Aljona Savchenko - Alexandra Ilina - E-Book

Aljona Savchenko E-Book

Alexandra Ilina

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Beschreibung

15. Februar 2018 – An diesem Abend scheint die Eiskunstlauf-Welt stillzustehen. Aljona Savchenko und ihr Partner Bruno Massot zeigen bei den Olympischen Spielen die perfekte Kür für die Ewigkeit: 159,31 Punkte bedeuten Weltrekord und olympisches Gold. Aljona Savchenko ist am Ziel ihrer sportlichen Wünsche. Aber wer ist diese zierliche Frau, die mit 19 Jahren aus der Ukraine nach Deutschland zog, um hier ihr Glück zu suchen? Die Journalistin Alexandra Ilina zeichnet Aljonas Lebensweg nach vom jungen Mädchen aus einer ukrainischen Kleinstadt, dem das Talent zum Eiskunstlaufen abgesprochen wurde, bis zur umjubelten Olympiasiegerin. Es ist ein Weg voller Widerstände und Auf und Abs, mit vielen Höhen, aber auch Brüchen und Niederlagen. Aus dem kleinen zurückhaltenden Mädchen wurde eine selbstbewusste Frau, die sich mit 34 Jahren endlich ihren Traum vom Olympiagold erfüllte. Dieses Buch ist in enger Zusammenarbeit mit Aljona Savchenko entstanden.

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Alexandra Ilina

AljonaSavchenko

Der lange Weg zumolympischen Gold

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2020 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim

www.arete-verlag.de

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Dies gilt auch und insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Verfilmungen und die Einspeicherung sowie Datenvorhaltung in elektronischen und digitalen Systemen.

Titelfoto: imago/ZUMA Press

Layout und Satz: Composizione Katrin Rampp, Kempten

Umschlaggestaltung: Composizione Katrin Rampp und Liam Cross

Druck und Verarbeitung: Cuno Druck, Calbe

ISBN 978-3-96423-031-7

eISBN 978-3-96423-036-2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Aljona Savchenko

Vorwort Alexandra Ilina

1.Ein Mädchen aus dem Schrank

2.Steve wusste es

3.Was war hier noch zu überlegen?

4.Hallo Chemnitz

5.»Ein Hoffnungsschimmer am deutschen Paarlaufhimmel«

6.An die Weltspitze von jetzt auf gleich?

7.Eroberung des Paradieses? – Nicht heute!

8.Mission Titel

9.Wenn eine Entscheidung zu spät getroffen wird

10.Vom Krankenbett zu den Olympischen Spielen?

11.»Der Traum bleibt noch. Er bleibt«

12.Der rosarote Panther erobert die Welt

13.Am Ende kommt ein Anfang

14.»Wie geht es weiter, Aljona?«

15.Das Desaster von Florida

16.Glitzersteinespiel: »Es wird nichts!«?

17.Oberstdorf: Ein König und ein Prinz für die Eisprinzessin?

18.Attacke! Koste es, was es wolle!

19.Ein Obdachloser oder der wahre König?

20.Wenn auf das Eis Gewitter kommt

21.Höher, schöner, noch riskanter?

22.Wenn das Infinity-Zeichen in den Händen liegt

23.In Glitzer, Strass und Seide gekleidet – das Leben feiern?

24.Im Auge des Wirbelsturmes: La terre vue du ciel

25.Die goldenen Tränen von Aljona Savchenko

Epilog und Danksagung

Vorwort Aljona Savchenko

»Folge Deinen Träumen, sie kennen den Weg.«

Als ich am 15. Februar 2018 Olympiasiegerin wurde, ging mein großer Traum in Erfüllung. Viele Menschen sprachen mich daraufhin an und meinten, meine Lebensgeschichte könne verfilmt werden oder man sollte darüber ein Buch schreiben. Ich wollte immer aufzeichnen, wie steinig mein Weg zum olympischen Gold war. Ich wollte darlegen, was in zahlreichen Interviews verschwiegen blieb. Ich wollte erzählen, was bisher verborgen war. Mit anderen Worten: Ich wollte meine Geschichte mit vielen Menschen teilen und sie damit vielleicht motivieren, ihren Träumen zu folgen. Und ja, es gab viel zu sagen und es gab auf meinem Weg zum Traum viele Steine, die ich wegzuräumen hatte.

Ich weiß, dass die eine oder andere Situation von anderen unterschiedlich wahrgenommen wird, aber ich schilderte Alexandra Ilina alles aus meiner Sicht – so wie es für mich war, wie ich es empfand und wie ich es fühlte (Alex, danke Dir, ich bin sehr glücklich, dass du sofort zugesagt und unglaublich viel Zeit in das Buch investiert hast – das weiß ich sehr zu schätzen!). Ich erinnerte mich bei diesen Gesprächen an zahlreiche Situationen, Dialoge, Gespräche, Wettkämpfe, Trainings und verstehe jetzt, dass jede einzelne Szene, jede Situation ein kleiner Schritt zum großen Ziel war.

Ich bin vielen Menschen, die in diesem Buch erwähnt werden und auch denen, die ich vielleicht vergessen habe, dankbar. Ohne sie wäre ich nicht die Aljona Savchenko geworden, die Ihr kennt. Meine Eltern haben von Anfang an an mich geglaubt und meinen Traum trotz der finanziellen Schwierigkeiten unterstützt. Sie sind meine größten Fans, die mich ständig unterstützten und mich motivierten, selbst dann, wenn ich nicht weiterwusste. Sie bedeuten für mich alles und ich bin ihnen unendlich dankbar für das, was sie für mich getan haben. Sie haben mir das schönste Leben geschenkt und mir meinen Weg aufgezeigt, als sie mir die ersten Schlittschuhe schenkten. Ohne ihre Unterstützung hätte ich mein Ziel nie erreicht. Mama, Papa, ich liebe Euch!

Ich bin allen meinen Paarlauf-Partnern – Stanislav Morozov, Robin Szolkowy und Bruno Massot dankbar. Mit Stas begann ich auf der »großen Bühne« aufzutreten. Mit Robin lief ich mehrere Jahre zusammen und wir wurden fünf Mal Weltmeister, mit Bruno – er hat mein Leben komplett verändert und mit ihm bin ich endlich Olympiasiegerin geworden. Merci Bruno! Ohne Bruno hätte ich meinen Mann Liam nicht kennengelernt – und die Liebe meines Lebens nicht finden können.

