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In diesem Band 9 der Buchreihe "Personalisierte Krebsvorsorge und Früherkennung" geht es um die gesundheitlichen Folgen des Alkoholkonsums und deren Verhinderung. Hoher Alkoholkonsum ist für 2,2 % aller Krebserkrankungen ursächlich verantwortlich und mäßiger Alkoholgenuss bei ca. 10 % mitbeteiligt. Bei den 25 häufigsten Krebserkrankungen werden die Erkrankungsrisiken aufgezählt und der Einfluss von Alkohol kommentiert. Alkohol selber ist zwar kein mutagen wirkendes Kanzerogen, aber ein starker Krebspromotor, der Krebsgene aktiviert und die Aggressivität von Krebszellen erhöht. Eindeutig karzinogen ist hingegen Acetaldehyd, ein Abbauprodukt von Alkohol. Acetaldehyd ist sehr reaktionsfreudig und geht leicht Verbindungen mit anderen Molekülen ein, so auch mit der DNA. Den Behauptungen, dass Alkohol gesundheitsschädlich sei, stehen Behauptungen anderer Experten entgegen, dass Alkohol die Gesundheit fördere, ja, sich sogar hemmend auf das Krebswachstum auswirke. Immerhin galt Alkohol über viele Jahrhunderte als Heilmittel und wurde bei vielen Krankheiten erfolgreich eingesetzt. Tatsächlich können sich einige Inhaltsstoffe in alkoholischen Getränken auch bei mäßigem Konsum gesundheitsfördernd auswirken. Die Frage, was moderater, mäßiger, riskanter und unmäßiger Konsum ist, spinnt sich wie ein roter Faden durch das Buch. Die meisten Behauptungen krebshemmender Einflüsse werden allerdings als Mythen entlarvt. Aufwendige Recherchen wurden vom Autor zu der Frage durchgeführt, welche Organe besonders alkoholgefährdet sind. Nach wie vor ist nicht gesichert, warum Alkohol das Brustkrebsrisiko stark erhöht, hingegen auf das Nierenkarzinom- und das Prostatakarzinomrisiko – wenn überhaupt – nur einen geringen Einfluss hat. Das Wissen hinsichtlich der Bedeutung eines gesunden Lebensstils für die Entstehung von Krebserkrankungen ist noch rudimentär. Hypothesen überwiegen noch, aber verdichten sich. Der negative Einfluss von hohem Alkoholkonsum ist aber eindeutig und sollte Jedem bewusst sein. Professor Dr. Hermann Delbrück, Arzt für Hämatologie/ Onkologie, hat sich in seinem Berufsleben in namhaften deutschen und französischen Krebsforschungs-Instituten mit der experimentellen Onkologie befasst und war als Hochschullehrer für Innere Medizin und Sozialmedizin an mehreren deutschen und französischen Universitätskliniken tätig.
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Seitenzahl: 431
Veröffentlichungsjahr: 2022
Hermann Delbrück
Alkohol und Gesundheit.
Empfehlungen zur Gesundheit, speziell zur Krebsvorbeugung
© 2022 Prof. Dr. Hermann Delbrück
https://www.krebs-rat-hilfe.de/uber-den-autor
ISBN
Softcover: 978-3-347-60699-9
Hardcover: 978-3-347-60711-8
E-Book: 978-3-347-60713-2
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
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Legende: Linolschnitt von CAGE (Linolschnitt Dr. med. A. Rothkopf): Man sieht Silenos den trunkenen Greis, Halbgott, Erzieher des Dionysos, immer dem Wein zugetan. Dann einen verärgerten Grimassenschneider, der den Kopfstudien des Bildhauers Messerschmitt entlehnt ist. Man sieht Trinkgefäße aller Zeitalter, u. a. eine Sektflöte mit Monogramm Napoleon N, kleine Gläser, Cognacschwenker, einen antiken Weinmischkrug, einen Bierkrug und dazwischen die weißen Mäuse des Alkoholdelirs. Der Eye opener ist dargestellt mit dem altägyptischen Augensymbol, denn auch dort wurde schon Bier gebraut. Unter dem Buchstaben C sitzt ein Vogel im Käfig (cage), daneben eine Waage im Ungleichgewicht.
