. Das Sortiment besteht zwar aus wenigen Artikeln, die dafür sehr häufig umgeschlagen werden. Im Einkauf werden große Vorteile erzielt, indem einerseits die oft durch Werbung stark verteuerten Markenartikel weggelassen, andererseits große Mengen von No-Name-Produkten eingekauft werden. Die Macht in der Lieferkette verschiebt sich zugunsten des Händlers. Der Discounter selbst verzichtet weitgehend auf Marketing, ist intern schlank organisiert und nur auf eines ausgerichtet: niedrige Kosten. Und weil diese deutlich geringer sind als in einem Supermarkt, können dem Verbraucher billigere Preise angeboten werden. Dem Kunden wird der Einkauf zusätzlich erleichtert, indem er nicht aus vielen verschiedenen Produkten wählen muss, sondern oft nur ein bestimmtes vorfindet. Das schmale Sortiment befreit ihn von der Reizüberflutung und dem ständigen Druck im Supermarkt, sich entscheiden zu müssen. Das spart außerdem Zeit.

Vielleicht sind die Lebensmitteldiscounter gerade deshalb in Deutschland entstanden und so erfolgreich, weil die Löhne hoch sind, die Kunden extrem preisbewusst einkaufen und traditionell gerne geführt werden. Durch die Einsparung von Personalkosten lassen sich in dieser Branche schnell erhebliche Wettbewerbsvorteile erzielen, die in Preissenkungen umgemünzt werden können.

Die Unternehmen Aldi Nord und Aldi Süd erzielen gemeinsam einen Umsatz von mehr als 50 Milliarden Euro und beschäftigen weltweit über 170000 Mitarbeiter. Die Grenzen des Wachstums sind auf dem deutschen Heimatmarkt längst erreicht, seit Jahren stagnieren die Umsätze. Durch die schrittweise Ausweitung des Sortiments versucht Aldi, in Deutschland zumindest seine Position zu behaupten. Echte Umsatzzuwächse erzielt die Unternehmensgruppe nur noch mit der Eröffnung neuer Filialen im Ausland. So ist Aldi Süd beispielsweise bereits in den USA, in Australien und in Großbritannien sowie in Österreich, der Schweiz, Ungarn und Slowenien vertreten. 2009 zog sich Aldi erstmals aus einem Markt wieder zurück: Griechenland. Im Gegensatz zu Lidl konnte Aldi hier keinen Fuß fassen, das Engagement erwies sich als Millionengrab. Aldi Nord erobert den Rest von Europa. Eine starke Präsenz ist zum Beispiel bereits in Frankreich, Belgien, Spanien, Portugal, den Niederlanden und Dänemark erreicht.

Das miese Image der Anfangszeiten ist längst passé. Studien zeigen, dass heute alle gesellschaftlichen Schichten bei Aldi einkaufen. Das vielzitierte Bild «mit dem Porsche zum Aldi» ist Realität. Von Gourmetaktionen über Champagner bis hin zu Bio- und Convenience-Artikeln bietet Aldi auch der betuchteren Klientel interessante Produkte an. Dennoch ist die Mittelschicht nach wie vor die wichtigste Kundengruppe. Die meisten Produkte sind auf ordentliche Qualität zu niedrigen Preisen ausgelegt. Aldi spricht daher nicht von «billig», sondern lieber von «günstig». «Qualität ganz oben – Preis ganz unten» lautet das Unternehmensmotto.

Ohne klassisches Marketing hat es Aldi geschafft, sich ein enormes Vertrauen bei den Kunden zu erwerben. Aldi ist in der Kundenwahrnehmung ständig präsent: Die Filialen mit großen Logos sind eine Art Dauerwerbung, die firmeneigenen LKW sind mobile Werbeträger, und regelmäßig werden in Zeitungsanzeigen und Flyern die neuesten Angebote beworben. Der Slogan «Aldi informiert» legt dem Kunden nahe, dass es Aldi gar nicht nötig hat zu werben: Die Produkte und die Preise sprächen für sich. Aldi – ein faszinierendes und wirtschaftlich erfolgreiches Unternehmen.

 

Das ausgeschriebene Jobangebot «Managementnachwuchs» klingt reizvoll. Die unternehmerische Orientierung und die Verantwortung sprechen mich an. Ich möchte mir selbst ein Bild von Aldi machen und bewerbe mich. Schon zwei Wochen später bekomme ich per Brief die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Sie liest sich ein wenig wie die Vorladung zu einem Gerichtstermin.

Der Aldi-Geschäftsführer stellt mich ein

Der Termin ist kurzfristig angesetzt und fällt zusammen mit meinen letzten Prüfungen im Studium. Ich habe nicht viel Zeit für intensive Vorbereitungen, aber ich rechne mit einem harten Bewerbungsgespräch. Immerhin werde ich direkt mit dem Geschäftsführer sprechen.

