Alina kämpft sich durch - Dietmar R. Horbach - E-Book

Alina kämpft sich durch E-Book

Dietmar R. Horbach

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Beschreibung

Waisenkind kämpft sich durchs Leben, bis sie Managerin und Eigentümerin eines Konzerns wird.

Das E-Book Alina kämpft sich durch wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Lenbeskampf, Mut, Stärke, Ausdauer, Sieg

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Dieses Buch widme ich meiner Enkeltochter Alina E.

Dietmar R. Horbach

Inhaltsverzeichnis

Beginn unserer Geschichte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel acht

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Schluss unserer Geschichte

Beginn unserer Geschichte

Es war schon das dritte Mal in dieser Woche, dass Alina in diesen zweimal zwei Meter großen Raum eingesperrt wurde. Sie nannten dieses Verlies, wie Alina es mit ihren vier Jahren bezeichnete, Karzer. Dort wurden die unartigen Waisenkinder eingesperrt, nachdem sie vorher von einer der Schwestern oder einem Angestellten gezüchtigt, das heißt: für ihre Verfehlungen geprügelt, wurden.

Was war geschehen? Eine der Ordensschwestern, die im Waisenhaus arbeitete, vermisste ihre Armbanduhr und einen Ring, der ihr sehr wertvoll war. Zuerst suchte die Schwester in ihren Schränken und Fächern nach den fehlenden Gegenständen. Als jedoch nichts gefunden wurde, meldete sie den Verlust der Heimleitung. Diese ordnete eine Untersuchung in den Schränken der Kinder an, weil sie sofort den Verdacht hatte, dass eines der Kinder die Sachen gestohlen hätte. Die Kinder wurden von der Anordnung der Schwester Oberin vor dem Abendbrot, vor einigen Tagen, überrascht. Da sie die Züchtigungen bei Strafverfehlungen schon fast alle kannten, standen sie mit angsterfüllten Gesichtern vor ihren Betten und hörten die Schwestern, welche die Untersuchung durchführten, laut schwatzend näher kommen. Alina, die von allem keine Ahnung hatte, amüsierte sich über die hohe Stimme von Schwester Mechthild, die das Ganze leitete. Dann standen sie vor Alinas Schrank und kramten alles heraus. Plötzlich schrie Schwester Adelheid auf. „Hier! Hier! Was haben wir denn hier?“ tönte sie laut, dass auch die anderen Kinder sich umdrehten und die Schwestern anschauten. Schwester Adelheid hielt eine Armbanduhr in der einen Hand und einen Ring in der anderen. Schwester Mechthild schaute mit einem verächtlichen Blick auf die kleine Alina, die sich keiner Schuld bewusst war und diese hagere Frau mit der Hakennase fragend anblickte. Als sie dem kleinen Mädchen die Fundstücke entgegenhielt, zuckte Alina mit einem unschuldigen Engelsgesicht die Schultern. „Die Sachen kenn‘ ich nicht“, antwortete sie und hatte gleich das Gefühl, das jetzt etwas Schlimmes auf sie zukommen würde.

So war es auch. Die drei Schwestern zogen triumphierend ab, wobei Schwester Adelheid Alina hinter sich herzog. Im Vorbeigehen sah Alina nur, wie sich die sechsjährige Gunda zu ihrer Bettnachbarin drehte und hämisch grinste. Alina, so klein wie sie war, konnte sich ihren Teil denken. Dann wurde sie vor die Schwester Oberin gestellt, die sie ebenfalls fragend anblickte. Diese konnte sich nicht vorstellen, dass dieses kleine Mädchen, das erst vor wenigen Monaten in die Einrichtung gekommen war, die Sachen aus dem Zimmer von Schwester Ramona gestohlen haben könnte. Doch der offenkundige Beweis sprach für sich. Zunächst befragte sie das Mädchen, warum sie die Sachen entwendet hätte. „Das war ich nicht“, sagte Alina tapfer, obwohl ihr die Tränen hochschossen. Aber sie drückte sie tapfer zurück. Keiner sollte sehen, dass sie weinte. „Ich kenne die Sachen nicht“, war ihre weitere Erklärung. Die Schwestern blickten sich fragend an. Schwester Mechthild meldete sich zu Wort. „Soll ich die Wahrheit aus ihr ´rausprügeln?“ fragte sie die Oberin. Diese blickte etwas verwundert auf ihre Mitschwester und schüttelte den Kopf. Sie war überzeugt, dass das Kind die Wahrheit sagte. Doch Ordnung musste sein. Allein schon für die anderen Kinder musste ein Exempel statuiert werden. „Dafür musst du zwei Tage und Nächte in den Karzer“, sagte sie Alina, in der Hoffnung, die Kleine würde die Sache beichten. Aber Alina blickte trotzig nach unten. Wenn sie nichts getan hatte, konnte sie auch nichts darüber sagen. So wurde Alina das zweite Mal in den Karzer gesperrt.

Als sie wieder bei ihrer Gruppe war, kam ein Mädchen auf sie zu, das sie noch gar nicht kannte. Es war Rosi, die Alina mochte, seitdem sie da war. Sie beugte sich zu Alina und flüsterte ihr ins Ohr: „Pass auf Gunda auf. Die flüstert immer so viel mit Andrea und Mimi. Ich glaube, die hat die Sachen gestohlen und in deinen Schrank gelegt, weil sie wusste, dass die Schwestern alles durchsuchen werden.“ Alina sah sie mit großen Augen an. Sie konnte es nicht glauben. „Meinst du?“ fragte sie nur. Rosi nickte und sagte: „Ich werd‘ mich weiter umhören und sag‘ dir Bescheid.“ Alina nickte und machte sich so ihre Gedanken. Dann saß sie allein auf ihrem Bett. Wie immer, wenn sie traurig war, griff sie in ihr Geheimfach und holte eine kleine Schachtel heraus. Sie entnahm diesem Schächtelchen eine Kette mit einem Anhänger. Diesen öffnete Alina und blickte sich das Bild von der schönen Frau an, die dort abgebildet war. Da rollten ihr die Tränen die Wangen herunter. „Mama“, flüsterte sie und weinte still vor sich hin. In der kleinen Schachtel befand sich noch ein Ring. Aber den ließ sie darin liegen. Dann gingen ihre Gedanken, soweit sich Alina erinnern konnte, zurück.

Sie sah sich in einem kleinen, aber sauberen Zimmer mit ihrer Mama. Diese war öfter krank und klagte über Schmerzen. Alina erinnerte sich dunkel, dass ihre Mutter einmal gerufen hatte: „Alina, schnell! Hol‘ Tante Therese! Mir geht es nicht gut.“ Als Alina mit der Nachbarin zurückkam, lag ihre Mutter bewusstlos auf dem Bett. Die Nachbarin telefonierte den Krankenwagen herbei. Dann wurde ihre Mutter in den Krankenwagen gehoben, und sie blieb bei Tante Therese zurück. Es war das letzte Mal, dass sie ihre Mutter lebend gesehen hatte. Man hatte sie nicht zur Trauerfeier und Beerdigung ihrer Mutter mitgenommen. Ein paar Tage später, kam eine Frau vom Jugendamt, die sie nicht kannte, und sie wurde hierher in das Waisenhaus gebracht. Das war auch schon wieder fünf Monate her.

Die erste Zeit weinte Alina nachts in ihre Kissen. Da sie die Trauer nicht verarbeiten konnte, wurde sie trotzig und aufsässig. Das brachte ihr zum ersten Mal ein paar Tage Aufenthalt im Karzer ein. Nun saß sie das dritte Mal darin. Rosi hatte herausgefunden, dass Gunda tatsächlich die Sachen gestohlen hatte. Denn sie prahlte vor den Mädchen damit, die sie um sich geschart hatte, und denen sie immer Befehle gab. Wie kleine Hunde folgten sie ihrer Anführerin. Als Alina die Nachricht hörte, ging sie stracks zu dem Mädchen hin, um es zur Rede zu stellen. „Warum bist du so böse?“ fragte Alina sie. Diese verschränkte ihre Arme vor der Brust und grinste diese an. „Was willst du denn, du Floh?“ rief sie und machte ein siegessicheres Gesicht. Ihre Mädchen scharten sich um sie, um sie zu beschützen. „Du bist eine Diebin!“ rief Alina und zeigte mit dem Finger auf sie. „Na und? Du kannst mir gar nichts beweisen. Und nun, hau‘ ab.“ Mit diesen Worten wollte sie Alina von sich stoßen. Doch Alina, die so etwas ahnte, trat einen Schritt vor. Dann trat sie ihrer Gegnerin mit Wucht vor das Schienbein und knallte ihr ihre kleine Hand ins Gesicht. Vor Schmerzen schrie Gunda auf, zog das Bein hoch und fasste sich ins Gesicht. Die Tränen schossen heraus. In diesem Augenblick trat Schwester Adelheid zu den Kindern. Sie hatte noch mitbekommen, dass Alina die Größere getreten und geschlagen hatte und wunderte sich über den Mut des kleinen Mädchens. Doch solche Dinge durften hier im Waisenhaus nicht geduldet werden. So kam es, dass Alina nun das dritte Mal im Karzer saß.