Ich bin auch Ingo Steuer dankbar, der aus einem Mädchen aus der Ukraine die »eiserne« Aljona Savchenko schmiedete. Ich bin glücklich, dass Bruno und ich bei Alexander König und Jean-François Ballester trainieren durften. Leider ist Jeff nicht mehr bei uns, aber er bleibt immer in meinem Herzen. In Alex König habe ich einen Mentor gefunden, der uns, Bruno und mich, so warm aufgenommen hat und sich aufopfernd um uns kümmerte. Er hat mir geholfen, endlich den »Schlüssel« zu finden, nach dem ich so lange gesucht habe, um damit die Tür zum Olymp zu öffnen. Ja, ich kann an dieser Stelle nicht alle Menschen, alle meine lieben Fans erwähnen, aber zum Schluss möchte ich auch Folgendes sagen:

Ich danke all denen, die über meine Träume gelacht haben, denn sie haben meine Fantasie inspiriert. Ich danke allen, die mich in ihre Interessen einbinden wollten, denn sie haben mich den Wert der Freiheit gelehrt. Ich danke allen, die mich angelogen haben, denn sie haben mir die Macht der Wahrheit gezeigt. Ich danke all denen, die nicht an mich geglaubt haben, mich abgeschrieben haben, mich verlassen und verraten haben. Denn sie haben meinen Mut geweckt und mir den Raum zum Gestalten gegeben. Sie ließen mich immer wachsam sein. Ich danke all denen, die mich verletzt haben, denn sie haben mich gelehrt, in Schmerzen zu wachsen. Noch wichtiger ist aber für mich hervorzuheben, dass ich mich bei allen bedanke, die mich so lieben, wie ich bin. Sie geben mir die Kraft zu leben und meinen neuen Träumen zu folgen.

Aljona Savchenko, Dezember 2019

Vorwort Alexandra Ilina

Es ist immer schwierig, eine Geschichte von Anfang an zu erzählen und sie anschließend zu einem guten Abschluss zu bringen. Nicht alle Geschichten führen zu einem Happy End oder der Weg dorthin dauert so lange, dass viele es nie erreichen oder auch nicht mehr erreichen wollen, manche geben unterwegs auf oder verwerfen ihre innigsten Träume. Oft gibt es einfach kein Happy End. Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist eine ganz besondere. Eine mit Unendlichkeitszeichen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Angefangen hat die Geschichte mit einem kleinen Mädchen aus dem weit entfernten Obukhov nahe Kiew in der Ukraine, als es begann, von einem Olympiasieg zu träumen und sich jeden Tag auf einen weiten Weg zum Training begab. Fortgesetzt wurde die Geschichte von einer jungen ambitionierten Frau, die ihre Familie verließ und in die Fremde ging, um ihr Glück zu finden und ihren Kindheitstraum zu verwirklichen. Sie wollte in ihrem Leben etwas erreichen. Nach vielen Jahren hat eine selbstbewusste Frau diese Geschichte nicht nur zu Ende gebracht, sondern sie hat »Geschichte geschrieben«. Aus dem Mädchen wurde eine Frau und aus einem »nicht für Eiskunstlauf geeigneten Kind« wurde eine Olympiasiegerin. Es ist die Geschichte von Aljona Savchenko.

Eigentlich braucht man die »Paarlaufgöttin« Aljona Savchenko nicht vorzustellen. Die statistischen Daten sind aber zu trocken, um die Achterbahn ihrer Gefühlswelt und das Leben dieser Frau zu beschreiben.

Mit drei Jahren begann Aljona eiszulaufen, mit 34 ist sie Olympiasiegerin geworden. Sie hat insgesamt an fünf Olympischen Spielen mit drei verschiedenen Partnern teilgenommen. Bei Weltmeisterschaften hat sie sechsmal Gold gewonnen – fünfmal mit Robin Szolkowy und einmal anschließend mit Bruno Massot. Bei den anderen Weltmeisterschaften hat sie drei Silber- und zwei Bronzemedaillen geholt. Bei den Europameisterschaften gab es für Aljona vier Gold- und fünf Silbermedaillen. Nicht zu vergessen ist auch der Titel der Juniorenweltmeisterschaft, den sie noch für die Ukraine mit Stanislav Morozov gewann. Legt man all ihre Medaillen auf eine Waage, würden sie vermutlich mehr wiegen als diese zierliche, nur 153 Zentimeter große »kleine« Frau.

Wenn man alle anderen Wettbewerbe und Grands Prix auflistet, bei denen Aljona mit verschiedenen Partnern auf dem obersten Podest stand, würden sicher einige Seiten beschrieben werden. Jahrelang beherrschte sie die Paarlaufwettbewerbe der Welt, viele Eiskunstläufer beendeten ihre Karriere, begannen selbst als Trainer zu arbeiten, doch Aljona kämpfte weiter. Der Partner, mit dem sie an den ersten Olympischen Spielen teilnahm und mit dem sie Juniorenweltmeisterin wurde – Stanislav Morozov – trainierte längst ihre härtesten Konkurrenten. Nicht nur ältere Eiskunstläufer verschwanden aus der Szene und neue Konkurrenten kamen hinzu, es änderte sich auch das gesamte System »Eiskunstlauf«. Als Aljona Juniorenweltmeisterin wurde und an ihren ersten Olympischen Spielen teilnahm, herrschte noch das alte Bewertungssystem mit der begehrten Note 6,0. Die Regeln wurden geändert, es stiegen immer jüngere Paare in die Weltspitze auf und sie wurden immer stärker. Aljona war stets ein Teil dieser Entwicklung. Sie wartete nicht auf das Glück. Sie schmiedete ihr Glück ständig und beständig selbst. Sie passte sich den neuen Regeln an, wechselte ihre Partner, zog nach Deutschland, löste zahlreiche Probleme mit diversen Verbänden und fand Lösungen, um all das zu finanzieren. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, jemals aufzugeben.

Jeder von uns kennt das Spiel »Mensch ärgere dich nicht«, in dem Püppchen ihren Weg laufen und kurz vor dem Ziel vom Spielfeld geschlagen werden und wieder am Anfang stehen. Man ärgert sich, flucht, schlägt mit der Faust auf den Tisch, fängt trotzdem wieder von vorne an und wirft den Würfel in der Hoffnung auf die »Sechs« und das Glück, dass man wieder starten darf. Allerdings dauert der Weg in diesem Brettspiel höchstens zwanzig bis dreißig Minuten. Nichtsdestotrotz kann man sich an diesem Beispiel genau vorstellen, was es bedeutet, kurz vor dem Ziel wieder an den Startpunkt zurückgeworfen zu werden.

