Der verlorene Zwilling - Dietmar R. Horbach - E-Book

Der verlorene Zwilling E-Book

Dietmar R. Horbach

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Beschreibung

Gisela bekommt Zwillinge. Sie weiß nicht, dass eines der Kinder an ein wohlhabendes Ehepaar verkauft wird. So wachsen beide Jungen verschieden auf. Raimund, der bei Gisela lebt, geht später zur Polizei. Sven rutscht immer tiefer ins Ganovenmilieu ab und verdient sein Geld als Drogendealer. Raimund hat einen großen Zorn auf Drogendealer, besonders auf einen. In seiner neuen Dienststelle stellt er fest, dass er genau diesen Mann fassen muss. Dabei trifft er auf seinen Bruder Sven, der im Dienst des Drogenbarons steht. Wird sich Sven gegen seinen Bruder Raimund stellen und ihn bekämpfen oder wechselt er die Seiten?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

I

Gisela konnte sich gar nicht satt sehen an diesem wundervollen Rosenstrauß mit seinen roten und gelben Blüten, die sich teilweise noch sehr zierten, die volle Pracht ihrer, von der Natur verliehenen Schönheit, zu entfalten, während andere sich dem Betrachter in ihrer vollsten Form- und Farbenvollendung darstellten. Ein angenehm bezaubernder und berauschender Duft strömte ihr entgegen, der sie an Sommer, Sonne und das erste Treffen mit Daniel erinnerte. Ihre Freude über den Blumenstrauß war unbeschreiblich. Doch war ihr nicht klar, was sie zuerst betrachten und mit ganzer Seele genießen sollte - diesen prächtigen Rosenstrauß oder das Gesicht Daniels, das sie über diese Blumen hinweg anstrahlte.

Daniel, ihr Freund, blickte sie mit seinen azurblauen Lausbubenaugen so lieb und freundlich an, wie er es selten getan hatte. Ein paar seiner rotblonden Haarsträhnen drängten sich vorwitzig vor seine Stirn. Unter seiner Profil betonten Männernase prangte stolz ein roter, kräftiger Schnauzbart, den sie ihm schon damals, kurz, nachdem sie sich kennenlernten, am liebsten abrasiert hätte; aber Daniel lehnte diesen Wunsch stets kategorisch ab.

Dann blickte Gisela auf seine, für einen Mann ungewöhnlich schönen Lippen, die halb geöffnet, einer Reihe weißer Zähne Gelegenheit gab, sich zu profilieren. Denn Daniel war eitel und ging zweimal im Jahr zum Zahnarzt.

Gisela hatte das starke Verlangen, diese Lippen zu küssen. Sie näherte sich ihnen und sein angenehmer, frischer Atem tauchte alles in ein Gemisch von Pfefferminz und Tabak, das sie so liebte. Dieser Zustand ließ ihre Seele Glück und Wonne empfinden. Ein Gefühl, welches ihr in den letzten Monaten vergönnt war. Gerade, als ihre Lippen sich trafen, da klingelte es plötzlich schrill und unangenehm.

„Lass es klingeln", dachte sie und fühlte die warmen, weichen Lippen auf den ihren. Sie öffnete leicht ihren Mund, um seine Zunge zu empfangen und zu schmekken. Doch dieses Klingeln, dieses verrückte Klingeln nahm kein Ende.

So riss sie sich ungewollt von Daniel los, um zu öffnen. Doch wo war die Tür? Es war auf einmal alles so verschwommen. Wo war denn diese verflixte Tür nur? Und es hörte nicht auf zu klingeln.

Mit diesen Gedanken tauchte sie langsam und widerwillig in die Gegenwart zurück. Es war eine raue, wirkliche Gegenwart, die sie in Empfang nahm.

Draußen peitschte dieser fürchterliche, seit Tagen andauernde Regen prasselnd gegen die Fensterscheiben. Sie hörte den Wind böenartig aufheulen und neben ihrem Ohr klingelte noch immer dieser hässliche, unerbittliche Wecker, der sie aus diesem wunderschönen, noch fühlbaren Traum gerissen hatte. Langsam fand sie in das Leben zurück.

„Erst einmal wach werden", dachte Gisela. Ächzend drehte sie sich auf die Seite. Jetzt, wo sie wach war, spürte sie wieder die ziehenden, manchmal sehr heftigen Rückenschmerzen, die seit Wochen ihr ständiger Begleiter geworden waren. Ihr, wie ein praller Medizinball aufgeblasener, schwangerer Bauch, der inzwischen von vielen Schwangerschaftsnarben quer überzogen war, lag schwer auf der Seite. „Noch eine Woche", dachte sie und fühlte ein Gemisch von Freude, endlich von dieser körperlichen Last befreit zu sein, und daneben auch Angst, die Beschwernis und Plage der Geburt durchleben zu müssen, in ihrem Inneren. Plötzlich beulte sich der Bauch an ihrer Oberseite ein wenig aus. Gisela griff danach und fühlte für ein, zwei Sekunden so etwas wie einen kleinen Fuß.

„Na, willst du mir guten Morgen sagen?" sprach sie laut zu ihrem Baby, als wenn der Kleine sich schon in die Welt hinaus geboxt hätte und neben ihr liegen würde. Wie oft stellte sie sich dieses wunderschöne Bild in der letzten Zeit vor.

Dann dachte sie an den Traum zurück und versuchte sich noch einmal das Gesicht von Daniel als reales Bild zurückzurufen. Beim Aufwachen hatte sie noch seine sanften Lippen gespürt. „Wo bist du, Daniel?" rief sie halblaut. „Wo bist du nur?"

Denn dieser junge, draufgängerische Mann war seit Monaten spurlos verschwunden. Er war von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben gegangen, als er erfuhr, dass sie ein Kind von ihm erwartete.

Es waren schwere, schreckliche Leidenstage gewesen, die sie danach durchlebte. Neben den körperlichen Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen, den üblichen, doch zum ersten Mal für sie sehr ungewohnten Schwangerschaftsanzeichen, die sie immer wieder aus ihrem gewohnten Lebens- und Arbeitsrhythmus herausgerissen hatten, waren es die seelischen Schmerzen und Qualen, über den Verlust ihres geliebten Freundes, die sie nächtelang nicht schlafen ließen, weil immer wieder Weinkrämpfe sie schüttelten und die Gedanken sie zermürbten, warum Daniel das getan hatte. Warum nur, warum?

Dabei waren sie so verliebt gewesen. Und sie waren beide noch so jung. Daniel wurde 21 und Gisela war gerade 18 geworden. Schon als sie sich im Mai letzten Jahres kennenlernten, spürte Gisela seinen großen, unersättlichen Freiheitsdrang. Doch zu Beginn ihrer Beziehung hatte sie das nicht gestört. In ihrer kindlichen Naivität, wie sie es im Augenblick einer hereinbrechenden Selbsterkenntnis später nannte, war sie der Überzeugung, ihn durch ihre gemeinsame Liebe zu ändern.

Doch die Zeit der Schwangerschaft und der damit verbundenen tausendfältigen Probleme, angefangen bei der Kündigung ihrer Einzimmerwohnung, bis zum Rausschmiss aus ihrer letzten Firma, führte sie zum einen in einen Zustand totaler Resignation und Verzweiflung, zum anderen formte sie diese Zeit zu einer jungen, selbständigen Frau und werdenden Mutter, die kampferprobt alles aufbot, um sich und ihr Kind zu erhalten. Das Schicksal schenkte ihr aber auch Sonnentage in ihrem Leben. So erschien eines Tages die Glücksfee in Gestalt ihrer Tante Lisbeth, gerade in dem Augenblick, als sie verheult durch die Straßen von Kleinkönigsau rannte, weil ihr Chef sie an die Luft gesetzt hatte. Und mit dieser Tante Lisbeth war für heute Morgen um zehn ein gemeinsamer Einkaufsbummel vereinbart, damit die letzten Sachen vor der Geburt des Kindes noch eingekauft werden konnten.

Gisela sah auf den Wecker, der brav die Uhrzeit zur Verfügung stellte, und nicht mehr aufmuckte, als sie ihm vorhin mit einem Schlag auf den Kopf mundtot gemacht hatte. Es war jetzt kurz vor halb acht Uhr. Schwerfällig erhob sie sich und setzte sich erst einmal auf die Bettkante. Aus der Küche ertönte leise Schlagermusik.

„Na, wenigstens etwas Positives bei diesem Sauwetter", sprach Gisela mit sich selbst und streckte sich laut gähnend. Nach ein paar Minuten hatte sich ihr Kreislauf stabilisiert, und sie stand stöhnend auf. Das machte sie nur, wenn sie alleine war. Sonst hatte sie sich in der Gewalt und gab niemanden Anlass, sie zu bemitleiden. Im Laufen zog sie den geblümten Bademantel über, der über der Stuhllehne neben ihrem Bett hing und schlurfte, die restliche Müdigkeit aus den Körper schüttelnd, ins Bad.

Wenn man von Kleinkönigsau die Bundesstraße 491 nahm und in Richtung Römmelskirchen fuhr, gelangte man nach ungefähr acht Kilometern durch einen kleinen Ort mit dem schönen Namen Effelsburg.

Neben den 842 Einwohnern, die sich in ihren sehr schmucken Ein- und Zweifamilienhäusern rund um die Bundesstraße ansiedelten, gehörten noch 20 Hunde, 13 Katzen und eine Menge Kleinvieh an Hühnern, Gänsen, Enten und sogar Schweinen nebst einem Papagei namens Lora, der bei der alten Witwe Klara Henning sein Quartier hatte.