Die Sache mit dem Diebstahl wurde nach dem Streit aufgeklärt, und dieses Mal erhielt Gunda die Prügel und verschwand ebenfalls in den Karzer.

Mit der Zeit gewöhnte sich Alina an den Aufenthalt im Waisenhaus. Sie wuchs heran und setzte sich bei den Kindern durch. Man ließ sie nach einer gewissen Phase, in der sie, wie alle Neulinge im Heim, gehänselt wurde, respektvoll in Ruhe. Sogar Gunda ließ von ihr ab und ging ihr aus dem Weg. Alina achtete nach diesen anfänglichen Vorfällen peinlich darauf, dass sie nicht wieder im Karzer landete, was ihr auch gelang. Umso mehr war sie darauf bedacht, andere Kinder zu warnen und ihnen beizustehen. Das brachte ihr viel Zuneigung von den anderen ein, ohne dass Alina das für sich genutzt hätte. Die Sehnsucht nach ihrer Mutter verblasste langsam und wich der Erinnerung.

Vor einigen Wochen war eine neue Novizin ins Waisenhaus gekommen, die lernen sollte, mit Kindern umzugehen. Als sie Alina das erste Mal sah, war sie von dem Mädchen entzückt, und seitdem half sie ihr, wo sie konnte. Alina spürte die Zuneigung des großen Mädchens und war dankbar. Endlich hatte sie jemand, dem sie vertrauen konnte. Oft saßen die beiden irgendwo in einer Ecke und unterhielten sich. Wobei Deborah über Alinas Verstand erstaunt war, obwohl diese erst sechs Jahre alt war und bald in die Schule musste. Ja, Alina konnte schon lesen und kleine Rechenaufgaben lösen. Sie beide bildeten bald eine unzertrennliche Symbiose.

In diesen Begegnungen empfing die Seele von Alina so viel Liebe, die sie begierig in sich aufsog, weil sie sehr danach dürstete. Das war später auch die Kraftquelle für sie, weitere Demütigungen und Anfeindungen zu ertragen und zu bekämpfen.

Die Leitung des Waisenhauses war der Ansicht, dass die Kinder, die in diesem Hause lebten, zusammen mit den Kindern des Ortes gemeinsam an einer Schule unterrichtet werden sollten. Es wäre schon eine Übung für die Waisenkinder, sich in das alltägliche Leben zu wagen. Denn eines Tages würden sie damit ohnehin konfrontiert werden und müssten sich daran gewöhnen. Deshalb hatte der Stadtrat vor Jahren beschlossen, eine Grundschule in der Nähe des Waisenhauses zu errichten.

Am Tage ihrer Einschulung saß Alina aufgeregt auf einem der Stühle in einem Klassenraum und wartete auf die Dinge, die da kommen sollten. Hinter ihr stand Deborah und hielt ihre Hand. Das tat gut und stärkte Alinas Selbstvertrauen. Dann kam sie, die Klassenlehrerin. Sie trug ein mausgraues Kostüm, hatte hochgesteckte, schon angegraute Haare und eine dunkle Hornbrille. So erschien sie ehrfurchtsgebietend im Klassenraum. Die Kinder und auch die anwesenden Eltern und Begleitpersonen blickten sie skeptisch an. Einige der Kinder schoben ihre Unterlippe nach vorne, was eher eine Enttäuschung verraten ließ als eine Begeisterung auf die Zukunft. Als die Lehrerin ihren Platz erreicht hatte, drehte sie sich zu den anwesenden Kindern und Eltern um und begrüßte sie. Doch kein Lächeln war auf ihrem Gesicht. Deborah drückte Alinas Hand, um ihr Zuversicht zu vermitteln. „Guten Morgen, Kinder!“ begann sie mit einer starken Stimme. „Darf ich die Eltern und Begleitpersonen bitten, den Klassenraum zu verlassen? Sie können die Kinder gegen 12.00 Uhr wieder abholen.“ Dann setzte sie sich. Laute Geräusche des Verabschiedens erfüllten den Klassenraum. Nun war es mucksmäuschenstill. Die Kinder starrten die Person an, mit der sie nun die nächsten Jahre verbringen sollten.

„Liebe Kinder“, sagte sie. „Mein Name ist Melanie Dunkewitz. Und ich möchte, dass ihr mich mit Frau Dunkewitz anredet.“ Danach stand sie auf und schrieb ihren Namen an die Tafel. Etwas Unruhe kam auf, doch die Lehrerin sorgte sofort für Ruhe. Nun setzte sie sich und blickte auf ihren Tisch. „Ich werde jetzt eure Namen aufrufen und ihr meldet euch dann, verstanden?“ Ein lautes „Ja!“ ertönte. Dann las sie die Namen vor.

„Alina Berger?“ Alina schaute sich um, ob sich jemand melden würde. Etwas lauter ertönte es vom Lehrertisch: „Alina Berger?“ Da sich niemand meldete, hob Alina ihren Finger. Frau Dunkewitz sah sie mit strengem Blick an. „Du heißt doch Berger, oder?“ Alina zuckte mit den Schultern. Sie hatte ihren Nachnamen heute zum ersten Mal gehört. Die anderen Schüler verfolgten das Spiel und fingen an zu lachen. „Ruhe!“ brüllte Frau Dunkewitz. „Ich will keinen Mucks hören!“ Sofort erstarb das Lachen. Dann ging die Lehrerin zum nächsten Schüler weiter. „So, so. Ich heiße also Berger. Komisch, dass mir das noch niemand gesagt hat?“ Damit war der erste Schultag abgetan. Deborah holte Alina wieder ab. „Na, wie war’s?“ wollte sie wissen. „Es ging“, war Alinas knappe Antwort. Dann waren sie auch schon wieder im Waisenhaus, und Alina musste sich beeilen, pünktlich zum Essen zu kommen.

Alina hatte sich fest vorgenommen, sich von den anderen Kindern nicht unterbuttern zu lassen. Sie hatte ja schon einige Jahre eine strenge Schule im Waisenhaus durchlaufen. Besonders einige Jungs taten sich großspurig hervor und ärgerten die Mädchen, wo sie konnten. Eines Tages saß Alina in der Pause auf dem Schulhof und aß ihr Brot, das Deborah liebevoll für sie gemacht hatte. Zwei schüchterne Mädchen suchten bei ihr Anschluss und saßen neben ihr. Da baute sich ein stämmiger Junge mit Sommersprossen vor ihr auf. Begleitet war er von zwei Hungerhaken. Alina fand sie alle drei sofort blöd. „So“, begann der Dicke. „Du weißt nicht, wer dein Vater ist, und deine Mutter ist tot?“ Alina sah ihn herausfordernd an. „Dann wäre ich ja wohl nicht in einem Waisenhaus, du Blödmann“, schoss es aus ihr heraus. Dabei stand sie auf und trat einen Schritt auf ihn zu. Die beiden Hungerhaken blickten sie angstvoll an und traten einen Schritt zurück. Nur der Dicke stand vor ihr wie ein Fels in der Brandung. Bevor er jedoch seinen Mund aufmachen und etwas Dummes sagen konnte, hatte ihn Alina gegen sein Schienbein getreten und die Faust auf die Nase geknallt. Sofort spritzte Blut heraus, und der Dicke wurde zu einem Jammerbündel und heulte nur noch. Die anderen Jungs zogen Leine und waren nicht mehr zu sehen.

Herr Petersen, der Pausenaufsicht hatte, hörte plötzlich von irgendwoher ein Geschrei. Er orientierte sich nach dem Lärm und lief auf die Mädchen zu. „Was ist hier los?“ rief er, ein wenig verwirrt. Denn so ein Geschrei kannte er nicht. „Die blöde Ziege hat mich gehau’n“, brüllte der Dicke und hielt sich ein Taschentuch vor die blutende Nase. Herr Petersen blickte Alina an. Er konnte es nicht glauben, dass so ein kleines Mädchen diesen Jungen verprügelt hatte. „Ist das wahr?“ fragte er Alina ungläubig. Diese bekam nun doch ein wenig Angst und nickte. „Na, dann komm‘ mal mit“, sagte er zu ihr. Zu dem Jungen rief er: „Und du gehst zur Krankenschwester und lässt dich verarzten.“ Nun schob er los. Alina folgte ihm zögernd. Dann saß Alina auf einem Stuhl vor dem Zimmer des Rektors und wartete auf ihr Verhör.

Als sie dem Rektor und Herrn Petersen die Sache schilderte, waren beide sprachlos. Sie wussten, dass die Kinder aus dem Waisenhaus sich durchboxen mussten und es dort nicht einfach war zu überleben. Aber Prügelei wollten sie an der Schule nicht haben. So wurde Alina verwarnt und durfte gehen. Insgeheim bewunderten die beiden Männer das kleine Mädchen, das sich so behauptet hatte. „Die wird sich mal im Leben durchboxen“, sagte der Rektor, bevor Herr Petersen in seine Klasse ging, um Unterricht zu geben.

Der Vorfall sprach sich in der Schule und im Waisenhaus schnell herum. Die Kinder in der Schule zollten Alina von da an Respekt. Kein Junge wagte es fortan, sie komisch anzumachen. So wurde Alina für kurze Zeit der Schutzengel für die schüchternen Mädchen.