Der Weg von Aljona Savchenko zum ersehnten Olympiasieg dauerte lange, dazwischen lagen zahlreiche Titel, Ups and Downs, Schicksalsschläge, Partnerwechsel – in diesen dreißig Jahren ist aus dem Mädchen eine äußerst selbstbewusste Frau geworden, aber der Traum … der Traum blieb immer derselbe – Olympiasiegerin zu werden. Stattdessen wurde sie mehrfache Weltmeisterin, Europameisterin, gewann zwei Mal Bronze bei den Olympischen Spielen. Das olympische Gold aber fehlte.

Andere Sportler können von so vielen Titeln nur träumen und Millionen Eiskunstlauffans aus der ganzen Welt vergötterten sie, auch ohne dieses Gold, sie nannten sie »eiserne Lady« und hatten riesengroßen Respekt vor dieser enormen Leistung. Andere hingegen beneideten diese »eiserne Lady« und stellten sie als eine gefühllose, von Ehrgeiz zerfressene Sportlerin dar, die nur ihre Ziele egoistisch vor Augen hat und über »Leichen« geht, bloß um diese Ziele zu erreichen.

Aber so einfach ist es nicht und das Bild stimmte auch nicht. Sie ist nicht aus Stahl geschmiedet worden und ihr Herz war und ist nicht aus Eis – zwar lernte sie bereits als Kind ihre Gefühle zu verstecken, doch das heißt noch lange nicht, dass sie keine hat. Aljona, die Eisprinzessin, das goldene Mädchen, die eiserne Lady, die Paarlaufgöttin suchte einzig nach dem Schlüssel zum Olymp. Sie hat alle Laufstile interpretiert, alle Musikrichtungen, scheute vor keiner Darstellung zurück und war immer aufgeschlossen für das Neue. Angels and Demons, Schindlers Liste, Lost in Space, Pina, Out of Africa, Cirque de Soleil, The Mission, When Winter comes, Flamenco Bolero, Korobushka, Send in The Clowns, Once Upon a Time in Mexico, Casablanca, Sabre Dance, Moonlight Sonata, The Pink Panther, The Man in the Iron Mask – sie tauchte in diese Rollen ein und verzückte ihre Fans immer wieder auf der Suche nach einem perfekten Programm, auf der Suche nach sich selbst und nach dem passenden Schlüssel zum Erfolg. Jedes dieser Meisterstücke bleibt in Erinnerung und war ihre Visitenkarte. Bis »La Terre Vue du Ciel« kam. Die Kür, die mit einem Unendlichkeitszeichen beginnt, die nur vier Minuten dauert, eine Kür für die Ewigkeit und das krönende Ergebnis der vielen Opfer in ihrem Sportlerleben.

Ein Mädchen aus dem Schrank

»Aller Anfang ist schwer.«

»Lachen sie etwa über mich?« – immer wieder musste Aljona an das gestrige Training denken. Sie war neu in dieser Trainingsgruppe, viele Kinder waren älter als sie und konnten auch viel mehr. Mit ihren neun Jahren war sie eine der jüngsten in der Gruppe. Aber wieso lachten sie? Vielleicht hatte jemand einen Witz erzählt und das war der Grund dafür gewesen und nicht, dass sie wieder stürzte. Klar, man kann nicht sofort alles können. Um etwas zu können, muss man üben, üben, üben. Das hatte ihr schon ihr Vater beigebracht, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben als dreijähriges Kind auf einem zugefrorenen See gestanden hatte. Und sie übte.

Obwohl sie damals noch sehr klein war, wusste Aljona noch ganz genau, wie ihr Vater ihr zu ihrem dritten Geburtstag die ersten Schlittschuhe geschenkt hatte und sie beide zum zugefrorenen See hinter dem Haus gegangen sind. Zuerst konnte sie nicht begreifen, warum diese weißen Stiefelchen so komisch aussahen, sie zog sie an, sie wackelte und stürzte ständig – aber sie stiefelte weiter über die Eisfläche. Erst später begriff die kleine Aljona, dass sie auf diesem gefrorenen Wasser nicht gehen, sondern gleiten musste – immer nach vorne, etwas zur Seite und immer schneller. Seitdem ist dieses Rauschen der Kufen, damals auf dem gefrorenen See und heute in den besten Eishallen der Welt, für sie zur schönsten Musik geworden, die sie sich unentwegt anhören könnte.

Ein Jahr später, als Aljona vier wurde, bat sie ihren Vater, sie in eine große Eishalle zu bringen – sie wollte es ja »professionell« üben, wie die ganz großen! Aber der Vater sagte, sie solle weiter auf dem See üben und zunächst dort Schlittschuh laufen. Damals konnte die kleine Aljona kaum begreifen, selbst wenn ihre Eltern es ihr erklärt hätten, warum sie sie nicht zu der Eishalle bringen konnten. Zum einen lag die Eishalle weit weg in Kiew, aber die Entfernung war nicht das große Problem. Die Familie konnte es sich schlicht und einfach nicht leisten, so viel Geld für Eiskunstlauf auszugeben. Erst wenn sie sehen würden, dass es ihre Tochter wirklich ernst meint und ihr die Übungen auf dem See nicht mehr reichten, würden sie Aljona nach Kiew bringen. Aber das kleine Mädchen meinte es wirklich ernst und als Aljona fünf wurde, sprach sie ihren Vater wieder an. Nach einigen Monaten hat er seine Tochter dann doch nach Kiew gebracht und in die Listen eingetragen. Endlich durfte sie in einer großen Eishalle trainieren!

Dort hat sie ihre erste Trainerin Inna Anatolievna kennengelernt, die ihr die ersten Grundlagen, die ersten Schritte und Figuren zeigte. Aljona schaute ihr nach und versuchte, jede Bewegung genauso zu wiederholen. Es sah so schön aus! Und jetzt konnte Aljona erkennen, was möglich ist, was sie sich auf dem See nicht zugetraut hatte. Inna lief so schön auf dem Eis und Aljona wollte es genauso machen – und noch besser!