Ein kuscheliges Waldgelände in welchem ein kleiner Badesee wie von Architektenhand vortrefflich eingebettet war und in dem die Kinder und Jugendlichen in der Badesaison herumplantschten und tobten, rundete, neben den teils meisterhaft angelegten Vorgärten und Gärten mit allerlei Anpflanzungen und bunten Blumen, das Bild eines gemütlichen, romantischen Ortes ab, der schon dreimal den Schönheitswettbewerb des Kreises „Unser Ort soll schöner werden" gewonnen hatte.

Hier, in einer Parallelstraße der B 491, intelligenterweise „Dorfstraße" genannt, wohnte im Haus Nr. 17 Familie Steffen. Vater Hugo Steffen war in dritter Generation Landwirt und besaß 20 Stück Milchvieh, das seine Frau Helma allmorgendlich mit lautem Gebrüll auf die nahe Weide trieb. Nur wenn es im Sommer ganz warm war, blieben die Kühe und der Bulle, der eifersüchtig über seinen Harem wachte, auch nachts draußen. Der dritte in der Familie war Rüdiger, der neben den Nesthäkchen Sissi und Bettina, der Stolz der Familie war.

Rüdiger war vor ein paar Monaten zur Infanterie einberufen worden, was ihm gar nicht gefiel. Da er sich bei einem Nachtmarsch einige deftige Blasen und einen Wolf gelaufen hatte, schrieb ihn der Truppenarzt für ein paar Tage krank und der Spieß gab ihm die ausdrückliche Erlaubnis, seinen Wolf zu Hause auszukurieren.

Gestern war, wie so häufig in einem Ort wie diesem, ein zünftiger Skatabend im Dorfkrug gewesen. Rüdiger hatte mit ein paar Freunden kräftig mitgemischt und gewonnen. So war es sehr spät, oder man kann auch sagen - sehr früh geworden, als er in sein Bett fiel und einen Sägewettbewerb im Abholzen von besonders starken Bäumen im Schlafe gewinnen wollte.

Jetzt, um 08.30 Uhr, drangen immer noch Schnarch- und Grunz-Geräusche aus seinem Zimmer an das Ohr der Zwillinge, die sich kichernd anschauten und köstlich darüber amüsierten.

Von draußen hörte man plötzlich Schritte. Es war Helma Steffen, die gerade aus dem Hühnerstall gekommen war und die Eier eingesammelt hatte. Horchend blieb sie vor Rüdigers Kammer stehen. Dann klopfte sie an. „Rüdiger!" rief sie mit ihrer hohen, durchdringenden Stimme. „Rüdiger!" klang es mehrmals über den Flur. Aber Rüdiger hörte nur auf zu grunzen. Dann ertönten seine Schnarchgeräusche lauter als zuvor.

Mutter Steffen ging in die Küche, legte die Eier in eine Schüssel und griff zu härteren Methoden. Mit dem Fleischklopfer bewaffnet, machte sie sich auf ins Gefecht. Sie drückte die Klinke herunter. Die Tür war, wie sie befürchtete, verschlossen. Dann nahm sie zunächst ihre Faust und hämmerte gegen die Tür. „He, hörst du nicht, Rüdiger. Du musst aufstehen, wenn du noch zum Doktor nach Kleinkönigsau willst."

Es half nichts. Sie musste zur Offensive übergehen. Mit dem Fleischklopfer knallte sie gegen die Tür, die an verschiedenen Stellen schon einige Einschläge aufwies. „He, verdorrich noch mal, komm doch endlich hoch", keifte sie und ihre Stimme wurde erheblich lauter.

Da rührte sich etwas in seinem Zimmer. „Was is'n los?" klang es kläglich von drinnen.

„Das ist schon gleich neun. Ich denk' du willst um zehn beim Doktor sein!" rief Mutter Steffen und war froh, dass sie ihn wachbekommen hatte.

"Wie spät is das?" gurgelte es wieder aus dem Zimmer. „Gleich neune, Junge! Mach, dass du in Schweiß kommst, sonst kannst du gleich morgen wieder nach Kiel fahr'n."

Man hörte nun tapsende Schritte, die sich der Türe näherten. Dann wurde der Schlüssel herumgedreht und ein verschlafener, eckiger Blondschopf mit zerwühlten kurzen Haaren glotzte Helma Steffen etwas dümmlich an. Aus seinem vom lauten Gähnen weit aufgerissenen Mund strömte Klara eine Wolke von Alkoholdunst entgegen, den sie noch bei ihrem allwöchentlichen Kaffeekränzchen mit Stine und Alwina benutzen könnte, um sich zu berauschen.

Etwas angewidert drückte sie mit Daumen und Zeigefinger ihre Nase zu und näselte: „Nu, mach aber zu, Junge. Der Doktor verlängert seine Sprechstunde nicht, weil du verpennt hast." Dann drehte sie sich rasch um, weil es sie nach frischer Luft verlangte und rauschte ab in die Küche.

Rüdiger warf die Tür mit einem Rums zu und verschwand im Bad, um menschlichen Bedürfnissen nachzukommen, die ihn anfingen zu quälen.

Kleinkönigsau, eine norddeutsche Kleinstadt mit 10.756 Einwohnern, hatte es trotz mehrmaliger Versuche, in der politischen Wertetabelle nach oben zu rutschen und zur Kreisstadt zu avancieren, zum Leidwesen des Bürgermeisters Fred Holderlin bis heute nicht geschafft. Dennoch war das Bestreben des gesamten Rates, für Kleinkönigsau eine moderne, zeitgemäße Urbanität zu erschließen, ungebrochen. Das begann damit, dass neben einer Jungenrealschule, die später zu einer Gesamtrealschule umbenannt wurde, auch vor sechs Jahren ein Gymnasium gebaut wurde. Das bedeutete eine erhebliche Erleichterung für die Schüler dieser Stadt, die sonst mit dem Schulbus fünfzehn Kilometer nach Malente, in die Kreisstadt fahren mussten.

Es reichte schon, dass die Bürger bei Bedarf das dortige Krankenhaus in Anspruch nehmen mussten.

Was die Innenstadt und die damit verbunden Einkaufsmöglichkeiten anbelangte, bewiesen die Stadtväter eine weitreichende Visionsfähigkeit und besaßen genügend Innovation, bestimmte Projekte zu planen und durchzusetzen. Aufgrund von gestützten, politisch festgesetzten Grundstückspreisen, etablierten sich in den vergangenen zehn Jahren so viele Einzelhändler und Kaufhäuser sowie Fachgeschäfte in Kleinkönigsau, dass es hier alles vom Kragenknopf bis zum Lkw zu kaufen gab. Nun die Einwohner dieser Stadt bekundeten immer wieder die Zufriedenheit mit ihren Stadtvätern in ihren Aussagen bei den durchgeführten Umfragen, die im Auftrag des Stadtrates in den letzten vier Jahren durch die beauftragten Institute durchgeführt wurden. Kurzum, es ließ sich gut leben in Kleinkönigsau.

Gisela Köster stieg etwas mühevoll aus dem Bus der Linie 47 aus, der sie in die Innenstadt gebracht hatte. Da bis zum Treffen mit ihrer Tante noch einige Zeit blieb, schlenderte sie gemächlich die Fußgängerzone entlang. Hier wetteiferten die verschiedenartigsten Geschäfte, Boutiquen, Einzelhändler und Verkaufsbuden mit einer riesigen Fülle von angepriesenen Waren, die gekonnt dekorativ und kundenbewusst mit dem allerherrlichsten Vorweihnachtsschmuck und anderen farbenfrohen Dekorationen sehr aufwendig geschmückt waren, und warteten auf ihre Opfer, die Kunden, die sich gerne durch die dargestellte Pracht gefangen nehmen ließen und kauften, was das Zeug hielt.

Ein wunderbarer Duft an Kaffee und Gebäck und süßen Kuchen strömte auf die Straße, wenn die Käufer sich gegenseitig die Klinke in die Hand gaben und die Türen für kurze Zeit offen standen. Obwohl erst heute der zweite November war, deutete die geschäftige Betriebsamkeit der Geschäftsleute daraufhin, dass sie ein, mit viel klingender Münze in den Kassen, sich entwickelndes Weihnachtsgeschäft erwarteten, dem sie auch siegessicher und mit freudiger Hoffnung entgegenblickten.

Die schwangere Gisela betrachtete die verlockenden Auslagen kaum mit Interesse, da sie in ihren Gedanken doch immer zu Tante Lisbeth abschweifte. Sie hatte ihrer Tante, der Schwester ihrer Mutter, so viel zu verdanken und wusste, sie könnte es ihr nicht vergelten. Als sie vor zwei Jahren Hals über Kopf aus

dem Elternhaus geflohen war, weil das Zusammenleben mit ihrer Stiefmutter Corinna einfach für sie, Gisela, unerträglich geworden war, öffnete Tante Lisbeth Tür und Tor und teilte mit ihr für ein paar Monate sämtliche Bereiche ihrer Wohnung.