Es war etwa ein Jahr später. Alina stand kurz vor ihrem siebten Geburtstag, da meldete sich Besuch im Waisenhaus an. Schnell hatte es sich herumgesprochen, dass ein Ehepaar einem Waisenkind ein Zuhause bieten wollte. Sie haben nur eine Tochter, und weitere Kinder konnte die Frau nicht bekommen. Jedes Mädchen im Waisenhaus wünschte sich, die Erwählte zu sein. Auch Alina wollte das Waisenhaus gerne verlassen. Selbst, wenn sie die Gemeinschaft mit ihrer geliebten Deborah dafür aufgeben musste. Aber irgendwann würde diese das Waisenhaus auch verlassen.

Ein älterer schwarzer Ford hielt vor dem Waisenhaus. Aus ihm entstieg ein Ehepaar in den besten Jahren. Der Mann hielt seiner Frau den Arm hin, den diese lächelnd annahm. Die Mutter Oberin und zwei Schwestern empfingen das Paar freundlich an der Eingangspforte. Dann gingen sie, leicht im Gespräch vertieft, in Richtung des Speisesaales, in dem sich alle Waisenkinder aufgestellt hatten. Als sich die Tür zum Saal öffnete, sagte die Oberin laut: „Hier ist nun unser Schatz.“ Einige Kinder grinsten, andere verdrehten die Augen. Sie wussten es besser.

Das Ehepaar blieb zunächst stehen. Dann begrüßte Herr Gäbler die Kinder. Er schilderte ihnen die Situation in der Familie und brachte den Wunsch dar, einen von ihnen, sozusagen als Geschwisterkind, mitzunehmen. Nun gingen Herr und Frau Gäbler aufmerksam an den Kindern vorbei. Alina schaute etwas gelangweilt. Sie glaubte nicht, dass sich die Leute für sie entscheiden würden. Doch Frau Gäbler blieb vor Alina stehen. Alina wusste später nicht zu sagen, was geschehen war. Aber als sich die Blicke der suchenden Frau und Alinas trafen, war es, als ob ein Funke übersprang und einen Brand anzündete. Herr Gäbler wollte schon weitergehen. Doch seine Frau blieb bei Alina stehen. „Wie heißt du, mein Kind?“ fragte sie das Mädchen, das nun erstaunt auf die Frau blickte. „Alina Berger“, sagte sie nun lächelnd. Herr Gäbler kehrte zu den beiden zurück, und dann stellten sie Alina einige Fragen. Die Mutter Oberin, die nun hinzugekommen war, schüttelte leicht den Kopf. „Ausgerechnet die“, dachte sie und war irgendwie erleichtert, wenn es klappen würde. Eigentlich wollte sie Alina loswerden. Dann drehte sich Frau Gäbler zu ihr um und sagte: „Wir würden Alina gerne mitnehmen.“ Die Leiterin des Waisenhauses nickte und veranlasste, dass die anderen Kinder ihren Aufgaben nachgehen konnten. Deborah blickte Alina an und wischte sich eine kleine Träne fort. Man wusste nicht, vor Freude oder vor Traurigkeit, dass sie sich nun trennen mussten.

Kapitel 1

„Alina! Aufsteh’n! Du kommst sonst zu spät zur Schule“, ertönte eine Stimme, als wenn man über eine rostige Säge schrappt. Alinas Bewusstsein drang ganz allmählich an die Oberfläche, in die Gegenwart. Sie musste sich erst einmal zurechtfinden. Seit drei Wochen war sie in einer neuen Pflegefamilie untergebracht. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie aus dem Himmel gestürzt und in der Hölle gelandet.

Alina beeilte sich, aus dem Bett zu kommen, denn sie wusste, dass sie den kleinen Max noch für den Kindergarten fertig machen und ihn dort abliefern musste, bevor sie weiter zur Schule ging. Der kleine Max maulte, als Alina ihn weckte. „Schnell, ab ins Bad. Es ist schon spät, beeil‘ dich.“ Dann machte Alina einen Pfefferminztee und brachte ihn Frau Pathos, die auf der Couch im Wohnzimmer lag. Ihr Gesicht war blass. Dunkle Augenränder gaben ihr ein fast geisterhaftes Aussehen. Die meiste Zeit war sie krank und auf Hilfe angewiesen. So hatte das Ehepaar Pathos mehrere Anträge beim Jugendamt gestellt, Pflegekinder zu bekommen. Sie wurden nur als Personal gehalten, und das bisschen Geld, was die Eheleute dafür bekamen, füllte das Einkommen kaum. Ioannis Pathos war Kraftfahrer und saß monatelang auf einem der riesigen Laster, die Waren nach Griechenland und zurück transportierten. Wenn er zu Hause war, sah er das Elend in der Familie und betrank sich regelmäßig. Dann brüllte er nur ´rum, und es kam schon mal vor, dass er die Pflegekinder schlug und sich an einem dieser Mädchen vergriff. Davon wusste Alina nichts. Die vierzehnjährige Klara konnte bisher einige Angriffe abwehren, wenn Ioannis betrunken und nicht Herr seiner Sinne war. Aber Klara schwieg über diese Dinge.

Inzwischen hatte Mäxchen, wie die Mädchen ihn nannten, gefrühstückt. „Hast du dir die Zähne geputzt?“ fragte Alina. Der ausweichende Blick des Jungen gab Alina eine Antwort. „Schnell, ins Bad“, sagte sie. „Sonst putze ich dir die Zähne.“ Max wusste, dass dieses Mädchen sehr streng sein konnte, obwohl sie erst zehn war. In der kurzen Zeit, in der Max mit sich beschäftigt war, gingen Alinas Gedanken zurück. Vor ihren geistigen Augen befand sie sich mit vielen anderen Menschen auf dem Friedhof. Es war ziemlich dunkel, und es regnete heftig. Sie hörte den Pfarrer am Grab ihrer Pflegemutter, Regina Gäbler, tröstende Worte reden. Sie stand neben Sandra, ihrer Pflegeschwester, die weinte und sich immer die Nase putzte. Herr Gäbler hatte seine Hand auf Sandras Schulter gelegt. Frau Gäbler war vor einigen Monaten überraschend erkrankt. Im Krankenhaus hatte man Krebs im Endstadium festgestellt. Nach der Trauerfeier teilte Herr Gäbler den Mädchen mit, dass seine leibliche Tochter zu den Großeltern kommen würde. Sie konnten nicht auch noch Alina nehmen. So wurde das Jugendamt informiert, und Alina befand sich nun in dieser Pflegefamilie.

Endlich war Max soweit, dass sie zum Bus laufen konnten. Als Alina gerade noch die Abfalltonne an die Straße stellte, sah sie den Bus schon ankommen. „Schnell, Mäxchen, der Bus ist da!“ rief sie und zog den kleinen Jungen hinter sich her. Dieser schrie und stemmte sich dagegen. Doch Alina war stärker, und so saßen sie, etwas außer Atem, im Bus, der weiterfuhr. „Eigentlich will ich gar nicht in den Kindergarten“, maulte Max und sah Alina von der Seite an. Diese stutzte und fragte nach dem Grund. „Da ist diese doofe Pauline. Die ärgert mich immer.“ „Die ärgert dich immer?“ Alina wollte mehr erfahren, aber Max druckste herum. Er wollte nicht mit der Sprache heraus. Erst, als sie am Ziel schon ausgestiegen waren, erfuhr Alina die Ursache seines Zögerns. Dann liefen die beiden mit dem Strom der anderen Mütter und Kinder in dieselbe Richtung, zum Kindergarten „Zwergenstadt“. Auf dem Weg dorthin, sah Mäxchen plötzlich Pauline, die ihn schon giftig anstarrte. „Da ist sie“, sagte Mäxchen leise und zeigte auf das dicke Mädchen. Alina blieb stehen und wartete, bis Pauline mit zwei anderen Kindern auf ihrer Höhe war. Dann stellte sie sich vor sie, beugte sich herunter und fragte freundlich: „Kannst du mir mal erzählen, warum du Mäxchen immer ärgerst?“ Pauline blieb stehen und trat erschrocken einen Schritt von Alina zurück. Sie schwieg. Aus ihrer Nase floss ein wenig Nasenschleim. Alina wusste, dass sie wenig Zeit hatte. „Also, ich sage es dir einmal. Wenn du Max nicht in Ruhe lässt, komme ich das nächste Mal, und du kriegst ´was an die Backen. Ist das klar?“ Die Worte Alinas ließen Pauline noch einen Schritt zurücktreten. Dann nickte sie, wischte mit der Hand über die feuchte Nase. Alina beugte sich zu Max. „Also, du gehst jetzt los. Pauline lässt dich jetzt in Ruhe. Bis heute Nachmittag.“ Danach ließ sie Mäxchens Hand los und lief zu ihrer Schule, die nur ein paar hundert Meter weiter lag.