Zunächst musste Aljona ihr Können unter Beweis stellen. Zwar hatte sie viel auf dem See trainiert und konnte schon einiges, doch die junge Trainerin betrachtete das Kind skeptisch und zeigte ihr eine Übung, die Aljona wiederholen sollte. Aljona tat ihr Bestes. Sie übte und übte und übte und wiederholte diese kleine Übung unentwegt. Niemand stoppte sie und niemand korrigierte sie – sie machte es immer weiter.

»Nehmen Sie meine Tochter in Ihre Gruppe auf?«, fragte ihr Vater nach einer Weile die junge Trainerin. Doch diese schien ein bisschen verlegen zu sein. Sie schaute kurz auf Aljona, die immer noch dabei war, die Übung hartnäckig zu wiederholen, und musste ehrlich zugeben, Aljonas Bemühungen nicht verfolgt zu haben. Sie hatte schlicht und einfach vergessen, dass das Kind sozusagen eine »Aufnahmeprüfung« ablegte.

»Wissen Sie was, ich habe zwar Ihre Tochter vergessen, es tut mir unendlich leid, aber sie hat die ganze Stunde geübt! Ich nehme sie! Sie hat einen starken Willen!« Aljona durfte die Übung abschließen und lächelte. Sie hatte es geschafft!

Mit dieser jungen Trainerin durfte Aljona zum ersten Mal ins Trainingslager fahren, sie war erst sechs Jahre alt und war stolz darauf, dass sie ohne Mama und Papa so weit reisen durfte. Sie fühlte sich schon etwas erwachsen! Dabei brachte ihr ihre Trainerin nicht nur bei, wie man Schlittschuh läuft, sondern auch wie man die eigene Wäsche waschen muss. Wenn schon, denn schon! Auch eine Sechsjährige musste sich um die Sauberkeit ihrer Wäsche selbst kümmern können. Diese Trainingslager, bei denen kleine Eiskunstläufer mit den anderen Sportlern trainieren durften, waren für die kleine Aljona ein großes Abenteuer, ein erster Blick in das Leben der Erwachsenen.

Seitdem sind fast vier Jahre vergangen, Aljona war häufig in Trainingslagern, sie übte nicht mehr auf einem See, sondern in Kiew in einer großen Eishalle, in einer Trainingsgruppe. Sie war vom Eislaufen immer noch so begeistert wie am ersten Tag. Diese Geräusche der Kufen, das Gefühl von Freiheit, wenn sie schnell lief, doch sie lief eigentlich nicht, sie schwebte und dachte immer, sie könne jederzeit davon fliegen.

Das Eis faszinierte sie und zog sie wie ein Magnet an. Wenn sie einige Stunden nicht auf dem Eis war, vermisste sie es. Ihre Freundin, das Nachbarmädchen, konnte dies wahrscheinlich nicht verstehen. Sie fragte immer, ob Aljona mit ihr spielen wolle oder spazieren gehe. Aljona hätte es auch gerne getan, soweit sie Zeit gehabt hätte, aber in den meisten Fällen sagte sie ab. »Ich habe Training«, erklärte sie, »sonst würde ich gerne mitkommen!«. Wie konnte Aljona ihr erklären, was für ein tolles Gefühl es ist, wenn man auf dem Eis steht und die ersten Schritte macht, und dann läuft man schneller und noch schneller und irgendwann hebt man ab und springt. Dass es weh tut, wenn man auf das Eis fällt, verschweigt sie natürlich. Aber es war doch auch nicht das Eis Schuld, dass sie Schmerzen und blaue Flecken hatte, sondern sie selbst. Sie musste noch mehr üben.

Heute wird es bestimmt klappen. Aljona lächelte und freute sich schon jetzt auf das Nachmittagstraining. Sie wird viel üben. Deshalb wollte sie heute ein bisschen früher nach Kiew fahren, um eher in der Eishalle zu sein. So hätte sie mehr Zeit, sich warmzulaufen.

Aljona wollte gerade ihre Schlittschuhe in die Tasche packen, als sie den Schlüssel an der Tür hörte. Es konnte nur ihre Mutter sein, die zwischen zwei Schulstunden nach Hause kam. Ihre drei Brüder Russian, Valentin und der jüngste Rostislav, alle nannten ihn nur Rostik, waren noch in der Schule bzw. im Kindergarten.

Eigentlich müsste Aljona für eine Stunde zur Schule gehen und dürfte erst dann zur Bushaltestelle laufen. Ohne lange zu überlegen, klemmte sie die Tasche unter den Arm, rannte zum großen Kleiderschrank und versteckte sich.

»Aljona? Bist du noch da?«, die Stimme ihrer Mutter klang nahe. Sie trat ins Zimmer ein. »Aljona? Schon weg oder wie?«

Aljona hörte die Schritte ihrer Mutter, aber auch das eigene Herzklopfen. Sie saß still und wagte nicht sich zu bewegen, sie wollte nicht zur Schule gehen, nicht weil sie faul war, sondern weil sie mehr Zeit fürs Training gewinnen wollte. Und diese Zeit wollte sie nutzen, um zu üben. Dann hörte sie, wie die Mutter in die Küche ging und Tee aufsetzte. Eigentlich müsste sie in 15 Minuten wieder zur Schule gehen und dann könnte Aljona sich schnell fertig machen und nach Kiew fahren.

Es war dunkel im Schrank. Aber sie hatte keine Angst, schließlich war sie schon ein großes Mädchen und mit neun Jahren durfte sie sogar alleine, ohne Begleitung nach Kiew fahren. Das hatte sie schon ein paarmal gemacht und war unheimlich stolz darauf. Und es war wirklich ein langer Weg! Zunächst musste sie fast zwei Stunden über diverse Landstraßen mit gefühlt hunderten Haltestellen mit einem Bus fahren, der meistens voll war. Es war ein großes Glück, einen freien Platz zu ergattern. Sonst musste sie stehen und warten, bis jemand ausstieg. Dann fuhr sie mit der U-Bahn weiter zur Eishalle.

Früh morgens fuhr sie noch mit ihrem Vater oder ihrer Mutter nach Kiew. Dafür mussten sie um vier Uhr aufstehen. Dass sie so früh allein in der Dunkelheit unterwegs wäre, kam nicht in Frage. Manchmal fragten die Eltern Aljona, ob sie eventuell das morgige Training ausnahmsweise verpassen wolle, damit die ganze Familie an diesem Tag ein bisschen länger schlafen könnte, aber Aljona war nicht zu stoppen. Sie sprang aus dem Bett, wusch sich und zog sich flink an. Und schon musste einer der Eltern mit.