Die Erinnerung an ihre Mutter wurde wieder sehr deutlich. Sie war gerade elf Jahre alt, als ihre Mutter an Krebs erkrankte und nach fast einem Jahr qualvoll verstarb. Die jüngeren Geschwister Dieter und Rosie waren zu diesem Zeitpunkt sieben und vier gewesen. Dieser schwere Verlust hatte sie alle zutiefst getroffen. Nichts war mehr so wie vorher. Da ihr Vater dauernd Überstunden machen musste, war Gisela sehr früh gefordert, sich um die kleineren Geschwister zu kümmern. Aber ein zwölfjähriges Mädchen kann nicht die Stelle einer Mutter übernehmen, ohne sich dabei nervlich und körperlich aufzureiben.

So erkrankte sie eines Tages schwer. Die Ursache war ein Gemisch aus körperlichem Zusammenbruch, tiefem Seelenschmerz über den Verlust ihrer Mutter und eine tiefe Sehnsucht nach ihr. So kam Gisela mit den Geschwistern für sechs Wochen zur Kindererholung nach Sylt. Dort wurde sie therapeutisch behandelt und ein wenig von all den vorherigen Strapazen abgelenkt.

Ja und dann, dann lernte Vater eines Tages Corinna kennen. Corinna war zehn Jahre jünger als Vater. Er lernte sie in einem Café kennen, in dem sie als Bedienung arbeitete. Kurz danach erklärte Vater ihnen, dass er Corinna heiraten würde. Die Kinder besaßen kein Mitspracherecht, ob sie es für gut hielten

oder nicht. Denn eine Frau, die nach dem Rechten sehen würde, musste wieder ins Haus. Aber diese Frau war kein Ersatz für ihre Mutter. Sicherlich lag es auch daran, dass Gisela mitten in der Pubertät steckte und mit ihren fünfzehn Jahren oft genug rebellisch gegen ihre Stiefmutter opponierte. So kam, was kommen musste.

Die vielen Streitereien wurden vom Vater verständnislos durch seine Anordnungen beendet. Gisela zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Das Verhältnis zu ihrem Vater verkümmerte, und die Sehnsucht nach ihrer Mutter fraß an ihrer Seele. Zwei Jahre später hielt sie es nicht mehr aus. Nach einer weiteren, verbitterten Auseinandersetzung mit dem Vater und ihrer Stiefmutter, verließ sie trotzig, vor Enttäuschung und Bitterkeit weinend, das Haus. Da sie sich nicht zu helfen wusste, wandte sie sich an Tante Lisbeth. Und diese Tante stand ihr auch jetzt zur Zeit der Schwangerschaft und baldigen Niederkunft mit so viel Liebe bei, dass sie oftmals keine Worte fand, diese Hilfe mit ihren Worten zu würdigen.

„Hallo Gisela." Bei diesen Worten wachte sie aus ihren Gedanken auf. Tante Lisbeth kam frisch gestylt auf sie zu. Sicher hatte sie seit sieben wieder beim Friseur gesessen. Eine kurze Frage dazu, bestätigte ihre Vermutung.

Die frisch geföhnte Frisur ließ die Tante um einige Jahre jünger erscheinen, obwohl sie auch schon Mitte vierzig war. Tante Lisbeth legte viel Wert auf ihre äußere Erscheinung und ging zweimal im Monat zur Kosmetikerin. Der leger fallende, schicke Kamelhaarmantel verschloss den Blicken der Mitmenschen, dass sie bereits Kleidergröße 44 trug und einen regelrechten Diätkampf gegen ihre Pölsterchen führte. Doch ihre Vorliebe für Süßes machte aus einer zum Diätkampf gerüsteten Jean d'Arc eine dahinschmelzende Verehrerin aller Pralinees und marzipanhaltigen Zuckerwerke.

„Guten Morgen, Tante Lisbeth", begrüßte Gisela sie mit einem Kuss auf die Wange. „Hast du schon lange gewartet?"

„Mein Kind, ich wollte mir schon ein Hotelzimmer ansehen, damit ich mich ausruhen kann", antwortete die Tante und lachte laut über ihre Bemerkung.

Auch Gisela wurde davon angesteckt. Sie hakte sich bei Tante Lisbeth unterb und schon gingen die beiden munter drauflos, und blickten dem geplanten Einkaufsbummel nach ihren Wünschen und den Möglichkeiten ihres Portemonnaies entsprechend, entgegen.

Rüdiger Steffen wischte sich den Mund ab und sah auf die Uhr. „Mensch, es ist höchste Zeit, dass ich loskomme. Sonst nimmt mich der Doktor nicht mehr ran." Er riss seine Jacke vom Haken und stürzte nach draußen. Dort schwang er sich hinter das Steuer seines gelben, verblichenen Ford Taunus, der mit seinen zehn Jahren auf der Haube ins bockige Alter gekommen war. Die Fahrertür schmückte vom letzten Unfall noch eine leichte Beule. Doch Rüdiger fehlte es an Zeit und Geld, sie zu reparieren.

Heute Morgen spielte der Wagen sofort mit. Mit aufheulendem Motor jagte Rüdiger los, Richtung Kleinkönigsau.

Da die Zeit ihm unter den Fingern zerrann, überholte er, wo er nur konnte. Ein Treckerfahrer, der gemütlich die Straße entlangtuckerte, wäre fast aus seinem Sitz gefallen, als Rüdiger mit lautem Hupen an ihm vorbeiraste. Ein glucksendes Lachen war zu vernehmen, das gleich wieder erstarb und sich in ein fluchendes Schimpfen verwandelte, weil in der nächsten Kurve zwei Lkws verhinderten, dass er seinen verrückten Fahrstil so fortsetzen konnte. Jedes Mal, wenn Rüdiger daran vorbeidonnern wollte, tauchten auf der Gegenfahrbahn andere Fahrzeuge auf.

„Verdammt, das schaff ich nie", brüllte er seinen Ärger heraus. Da war endlich eine Lücke. Er schaltete nun ziemlich sauer in den dritten Gang und trat aufs Gaspedal, dass der Motor aufheulte. Kaum war er an den beiden vorbei, als wieder einige Fahrzeuge aus Kleinkönigsau an ihm vorbeirasten.

Da sein Auspuff bereits einige undichte Stellen aufwies, röhrte dieser besonders laut. So donnerte er in die Stadt hinein. Missmutig schaltete er zurück und fuhr mit fast 70 km/h weiter.

Dazu kam, dass sein Alkoholpegel von gestern Abend noch seine Wirkung zeigte und Rüdiger durch ein dumpfes Gefühl in seinem Kopf in seiner Reaktion beeinträchtigt war.

Gisela und Tante Lisbeth traten aus Hagendorfs Kaufhaus und schlenderten, da es ihnen gelungen war, ein günstiges Schnäppchen zu ergattern, sich angeregt unterhaltend weiter.

Dabei steuerten sie den Zebrastreifen an der Hauptstraße an. Die Ampel wechselte gerade auf grün, und die beiden Damen setzten ihren Fuß auf die Straße. Das angeregte Gespräch wurde dabei fortgeführt.

Sie waren so auf der Mitte des Zebrastreifens angekommen, als ein gelber, für sie später undefinierbarer Wagen mit quietschenden Reifen um die Ecke bog und den Zebrastreifen ins Visier nahm. Vor Schreck ließ Gisela ihre Tüten fallen. Der Wagen fuhr direkt auf sie zu.

Hinter dem Steuer stierte Rüdiger mit aufgerissenen Augen auf die Frauen. „Au Scheiße, was macht ihr denn da?" brüllte er. Dann trat er mit Wucht auf die Bremse.

Der Motor heulte mit überdrehten Touren laut auf. Die Bremsen quietschten fürchterlich, und Rüdiger verlor fast die Gewalt über den Wagen, der nach links ausbrach. Der Geruch von verbranntem Gummi zog ins Wageninnere. Rüdiger hatte das Gefühl, die beiden Frauen schon zu überrollen.

Dieser Sekundenbruchteil genügte jedoch, dass andere Passanten die beiden Frauen zur Seite rissen. Tante Lisbeth fiel auf die Seite, und Gisela stolperte über sie weg. Dabei knallte sie mit dem Knie auf das Pflaster. Es schmerzte fürchterlich und Gisela schrie auf und zeigte ein schmerzverzerrtes Gesicht. Schon schoss Blut durch die Strumpfhose, die zerrissen war. Ein junger Mann sprang vom Straßenrand herzu und hob Gisela vorsichtig hoch. Zwei andere Passanten kümmerten sich um Tante Lisbeth, die besser davongekommen war als Gisela.

Inzwischen gewann Rüdiger die Kontrolle über seinen Wagen zurück. Da er an den beiden Fußgängerinnen vorbei war, gab er schleunigst Gas, um abzudampfen. Denn die Polizei durfte ihn in diesem Zustand nicht erwischen. Da alles so schnell geschah, war niemand von den Passanten, die diese Szene miterlebten, in der Lage, sich die Autonummer zu merken. So schoss der junge Steffen weiter, ohne sich um die Frauen, die nun am Straßenrand kauerten, zu kümmern.

Gisela versuchte trotz des blutenden Knies, aufzustehen. Sie biss auf die Zähne, um den Schmerz im Knie zu unterdrücken. Plötzlich brüllte sie laut auf und fiel auf die Straße zurück. „Au, Hilfe, ich glaube es geht los. Meine Wehen!"