Nicht nur Max hatte Probleme, sondern auch Alina. Sie wusste, es gab in jeder Schule welche, die andere nicht leiden konnten. Doch das beruhte oft auf Gegenseitigkeit. So war es auch zwischen Alina und Raffaela. Gleich am ersten Tag, als sich die beiden Mädchen begegneten und in die Augen sahen, wussten sie, dass sie Gegner sein würden. Raffaela dachte nicht nur, dass sie hübsch sei, sie war es auch. Doch neben dieser äußeren Schönheit, besaß sie eine gewisse Begriffsstutzigkeit, die sie wahnsinnig störte. So manche Dinge verstand sie nicht auf Anhieb. Auch beim zweiten oder dritten Mal hatte Raffaela große Schwierigkeiten, das richtige zu verarbeiten. Das ärgerte sie maßlos. Besonders Menschen, die etwas schnell kapierten, erregten ihren Unmut, und sie lud allen Frust, den sie mit sich selbst hatte, auf diese Leute ab. Alina war so ein Mädchen, das die Dinge schnell verstand und richtig einordnen konnte. Sie wurde das Ziel von Raffaela, die all ihren Hass auf sie schleuderte. Natürlich wollte sie das nicht alleine tun. Sie beeinflusste drei Mädchen in ihrer Klasse, die ihr wie junge Hunde folgten und machten, was Raffaela befahl. Auch sie waren nicht mit besonderer Intelligenz gesegnet. Aber das merkten sie nicht.

Als Alina, in Gedanken versunken, die Treppe zur Schule emporstieg, standen die vier Mädchen vor dem Eingang und warteten auf sie, um ihren geistigen Unflat auf ihre Mitschülerin abzuladen. „Wie siehst du denn aus, du armes Waisenkind?“ bemerkte Raffaela laut und schaute dabei beifallsheischend ihre Gefolgsleute an. „Na, kriegst du auch genug zu essen, Aschenputtel?“ war die nächste Frage aus dem Mund von Britta, und die anderen gackerten laut. Alina riss sich zusammen, obwohl ihr diese Worte wehtaten. Dann ging sie erhobenen Hauptes an den mobbenden Mädchen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Andere Mitschüler, die diese Szene mitbekamen, blieben stehen, um zu sehen, wie Alina reagieren würde.

Als Alina endlich in ihrem Klassenraum angekommen war und sich auf ihren Platz setzte, wischte sie schnell eine Träne weg, der es gelungen war, nach außen zu dringen. „Bloß nicht zeigen, dass du geschockt bist, Alina“, sagte sie zu sich selbst. Da stand auch schon Sonja, mit der sie sich etwas angefreundet hatte, neben ihr. „Das hast du toll gemacht, Alina. Ich bin stolz auf dich!“ war ihr Kommentar. Dieser Zuspruch tat Alina gut, und sie atmete tief durch. Dann blickte sie Sonja an. „Irgendwann werde ich es diesen Ziegen heimzahlen“, sagte sie und wandte sich der Lehrerin zu, die gerade den Klassenraum betreten hatte. Sonja nickte und verschwand auf ihren Platz. Alina war nur heilfroh, dass diese widerlichen Mädchen nicht in ihrer Klasse waren. Dann hätte sie die ganze Zeit nichts zu lachen gehabt.

In der großen Pause saß Alina mit Sonja etwas abseits von dem Trubel, den die anderen Schülerinnen machten, die umher tobten. Da kam plötzlich ein Mädchen zu ihnen gerannt, das sie nicht kannten. „Hallo, ich bin Gudrun“, stellte sie sich vor. „Ich habe gerade auf der Toilette gehört, was Raffaela ihren Sklaven gesagt hat.“ „Und was?“ fragte Alina. „Sie will dich auf der nächsten Party von Simone fertigmachen, dass sie alle über dich lachen und du von dieser Schule gehst“, war Gudruns Antwort. „So, will sie das?“ Alina war tatsächlich erschrocken über den Hass von Raffaela. Dabei hatte sie ihr doch nichts getan. Doch Alina kannte solche Anfeindungen schon aus dem Waisenhaus. Sie hatte es zu spüren bekommen. Ganz ruhig antwortete sie Gudrun: „Sie wird sich wundern, über wen man lacht.“ Bevor Gudrun ging, sagte Alina: „Wenn du willst, kannst du die Pausen mit uns verbringen.“

Gudrun sah sie dankbar an und rief: „Okay, ich überleg’s mir.“ Dann war sie in der Menge der anderen Schülerinnen untergetaucht. Sonja blickte ihre Freundin an. „Was willst du jetzt machen? Bleibst du der Party fern?“ „Ich denke nicht dran“, antwortete Alina, und ein Leuchten kam aus ihren Augen. Sonja war erleichtert. Dann schellte die Pausenklingel, und die Mädchen gingen wieder in die Klassenräume.

Als Alina, etwas müde, nach der Schulzeit zu Hause ankam, hatte Klara den kleinen Max schon vom Kindergarten abgeholt. Er spielte vergnügt auf dem Flur mit seinen Holzautos, während Klara das Haus aufräumte. Athena Pathos, Mäxchens Mutter, schlief unruhig auf dem Sofa im Wohnzimmer. Immer wieder wachte sie kurz auf, blickte erschrocken in die Runde, und war auch schon wieder eingeschlafen.

„Du kannst mir helfen, hier mal Ordnung ins Haus zu bringen, Alina“, wurde sie von Klara empfangen. „Dann müssen wir das Mittagessen fertig machen. Athena kriegt nichts mehr auf die Reihe“, sagte sie und erwartete, dass Alina ihr zur Hand ging. Diese stellte die Schultasche in dem Zimmer ab, in dem beide Mädchen schliefen. Danach stürzte sie sich auf den Abwasch, der schon drei Tage nicht gemacht worden war.

Zwei Stunden später, saßen sie zu viert am Tisch und aßen. Athena schaute Klara freundlich an. „Danke, Klara, es schmeckt sehr gut, was du gemacht hast.“ Klara nickte lächelnd und fragte sie: „Weißt du, wann dein Mann wiederkommt?“ Athena zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Klara. Es kann in einem Monat oder in einigen Wochen sein. Warum fragst du?“ „Weil ich mich gegen ihn wehren muss, wenn er sich wieder an mich ´ranmacht“, war ihre Antwort, wobei sie Athena von der Seite ansah. Athena seufzte tief. Sie wusste, dass die Tage, in denen ihr Mann zu Hause war, die schwersten von allen waren. Er war immer nur betrunken und machte sich an Klara ´ran. Sie war zu krank, um ihren ehelichen Pflichten nachkommen zu können. Vielleicht war es besser, wenn Klara in eine andere Familie ging. Aber sie war auch eine große Stütze im Haushalt. Athena wusste sich keinen Rat. Schweigend beendeten sie das Essen. Athena legte sich wieder auf die Couch, Max ging wieder spielen, und die Mädchen wuschen sofort ab.

Klara, die wenig Kontakt zu Alina suchte, seitdem sich diese im Haushalt der Familie Pathos befand, begann wider Erwartung ein Gespräch mit ihr. „Wie alt bist du eigentlich, Alina?“ „Ich werde elf in einem halben Jahr“, antwortete sie. „Weißt du, was eine Regel ist?“ Alina schaute Klara unwissend an, wollte aber mehr darüber wissen. Dann erklärte ihr Klara, dass sie bald nachts aufwachen würde oder es am Tage erleben könnte, dass es unten herum feucht würde. Zwischendurch stellte Alina immer wieder Fragen. „Dann will ich gar keine Frau werden“, sagte sie und verzog ihr Gesicht. „Aber so ist das nun mal: Mädchen werden zu Frauen und Jungs zu Männern.“ „Haben Jungs auch so etwas?“ fragte Alina. „Nein“, war Klaras Antwort. „Jungs bekommen ein steifes Glied, und irgendwann stoßen sie ihren Samen aus, was bei ihnen ein schönes Gefühl auslöst.“ „Dann wäre ich lieber ein Junge“, sagte Alina. Nach einer Weile entschied sie: „Nein, ich bin doch lieber ein Mädchen.“

Nach dem Abwasch machte sich Alina an ihre Schularbeiten. Klara saß auf einem alten Sofa und las ein Buch. Als Alina gerade bei einer kniffeligen Matheaufgabe war, ließ Klara ihr Buch sinken und sagte zu Alina: „Ich muss dir noch etwas Wichtiges mitteilen.“ Alina war jedoch in ihrer Arbeit so konzentriert, dass sie Klaras Worte nicht hörte. „Hast du gehört, Alina?“ „Nein, was ist? Ich bin gerade hier bei einer schwierigen Aufgabe. Vielleicht kannst du mir helfen?“ „Später, denn du musst noch etwas wissen.“ Alina drehte ihr Gesicht zu Klara und sah sie fragend an. Nun begann Klara: „Du hast es noch nicht erlebt, wenn der Herr des Hauses, Ioannis, hier ist.“ Alina wusste nicht, was Klara meinte. Dann berichtete sie ihr von dem letzten Beisammensein mit diesem Scheusal. „Er war voll wie eine Haubitze und suchte mich im ganzen Haus. „Klara!“ brüllte er und stieß dabei Tisch und Stühle um. Er wollte etwas von mir.“ Alina konnte sich nicht denken, was. „Seine Hose war offen, und sein Ding war draußen und stand aufrecht. „Igitt!“ schrie Alina und schüttelte sich. „Doch bevor er sich auf mich stürzen konnte, ergriff ich eine Vase, die ich auf seinem Kopf zerschlug. Wie ein Sack Kohlen fiel er zur Seite und rührte sich nicht mehr. Als er nach Stunden wieder aufwachte, wusste er nicht mehr, was geschehen war. Er stöhnte nur über seine Kopfschmerzen.“ Alina schüttelte sich erneut. „Weißt du, wann er wiederkommt?“ Klara wusste es nicht. „Warum erzähle ich dir das? Es kann sein, und das mit Sicherheit, dass er wieder säuft und nach mir ruft. Wenn ich dann um Hilfe schreie, musst du sofort kommen und mir helfen, hörst du?“ Alina nickte und schauderte sich vor dem Augenblick, wo dieser Wahrheit würde. Dann wandte sich Klara wieder ihrem Buch zu, und Alina löste ihre Rechenaufgabe.