Manchmal brachte der ältere Bruder Russian Aljona nach Kiew. Er war acht Jahre älter als sie und konnte seine kleine Schwester bis zur Eishalle begleiten, falls die Eltern keine Zeit hatten. Aber seit einiger Zeit konnte er dies nicht mehr so oft tun, weil er schwer krank wurde. Aljona musste sogar an einigen Tagen bei den Kollegen ihrer Mutter übernachten, als ihre Mutter bei ihrem Bruder auf der Intensivstation lag und der Vater arbeitete und gleichzeitig auf den kleinen Bruder aufpasste. Sie konnte zunächst nicht verstehen, was mit ihrem starken Bruder los war, und das Wort »Epilepsie« sagte ihr auch nichts. Erst später begriff Aljona, dass es sehr ernst war. Ihre Eltern haben ihr sogar erklärt und gezeigt, was sie zu tun hatte, um ihrem Bruder zu helfen, falls es ihm plötzlich schlecht ging und Aljona mit ihm alleine unterwegs war. Sie sah, wie Russians Krankheit ihre Mutter mitgerissen hatte und wie diese darunter litt, dass sie nichts für ihren Sohn tun konnte. Aber auch in dieser, für die ganze Familie schwierigen Zeit, standen ihr ihre Eltern bei. Sie glaubten weiterhin an sie und es war keine Rede davon, dass Aljona nicht mehr nach Kiew in die Eishalle fahren sollte oder sie jetzt kein Geld mehr dafür hatten. Deshalb konnte Aljona auch nicht anders, sie musste nicht nur 100 Prozent, sondern 200 … nein – 1000 Prozent geben und sich mit ihren Leistungen bei ihren Eltern für diese großartige Unterstützung bedanken. Mehr konnte sie von ihrer Seite leider nicht tun. Die Eisfläche, die Bewegungen, die Geräusche ihrer Kufen faszinierten sie so stark, dass sie kaum an etwas anderes denken konnte als an das. Sie wollte perfekt sein. Sie wollte es schön und gut machen. Und sie wollte ihren Eltern Freude bereiten. Sie würden sich so freuen, wenn ihr alles gelänge und sie vor ihren Augen eine schöne Pirouette dreht. Oder springt.

In ihren Gedanken versunken, versuchte Aljona die Tasche, die sie immer noch in den Armen hielt, leise zur Seite zu bewegen. Oder sollte sie aus dem Schrank klettern und ihrer Mutter Bescheid sagen, dass sie doch da sei? Sie hörte, wie die Mutter das Geschirr in der Küche abräumte. Aljona verstand, dass dieses Versteckspiel ihre Eltern wohl nicht erfreuen würde, genauso wenig wie die Tatsache, dass sie jetzt nicht in der Schule war. Schließlich waren ihre Eltern selbst Lehrer. Ihre Mutter unterrichtete Ukrainisch und Russisch und ihr Vater Sport. Aljona erinnerte sich genau an die Worte ihres Vaters, als er sie vor drei Jahren vor die Wahl stellte.

»Aljona, jetzt muss du deine Wahl treffen – entweder Eiskunstlauf oder Klavier.« Denn Klavierspielen war ihre zweite Leidenschaft. Sie hörte jeden Tag, wie das Nachbarmädchen Klavier spielte, und wollte es auch lernen. Die Klänge waren so wunderschön, dass Aljona sich nicht zurückhalten konnte und dazu tanzen musste. Das wäre doch toll, selbst einmal so spielen zu können!

»Dann wähle ich … Eiskunstlauf«, sagte Aljona damals, ohne lange zu überlegen und schaute ihren Vater bestimmt an. Für sich hatte sie es schnell entschieden. Erstens gehörte die Musik auch zum Eiskunstlaufen … und Eiskunstlaufen kann man ja auch zu Klaviermusik … Hm … Das wäre doch was … und zweitens, sie hatten ja einen Kassettenrekorder und die Klaviermusik konnte sie damit hören. Ach ja, dann geht’s. Keine schwierige Wahl!

»Ja, ich möchte Eiskunstlaufen«, wiederholte Aljona laut und dachte, dass sie irgendwann das Klavierspielen nachholen könnte. Mag sein, wenn sie erwachsen ist.

»Gut, aber dann musst du bei deinem Training wirklich 100 Prozent geben. Und das ist dann deine Arbeit! Verstehst du?«, sagte ihr Vater, ihr tief in die Augen blickend.

»Verstehe ich und das werde ich tun!«, versprach Aljona und lächelte. Und sie wusste damals schon, dass sie ihr Versprechen halten würde. Schon als kleines Kind verstand sie, dass ihre Familie nicht zwei Hobbies für sie finanzieren konnte. Auch wenn sie es gewollt hätten, sie konnten es sich nicht leisten. In der Ukraine war der Lehrerberuf zwar gut angesehen, aber gering bezahlt, deshalb mussten ihre Eltern es sich zwei Mal überlegen, wofür sie wie viel Geld ausgeben konnten. Wenn es nach ihr ginge, würde sie eine Million Prozent geben und noch Zusatzstunden nehmen, um zu üben. Aber die Eishalle war so weit entfernt…

Jetzt saß sie im Schrank und dachte nach. »Ich gebe 100 Prozent dem Eiskunstlauf. Deshalb gehe ich früher zu meinem Training«, wiederholte sie immer wieder in Gedanken ihr Versprechen. Sie hörte, wie das Schloss knackte. Ihre Mutter war wieder in die Schule gegangen.

Aljona saß noch kurz im Schrank, falls die Mutter etwas vergessen hatte, und dann kam sie aus ihrem Versteck. Sie packte schnell ihre Schlittschuhe in die Tasche, nahm ihre Trainingsjacke und rannte zur Bushaltestelle. Gerade rechtzeitig, der Bus fuhr an die Haltestelle heran, sodass sie die letzten Meter noch schneller rennen musste, damit ihr der Bus nicht vor der Nase wegfuhr.