Jemand war inzwischen in einen Laden gestürzt und bat den Inhaber, einen Rettungswagen herbei zu telefonieren. Von Ferne hörte man die Sirene, die immer lauter wurde. Tante Lisbeth schüttelte sich und kam mit Hilfe zweier Passanten, die sich sehr um die beiden Frauen bemühten, auf die Beine. Ihre große Sorge galt Gisela, deren Wehen plötzlich intervallmäßig einsetzten. Der junge Mann von vorhin brachte die Tüten herbei, die auf der Straße lagen. Es war alles einfach chaotisch. Doch schon näherte sich der Rettungswagen, und die vielen illustren Zuschauer, die sich schnell eingefunden hatten und begierig die Szenerie begafften, wurden durch die Sanitäter beiseite gedrängt. Man legte Gisela, die immer noch leise vor Schmerzen stöhnte und sich in ihrer Lage entsetzlich vorkam, auf eine Trage. Dann brauste der Wagen mit den Frauen davon, wobei die schrille Sirene die Passanten zusammenzucken ließ, nach Malente ins Krankenhaus.

Die drei, vom Zahn der Zeit bereits angenagten, roten Backsteinhäuser des Reginenkrankenhauses, die in den Zwanziger Jahren erbaut wurden, standen im krassen Gegensatz zu den gepflegten, saftig grünen Parkan-lagen des Krankenhausgeländes, in welches sie wie Spielzeug hineingesetzt waren. Nur die zweigeteilten Fenster mit ihren Läden strahlten in einem leuchtenden Weiß, da sich erst vor zwei Wochen eine Malerkolonne daran austobte. An den Häusern zwei und drei standen noch die Gerüste, während man Haus eins bereits davon befreit hatte. Jedes Haus lag ungefähr 500 m voneinander entfernt. Über gepflasterte Verbindungswege konnte man zu den anderen Häusern sehr schnell gelangen. Unterirdisch und fernmeldetechnisch hatte man auch keine Kosten und Mühen gescheut, und die Gebäude miteinander durch Tunnelgänge verbunden. Das hatte den Vorteil, dass das Personal und die Patienten unberührt vom Norddeutschen Wetter, das manchen Tagen aus einem lausigen Tief mit triefenden Regenschauern und böigen Winden bestehen konnte, zwischen den einzelnen Häusern hin und her wechseln konnten, ohne sich den unangenehmen Witterungsverhältnissen aussetzen zu müssen.

Denn die einzelnen Abteilungen waren mehr oder weniger darauf angewiesen, miteinander zu kommunizieren und zu arbeiten. In Haus eins war die Verwaltung mit den Räumen für den Medizinischen Direktor untergebracht. Weiterhin befanden sich dort die Großküche und zusätzliche Zimmer für Schwesternschülerinnen und noch weiteres Pflegepersonal, die dort während ihrer Ausbildung wohnen konnten. Die Chirurgie mit der Unfallambulanz und die Innere Abteilung befanden sich mit der gesamten Röntgenabteilung in Haus 2; während man in Haus 3 die Frauen- und Kinderklinik eingerichtet hatte.

Bei schönem Wetter luden die aufgestellten Bänke in dem parkähnlichen Gelände zum Verweilen ein. Ein kleiner Spielplatz war für die Kinder ebenfalls neben Haus 3 eingerichtet worden; und oft tönte Kinderlachen herüber, das gleichermaßen ansteckend auf Patienten und Besucher wirkte, die dort ihre ausgiebigen Spaziergänge durchführten und frische Luft schnappten.

Heute war eigentlich ein Routinetag. Vor Haus 2 hatte bis zu diesem Augenblick dreimal der Rettungswagen gehalten und Unfallopfer eingeliefert. In der Inneren und bei den Kindern gab es heute einige Entlassungen und morgen würde es wieder ein paar Aufnahmen geben. Die Ärzte und Schwestern in der Frauenklinik waren mit zwei Entbindungen beschäftigt, die jedoch ohne Komplikationen abgeschlossen werden konnten.

Dr. Staudinger schrubbte sich die Hände mit einer Bürste. Neben ihm stand Schwester Maria, eine der Hebammen, und zog sich den grünen Kittel aus. „Noch so eine Bilderbuchentbindung, dann ist der Tag für heute gelaufen", bemerkte Dr. Staudinger und lächelte dabei vor sich hin.

„Ja, Sie haben Recht, aber das weiß man ja immer nicht, was auf einen zukommt", antwortete Schwester Maria und verließ den Waschraum, um den anderen beiden Schwestern bei der Essensausgabe zu helfen. Dr. Staudinger begab sich auf die Station I, um nach dem Rechten zu sehen. Er war heute als Stationsarzt für die Stationen I bis III zuständig und pendelte hin und her. Erst heute Nachmittag würden ihn zwei Kollegen ablösen, die sich den Dienst teilten.

Vor einem halben Jahr wechselte er seinen Arbeitsplatz als Assistenzarzt von einer Privatklinik in Bochum hierher nach Malente. Den Grund seines Wechsels hatte er niemanden erzählt, obwohl so mancher neugierig fragte. In der kurzen Zeit, in der er hier auf der Entbindungsstation arbeitete, hatte er sich das Vertrauen seiner Kollegen und der Schwesternschaft bereits erworben. Wenn man ihm begegnete, lag meistens ein leichtes Lächeln auf seinen Zügen. Von normaler Statur, er war ungefähr ein Meter dreiundsiebzig groß und von schlankem Wuchs, war er eine gepflegte Erscheinung.

Besonders auffallend war sein schwarzes krauses Haar, das er immer kurz hielt. Seine braunen Augen schenkten den Menschen, mit denen er sprach oder die er ansah, einen sanften Blick. Es gab kaum Augenblicke, in denen seine Augen aufgeregt funkelten. Nein, im Gegenteil! In den letzten Wochen lag in seinen Augen irgendwie eine gewisse Traurigkeit, die von den Kollegen jedoch kaum bemerkt wurde.

Er war mit seinen 33 Jahren noch Junggeselle und bewohnte eine Zweizimmerwohnung in der Stadt, die nur sechs Autominuten von der Klinik entfernt lag.

Für die Schwestern auf der Station war er ein ganz normaler, kollegialer Typ, der bisher noch niemand der holden, ledigen Weiblichkeit animiert hatte, sich privat um ihn zu kümmern.

Auf den Stationen war es ruhig. Die junge Frau, die vor einer halben Stunde von einem gesunden Jungen entbunden hatte, war versorgt worden und lag nun erschöpft in Zimmer 113. Das Baby befand sich auf der angrenzenden Säuglingsstation und schlummerte unwissend ins Leben. Es schien ein Routinetag zu werden, und das konnte das Personal gut gebrauchen, da es oft genug turbulente Augenblicke gab, wenn sich die Geburtstermine gegenseitig in die Hacken traten oder an manchen Tagen sechs bis acht Operationen bei Ärzten und Schwestern deutliche Stresssymptome hervorriefen.

Dr. Staudinger betrat gerade das Ärztedienstzimmer, als eine Lautsprecherdurchsage ihn aufforderte, sofort in Kreißsaal II zu erscheinen. Er trank schnell einen Schluck Selterswasser und begab sich danach sofort in den angesagten Raum. Dort waren Schwester Olga und Schwester Maria bereits damit beschäftigt, alle Geräte für die angekündigte Geburt vorzubereiten.

„Ein Notruf! Eine junge Frau im neunten Monat wurde beinahe angefahren. Der Unfallschock hat bei ihr heftige Wehen hervorgerufen. Wahrscheinlich haben wir eine Spontangeburt", wurde er bei seinem Eintritt von Schwester Maria empfangen. Er wusch sich die Hände und ließ sich den OP-Kittel umlegen. Dann erklang auch schon die Sirene des Rettungswagens, der vor Haus 3 hielt. Ein paar Minuten später wurde Frau Köster von den Sanitätern in den Kreißsaal geschoben. Da sie im Wagen eine Beruhigungsspritze erhalten hatte, fühlte sie sich ein wenig benommen. Die Schmerzen in ihrem Knie waren stärker geworden.

Dr. Staudinger lächelte sie an und begrüßte sie dann freundlich. „Guten Tag, Frau Köster, ich bin Dr. Staudinger und werde ihnen helfen, so schnell wie möglich ihr Baby zu bekommen."

Gisela lächelte etwas gequält und deutete auf ihr notdürftig verbundenes Knie.

„Ich habe Schmerzen, Herr Doktor", stöhnte sie und verzog das Gesicht, weil bei der Umbettung auf das Bett ein stechender Schmerz durch das Knie zog.

„Wir kümmern uns darum", antwortete der Arzt. "Sagen Sie, was machen ihre Wehen?" „Bis jetzt habe ich keine weitere Wehe mehr bekommen", war die Antwort.

Dr. Staudinger gab leise Anweisungen an die anwesenden Schwestern und nahm den Verband vom Knie ab. Die Haut war blutig abgeschürft und Dr. Staudinger konnte schon beim bloßen Hinsehen erkennen, dass die Kniescheibe verschoben war. Eine Operation war dringend notwendig. Er spritzte etwas Eisspray auf das Knie, um es etwas betasten zu können. Als er das Knie berührte, begann es wieder zu bluten. Gisela war kurz erschrocken, als das kalte Spray ihre Haut berührte. Doch dann tat das Knie nicht mehr so weh.

„Wir machen einen Stützverband, da wir wohl nachher operieren müssen", erklärte er Gisela, der ganz schwummrig bei der Nachricht wurde.