Doch zunächst hatte Alina ganz andere Sorgen. Die Party von Simone und damit verbunden der Plan von Raffaela, sie fertigzumachen. In der wenigen Zeit, die sie für sich und ihre Probleme zur Verfügung hatte, überlegte Alina, was sie dieser falschen Ziege entgegenbringen konnte. Aber es fiel ihr nichts ein. „Ich muss es auf mich zukommen lassen“, war ihr Entschluss. „Und spontan fällt mir eigentlich immer etwas ein. Aber ob es das Richtige ist?“ Alina zuckte mit ihren Schultern und war noch ratlos. Eigentlich freute sie sich auf diese Party. Simones Eltern waren sehr begütert, aber sie war kein bisschen abgehoben oder arrogant. Simone konnte sich mit jedem unterhalten und war auch nie ausfallend. So eine Freundin wünschte sich Alina. Aber man kann nicht alles haben im Leben. Das hatte sie in ihren fast elf Jahren bereits gelernt.

Die Tage bis zu dieser Party näherten sich rasch, und die Mädchen wurden immer aufgeregter. „Was ziehen wir an?“ „Wie beeindrucken wir die anderen Mädchen?“ Diese und noch mehr ungelöste Fragen beschäftigten die kleinen Damen Tag und Nacht und ließen sie nicht mehr los. Alina war von all dem unbeeindruckt. Sie besaß nur eine gute Hose und ein gutes T-Shirt. Da fiel ihr die Auswahl nicht schwer. Bedenken kamen ihr jedoch, wenn sie an Raffaela dachte. „Aber die würde mir alles kaputtreden, egal, was ich anziehe.“ Nach diesen Gedanken beschäftigte sich Alina nicht mehr mit ihrer Garderobe. Die einzige Sorge war, ob sie überhaupt zur Party hin könnte. Sie wusste nicht, ob dieser Unhold Ioannis dann wieder hier wäre. „Egal, irgendwie muss ich dort hinkommen.“

Nun war es soweit. Klara hatte ihr noch eine hübsche Ansteckblume aus ihrem Schmuckkästchen gegeben, die Alina seitlich ins Haar klemmte. „Hübsch siehst du damit aus“, hatte Klara gesagt. Danach war Alina auf ihrem Fahrrad zu Sonja gefahren, die schon voller Ungeduld auf sie wartete. „Cool siehst du aus“, sagte sie lächelnd. Dann waren sie auf ihre Räder gestiegen und zur Party gefahren. Man hörte schon von draußen, dass anständig Stimmung im Haus war. Es wohnten kaum Nachbarn in der Nähe, die gestört werden konnten. Die Musik dröhnte aus den offenen Fenstern, Gesprächsfetzen und schallendes Gelächter waren zu hören. Die Mädchen wurden sofort in diesen Trubel hineingezogen, als ihnen Simone freudestrahlend öffnete. Alina und Sonja ließen sich durch den Strom der Mädchen treiben, die plaudernd in kleinen Gruppen zusammenstanden. Hier und da reichte ein Lächeln oder Nicken mit dem Kopf, um zu sagen: „Ich bin auch da!“

Die Mädchen amüsierten sich köstlich. Simones Mutter hatte auch einiges auf die Beine gestellt, um den Mädchen eine gelungene Party bieten zu können, wofür Simone ihrer Mutter sehr dankbar war.

So war das ganze Fest in vollem Gange, als es wieder an der Tür klingelte. Als Simone öffnete, stand Raffaela mit ihren drei Nachfolgerinnen da und schaute sie lächelnd an. Die Mädchen hatten sich herausgeputzt, als würden sie auf einen kaiserlichen Empfang gehen. Simone hieß die Mädchen willkommen. Dann gingen die vier fast im Gleichschritt auf die Feiernden zu, um sich in das Gedränge zu schieben. Irgendwann entdeckte Alina sie und drehte sich sofort weg. Denn sie wollte Raffaela nicht gegenübertreten. Sie wusste, dass dann die Party vorbei wäre, weil dieses Menschenkind alles zerstören würde. Doch es war vergeblich. Raffaela hatte Alina schon längst erspäht und suchte eine Gelegenheit, um ihren Frust in gehässigen Worten abzulassen.

Die Stimmung flaute ein wenig ab, und viele Mädchen saßen gelangweilt herum. Da schlug Simone auf den Rat ihrer Mutter einige Spiele vor. Doch dazu kam es nicht. Denn dieses war die Stunde von Raffaela. Sie stand plötzlich Alina gegenüber, die doch ein wenig erschrocken war. Aber schnell hatte sie sich wieder gefasst. „Oooh!“ rief Raffaela gedehnt, und ihre Stimme klang schrill und überlaut. „Wen haben wir denn da? Das Waisenkind! Dass du dich überhaupt traust, zu so einer Party zu kommen, zeugt doch von Unverfrorenheit in höchstem Maße. Du gehörst doch nicht hierher!“ Alina war geschockt. Diesen Angriff hatte sie nicht vermutet. Die anderen Mädchen lösten sich aus ihrem teilnahmslosen Dasein, und schon standen sie alle um die beiden herum. Jeder war aufs Höchste gespannt, wie Alina reagieren würde. Diese wollte sich besinnen, um eine gut wirkende Antwort zu finden. Dabei hatte sie das Gefühl, als wäre ihr Kopf blutleer.

Kein Gedanke wollte ihr kommen, um diesem diabolischen Angriff ebenbürtig zu begegnen.

Raffaela nutzte die Gelegenheit und setzte zur zweiten Angriffswelle an. Doch bevor ein Laut aus ihrem grell geschminkten Mund kam, hatte sich Alina gefasst. „Und wie kommt es, dass du dich überhaupt zu so einer Party wagst, da du wie eine explodierende Stinkbombe jede Party vermiest, wenn du nur deinen schmutzigen Mund aufmachst? Geh‘ nach Hause! Spül dir den Mund aus, und putz‘ dir die Zähne. Alles, was aus deinem Mund kommt, stinkt eklig, weil du nicht weißt, wie man sich unter Menschen benimmt. Geh‘ weg, du ekelst mich an!“

Das hatte gesessen. Die Mädchen, die um die Kampfhennen herumstanden, starrten von einer zur anderen. Das war ja die heißeste Party, die sie bisher erlebt hatten. Hier war was los, hier ging die Post ab. Das würde für Wochen Gesprächsstoff in der Schule sein. Dafür würden sie schon sorgen. Raffaela war nun ihrerseits geschockt. So viel Intelligenz hatte sie Alina nicht zugetraut. Die war ihr ja richtig ebenbürtig. Das durfte nicht sein. Schnell arbeitete ihr Gehirn, um sich zu wehren. Doch sie wurde von Simones Mutter unterbrochen. „Ich glaube, jetzt ist es genug mit dem gegenseitigen Schlagabtausch. Du gehst jetzt am besten mit deinen Begleiterinnen nach Hause, damit die Party nicht schon zu Ende ist.“ Dann wandte sie sich an die anderen Mädchen, die jedoch ein wenig enttäuscht waren. Sie hatten noch mehr erwartet. „In der Küche gibt es für jeden von euch eine Überraschung“, rief sie. Die ersten Mädchen befolgten ihren Rat und folgten Simone in die Küche. Raffaela starrte Alina giftig an. „Du hast vielleicht die Schlacht gewonnen. Aber der Krieg ist noch nicht zu Ende“, raunte sie ihrer Kontrahentin zu. Dann verschwand sie empört mit ihrem Anhang aus dem Haus.

Am Montag war die Sache mit der Party und der Auseinandersetzung in der Schule in wenigen Stunden ´rum, und es blieb für lange Zeit Gesprächsstoff unter den Schülerinnen. Als Alina die Schule betrat, erscholl ein Jubel aus den Reihen der Schülerinnen. Sie wurde gefeiert, was Alina noch nie erlebt hatte in ihrem jungen Leben. Es war ein seltsames Gefühl, das ihre Seele durchzog. Auf der einen Seite genoss sie diese Anerkennung, auf der anderen Seite hatte sie auch Angst davor, nicht mehr dieselbe zu sein, die sie war. Später, als sie immer wieder um ihr Selbstbewusstsein kämpfen musste und widrige Zeiten durchlebte, erinnerte sich Alina gern an diese Augenblicke des Triumphes. Sie strebte dann stets danach, diese erneut zu erleben. Dutzende Schülerinnen drängten sich zu ihr, wollten an ihrer Seite sein und bekundeten, ihre Freundin zu werden. Doch Alina winkte ab. Ihr reichten Sonja und Gudrun, die seitdem noch enger mit ihr verbunden waren.