Ich sitze im Zug. Während der Fahrt gehe ich gedanklich mögliche Fragen und Antworten durch. Ich bin insgesamt recht ruhig, aber als das Ziel meiner Fahrt näher rückt, werde ich doch nervös. Die Zentrale ist in einem kleinen Ort, der verkehrsgünstig an der Autobahn liegt. Die wenigen Meter vom Bahnhof dorthin gehe ich zu Fuß. Zwischendurch zweifle ich, ob ich hier richtig bin. Als ich mich nach dem Weg erkundige, wissen die ersten beiden Passanten gar nichts von einer Aldi-Zentrale. Ich wundere mich. Der dritte kann schließlich helfen und erklärt mir den Weg.

In der Zentrale angekommen, werde ich von der Sekretärin des Geschäftsführers freundlich begrüßt. Sofort erkundigt sie sich, wie ich angereist sei.

«Mit der Bahn», antworte ich.

Sie ist etwas verwirrt, überlegt kurz, was jetzt zu tun ist, kommt wohl nicht häufig vor. «Dann bräuchte ich bitte Ihr Ticket, um eine Kopie zu machen.»

Nachdem ich ihr mein Ticket übergebe, kehrt sie nur wenige Minuten später mit dem exakten Fahrpreis in bar zurück. Jetzt bin ich erstaunt. Das habe ich noch nie erlebt. Überweisungen scheint man noch nicht zu kennen. Andererseits bin ich beeindruckt: schnell, einfach, effizient. Aldi eben.

Ich warte in dem kleinen, spartanisch eingerichteten Konferenzzimmer. Auf die Minute pünktlich erscheint der Geschäftsführer, Herr Schneider. Er betritt den Raum und füllt ihn im wahrsten Sinne des Wortes. Herr Schneider ist Mitte fünfzig, braun gebrannt und hüllt sich in einen edlen Anzug. Sofort ist ersichtlich, dass es sich um einen teuren Stoff handelt, maßgeschneidert. Insgesamt macht er einen sehr entspannten Eindruck. Ich werde ihn nie anders erleben. Bis auf den Gerichtstermin, den er gegen mich in dreieinhalb Jahren haben wird. Aber davon wissen wir beide jetzt noch nichts, und so parliert er über seine eigene Laufbahn, das phantastische Unternehmen, den Job als Bereichsleiter und die grandiosen Aussichten. Ich komme fast gar nicht zu Wort.

Obwohl die Stimmung sehr gut ist und die Chemie nach meinem Empfinden stimmt, dauert das Gespräch gerade einmal dreißig Minuten, von denen ich maximal einen Redeanteil von fünf Minuten habe. Da Herr Schneider kaum Fragen hat, stelle ich ein paar. Vor allem zur Positionierung des Unternehmens und zur Strategie – Themen, bei denen ich auf die Antworten mutmaßlich gut reagieren kann. Schließlich spreche ich einige kritische Punkte an, einen Zeitungsartikel und die unzähligen Einträge in Internetforen.

Diesmal ist Herr Schneider weniger gesprächsbereit: «Ich habe von diesen Berichten gehört, aber noch nie reingeschaut.»

So einfach möchte ich es ihm nicht machen. «Es werden viele Horrorgeschichten berichtet. Der Tenor ist im Wesentlichen, dass viel Leistung verlangt wird, aber eben auch, dass die Mitarbeiter teilweise unfair behandelt werden.»

«Das sind alles Einzelfälle, die gescheitert sind. Bei uns werden alle Mitarbeiter korrekt behandelt. Aber ich sage Ihnen gleich, dass auch bei uns 50 Prozent der Trainees im ersten Jahr abbrechen.»

Jetzt scheint Schneider einen Punkt machen zu wollen. Er fragt mich: «Wie viel wollen Sie denn verdienen?» Mist. Zwar bin ich auf diese Frage vorbereitet, da es aber meine ersten Verhandlungen in diesem Zusammenhang sind, bin ich unsicher. Jetzt nur nicht zu wenig verlangen und sich zu billig verkaufen, andererseits aber auch nicht zu viel und möglicherweise gierig erscheinen. Daher antworte ich diplomatisch: «Ich hatte mir ein marktübliches Einstiegsgehalt vorgestellt.»

«Was heißt das konkret?», fragt Schneider nach.

«So um die 50000 Euro im Jahr, wobei es natürlich auf die genaue Ausgestaltung noch ankommt.»

Jetzt lächelt der Geschäftsführer selbstzufrieden: «Sie müssen nicht verhandeln. Wir haben ohnehin standardisierte Gehälter. Sie erhalten 60000 Euro im Jahr fix.»