Während der neunzigminütigen Fahrt dachte sie, dass sie heute unbedingt diesen einen Sprung sauber zeigen wollte. Bei anderen Mädchen klappte es schon, nur bei ihr nicht. Und das ärgerte sie. Wieso nicht? Warum? Eigentlich machte sie alles genauso wie die anderen. Anlaufen, drehen, abspringen, landen. Nur, wenn die anderen auf ihren Kufen landeten, landete sie auf der Eisfläche. Sie fühlte keinen körperlichen Schmerz mehr, aber es schmerzte sie innerlich, dass sie es noch nicht schaffte. Aber sie wusste, sie würde es hinbekommen.

Aljona guckte durch das Fenster des Busses, kleine Häuser rauschten vorbei, Wiesen, Wäldchen, jetzt konnte sie einzelne Hochhäuser sehen – in 10 Minuten musste der Bus in Kiew ankommen. Wenn man diese Strecke viermal pro Tag fährt, kennt man alle Häuser und Laternen persönlich. Jetzt musste Aljona noch ein paar Stationen mit der U-Bahn fahren.

»Hallo?« – eine Männerstimme riss sie aus ihren Gedanken, als sie am U-Bahnhof-Eingang stand. Aljona blickte sich um, wollte sie der Mann etwa ansprechen?

»Mädchen? Mit wem bist du hier oder fährst du alleine?«, ein U-Bahn-Schaffner näherte sich ihr.

»Ich?«, Aljona blickte sich um. Was sollte sie sagen? Eigentlich brauchte sie noch kein Ticket, weil sie noch jung war. Sie durfte kostenlos fahren, allerdings nur in Begleitung eines Erwachsenen. Sie aber war alleine.

»Ja, du!«

Der Mann schien riesig zu sein, er stand vor ihr und versperrte ihr den Weg. Konnte sie weglaufen und sich dann in der Menschenmenge verstecken und es nochmals probieren, in die U-Bahn zu kommen, wenn er in eine andere Richtung schaute? Sie musste heute zum Training. Auf jeden Fall. Wieso dürfen Kinder diese zwei Stationen nicht alleine fahren? Sie kannte den Weg genau. Und jetzt sollte sie umkehren? Nur weil dieser blöde Kerl sich an die Vorschriften hielt? Aljona sah ihn erneut kurz an und blickte dann wieder zum Boden. Rennen? Sie wollte gerade loslaufen, als sie eine bekannte Stimme hörte.

»Ach, das Mädchen gehört zu uns! Lassen Sie uns bitte durch«, eine Kollegin ihrer Mutter packte die versteinerte Aljona samt ihrer Tasche am Arm und zog sie durch die Schiebetür. Nach weiteren 20 Minuten war Aljona endlich an der Eishalle angekommen – in ihrem Königreich aus Eis, wo sie ihre jetzige Trainerin Galina Kuhar in Empfang nahm. Aljonas erste Trainerin war schwanger geworden und konnte Aljona nicht mehr trainieren. Galina glaubte an Aljona und nahm das Mädchen ab und zu mit zu sich nach Hause, damit Aljona früh morgens ein bisschen länger schlafen konnte und nicht zum frühesten Bus in Obukhov laufen musste.

Eine andere Trainerin hingegen mochte Aljona anscheinend nicht und fand immer etwas, was sie zu kritisieren hatte, obwohl Aljona von Anfang an in der olympischen Fördergruppe trainieren durfte. Erst gestern hatte Aljona das Gespräch zwischen ihr und ihrer Mutter mitgehört. Die Trainerin wiederholte immer wieder, dass Aljona kein Talent habe, dass sie sich nicht weiterentwickele, dass sie eine komische Figur habe, kurz und gut – total ungeeignet sei.

»Verstehen Sie, sie vergeudet nur ihre Zeit. Aber auch unsere. Sie kann nicht springen, sie …«

»Egal, wir möchten bloß, dass unsere Tochter Sport treibt”, antwortete ihre Mutter mit fester Stimme. Vielleicht lächelte sie dazu, aber Aljona konnte es nicht sehen, weil sie hinter einer Wand stand.

»Nein, Sie verstehen nicht …«

»Doch, aber wir haben Zeit und es muss doch nicht alles sofort gelingen«, erwiderte ihre Mutter. »Sie kann ja einfach so laufen, weil es ihr Spaß macht, und dann sehen wir, wie sie sich weiterentwickelt.«

»Und ich werde mich weiterentwickeln!«, versprach Aljona sich selbst und befestigte ihre Schnürsenkel mit Tesafilm. »Ich schaffe es, ich muss!«

Steve wusste es

»Der Schmerz, den du heute fühlst, ist die Kraft, die du morgen spürst.«

Aljona stand neben der Bande und beobachtete andere Paare, die gerade das Eis betreten hatten. Ihre Trainingszeit war leider vorbei, aber sie spürte gar keine Müdigkeit und konnte gleich noch eine Trainingseinheit anhängen, wenn ihre Trainerin nichts dagegen hätte. Noch vor ein paar Jahren galt die »unproportionierte« Aljona Savchenko als ein für den Eiskunstlauf ungeeignetes Mädchen, doch heute mit 15 Jahren war sie für die Ukraine bei der kommenden Juniorenweltmeisterschaft eine Medaillenanwärterin. Aber die Trainingszeiten waren auch für Favoriten streng geregelt und ihr jetziger Partner Stas (Stanislav Morozov) war bereits vor fünf Minuten in der Umkleidekabine verschwunden. Ja, sie ist tatsächlich Paarläuferin geworden!

Als Aljona 11 Jahre war, hatte ein Trainer sie in einem Trainingslager spaßeshalber mit einem Jungen laufen lassen. Aber der Junge wollte von diesem »kleinen« Mädchen nichts wissen, Aljona sei viel zu jung gewesen, um selbst bei den Juniorenweltmeisterschaften zu laufen. Von daher wollte er keine Zeit »mit diesem Kind« verlieren. Ein paar Monate später bildete sie ein Paar mit einem anderen Jungen, Dmitri Boenko, und durfte mit ihm später zu ihrer allerersten Juniorenweltmeisterschaft reisen, bei der sie und Dmitri den 13. Platz belegten. Danach gingen sie aber getrennte Wege. Seitdem lief sie mit Stas und Galina Vladislavovna Kuhar betreute die beiden.

»Willst du ewig hier stehen oder kommst du mit?« Aljona hatte gar nicht bemerkt, wie ihr Partner wieder auftauchte und sich mit seiner Trainingstasche unter dem Arm neben sie stellte.