Raffaela hingegen, erlebte zum ersten Mal, dass sie von anderen Schülerinnen abgelehnt wurde. Diese hatten den Mut, ihre Ablehnung laut zu bekunden. So verzog sich Raffaela mit ihrem Gefolge in den Pausen abseits des Trubels der anderen Mädchen. Sie konnte diese Ablehnung nicht fassen und sann mit all ihren Gedanken und Gefühlen auf Rache. Doch das war nicht so leicht auszuführen, wie es gedacht war. Ungeduldig wartete sie auf den Augenblick, wo sie es diesem Waisenkind heimzahlen konnte. Und je länger sie ausharren musste, desto wütender wurde sie auf das Mädchen, das sich keiner Schuld bewusst war.

Die Tage verliefen, ohne dass sich große Dinge ereignet hätten. Athena erlebte Tage, in denen es ihr körperlich besser ging. Dann verweilte sie auf einem Liegestuhl im Garten und genoss die warme Luft, die in dieser Jahreszeit vorherrschte. Klara und Alina taten alles, dass es ihr und Max an nichts fehlte. Auch die Spannung im Kindergarten hatte sich gelöst, und Mäxchen ging wieder gerne dorthin. Eines Morgens überraschte Athena die beiden Mädchen mit einer Nachricht, die ihnen nicht gefiel. „Ioannis hat angerufen. Er wird in drei Tagen zu Hause sein. Dann macht er eine Woche Urlaub.“ Dabei machte sie ein trübsinniges Gesicht. Denn auch sie hasste die Tage, an denen ihr Mann zu Hause war und alles durcheinander brachte. Wenn er dann wieder sturzbetrunken durchs Haus torkelte, verwüstete er die Möbel und andere Haushaltsgegenstände. Es war nicht zum Aushalten mit ihm. Aber Athena hatte nicht die Kraft, sich von ihm scheiden zu lassen. Sie hätte nicht gewusst, wohin sie mit Mäxchen gehen sollte. Außerdem hatte sie schreckliche Angst, dass ihr Mann sie umbringen würde, sollte er von einer Scheidung hören. Also ergab sie sich willenlos in ihr Schicksal.

Die Mädchen hingegen waren nicht bereit, sich willenlos in ihr Schicksal zu geben. Am Abend hockten sie beide in Klaras Bett und schmiedeten einen Plan, wie sie diesem Unhold aus dem Wege gehen konnten und wie sie ihn abwehren wollten.

Mit viel Getöse hielt der Lkw ein paar Tage später vor dem alten Haus in der Valentinstraße. Ebenso laut, polterte der Familienvater in die Küche. „He, ist niemand zu Hause?“ brüllte er und sah sich in seiner Wohnung um. „Hier hat sich auch nichts verändert“, brummte er und steckte sich eine der Karotten in den Mund, die auf dem Teller lagen. Nun machte er sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Dort saß Athena auf dem verschlissenen Sessel und blickte ihn furchtvoll an. Dann nahm sie allen Mut zusammen. „Was schreist du so? Wir sind nicht taub!“ rief sie ihm entgegen und machte ein beleidigtes Gesicht dabei. „Oha!“ rief der Hausherr aus und grinste seine Frau an. „Die ehrbare Athena! Wie geht es dir, hast du dich denn wenigstens erholt, seitdem ich wieder auf Tour war?“ Athena schüttelte den Kopf. Sie wollte vermeiden, dass er wie immer, über sie herstürzte, wenn er wieder sturzbetrunken war und sie vergewaltigte. Denn sie hasste diesen Grobian, der nichts von Frauen und ihren Bedürfnissen kannte, sondern sie nur für seine Befriedigung benutzte. „Hab‘ ich mir gedacht“, knurrte Ioannis. „Wozu bist du auch nütze?“ Ihm war klar, dass er die falsche Frau geheiratet hatte. Obwohl das vor zehn Jahren nicht zu erkennen war. Damals waren sie beide noch jung und frisch verliebt. Er hatte einen guten Job auf dem Bau, und sie arbeitete in einer Spinnerei. So konnten sie sich ein kleines Häuschen kaufen, das aber nun baufällig geworden war. Doch es fehlten die Mittel für die Reparatur, denn trotz der jahrelangen Lkw-Fahrerei konnten sie nichts ansparen. Und einen Kredit gab ihnen die Bank nicht. Athena hatte irgendwann etwas von diesen Pflegestellen in der Zeitung gelesen und sich bei der zuständigen Behörde darum beworben. Inzwischen war auch der kleine Max geboren. So waren die Pflegekinder immer nur als Haushaltshilfe missbraucht worden. Dabei konnten sie manches für ihr persönliches Leben lernen. Jedoch hatte sich durch das Verhalten ihres Mannes mit der Zeit die Stimmung in der Familie verdüstert, da er sich nur betrank, wenn er zu Hause war. Dazu machte er sich immer an die Mädchen heran, wenn sie ein gewisses Alter hatten. Zum Glück war davon noch nichts zu der Behörde gedrungen. Dann wären ihnen die Mädchen sofort weggenommen worden. Diese hatten wohl auch Angst, das zu melden, und fürchteten sich, von diesem Grobian geschlagen zu werden.

„Die Mädchen sind in der Schule, und Max ist im Kindergarten“, sagte Athena, um seinen weiteren Fragen vorzugreifen. Ioannis nickte und knurrte: „Gibt’s hier nichts zu essen? Ich hab‘ ´nen Mordskohldampf.“ „Klara kümmert sich um das Essen, wenn sie aus der Schule kommt“, gab Athena unwirsch zur Antwort. „Klara?“ fragte ihr Mann und schüttelte dabei den Kopf. Er konnte sich nicht erinnern, wie sie aussah. „Du weißt doch, das Mädchen, das vor drei Jahren kam“, half Athena ihm auf die Sprünge. „Wie alt ist die denn?“ war seine nächste Frage. „Na, vierzehn Jahre“, murmelte Athena und schüttelte den Kopf über so viel Dummheit. „Dann haben wir noch eine“, fügte sie nun hinzu. „Noch eine?“ fragte Ioannis. „Ja, sie ist fast elf und heißt Alina.“ Ioannis war mit seinen Gedanken bei Klara. „Vielleicht kann ich mit der schon was anfangen“, sauste es durch seinen Kopf. Er leckte sich die Lippen und schwelgte schon in seiner Vorstellung woanders. Dann marschierte er in die Küche zurück und durchsuchte den Kühlschrank, um etwas Essbares zu finden.

Nicht lange danach, kehrten die Kinder aus der Schule und dem Kindergarten zurück. Als sie diesen bulligen, unrasierten Kerl sahen, der genüsslich an seinem Essen kaute und laut schmatzte, standen die Kinder mit entsetztem Gesichtsausdruck vor ihm.

Klara erschauderte heftig, als sie diesen Unhold vor sich erblickte, und die scheußlichen Bilder des vergangenen Erlebens mit ihm durch den Kopf schossen. Schnell wandte sie sich von ihm ab und eilte in die Küche, um sich zu erholen und das Mittagessen vorzubereiten. Der kleine Max starrte mit Entsetzen auf seinen Vater, den er in keiner guten Erinnerung hatte. Die Tränen schossen ihm in die Augen, und er rief laut nach seiner Mama. Dabei entleerte sich seine Blase, und die Hose wurde unten plötzlich dunkel und nass. Nur Alina blickte mit stoischer Ruhe auf diesen Mann, der ihr wie ein Exot vorkam. Fremd, aber doch irgendwie interessant. So etwas hatte sie zuvor noch nie gesehen. Sie fragte sich, warum ein Mensch so grob sein konnte. Plötzlich stand sie alleine vor ihm und blickte ihn etwas herausfordernd an. Ioannis, der das Mädchen erst beim zweiten Hinsehen bemerkte, drehte seinen bulligen Kopf mit dem Dreitagebart zu ihr und stierte sie zunächst fragend an. Dann gab er einen lauten, ekligen Rülpser von sich, ehe er sie ansprach: „So, du bist also die Alina?“ Diese nickte brav und wartete weiter ab, was dieser Mensch ihr sagen würde. Nach einer Weile blickte der Mann sie wieder an und fragte: „Hast du keine Angst vor mir?“ Alina schüttelte den Kopf. Das imponierte dem fetten Mann, und er grinste leicht. Seine ungepflegten Zähne waren zu sehen. „Na, dann räum‘ mal den Teller hier ab und bring‘ mir einen feuchten Lappen, dass ich mir die Finger abputzen kann“, befahl er ihr. Als sich Alina tapfer näherte, rülpste er erneut, und Alina roch dieses Gemisch aus Essen, Alkohol und stinkendem Atem. Sie schüttelte sich, nahm den Teller und brachte ihm dann den gewünschten Lappen. Dieses erste Erlebnis würde sie nicht vergessen.