„Ist es denn schlimm, Herr Doktor?" fragte sie ihn. „Die Kniescheibe ist verschoben. Wir müssen uns das Knie von innen ansehen. Aber nun wollen wir uns erstmal um das Baby kümmern." Er streichelte Gisela die Wange und lächelte sie dabei wieder an. Kaum wurde das Baby wieder in den Mittelpunkt gestellt, als es sich auch schon wieder meldete. Eine kräftige Wehe durchzog Giselas Körper und sie schrie auf. „Au, Aua!" Sie biss auf die Zähne, und Schweißperlen traten ihr auf die Stirn.

Inzwischen hatte Schwester Maria den Wehenschreiber angeschlossen, der die rasenden Herztöne des Kindes wiedergab. Schwester Olga tupfte Gisela mit einem feuchten Tuch den Schweiß von der Stirn und legte ein Kissen in ihren Rücken, dass sie ein wenig mehr Stabilität hatte. Inzwischen half Schwester Maria der Patientin, sich so weit zu entkleiden, dass der Arzt ungehindert die Geburt einleiten konnte.

Dr. Staudinger nahm vor Gisela Platz. Ihre Beine lagen leicht angewinkelt auf dem Bett und standen auseinander. Der Arzt besah sich den Muttermund. „O ja! Er ist schon mehr als ein Fünfmarkstück groß. Fein, es entwickelt sich gut", meinte er zu den beiden Schwestern. Dann blickte er auf den Wehenschreiber, während sich die nächste Wehe ankündigte.

Ein ziehender Schmerz durchfuhr Giselas Unterleib. Sie fühlte sich fast auseinander zu bersten.

„Ahh, Auaa." Schwester Maria stand hinter Gisela, um ihr den Rücken zu stärken. Die Hebamme übernahm den vorderen Platz von Dr. Staudinger.

„In ein paar Minuten geht es los mit der ersten Presswehe, Frau Köster. Atmen Sie ruhig durch. Sie machen das sehr gut. Ja, ruhig durchatmen, - weiter so!" Schwester Olga, eine weitere Hebamme, machte der werdenden Mutter Mut und sprach ihr gut zu. Gisela blickte sie starr an, denn jetzt erfolgte die erste Presswehe als drängte sich alles, was unten war, aus ihrem Körper heraus. Sie brüllte laut auf.

„Pressen!" rief die Hebamme und versuchte, die Beine ruhig zu halten. Zwischen der ersten und zweiten Presswehe rang Gisela nach Luft. Schwester Maria tupfte ihr wieder die Stirn ab, die vor Schweißperlen so troff.

Dann kam schon die nächste Wehe. Sie schrie, als wenn es um ihr Leben ging. „Es ist gut, Frau Köster", hörte sie Schwester Olga aus der Ferne rufen. „Es ist schon zu sehen."

Dr. Staudinger beobachtete unterdessen den Wehen-Schreiber und hörte die Herztöne des Kindes, die wie wahnsinnig aus dem Monitor dröhnten.

Der Muttermund war so weit geöffnet, dass Olga schon den Kopf des Kindes sehen konnte. Gisela war am Ende ihrer Kraft. Doch schon überwältigte sie die nächste Presswehe. Sie hatte das Gefühl, sterben zu müssen. Alles riss an ihrem Unterleib, und sie schrie, sie schrie und hörte nicht mehr auf zu schreien. Dann war es plötzlich vorbei. Sie sah nur noch wie im Nebel, dass die Hebamme einen blutverschmierten, kleinen Körper hochhob und zu Dr. Staudinger herüberging. Dieser gab Schwester Maria die Anweisung, Gisela noch etwas Lachgas zu geben, dass sie sich beruhigte. Dann wurde sie auf die Kinderstation gerufen.

Nachdem Schwester Olga die Nabelschnur abgebunden hatte, saugte Dr. Staudinger das Fruchtwasser aus der Lunge. Der Kleine, es war ein Junge, begann zu schreien. „Er hat kräftige Lungen", meinte Dr. Staudinger und lächelte unbemerkt unter seinem Mundschutz. Dann begann er mit der Untersuchung des Neugeborenen.

Die Hebamme hatte unterdessen die Placenta untersucht, als Gisela plötzlich aufstöhnte. Der Stoß Lachgas hatte sie in Ohnmacht sinken lassen. Sie fühlte und sah nicht mehr, was um sie herum geschah. Schwester Olga beugte sich zu ihr herunter, da merkte sie, dass da noch jemand heraus wollte. Schnell griff sie herzu, da sich der Kopf schon zeigte.

„Herr Doktor! Dr. Staudinger", rief sie den Arzt mit lauter Stimme. Dieser hatte das erste Kind untersucht und in ein kleines, bereitgestelltes Bettchen gelegt. Dann kam er zu ihr herüber. Inzwischen zog Schwester Olga den zweiten Jungen heraus.

Beide sahen sich an. Schwester Olga wusste, was nun im Hirn von Dr. Staudinger vor sich ging. „Das ist die Chance", sagte er mit ernstem Gesicht zu Olga, die ganz rot wurde. Dr. Staudinger nahm ihr das Kind ab. „Kümmern Sie sich um die Patientin und legen Sie ihr den ersten Säugling ins Bett. Wir müssen sowieso

nachher das Knie operieren", gab er Schwester Olga die Anweisung. Die nickte nur stumm, und zwei Tränen kollerten ihr die Wangen herunter.

Dr. Staudinger reinigte den Kleinen, den er bei sich hatte und saugte auch ihm die Lungen aus. Er schrie etwas zaghafter als der Zwillingsbruder. Aber sie glichen sich wie ein Ei dem anderen, wie eine Kopie dem Original. Nachdem er die Untersuchung abgeschlossen hatte, nahm er sein Handy und wählte.

„Ja, hallo", meldete er sich. „Es ist soweit, wir haben es", hörte man ihn sagen. „Ist gut, in einer Viertelstunde." Dann legte er auf und zog dem Kleinen das Babyzeug vom Krankenhaus über. Der kleine Mann nuckelte an seinen Fingern und schrie zwischendurch empört auf, weil er seine Hungerbedürfnisse nicht stillen konnte.

Ein paar Minuten später klopfte jemand an die Tür. Dr. Staudinger öffnete sie und gab einem Mann in Chauffeuruniform Einlass.

„Wo ist es?" fragte der Mann ohne jede Regung im Gesicht, als er den Raum betrat. Dr. Staudinger führte ihn zu dem kleinen Bettchen. Das Baby war inzwischen ruhig geworden und nuckelte noch immer an seinen Fingern.

„Ist es gesund?" fragte der Fremde. Dr. Staudinger nickte. „Es ist alles in Ordnung. Ich habe die erforderlichen Untersuchungen vorgenommen. Sie können es mitnehmen."

Der Fremde nickte zufrieden. Er öffnete eine große Tasche und entnahm ihr einen Umschlag, den er dem Arzt übergab. Dann legte Dr. Staudinger vorsichtig den Säugling auf eine Decke in der Tasche. Mit einer zweiten Decke wurde er zugedeckt, und der Fremde zog den Reißverschluss zu, den er wenige Zentimeter offen ließ. Dann wandte er sich zur Tür und verließ das Untersuchungszimmer.

Zehn Jahre später

II

Die alten, ehrwürdigen Ulmen schaukelten bedächtig ihre dichten Kronen, und die Blätter zitterten leise im Wind. Es war ein zarter Frühlingswind, der an diesem Morgen durch die Bäume wehte und die Gesichter der Menschen erfrischte. Die rissigen Ulmen rauschten schon über achtzig Jahre mit ihren gewaltigen Blätterkronen auf dem Schulgelände des Jungengymnasiums in Ebershausen, als raunten sie sich gegenseitig ihre Erlebnisse zu. Die ersten Schüler hatten sie damals mit Begeisterung unter Anleitung des jungen Biologielehrers, Wilhelm Böck, gepflanzt.

Auf wie viele Schüler und Lehrer blickten die alten Bäume wie Gouvernanten während all der Jahre nicht herunter? Sie kamen als kleine springlebendige Jungs und verließen die Schule Jahre später als junge Männer, um sich mit Bravour und Eifer ins junge Leben zu stürzen. Auch so manch ein Junglehrer hatte seine berufliche Karriere hier begonnen, war geblieben und wurde später bei einem der Schulfeste in die Pensionierung entlassen.

Das hohe Schulgebäude mit der anliegenden Hausmeisterwohnung erstrahlte seit einigen Wochen im neuen Glanz. Der Stadtrat hatte endlich, nach jahrelangem Ringen mit den Parteien und zuständigen Gremien, die Mittel zur Generalrenovierung bewilligt. Nur dem Eingreifen der Bevölkerung mit ihren Demonstrationen und der Medien, die sich in verschiedenen Artikeln und Leserbriefen Luft über den untragbaren Zustand der Schule machten, war es zu verdanken, dass eine Einigung erzielt wurde.

Nun war die Schule wieder ein Schmuckstück geworden, und die Lehrer, insbesondere Hausmeister Liebermann, hatten ihre große Mühe und Not, die Schüler von ihren kleinen Kritzeleien abzuhalten, die sie vorher an die Wände, besonders in der Toilette, gemalt oder eingeritzt hatten. Nun, da sich alles im frischen, hellgelben Farbton präsentierte, war man bestrebt, diesen Zustand so lange wie möglich zu erhalten.