»Ich gehe auch gleich.« Aljona drehte sich um und lächelte. Aljona hatte inzwischen eine Mietwohnung, die nicht weit von Stas Wohnung war. Von daher kam es ab und zu vor, dass sie zusammen die Eishalle verließen und nach Hause gingen. Aber jetzt wollte Aljona alleine sein, um sich ein bisschen zu sortieren und zu konzentrieren. Immer wieder ging sie die Elemente der neuen Kür im Kopf durch, sodass sie sie auf dem Eis automatisch ausführen konnte. Vor allem wenn die Programme noch nicht eingelaufen und neu choreografiert sind, ist es eine Herausforderung für Eiskunstläufer, die richtige Reihenfolge der Elemente zu verinnerlichen. Erst wenn die Reihenfolge der Elemente »sitzt«, kann man an der Darstellung von Emotionen arbeiten und Kunst und Sport verflechten. In dieser Phase der intensiven Vorbereitung auf die Juniorenweltmeisterschaften im bayerischen Oberstdorf wollte sich Aljona nicht allein auf das Glück verlassen. Sie wollte vielmehr arbeiten, arbeiten, arbeiten – oder sogar schuften, wiederholte sie wie ein Mantra in ihrem Kopf und schliff an jeder Kleinigkeit der Programme, bis sie wirklich perfekt saßen und sie sie automatisch ausführen konnte.

Stas wollte noch etwas sagen, aber stattdessen beobachtete er Aljona eine Weile und schüttelte dann mit dem Kopf: »Wirst du überhaupt irgendwann einmal müde?«

»Vom Eis? Niemals!«, Aljona lachte. »Wenn ich einen Hund hätte, könnte ich jetzt noch paar Runden mit dem joggen gehen. Vielleicht renne ich gleich sogar noch eine Runde.«

»Hund? Das habe ich schon gehört. Dann kauf dir doch einen, meine Güte!« – Stas nahm seine Tasche in die andere Hand und ließ ein kleines Mädchen in die Umkleidekabinen gehen.

»So einfach ist es nicht! Aber geh schon mal, warte nicht auf mich, ich muss mich noch umziehen und brauche noch ein wenig Zeit für mich. Wir sehen uns dann am Abend beim Training.«

In der Umkleidekabine zog Aljona den Reißverschluss ihrer Tasche zu, in der sie ihre schweren Schlittschuhe gepackt hatte und ging langsam Richtung U-Bahn-Station. Leider hatten sie in der Eishalle keine Schließfächer, sodass sie jedes Mal alles mitschleppen musste. Auf das Joggen hat sie verzichtet, sie wollte ihre Kräfte für das Abendtraining schonen. Sie lief die Treppe zur U-Bahn-Station hinunter, wich den eilenden Menschen aus und manövrierte sich ziemlich schnell zum Bahnsteig. Ihr Blick blieb an einer Frau hängen, die neben der Wand stand und die Passanten beobachtete. Zu ihren Füßen lag ein Hund, genauer gesagt eine Hündin, denn neben ihr lagen zwei Welpen. Wie im Rausch näherte sich Aljona den Tieren.

In ihrer Schnauze hielt die Hündin eine rote Rose und es kam Aljona vor, als ob diese Hündin ihr diese Rose anbieten wollte. Aljona kniete vorsichtig vor der Hündin nieder.

»Darf ich, darf ich sie streicheln?«, fragte sie die Frau leise und berührte behutsam die Hündin, ohne wirklich auf die Antwort zu warten.

»Klar! Wir müssen leider ihre Welpen abgeben und suchen jemanden, der Interesse hätte.«

»Verstehe«, antwortete Aljona und berührte vorsichtig auch einen der schwarz-weißen Welpen, der sich zu ihr umdrehte und mit dem Schwanz wedelte. Eigentlich war er schwarz, nur seine Brust und die Pfötchen waren weiß und seine schwarzen Augen glänzten wie zwei kleine goldene Knöpfe im Tunnellicht und musterten das blonde Mädchen ganz genau, so als ob der Winzling sie fragte – na, was bist du denn für eine?

»Du bist so süüüß, wenn ich könnte, würde ich dich sofort mitnehmen!« Aljona spürte, wie der junge Hund seine Nase in ihre Hand stieß und sich plötzlich noch mehr Streicheleinheiten von dem blonden Mädchen holen wollte. »Leider kann ich dich nicht mitnehmen. Aber ich hoffe, du findest eine tolle Familie!« Aljona blickte kurz hoch zu der Frau und ihre Augen glänzten. Die Tränen konnte sie nur mühsam zurückhalten.

»Es ist ein Er, und der andere Welpe ist ein Mädchen!« erklärte ihr die Frau und lächelte, »falls Sie sich dafür interessieren.«

»Ich würde so gerne einen haben – aber es ist zu schwierig«, Aljona seufzte und kraulte dem kleinen Hund zwischen den Ohren. Aljona würde gerne so einen vierbeinigen Freund haben, aber sie konnte ihre Möglichkeiten genau einschätzen. Als Sportlerin war sie ständig unterwegs, selbst jetzt als Juniorin und sie wollte sich ja weiterentwickeln. Klar, für die Zeiten ihrer Abwesenheit könnten sich ihre Eltern um das Tier kümmern, aber sie wollte sie damit nicht noch zusätzlich belasten. Ihre Familie musste jede Grivne zweimal umdrehen und Ausgaben für einen Hund standen nicht in ihrem Plan. Sie lebten schon zu sechst in der Wohnung, Aljona war zwar ständig weg, vor allem wochentags, und für einen Hund trägt man eine große Verantwortung.

An diese Begegnung in der U-Bahn, an die rote Rose und den schwarz-weißen Welpen mit so klugen Augen, dachte Aljona noch nach einer Woche. Sie dachte nicht ständig daran – dafür hatte sie zu viele andere Sachen im Kopf –, aber jedes Mal, wenn sie an dieser Stelle vorbei lief, machte ihr Herz einen Sprung. So genau schwebte ihr dieses Bild vor den Augen, sie wollte die Hunde noch einmal besuchen, aber in den folgenden Tagen waren sie nicht mehr auf dem U-Bahn-Bahnsteig. Sie konnte nur hoffen, dass jemand die Welpen genommen hatte und sich sehr gut um sie kümmern würde.