Als Athena und die Kinder zu Mittag aßen, hörten sie aus dem Wohnzimmer nur Grunzen und Schnarchen. Der Herr des Hauses schlief, und alle waren erleichtert. „Nachher fängt er wieder an zu trinken“, murmelte Klara und sah Athena dabei hilfesuchend an. „Ich weiß“, antwortete diese und zuckte mit den Schultern. Sie wusste, was er dann zu später Stunde trieb. Aber sie und die Kinder waren machtlos ihm gegenüber. So setzten sie schweigend ihr Mahl fort. Dann wuschen Klara und Alina ab. Max ging spielen, und Athena verzog sich in ihr Schlafzimmer, um zu ruhen.

Einige Stunden später, wurde Ioannis wach. Er stöhnte und reckte sich. Dann setzte er sich aufrecht und stierte zunächst blöd vor sich hin. Nun schaute er auf seine Armbanduhr. „Noch zu früh, um zu saufen“, beruhigte er sich selbst. Danach stand er auf, um sich auf der Toilette zu erleichtern. Klara hörte, wie die Spülung lief und sich Schritte der Haustür näherten. Dann knallte die Tür zu. Klara seufzte. „Jetzt geht er sich Bier aus dem Wagen holen“, dachte sie. Doch er kam so schnell nicht zurück. Klara vergaß ihn und wandte sich ihren Schularbeiten zu. Auch Alina war mit ihren Aufgaben beschäftigt. Sie hörten nur, wie die Wanduhr in ihrem Zimmer tickte. Auf einmal unterbrach Alina die Stille. „Meinst du, dass er heute sofort nach dir sucht?“ wollte sie wissen. Klara hielt einen Augenblick inne. Dann sah sie Alina an und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Alina. Manchmal will er sofort seine Bedürfnisse erfüllt haben, manchmal dauert es länger. Aber irgendwann kommt er dann. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.“ „Wenn sie nicht mehr da ist“, dachte Alina, „dann wird er sich an mich wenden. Aber da hat er sich geschnitten.“ Alina gab sich kämpferisch und würde diese Angriffe auf sich niemals zulassen.

Doch am ersten Abend geschah nichts. Die Kinder und auch Athena hörten ihn im Wohnzimmer trinken und vor sich hinreden. Auf einmal fing Ioannis an, griechische Volksweisen zu singen. Er steigerte sich richtig, und er hatte noch nicht mal eine schlechte Stimme. Früher hatte Athena ihn gern singen gehört. Sie waren in jungen Jahren einer Tanz- und Gesangsgruppe beigetreten, die auf Volksfesten und Hochzeiten auftrat. Dabei waren sie in ihrem Ort und der weiteren Umgebung sehr beliebt und waren oft ausgebucht mit Auftritten. „Das waren noch schöne Zeiten“, erinnerte sich Athena und lächelte still vor sich hin. Die Erinnerung spielte ihrem Gedächtnis schöne Bilder zu, die sie nur allzu gern wieder aufleben ließ. Plötzlich hörte ihr Mann auf zu singen. Es polterte in der Stube, und etwas schien umgefallen zu sein. „Jetzt kommt er“, dachte Klara und begann zu zittern. Alina blickte sie an und kam zu ihr herüber. „Hast du Angst?“ fragte sie. Klara nickte und schmiegte sich an Alina, die sie in den Arm nahm und streichelte. Doch es geschah nichts. Den ganzen Abend und die Nacht über blieb es ruhig. Ioannis schlief seinen Rausch bis zum anderen Morgen aus.

Am nächsten Tag erwachte Ioannis erst gegen Mittag. Er hatte einen fürchterlichen Geschmack im Mund und brüllte nach Essen und Trinken zugleich. Athena, die das schon seit langem kannte, hatte Frühstück für ihn schon vorbereitet. Auch stellte sie ihm ein gekühltes Bier hin. Ihr Mann grunzte zufrieden und machte sich über das Frühstück her. Dann saß er auf der Couch und stierte wieder vor sich hin. Irgendwann erhob er sich und stapfte hinaus. Athena hörte, wie er den Laster anließ und davonfuhr. Sie atmete erleichtert auf. „Hoffentlich kommt er erst abends wieder“, sagte sie zu sich. Am liebsten wünschte sie, er würde nicht zurückkommen. Aber das war wohl ein Wunschtraum.

Athenas Wunsch ging fast in Erfüllung. Am frühen Abend hörte sie den Laster vor dem Haus. Die Tür wurde aufgeschlossen, und es klingelte, als Ioannis etwas ins Haus schleppte. Es waren weitere Bierflaschen in Kästen, denn er hatte sich Nachschub mitgebracht. Er stellte sie polternd neben den Wohnzimmertisch. Dann brüllte er wieder nach Essen. Klara, die gerade in der Küche war, stellte ihm einen Teller Spaghetti mit griechischer Soße auf den Tisch und verzog sich schnell. Ioannis sah ihr begierig hinterher, und ein Flackern in seinen Augen verriet, was er gerade dachte. Danach machte er sich über das Essen her. Eigentlich war er guten Mutes. Er hatte griechische Freunde getroffen und den ganzen Tag mit ihnen getrunken und gespielt. Etwas, was der Hausherr so liebte. Die Gemeinschaft mit Landsleuten und stundenlang mit ihnen zu palavern. So war er dann auch ziemlich zufrieden nach Hause gefahren. Heute wollte er sich an Klara ´ranmachen. Dieses Mal musste es klappen.

Nach dem Essen wischte er sich über den Mund und wandte sich seiner Lieblingsbeschäftigung zu: Saufen, saufen und nochmals saufen. Der erste Kronkorken flog von der Flasche, die bald geleert war. Es folgte die nächste und die übernächste. Athena hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und Mäxchen ins Bett mitgenommen. Dieser war froh, bei seiner Mama zu sein und kuschelte sich an sie. Athena streichelte ihn und küsste sein Haar. Mäxchen kuschelte sich noch mehr an sie. Dann waren sie beide eingeschlafen.

Auch die Mädchen hatten Vorsorge getroffen. Sie hatten das Zimmer von innen abgeschlossen und einen Stuhl schräg gegen die Türklinke gestellt, damit dieser Unhold nicht gleich bei ihnen einbrechen konnte. Dann waren sie zusammen in Klaras Bett gegangen und unterhielten sich leise. Immer wieder horchten sie auf, ob sich Schritte des Ungetüms nähern würden. Darüber waren sie auch eingeschlafen.

Irgendwann in der Nacht polterte es. Die Mädchen waren sofort hellwach und klammerten sich erschrocken aneinander fest. Auch Athena war wach geworden und zitterte vor Angst. Nur Mäxchen schlief selig weiter. Dann hörten sie ihn. „Klara, meine Süße“ rief er laut, und man hörte, wie er an irgendwelche Möbel stieß, während er singend näher kam. Nun stand er vor der Tür. Er drückte die Klinke herunter und merkte, dass die Tür zugeschlossen war. „Klara, Mäuschen! Mach‘ die Tür auf! Ich will doch nur ein wenig mit dir kuscheln. Komm‘!“ Die beiden Mädchen sahen sich angsterfüllt an. „Was ist, wenn er die Tür aufbricht?“ Alina blickte im Zimmer umher. Sie suchte etwas, womit sie diesen Grobian umhauen konnte, wenn er tatsächlich ins Zimmer kommen würde.

Ein Weilchen war es still. Dann hörten sie wieder seine Stimme, dieses Mal ein wenig lauter und energischer. „Klara, mach‘ sofort die Tür auf!“ Dabei hämmerte er mit seinen Fäusten gegen die Tür, dass auch Mäxchen aufwachte und ängstlich bei seiner Mutter Schutz suchte. Nun war es wieder still. Auf einmal krachte ein mächtiger Körper gegen die Tür, die in ihren Angeln bebte. Wieder nahm Ioannis Anlauf und krachte gegen die Tür. Diese löste sich aus den oberen Angeln und stand schräg im Raum. Die beiden Mädchen schrien auf und klammerten sich noch fester aneinander. Ioannis nahm einen dritten Anlauf. Dabei flog er mit der Tür ins Zimmer und lag einen Augenblick auf der Tür. Doch dann erholte er sich. Dieser Mann stand röchelnd auf, und in seinen Augen sahen die Mädchen sein Verlangen. Er peilte die Mädchen an und stürzte sich aufs Bett. Alina war aufgesprungen und zur Ecke gerannt, in der einige Bücher standen, auch große, dicke. Inzwischen hatte sich Klara ans Bettende geflüchtet und starrte mit Entsetzen auf den Bullen, der an sie herankroch. Mit der linken Hand hielt er sie fest, dass sie sich nicht bewegen konnte. Mit der rechten fummelte er an seiner Hose, um sie zu öffnen. Klara schloss die Augen. Sie wollte nichts mehr sehen. Irgendwie ergab sie sich ihrem Schicksal und sah das Schlimmste auf sich zukommen.