Vom nahen Sportplatz ertönten anfeuernde Rufe herüber. Die Schüler der Klasse 5c eiferten im Volleyballspiel gegen die Klasse 5a, die ihre stärksten Spieler einsetzten, um unbedingt zu gewinnen. Denn es ging um die Teilnahme an den Schülermeisterschaften, die Ebershausen alle zwei Jahre mit der britischen Partnerstadt Coventry mal in England und mal in Ebershausen veranstaltete. So versuchten die Schüler und ihre Trainer, alles auf eine Karte zu setzen, um die Fahrkarte zu den Spielen zu gewinnen.

Laut dröhnte der Pfiff des Schiedsrichters in den Ohren der Jungen, die mit hochrotem Kopf hinter dem Ball her rasten. Jochen Stresemann war gerade bei einem Foul erwischt worden. Ohne sich um den Pfiff zu kümmern, jagte Jochen mit dem Ball an Ralf Bölter vorbei, den er heftig anrempelte, sodass dieser zu Boden stürzte. Er schrie laut vor Schmerzen auf, und sein Knie, das hart auf den Boden aufgeschlagen war, fing sogleich an zu bluten. Sofort bildeten die Jungen eine Traube um den Verletzten, dem vor Schmerzen die Tränen kamen, und der laut jammerte.

„Aua, Aua, das tut weh", schrie er und biss sich auf die Lippen. Herr Köppers, der Klassenlehrer bei der 5a war, versuchte mit lauten Worten, die Traube der Kinder auseinander zu treiben, damit die beiden Sanitäter, die während des Spiels an der Seite standen, zu dem Verletzten einen freien Zugang hatten und ihn versorgen konnten.

„Weg, nun macht mal Platz da, lasst die Sanitäter durch", rief er mit seiner kräftigen Bassstimme gegen die durcheinander brüllenden Jungen an. Bernd Falkenberg, der Mannschaftskapitän der Gegnerklasse, ging auf Jochen zu und packte ihn in Brusthöhe an seinem T-Shirt und schob ihn vor sich her.

„Eh, Stresemann, Alter, wenn du noch mal so 'ne Sauerei machst, dann hagelt's Keile, ist dir das klar?" Jochen, der als der Größte in seiner Klasse keine Angst vor irgendjemand besaß, bekam ein rotes Gesicht vor Zorn. Er griff die Hand von Bernd, die sich an seinem T-Shirt festgekrallt hatte, und drehte sie seitwärts, um sie von sich zu lösen.

„Sag' mal, spinnst du, Falkenberg? Wenn du nicht gleich los lässt, dann kriegst du eins an's Maul, verstanden?" Dabei landete er mit seiner Linken einen kurzen Haken gegen Bernds rechte Seite. Dabei traf er die untere Rippe.

Bernd spürte, wie ihm die Luft wegblieb und schlug mit der Rechten auf Jochens Nase. Sofort schoss ein Blutstrahl heraus, der sich auf Bernds Arm und sein T-Shirt ergoss. Jochen spürte den heftigen Schmerz in seinem Gesicht und wollte sich gerade revanchieren, als zwei Lehrer die beiden Jungen hinten am Kragen packten und sie auseinanderzogen.

"Sagt mal, seid ihr nicht gescheit?" brüllte Dr. Stegmayer die Streithähne an. Der andere war Klaas Miltenberg, der Englischlehrer der 3. Klasse, der gerade vorbeigekommen war.

„Ihr habt sie wohl nicht alle?" fuhr Dr. Stegmayer fort. Dabei war er sichtlich erregt, denn er hasste nichts mehr, als wenn sich die Menschen stritten und sogar noch schlugen. "Seid ihr zwei Neandertaler, die in diese Zeit gerutscht sind, oder seid ihr vernünftige Jungs, die einmal nützliche Mitglieder in unserer Gesellschaft werden wollen?" Bernd und Jochen blickten den Konrektor betroffen an, dann schauten sie sich ins Gesicht. Ihr feindlicher Ausdruck wich plötzlich einem schüchternen Grinsen, und sie gaben sich die Hand. Jochen, dem das Blut noch aus der Nase über das T-Shirt tropfte, hob nun die Nase hoch, und einer der Sanitäter stand plötzlich neben ihm und legte Verbandsmull auf die schmerzende Nase, die immer deutlicher anschwoll.

Die Sportstunde wurde vorzeitig abgebrochen, und die Schüler liefen in die Turnhalle, um unter die Dusche

zu gehen. Der verletzte Ralf war von einem Krankenwagen abtransportiert worden. Die Jungen waren nun fast alle schlecht gelaunt. Jetzt war sicher ihre Reise nach England gefährdet, und sie konnten das Treffen mit den englischen Jungen abhaken.

Jochen, dem die Nase noch tüchtig schmerzte, war nicht unter die Dusche gegangen. Es wurmte ihn, dass die anderen Schüler nun ihm die Schuld in die Schuhe schoben, dass die Teilnahme an der Englandfahrt verpatzt war. Je mehr er darüber nachdachte, desto wütender wurde er wieder. Da er immer bestrebt war, in seiner Klasse und der Parallelklasse eine führende Rolle unter den Schülern zu spielen, verletzte ihn diese Situation umso mehr. Denn er hatte es in kurzer Zeit geschafft, ein paar Schüler von ihm abhängig zu machen, die nun mit ihm eine Clique bildeten und die anderen, wenn es Jochen, der Boss, bestimmte, terrorisierten. Vor allen Dingen hatte Jochen seine Leute, die für ihn auch Schularbeiten und Referate schrieben. Wehe, sie machten es nicht. Und da ein paar der intelligenten Jungen sehr schmächtig waren, fürchteten sie sich, von Jochens Clique eine Abreibung zu kassieren. So fügten sie sich lieber in ihr unvermeidliches Schicksal und schrieben sich die Finger für einen Menschen wund, den sie nicht ausstehen konnten.

So erging es auch Ulli Krause, der gerade mit feuchten Haaren und einem Handtuch bekleidet, das er um seine schmalen Hüften geschlungen hatte, aus der Dusche kam. Ulli war auch stinksauer auf Jochen, weil er die Klassentour vermasselt hatte. Am liebsten hätte er ihm die Englischarbeit nicht geschrieben, die morgen abzugeben war.

Aber Ulli dachte an die letzte Keile, die er vor einem halben Jahr erhielt, weil er Jochen die Aufgaben einer Mathematikarbeit nicht zugesteckt hatte. Denn Dr. Stegmayer war sehr streng und seine Augen wachten über die Schüler, wenn sie bei einer Klassenarbeit schwitzten und die Nase in die Bücher steckten. Wehe, er erwischte einen beim Schummeln. Dann war eine dicke Sechs fällig, und die wollte eigentlich keiner riskieren.

So schlurfte Ulli auf seinen Latschen an Jochen vorbei und würdigte ihn keines Blickes. Dieser wollte das nicht so gelten lassen und blökte ihn von der Seite an: „Eh, Krause, wann krieg' ich die Englischarbeit? Du weißt ja, morgen ist Abgabe."

Ulli antwortete nicht, da er damit beschäftigt war, sein Haar abzutrocknen und nicht verstand, was Jochen gerade sagte.

Jochen griff nach einem anderen Latschen, der in seiner Nähe war und warf ihn auf Ulli. Der Latschen klatschte auf seinen Rücken, und Ulli sprang erschrocken zur Seite und brüllte auf: „Aua, bist du bescheuert Stresemann, was soll der Blödsinn?"

„Ich hab' dich was gefragt! Was macht die Englischarbeit?"

„Was soll sie machen, meine ist o.k.!" antwortete Ulli trotzig, denn nun wollte er nicht klein beigeben. Wo Jochen doch allen Grund dazu hatte, nicht so eine große Klappe zu haben. „Du kannst dir deine Englischarbeit vom Direx schreiben lassen, von mir bekommst du sie nicht", war die nächste Antwort aus Ullis Mund. Dabei blitzte er Jochen noch mit einem bösen Blick an, der nun seine Entschlossenheit sah.

Einen Augenblick war er verdutzt, denn damit hatte er nicht gerechnet. Aber Jochen gab nicht auf. Denn schließlich war er der Boss in der Klasse, und niemand sollte sich unterstehen, seinen Anweisungen nicht zu folgen. Der kleine Floh Ulli Krause schon gar nicht.

„Sag' mal, hast du 'ne Horde Mongolen um dich stehen, die dir helfen; oder hast du den Verstand verloren?" maulte er Ulli an.

Dieser zog sich schweigend an und schielte nun doch ein wenig vorsichtig zu Jochen hin.

Jochen stand auf und ging zu Ulli herüber. Im selben Augenblick kamen noch weitere Jungen aus der Dusche. Zwei Anhänger von Jochen und solche, die Jochen gerne die Pest an den Hals gewünscht und alles mitgemacht hätten, was ihm eine Niederlage bereitete.

So beugte sich Jochen vor und blickte Ulli tief in die Augen. „Pass auf, wenn du die Englischarbeit nicht bis morgen Nachmittag bei mir abgeliefert hast, dann bist du nach der Schule dran. Du kannst dir schon mal den Ast aussuchen, an dem ich dich aufhängen werde." Um seine fiese Drohung zu bekräftigen, gab er Ulli noch einen Stoß, der ihn fast auf Benjamin geworfen hätte. Dieser fing Ulli auf, und so fand er wieder Halt. Jochen verließ wutschnaubend den Ankleideraum und begab sich ins Klassenzimmer.

Abends stocherte Ulli lustlos in seinem Essen herum. Sein Blick war starr auf den Tisch gerichtet. Doch in seinem Kopf jagten die Gedanken hin und her.