Damit habe ich nicht gerechnet. Das sind zu diesem Zeitpunkt etwa 20 bis 25 Prozent über den normalen Einstiegsgehältern für BWL-Studienabsolventen. Selbst Daimler kann da nicht mithalten. Damit ist alles besprochen, jedenfalls aus Sicht des Geschäftsführers. Langsam möchte er zum Ende kommen. Waren meine Fragen zu kritischen Berichten zu hart? Oder habe ich etwas Falsches gesagt? Nach welchen Kriterien entscheidet er eigentlich? Ich habe ja fast nichts gesagt.

Ich rechne schon mit der Verabschiedung, als Schneider mir einen Rundgang durch das Zentrallager anbietet. Aha, es ist also doch noch nicht vorbei. Später werde ich erfahren, dass alle, die diesen Rundgang von circa zwanzig Minuten bekommen, ein Angebot von Aldi erhalten. So wird der neue Bereichsleiter schon mal präsentiert. Wir besichtigen zunächst die Büros. Besser gesagt, das eine Großraumbüro, mehr gibt es nicht. Mir fällt sofort auf, dass ausschließlich Frauen dort arbeiten, vielleicht fünfzehn oder zwanzig an der Zahl. Sie machen einen geschäftigen Eindruck. Die Stimmung wirkt ein wenig verkrampft. Ich lächle und grüße, die Damen lächeln brav zurück und nicken mir zu. Vermutlich denken sie: Schon wieder so ein Frischling.

Den Damen gegenüberliegend, auf der Südseite, auch Sonnenseite genannt, befinden sich die Einzelbüros der Prokuristen und des Geschäftsführers. Alle sind gleich spartanisch eingerichtet. Die Türen stehen symbolisch offen, so auch an diesem Tag. Ich werde allerdings niemandem vorgestellt. Als wir an einem dieser Büros vorbeigehen, schaut ein älterer Herr grimmig unter seiner randlosen Brille hervor. Ich nicke ihm zu, er reagiert aber nicht. Sehr sympathisch, denke ich. Er ist einer von zwei Verkaufsleitern, denen die Bereichsleiter unterstellt sind. Wir werden nicht miteinander bekannt gemacht.

Der Rundgang mit Herrn Schneider geht weiter, wir marschieren «nach hinten», ins Zentrallager. Der Geschäftsführer erklärt mir, dass dort die Ware für 60 Filialen angeliefert, kommissioniert und ausgeliefert wird. Immer wieder grüßt er Mitarbeiter, die Mitarbeiter grüßen routiniert zurück. Ich habe den Eindruck, dass er öfters «hinten» ist. Jedenfalls reagiert keiner der Arbeiter erkennbar erstaunt, den Geschäftsführer bei einem Rundgang durch das Lager zu sehen. Der Rundgang setzt sich noch eine Weile fort, wir plaudern angenehm. Herr Schneider fragt mich nach Aktienempfehlungen. In diesem Bereich habe ich meine Diplomarbeit geschrieben und werfe für Schneider einen Blick in die Glaskugel. Anschließend gehen wir zurück in das kleine Besprechungszimmer, in dem das Bewerbungsgespräch stattfand. Der Geschäftsführer deutet eine Zusage an. Er habe noch einen anderen Bewerber morgen, aber es sehe nicht schlecht aus. Er fügt an: «Ich melde mich bis spätestens Montag. Wenn Sie nichts mehr von mir hören, ist es eine Absage.» Ein weiteres Gespräch wird es nicht geben.

Wiederum bin ich beeindruckt: sehr ungewöhnlich, aber eine effiziente Methode. Herr Schneider verkörpert für mich die angepriesene flache Hierarchie und schnelle Entscheidungen. Das Unternehmen Aldi überrascht mich an diesem Tag positiv. Ich sehe die Chancen auf ein eigenverantwortliches und unternehmerisches Arbeiten. Wir verabschieden uns, und ich gehe mit vielen interessanten ersten Eindrücken und einem guten Gefühl.

Drei Tage später kommt der Anruf: «Grüß Gott, Herr Straub, ich möchte Sie einstellen.» Ich freue mich riesig! Telefonisch sage ich sofort zu. Bald werde ich einem der erfolgreichsten deutschen Unternehmen angehören! Ich freue mich auf den klaren Fokus auf Qualität und Leistung, auf offenes Feedback und einen klaren, fairen Umgang miteinander. Das Erfolgskonzept der Aldi-Brüder werde ich erlernen und anwenden. Es ist genau das, wonach ich gesucht habe! Der Vertrag liegt schon am nächsten Tag auf meinem Schreibtisch.