Auch an diesem Morgen hat sie weder die Frau noch die Hunde in der U-Bahn gesehen, obwohl sie gleich zweimal auf dem Bahnsteig war. Aber sie durfte nicht mehr daran denken, jetzt musste sie sich voll und ganz auf das Training konzentrieren. Denn wenn Aljona Savchenko auf dem Eis stand, waren alle unnötigen Gedanken ausgeblendet, um dann, wenn die Schlittschuhe wieder verpackt waren, sie nachzuholen. Die Zeit auf dem Eis war für Aljona so wertvoll, dass sie keine Sekunde davon für etwas anderes verschwenden wollte.

Selbst an ihrem Geburtstag hatte das Training für sie die höchste Priorität. Und traditionsgemäß galt dieser Tag als der kälteste des Jahres – der 19. Januar –, wenn der Frost gar keinen Halt vor nichts machte. Ja, sie war ein echtes Wintermädchen, das ihren Spaß und ihre Liebe auf und zu dem Eis vor vielen Jahren verinnerlicht hatte.

Ihren 16. Geburtstag wollte sie aber nicht feiern, schließlich war ihre Familie in Obukhov, sie könnten später alle zusammen, vielleicht am Wochenende, wenn sie wieder nach Hause käme, nachfeiern. Aljona lief nach dem Training noch kurz zu einem Lebensmittelgeschäft, um frisches Obst und Gemüse für einen Salat zu kaufen, den sie am Abend zubereiten wollte, und ging dann mit schnellen Schritten nach Hause. Der Frost nahm abends zu. An eine Torte dachte sie nicht. Sie war jetzt geschult, auf ihr Gewicht zu achten. Früher konnte sie es nicht ganz nachvollziehen, warum sie ständig hungern musste, und ärgerte sich immer, wenn sie für jede klitzekleine Gewichtszunahme hart bestraft wurde. Besonders hart war es bei den Trainingslagern, die an verschiedenen Orten stattfanden und bei denen sie und ihre Freundinnen außerhalb des Trainings sich selbst überlassen wurden. Öfter trainierten sie mit Athleten aus anderen Sportarten zusammen und sie konnte nur voller Neid beobachten, wie z. B. die großen und schweren Gewichtheber so viele Süßigkeiten essen durften, wie sie wollten. Für die kleinen Eiskunstläufer war Süßes aber tabu. Die Trainer sammelten die Süßigkeiten von den Tischen ein, sodass ihre Schützlinge gar nicht erst in Versuchung kamen. Und wenn, dann gab es harte Strafen. Dreimal am Tage wurden die Mädchen gewogen. Falls das Gewicht von der »Norm« abwich, mussten sie im Stadion zusätzliche Runden joggen. Aljona hatte ständig Hunger. Viel durfte sie nicht essen und wenn sie Glück hatte, konnte sie mit anderen Freundinnen bei den Mitarbeitern der Kantine nach Brot fragen, falls sie sie am Seitenausgang trafen. Niemand durfte es wissen! Alles, was sie zusätzlich an Essen in ihr Zimmer schmuggelten, versteckten sie unter den Kissen oder sonst wo – in der Hoffnung, dass diese »Schätze« bei der Durchsuchung der Zimmer nicht entdeckt werden würden.

An eine Situation erinnerte sich Aljona auch nach einigen Jahren noch und musste selbst lachen. Sie und ihre Freundinnen hatten irgendwo Walnüsse ergattert und ins Zimmer geschmuggelt. Und klar, sie mussten sie bis zu der nächsten Zimmerdurchsuchung aufessen, aber wie? Aljona wusste nicht, wer die glorreiche Idee hatte, die Walnüsse in die Türleibung zu stecken und die Tür zu schlagen, um sie knacken. Eigentlich war die Idee genial, wenn die Aktion nicht so viel Lärm verursacht hätte!

»Was ist denn hier los?«, eine Trainerin öffnete die Tür und entdeckte die »Nussknackerinnen«. »Nichts«, antwortete Aljona und versuchte, die Wallnussschälen mit ihren Füssen zu verstecken. Ihre besten Freundinnen Tanja und Nastja standen daneben und sagten auch nichts – was konnten sie auch noch sagen? Es war ja klar, was sie hier getrieben hatten. Aber das war ein netter Versuch, doch die Trainerin konnte eins und eins zusammenzählen. Zwei Stunden bzw. 50 Runden durfte Aljona wegen dieser Aktion bei 40 Grad Hitze im Stadion von Feodossien laufen. Nichtsdestotrotz war es eine schöne Zeit mit schönen Erinnerungen.

Mit Tanja und Nastja hatte sich Aljona viele Tricks ausgedacht, um den Trainern auf der Nase herum zu tanzen und die Waage zu überlisten. Besonders begehrenswert waren für sie grüne unreife Äpfel. Sie waren echt goldwert! Wenn die Mädchen zu viel davon aßen, bekamen sie unmittelbar Durchfall. Wenn sie die Aktion zeitlich gut geplant hatten, kamen sie am nächsten Morgen mit einigen Gramm weniger auf die Waage. Wenn die Trainer ihnen allerdings auf die Schliche kamen, dann Halleluja … dann mussten sie büßen: laufen, laufen, laufen, laufen …

Aljona schmunzelte bei diesen Erinnerungen, sie wusste natürlich, wie sehr sie auf ihr Gewicht achten musste, und würde gar nicht auf die Idee kommen, eine Schokolade oder gar ein Eis zu kaufen. Schließlich musste ihr Partner sie leicht heben können. Von daher kam es nicht in Frage, an ihrem Geburtstag ein Stück Torte zu essen. Es wäre verantwortungslos gewesen.

»Was machst du hier?«, abrupt blieb Aljona stehen und trat langsam auf Stas zu. Sie war so in ihre Gedanken und Erinnerungen vertieft, dass sie ihn fast umrannte. Eigentlich wohnte er nicht weit entfernt von ihr und ab und zu trafen sie sich zufällig in einem Lebensmittelgeschäft oder auf der Straße, aber jetzt stand er direkt vor ihrer Haustür und schien auf sie zu warten. Dabei hatten sie sich erst vor zwei Stunden getrennt.

»Ist was passiert?« Aljona wollte sofort wissen, aus welchem Grund Stas nun hier auf sie wartete. Und er musste einen Grund haben, denn sein plötzliches Erscheinen war äußerst merkwürdig.