„Wenn ich morgen die Englischarbeit nicht fertig habe, dann macht er mich platt". Langsam kroch Angst, ausgehend von seiner Magengegend, in ihm hoch und verteilte sich in seinem ganzen Körper. Doch dann gingen seine Gedanken wieder zu dem Vorfall von heute Vormittag, und die Wut und der Ärger darüber, dass die Reise nach England vermasselt war, vertrieben die Angst und machten sich in ihm breit. „Der Jochen spinnt, wenn er denkt, dass ich zu Kreuze krieche. Nein, ich nicht. Auch, wenn ich noch klein bin."

Er soll seinen Triumph nicht haben. Ulli überlegte, dass er seine beiden Freunde, Michael und Joachim, informieren und bitten würde, ihn morgen auf dem Heimweg zu begleiten. Aber, wenn ich ihnen gleich sage, wer da auf mich wartet, dann gehen die sowieso nicht mit. Also, doch die Englischarbeit für den Blödmann machen. Sofort meldete die andere Stimme sich wieder. „Sag' mal, was bist du eigentlich für ein Waschlappen. Irgendwann muss man doch mal die Macht dieses Jungen brechen. Der Kerl beherrscht nachher die ganze Klasse." Aber warum sollte er, Ulli, es unbedingt tun? Er war mit der Kleinste in der Klasse, auch wenn er in den Leistungen mit an der Spitze stand.

Ullis Mutter, die ihren Sohn schon eine ganze Weile von der Seite beobachtet hatte, wagte einen Vorstoß. „Du Ulli, was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?"

Dieser hörte die Stimme seiner Mutter von weiter Ferne und reagierte nicht darauf.

„Hallo Ulli, träumst du? Ich habe mit dir geredet!"

„Ja, Mama, was ist?" kam es kläglich aus seinem Mund heraus. Dabei sah er seine Mutter nicht einmal an.

„Geht es dir nicht gut? Bist du krank?"

„Ich, krank? Nein - das ist schon okay. Ich, ich hab' nur keinen Hunger", antwortete er und traute sich immer noch nicht, seine Mutter anzuschauen. Denn sie hatte etwas, was fast alle Mütter hatten, die ihre Kinder genau kannten. Sie war in der Lage, in seinen Augen zu lesen, was in ihm vorging. Und diese Sache, die musste er alleine erledigen. Ja, sein Entschluss stand fest. „Ich werde es alleine erledigen, auch wenn ich dabei untergehe." Insgeheim hoffte Ulli noch auf ein Wunder. Aber es war keines in Aussicht.

Ulli schob den halbvollen Teller von sich und stand auf, um in sein Zimmer zu gehen. Seine Mutter schaute mit sorgenvoller Miene hinter ihm her. Sie hätte zu gerne gewusst, was in ihm vorging. Doch darin war ihr Sohn eisern. Was er nicht sagen wollte, das kam nicht über seine Lippen. Er erinnerte sie darin an ihren verstorbenen Mann, der genauso war.

Am nächsten Morgen war das Wetter trübe, genauso wie Ullis Stimmung. Ohne ein Wort kleidete er sich an, aß kaum von seinem Frühstücksbrot und machte sich auf den Weg in die Schule. Graue, düstere und regenschwere Wolken schoben sich gegenseitig über den Himmel, und plötzlich fing es an zu regnen.

Ulli nahm den Regen kaum wahr. Seine Gedanken kreisten nur um Jochen und die Englischarbeit. Er vermied es, mit Jochen in Kontakt zu kommen, und schlich sich an ihm vorbei, als dieser mit einigen Jungen aus seiner Clique sprach.

Während der ersten Stunde, in der sie Deutsch bei Frau Girlander hatten, wurde Ulli plötzlich von hinten ein Zettel zugeschoben. Er faltete ihn, ohne aufzufallen, vorsichtig auseinander und las: „Wo ist die Englischarbeit, Krause? Wenn ich sie nächste Stunde nicht bekomme, ist das der letzte Tag in deinem Leben!" Dahinter waren ein paar Totenköpfe gekritzelt. Ulli wusste, woher dieser Zettel kam. Unauffällig drehte sich Ulli um, und sah in Richtung Jochen. Der blickte ihn wütend an und zeigte ihm unter dem Tisch die Faust. Da um Jochen herum ein paar seiner „Söldner" saßen, schielten auch diese zu ihm rüber und drohten Ulli.

Diesem wurde ganz schlecht. „Was mach ich nur?" dachte er. „Ich habe noch die Möglichkeit, in der Pause nach der zweiten Stunde die Arbeit zu schreiben." Fast hätte er sich dazu entschlossen, doch plötzlich sprach Frau Girlander davon, dass ein Mensch Mut beweist, wenn er in eine schwierige, manchmal ausweglose Lage hineingeht, ohne zu wissen, wie sie ausgeht. Sie konnte nicht wissen, wie Ulli diese Aussage ansprach. „Nein, da muss ich durch", sagte die andere Stimme in seinem Innern wieder, und seine alte Entschlusskraft war fast wieder vollständig zurückgekehrt.

Nach der zweiten Deutschstunde war Pause. Ulli schlenderte mit Michael und Joachim zur Kantine herüber, um sich eine Tüte Kakao zu kaufen. „Sagt mal, habt ihr nach der Schule Zeit, mich zu begleiten?" versuchte Ulli seine Freunde zu ködern.

„Wieso, hast du was vor? Willst du uns einen ausgeben?" grinste Michael und gab Ulli einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.

„Nein, ich will's euch sagen. Jochen wartet auf mich. Ich habe seine Englischarbeit nicht geschrieben."

Da war's raus. Die beiden anderen starrten ihn mit offenen Mund an. „Was, du hast dem Stresemann die Englischarbeit nicht geschrieben?" rief Michael halblaut. Und Joachim wollte wissen: „Warum hast du das getan?"

„Weil ich es leid bin, dass dieser Großkotz die ganze Klasse tyrannisiert. Er hat uns gestern die Fahrt nach England vermasselt. Und ich weiß, dass wir uns alle darauf so gefreut haben."

Michael und Joachim nickten beifällig.

Plötzlich sagte Michael: „Du Ulli, mir fällt ein, dass ich mich noch mit meiner Schwester treffe, die mir noch 'ne Hose kaufen will. Ich kann dich gar nicht begleiten."

Ulli nickte schicksalsergeben und blickte Joachim hilfesuchend an. Dieser nickte und antwortete: „Ich komme mit!"

So war es doch ein kleiner Trost, und Ulli ging nicht mehr so einsam seinem Todesurteil entgegen, wie erdachte. Da schellte die Pausenklingel, und sie mussten in die Klasse zurück.

Herr Köppers, der als Klassenlehrer auch das Fach Englisch in der Klasse 5a unterrichtete, trat gutgelaunt in den Klassenraum. Heute war die Englischhausarbeit fällig, die er der Klasse vor fünf Tagen aufgegeben hatte. Sie war für seine Begriffe ziemlich schwer gewesen, aber er wollte die Schüler testen und ein wenig die Spreu vom Weizen trennen. Denn spätestens am Ende der sechsten Klasse müssten die Schüler wieder an ihre alten Schulen zurückkehren, die dem Niveau des Gymnasiums nicht gewachsen wären und das Lernpensum nicht erreichen würden. Herr Köppers kannte seine Pappenheimer und wusste genau, wer von den Schülern in den Hauptfächern, und dazu gehörte nun einmal auch Englisch, gut mitkam und wer sich einen faulen Lenz machte. So gehörte Jochen Stresemann unter anderem zu den Schülern, die Köppers besonders auf dem Kieker hatte. Denn ihm war da letztens etwas zu Ohren gekommen, das ihn als Pädagoge mächtig erschüttert hatte. Ihm fehlten jedoch die Beweise, um in konkrete Handlungen zu treten.

Zunächst war es ihm eine innere Genugtuung, die Arbeit von den Schülern einzusammeln und später zu korrigieren.

Die Schüler saßen nach der Begrüßung ihres Klassenlehrers wie die Ölgötzen still auf ihrem Platz. Alle waren sie gespannt, was nun folgen würde. Besonders zwei waren zum Bersten mit Spannung angefüllt. Der eine, weil nun die Stunde der Wahrheit kommen würde und er hinterher zu seiner eigenen Hinrichtung gehen würde. Der andere, der eine große Katastrophe auf sich zukommen sah, der er beim besten Willen nicht ausweichen konnte. Dafür tobten in seiner Seele die größten Rachegefühle, die sich nach der Schule Luft machen sollten. Ulli Krause und Jochen Stresemann.

„Sooo!" begann Herr Köppers gedehnt und schaute die Klasse an wie eine Kobra, die sich gerade ihr Beutestück aussucht. "Die Englischhausarbeiten waren heute fällig. Und ich gehe davon aus, dass ein jeder von euch sie auch mithat." Mit diesen Worten stand er bedächtig auf und ging nach links zum ersten Tisch. Die Schüler legten die Arbeiten auf den Tisch oder kramten in den hinteren Bänken danach, um sie Herrn Köppers auszuhändigen.

Langsam näherte sich der Lehrer dem Tisch, an dem Jochen Stresemann saß. Diesem wurde es ganz heiß in seinem Innern, und er hätte sich am liebsten ein großes Loch gewünscht, in das er hätte versinken können. Die Katastrophe war unausweichlich. Jochen blickte in das Gesicht von Herrn Köppers. Dieser streckte seine Hand fordernd nach vorne, um die Englischarbeit in Empfang zu nehmen. Jochen schaute ihn mit den Augen eines Raubtieres an, das den Jägern in die Falle gegangen war und nun auf den Fangschuss wartete.