Zu meiner Verwunderung stehen in manchen Vertragspassagen allerdings falsche Angaben, an einer Stelle steht sogar unter «Arbeitnehmer» ein falscher Name. Ich diskutiere das Angebot mit verschiedenen Bekannten und Vertrauten. Die meisten sind skeptisch. Vielleicht entscheide ich mich gerade deshalb dafür, um allen das Gegenteil zu beweisen. Nein, das schlechte öffentliche Image entspricht nicht den Tatsachen. Aldi ist sicher ein tolles Unternehmen und ein hervorragender Arbeitgeber.

Den Vertrag erhalte ich kurz vor dem letzten Termin mit meiner Mentorin bei Daimler. Sie weiß von meinen Absichten, das Unternehmen zu verlassen, und ich zeige ihr die Unterlagen. Bezüglich der Fehler im Vertrag orakelt sie: «Bei so einem schlampigen Umgang mit sensiblen Personalunterlagen würde ich mich nicht wundern, wenn die das Personal genauso behandeln. Wem solche vertraulichen Dokumente egal sind und wer sie nicht sorgsam erstellt, dem sind auch die Menschen egal.»

Ich weiß es natürlich besser, tue die Fehler als Bagatellen ab. Ihren Einwand verbuche ich unter weiblicher Logik. Gemeinsam gehen wir den Vertrag und die Stellenbeschreibungen weiter durch.

«Das Wort Kontrolle kommt verdammt oft vor, das scheint wohl enorm wichtig zu sein bei diesem Job», bemerkt sie gleich beim ersten Überfliegen der Unterlagen.

«Man scheint großen Wert darauf zu legen, dass Sie als leitender Angestellter gelten.» Ich nehme ihre Bedenken und Einwände zur Kenntnis, wische sie aber weg. Ich denke, es besser zu wissen. Ich unterschreibe. Mein erster Job ist in der Tasche. Managementnachwuchs bei Aldi.

Willkommen bei Aldi

Auf der Anreise zu meinem ersten Arbeitstag bin ich nervös. Vorab habe ich nur einige schriftliche Informationen erhalten, aber keinen Ablaufplan. Was auf mich wohl zukommen wird? War es wirklich die richtige Entscheidung? Was erwartet mich? Endlose Vorträge und Seminare zur Einführung? Wie werden die Mitarbeiter sein? Ob sich die Horrorberichte aus den Internetforen doch bestätigen? Nein, es wird schon alles gut werden.

Nach knapp zwei Stunden Bahnfahrt bin ich da. Vom Bahnhof des kleinen Orts gehe ich wieder zu Fuß. Den Weg kenne ich jetzt. Es sind gerade einmal zehn Minuten zur Zentrale. Von außen blicke ich in das überschaubare Büro. Sieht alles noch so aus wie beim Vorstellungsgespräch. Lediglich ein junger, adrett gekleideter Mann sitzt etwas abseits der Damen und telefoniert ganz wichtig. Ich beobachte ihn vom Wartebereich aus. Er trägt einen Nadelstreifenanzug, könnte auch Investmentbanker sein, denke ich mir. Er macht einen geschäftigen Eindruck, wirkt aber gleichzeitig ein wenig unsicher, fast schon schüchtern. Er schaut sich immer wieder um und blickt verstohlen zu mir rüber. Als sich unsere Blicke treffen, schaut er weg. Dabei muss ihm doch klar sein, dass ich der Neue bin. Der Neue, den er einarbeiten wird.

Man öffnet mir die Tür zum Großraumbüro. Ich begrüße die Damen und den jungen Anzugträger, Herrn Stricker, und werde zum Geschäftsführer gebracht, der mich in Empfang nimmt. Wie Herr Schneider mir erläutert, werden die neuen Bereichsleiter üblicherweise durch einen der Verkaufsleiter in Empfang genommen, aber der eine sei momentan im Urlaub und der andere besuche die Neueröffnung einer Filiale in einer Nachbargesellschaft. Ich freue mich darüber und fühle mich geehrt. Wir sitzen in seinem kleinen Büro, ich trinke einen Cappuccino, der Geschäftsführer auch, Herr Stricker trinkt Aldi-Apfelschorle. Ich werde jetzt einen Monat mit ihm verbringen und werde ihn nie etwas anderes als Apfelschorle trinken sehen (sicher drei bis vier Liter am Tag). Wir plaudern über dieses und jenes: wie ich hergefunden habe, was ich vor Aldi gemacht habe. Als die Sprache auf meine zukünftige Arbeit kommt, beteiligt der Geschäftsführer erstmals Herrn Stricker, den er bis dahin konsequent ignoriert hat: «Welche Filialen haben Sie momentan noch mal?» Wie ein braver Soldat zählt er die Läden auf. Er betreut, wie Stricker mir hinterher berichtet, genau diese Filialen seit fünf Jahren. Ich wundere mich: Wie kann der Geschäftsführer, der für ihn disziplinarisch verantwortlich ist, nicht einmal wissen, welche Filialen er betreut?