Als Ioannis die Hose geöffnet hatte und sein Gemächt herausholen wollte, da stand plötzlich Alina neben ihm. In ihrer Hand hatte sie ein dickes, großes Buch. Ioannis hörte ein Geräusch neben sich. Aber er war so auf seine Sache fixiert, dass er nicht weiter hinhörte. Da knallte ihm Alina das Buch mit aller Wucht, der sie fähig war, gegen den Schädel. Immer wieder haute sie zu. Dann kippte der Mann plötzlich zur Seite und fiel aus dem Bett. Da lag er und röchelte nur. Klara öffnete die Augen. Sie hatte das alles nicht mitbekommen. Sie blickte abwechselnd auf Alina und auf Ioannis. Da rief sie: „Du hast es geschafft! Du hast es geschafft!“ Dann sprang sie auf und umarmte Alina. Beide weinten vor Freude, dass es dem Unhold nicht gelungen war, seinen Plan durchzuführen. Inzwischen standen auch Athena und Mäxchen im Zimmer und sahen die Bescherung. Beide umarmten sie die Mädchen und freuten sich. „Wir müssen ihn ins Wohnzimmer ziehen“, sagte Athena auf einmal. Die Mädchen sahen sich an. „Der ist viel zu schwer“, antwortete Klara, „das schaffen wir nie!“

„Doch, wir versuchen es“, meinte Alina. Zu dritt zogen sie und rüttelten sie an dem Koloss, um ihn ins Wohnzimmer zu zerren. Nach fast einer halben Stunde hatten sie es doch geschafft. Sie ließen ihn neben der Couch liegen. Dann drängten sie sich alle in Athenas Zimmer ins Bett. An Schlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Doch irgendwann überrumpelte die Müdigkeit sie.

In der Nacht, es war schon fast gegen Morgen, erwachte Alina. Ihr Nacken schmerzte tüchtig, denn sie hatte im Sitzen geschlafen. Sofort fiel ihr die schreckliche Szene mit dem Hausherrn wieder ein. Neugierig stand sie auf, um nach Ioannis zu sehen. Dieser lag noch so da, wie sie ihn hingelegt hatten. Er schnarchte laut. Da sah Alina auf einmal ein Bündel Papier, das aus seiner Hosentasche ragte. Sie ging auf ihn zu und zog ein dickes Bündel Banknoten aus seiner Tasche. „Das wird eine Weile für uns reichen“, dachte sie und nahm es an sich. Dann schlüpfte sie wieder in Athenas Zimmer und schloss ab. Sie nahm eine Decke und legte sich neben das Bett. Es war zwar hart, aber sie konnte liegen. Das Bündel Geldnoten steckte sie unter die Decke.

Etwas später, wachte Athena auf. Sie löste sich sacht aus Mäxchens Umarmung und ging ins Wohnzimmer. Ihr Mann röchelte und schnarchte nacheinander. Danach ging sie zum Zimmer der Mädchen, um sich den Schaden anzusehen. Das musste unbedingt repariert werden. Auf einmal wurde sie zornig, richtig wütend. „Ich jage ihn heute fort. Er braucht nicht mehr wiederzukommen“, ermunterte sie sich selbst. „Sonst zeige ich ihn bei der Polizei an. Es muss ein Ende damit haben.“ Dann ging sie in die Küche, um das Frühstück für sich und die Kinder vorzubereiten.

Als sie beim Frühstück saßen, sagte Athena: „Ihr braucht heute nicht in die Schule. Ich werde euch eine Entschuldigung schreiben.“ Die Mädchen waren einverstanden und nickten gemeinsam. „Ich brauche euch auch als Zeugen. Denn ich werde ihn heute ´rausschmeißen“, offenbarte sie ihre Gedanken. Die Mädchen lächelten. „Ja“, sagte Alina. „Das solltest du tun. Sonst haben wir nie Ruhe vor ihm.“ Plötzlich hörten sie Geräusche aus dem Wohnzimmer. Ioannis wurde langsam wach. Athena schaute die Mädchen an und sagte: „Kommt, folgt mir. Jetzt packen wir’s an!“ Danach ging sie stracks ins Wohnzimmer. Ioannis saß dort und rieb sich den Schädel. Dann schaute er auf seine offene Hose und konnte sich keinen Reim darauf machen. Nur sein Schädel schmerzte so tüchtig. „Habe ich denn so viel getrunken?“ fragte er sich. Da erschien auf einmal Athena im Wohnzimmer. Hinter ihr standen die beiden Mädchen und blickten ihn mit großen Augen an.

„Hör‘ zu, du Wüstling!“ hörte sich Athena laut reden und wunderte sich über sich selbst. „Schau‘, was du angerichtet hast.“ Ioannis rieb weiterhin seinen schmerzenden Kopf und blickte Athena erstaunt an. „Was soll ich getan haben?“ fragte er, und ein spöttisches Lächeln umspielte seine Züge. „Dir wird gleich das Lachen vergehen, du Schwein“, rief Athena, und ihr Zorn trieb sie immer mehr an. „Ich will, dass du hier verschwindest, und zwar für immer! Sonst zeige ich dich bei der Polizei an. Dann kannst du im Knast darüber nachdenken, was du Schwein angerichtet hast.“ Daraufhin berichtete sie ihm von dem Theater, das er veranstaltet hatte.

Langsam kehrte bei Ioannis die Erinnerung zurück. Athena und die Mädchen waren schon längst gegangen und räumten das Zimmer der Mädchen auf. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr kam er zur Überzeugung, dass es besser war, hier die Kurve zu kriegen. Er sollte nicht mehr wiederkommen. „Auch gut!“ dachte er. „Ich kann im Lkw schlafen. Irgendwann finde ich schon wieder ein neues Zuhause. Dann bekommt die Alte auch kein Geld mehr von mir.“ Bei diesen Gedanken fasste er in seine Hosentasche. „Nanu? Da war doch noch Geld drin. Habe ich dass alles versoffen? Das kann nicht sein.“ Egal, er würde sich neues vom Konto holen. Dann zog er sich an, schnappte sich die restlichen Bierkisten und lud sie auf den Laster. Danach schwang er sich ins Führerhaus. Ein letzter Blick auf das Haus. Dann ließ er den Motor an, und der Laster fuhr davon. Hierher wollte er auch nicht mehr zurückkehren.

Alina hatte inzwischen Athena das Geldbündel gegeben. Diese zählte es nach und kam auf dreieinhalbtausend Deutsche Mark. „Das reicht dicke, die Tür zu reparieren und neu einsetzen zu lassen“, sagte sie und bedankte sich bei Alina. Auch Klara und Max waren froh, dass dieser fürchterliche Kerl fort war. Max konnte sich später kaum noch an ihn erinnern.

Einige Tage später, das traumatische Erlebnis war noch nicht richtig verarbeitet, da wachte Alina eines Morgens erschrokken auf. Es war nass zwischen ihren Beinen. Sofort fiel ihr die Unterhaltung mit Klara ein. „Klara“, rief sie laut. Diese wachte erst nach mehrmaligem Rufen auf. „Was ist?“ fragte sie zurück. „Ich glaube, ich hab‘ sie“, antwortete Alina. „Was hast du?“ war die nächste Frage. „Nun, meine Regel“, war Alinas Antwort. Klara war mit einem Mal wach. „Wirklich“, rief sie und sprang aus dem Bett. Sie eilte zu ihrem Schrank und holte eine Binde heraus. Dann ging sie zu Alina, die ihren Bettbezug schon aufgeschlagen hatte. Tatsächlich, ein riesiger, roter Fleck bezeugte ihre Aussage. „Nicht so schlimm“, sagte Klara, „das kriegen wir wieder hin.“ Alina war mit ihren Gedanken ganz woanders. „Jetzt werde ich langsam eine Frau“, dachte sie und freute sich irgendwie darüber. Doch bis dahin sollte es noch ein weiter Weg sein.

Nicht lange danach, machte die Frau vom Jugendamt einen erneuten Kontrollbesuch, um zu sehen, ob alles in Ordnung war, und um die Mädchen zu befragen. Sie wunderte sich über das freie und eher lustige Benehmen der ganzen Familie. Auf die Frage hin, wann denn Herr Pathos wiederkäme, antwortete Athena: „Der ist erst wieder losgefahren. Er kommt wahrscheinlich in einigen Wochen zurück.“ Dabei spürte die Dame vom Jugendamt irgendwie, dass Frau Pathos froh war, dass er wieder seiner Arbeit nachging. Doch machte sie sich keine weiteren Gedanken darüber. Auch die Mädchen waren zufrieden in ihrer Pflegestelle. Kein Wort fiel über das Erlebnis, das alle in Angst und Schrecken versetzt hatte. Irgendwie lief ja jetzt alles viel besser als vorher.

Nachdem eine neue Tür im Zimmer der Mädchen an Ort und Stelle hing, konnten sich die Mädchen wieder ihren Aufgaben in der Schule widmen. Doch Alina konnte ihren Schulbesuch noch nicht genießen, wie sie es wollte. Sie war noch nicht frei von Bedrängnissen. Da waren immer noch Raffaela und ihre Bodyguards, die es weiterhin auf sie abgesehen hatten und fürchterliche Hassparolen gegen sie ausstreuten. Alina wollte diesem Gebaren irgendwie ein Ende machen. Aber es fiel ihr nichts Gescheites ein.