Jochen Stresemann ergab sich in sein Schicksal. Mit gerunzelter Stirn schüttelte er langsam den Kopf. "Ich weiß nicht, wo sie ist. Heute Morgen hatte ich sie noch in die Schultasche gelegt. Jemand muss sie mir gestohlen haben."

Es war mucksmäuschenstill in der Klasse. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Entsetzte Gesichter schauten abwechselnd auf den Klassenlehrer und wechselten zu Jochen herüber. Jeder ahnte, was jetzt kommen würde.

Herr Köppers machte zunächst ein skeptisches Gesicht. Er glaubte zu träumen und traute seinen Ohren nicht, was er da gehört hatte. „Könntest du das noch einmal wiederholen?" meinte er in seiner zynischen sprachlichen Dehnung zu dem Schüler, der ihm so wundervoll ins Netz gegangen war. Ein Volltreffer! Ein triumphales Ereignis größten Ranges zeichnete sich hier ab.

Jochens Stimme klang kläglich, als er halblaut seinen Satz wiederholte: „Sie befand sich heute Morgen noch in meiner Tasche. Jemand muss mir die Englischarbeit geklaut haben."

Niemand wagte zu lachen, obwohl fast alle in der Klasse wussten, dass Ulli dem Jochen die Englischarbeit schreiben musste. Und der größte Teil der Schüler gönnte es Jochen, das er nun in der tiefschwarzen Tinte saß und eine Sechs kassierte.

„Nun gut!" Herr Köppers spitzte die Lippen. „Da du die Arbeit nicht mithast, gebe ich dir eine runde sechs. Außerdem wirst du morgen nach Schulschluss hier nachsitzen und die Arbeit nacharbeiten. Ist das klar?"

Jochen nickte wortlos. Er hatte einen trockenen Hals und schluckte schwer. Ulli dachte nur: „Warum muss der erst morgen nachsitzen und nicht heute?" Jetzt war die Sache nicht mehr zu retten. Heute Abend würde es wohl keinen Ulli Krause mehr geben, und seine Mutter hätte den nächsten Todesfall in der Familie zu beklagen. Auch Ulli schluckte schwer, und Tränen schossen ihm in die Augen.

Die Pausenklingel gellte schrill durch das Schulgebäude und kündete das Ende der Schulzeit an. Ulli packte seine Bücher und das Etui ein. Joachim, der zugesichert hatte, Ulli zu begleiten, schlurfte von seinem Platz herüber. Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Nach dem Vorfall in der dritten Stunde wurde ihm mehr und mehr bewusst, auf was er sich da eingelassen hatte. Auf der anderen Seite wollte er Ulli nicht im Stich lassen, denn dieser half auch ihm sehr oft in einigen Fächern. Und ohne Ulli stand auch Joachim nicht da, wo er zurzeit zensurenmäßig stehen konnte. Alles das wägte Joachim nun ab und entschloss sich, bei der erstmöglichen Gefahr die Biege zu machen. Irgendeine Ausrede würde ihm dann später schon einfallen.

Als sie die Eingangstür öffneten und die Treppe nach unten benutzten, war niemand mehr zu sehen. Die Schüler waren bereits fort. Von Jochen und seinen Leuten fehlte jede Spur. Ulli konnte sich ungefähr denken, wo die anderen Jungen jetzt auf sie warten würden. Schweigend gingen sie nebeneinander her und suchten die Straßen mit ihren Blicken ab, um die Gegner zu entdecken.

Sie bogen gerade in eine Nebenstraße ein, um sie in Richtung des kleinen Parks zu überqueren. Joachim entdeckte sie zuerst. „Du Ulli, da hinten sind sie", raunte er dem Kleinen zu. Jetzt sah auch Ulli die vier, die auf der Bank saßen, an der sie vorbei mussten.

Jochen saß als erster. Was musste der für eine Wut im Bauch haben. Joachim tat Ulli leid. Er wollte ihn jetzt doch nicht im Stich lassen. „Nur Mut, vielleicht geht es ja glimpflicher ab, als wir denken", versuchte er ihn aufzumuntern. Ulli seufzte tief. „Vielleicht hast du Recht", meinte er, aber er glaubte nicht daran.

Nun näherten sie sich langsam dem Ort der kommenden Auseinandersetzung. Die vier erhoben sich und standen in abwartender Haltung, die Arme auf der Brust verschränkt. Ulli ging vorneweg und Joachim folgte ihm einen Schritt dahinter. Als sie auf Höhe der Jungen waren, kam Jochen auf die beiden zu. Die anderen folgten in einem kurzen Abstand.

„Da bist du ja, du Würstchen", giftete Jochen Ulli an und machte ein wütendes Gesicht. Ulli blieb stehen. Er hatte fürchterliche Angst und sein Herz klopfte bis zum Hals.

„Hab' ich dir nicht gesagt, dass ich dich fertig mache, wenn du mir nicht die Arbeit gibst?"

Bevor Ulli antworten konnte, meldete sich Joachim zu Wort. „Mensch, sei doch nicht so, der Ulli hat das nicht so gemeint."

„Was willst du eigentlich herumkotzen? Wer hat dich Floh eigentlich gerufen, he?" brauste ihn Jochen an. Joachim schluckte, wurde rot und schwieg.

Dann griff Jochen mit seiner Rechten Ullis Pullover an der Halsgegend und zog ihn zu sich heran. Sein Zorn kannte keine Grenzen. Er ballte die Faust, um Ulli ins Gesicht zu schlagen.

Da fuhr plötzlich ein Junge pfeifend auf einem Fahrrad auf die Gruppe zu. Als er die Jungen bemerkte und mit einem Blick feststellte, was sich da abspielte, bremste er scharf, stieg ab, legte das Fahrrad beiseite und näherte sich langsamen Schrittes.

„Toll", rief er. „Ein starker Junge, der einen Schwachen verprügeln will. Wirklich heldenhaft."

Jochen drehte sich zu ihm um und brüllte: „Eh, was willst du denn Alter? Verpiss dich!"

Die anderen Jungen, die hinter Jochen standen, nahmen eine Drohgebärde ein, um dem Eindringling zu zeigen, dass sie auch noch da waren.

Ulli, der an Jochens Faust hing, sah den Jungen ungläubig an und hoffte nun doch auf sein Wunder. Joachim, der gut zwei Meter in abwartender Haltung gestanden hatte, straffte seinen Körper und zeigte damit, dass er sich wieder mutig eingeben wollte.

„Ich glaub', du machst 'ne schlechte Figur, wenn du dich an dem Kleinen vergreifst, Gaucho," erwiderte der Angesprochene nun ganz ruhig und blickte Jochen scharf in die Augen. Jochen wurde von diesem festen Blick irritiert und zögerte einen Augenblick. Dann ließ er Ulli los und ging dem Anderen entgegen.

„Was willst du, willst du eine vor's Maul haben?" Dann schoss seine Rechte vor, um den Jungen zu treffen. Dieser, wohl einen halben Kopf kleiner als Jochen, drehte sich fix, erfasste die Faust von Jochen. Dann drehte er, eh sich Jochen versah, den Arm nach hinten, fasste Jochen in die Haare und zog sie ruckartig nach hinten. Jochen brüllte vor Schmerz auf. "Lass mich los, du!" war sein ganzer Kommentar. Aber er lag hart im Griff des anderen Jungen, der nicht nachließ. Die drei Kumpel von Jochen wollten ihm zu Hilfe eilen. Da sprang Ulli nach vorne und schubste den ersten gegen die anderen, so dass sie alle durcheinander purzelten und auf den Boden fielen.

„So, und nun schert euch fort, bevor ich eklig werde", rief Ullis Retter den Jungen zu, die sich aufrappelten und davon stoben. Zu Jochen sagte er: „Und dir rate ich, den Jungen in Ruhe zu lassen, sonst kriegst du es mächtig mit mir zu tun, klar?"

Jochen nickte mit einem von Wut und Schmerzen verzerrtem Gesicht. Dann ließ der andere ihn los und Jochen rannte seinen Kumpels nach.

„Nun, das wäre erst einmal geschafft", wandte er sich nun an Ulli. Er gab ihm die Hand, die Ulli mit einem erleichterten Herzen und grinsendem Gesicht ergriff. „Ich bin Raimund Köster", sagte er. Ulli und Joachim sagten ihre Namen und erzählten ihm, wie es zu der Situation gekommen war.

„Das sind ja schöne Manieren in eurer Stadt", antwortete Raimund lachend und berichtete nun, dass er mit seiner Mutter erst vor drei Tagen hierher gezogen war. Dann hob er sein Rad auf, und die drei gingen in Richtung Busbahnhof weiter.

Als Ulli zu Hause die Tür öffnete, schoss es aus ihm heraus. „Du Mama, ab heute glaube ich an Schutzengel." Seine Mutter schaute ihn ungläubig an und musste feststellen, dass ihr Junge ganz anders nach Hause kam, als er morgens weggegangen war. Dann berichtete er ihr, mit leuchtend roten Wangen, was er vor einer halben Stunde erlebt hatte. Frau Krause wünschte sich, diesen Jungen kennenzulernen, da es ihr wichtig war, welchen Umgang ihr Ulli pflegen würde. Es sollte schneller kommen, als sie es je dachte.