Alkohol und Gesundheit. Empfehlungen zur Gesundheit, speziell zur Krebsvorbeugung
Inhaltsverzeichnis
Vorworte
Vorwort zur Buchreihe „Personalisierte Krebsvorsorge und Früherkennung“
Vorwort zum Band 9: Alkohol und Gesundheit. Empfehlungen zur Gesundheit, speziell zur Krebsvorbeugung
1 Alkoholkonsum und Gesundheit – ein historischer Überblick
Aussagen im Alten und Neuen Testament zum Alkoholkonsum. Die Einstellung der Kirchen zum Alkohol
Die Einstellung des Islams zum Alkohol
Der Einfluss der Spiritualität
2 Korrekturbedürftige Mythen um den Alkoholkonsum
Der Mythos um Rotwein
Klassifizierung und Kommentierung klinischer Studien
Häufige Fehler und Irrtümer bei der Interpretation von Studien zum Einfluss von Alkohol auf die Krebsentwicklung
3 Statistischer Hintergrund und Epidemiologie
Alkoholkonsum im internationalen Kontext
Mögliche Ursachen für die Abnahme des Alkoholkonsums in Deutschland
4 Herstellung von alkoholhaltigen Getränken
Aufnahme und Abbau von Alkohol
Charakteristika von Rot- und Weißwein sowie Barrique Weinen
Gärung und Ausbau alkoholhaltiger Getränke
„Alkoholarme“ und „alkoholfreie“ Getränke?
5 Der Blutalkoholspiegel
Bestimmung des Blutalkoholspiegels
Der Alkoholgehalt (in Gramm) diverser Getränke pro Glas (Vol.-%)
Lassen sich Auswirkungen von Alkohol auf den Blutalkoholspiegel neutralisieren? Kann man den Abbau von Alkohol beschleunigen?
Gibt es Qualitätskriterien für die Bewertung von Wein?
Offizielle Qualitätskriterien für Weine aus Deutschland
Der Einfluss des Kellermeisters auf die Qualität?
Zur Bedeutung des Kelterns
6 Warum trinkt man heute Alkohol und riskiert davon abhängig zu werden.
Einige Ursachen für (nicht am Genuss orientierten) Alkoholkonsum
Gewohnheit statt Genuss als Ursache der Abhängigkeit
Die Abhängigkeit als Ursache
Mögliche Gründe für hohen (riskanten) Alkoholkonsum
Ab wann liegt hoher (riskanter) Alkoholkonsum vor? Ab wann schweres und gefährliches Trinken (Alkoholmissbrauch)?
Gibt es offizielle Leitlinien als Orientierungs- und Entscheidungshilfen für den Alkoholkonsum?
Mögliche Ursachen für exzessiven Alkoholkonsum (z. B. Binge drinking, Rauschtrinken, Komasaufen)
Der Einfluss der Vererbung. Gibt es Alkohol Gene?
Alkoholkonsum in der Jugend
Der Einfluss des sozialen Status
Der Einfluss des Geschlechts (Gender)
Gender und alkoholbedingte Krebserkrankungen
Der Einfluss der Werbung
7 Alkoholkonsum zum Schutz der Gesundheit?
Alkohol als Heilmittel
Positive Auswirkungen von Alkoholkonsum auf die Gesundheit
Führt moderater Alkoholkonsum zu längerem Leben?
Gibt es vegetarische und vegane Weine?
Schützt Alkohol vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen?
Möglicher Wirkmechanismus von Alkohol auf den Herz-Kreislauf und das Infarktrisiko
Schützt Alkohol vor Krebs?
Unterscheiden sich die Auswirkungen von Rot- und Weißwein auf das Krebsrisiko?
Ist Ökowein schadstoffärmer?
8 Alkoholkonsum, ein Risiko für die Gesundheit?
Gibt es einen Schwellenwert, ab dem Alkoholkonsum ein Gesundheitsrisiko ist?
Das Alter als Einflussfaktor auf Nebenwirkungen von Alkohol
Spezielle gesundheitliche Risiken bei und nach Alkoholkonsum
Mundhöhle und Speiseröhre
Magen
Leber
Gallensteine
Bauchspeicheldrüse
Dünndarm
Dickdarm
Gicht
Blutdruck
Herz
Schlaganfall
Immunabwehr
Lunge
Nervensystem
Gehirn
Haut
Blutbild
Sexualität
Schwangerschaft
Embryonale Entwicklung
Kleinkindliche Entwicklung
Pubertät
Knochenerkrankungen, Knochendichte, Osteoporose
Schlaf
Kognition und Gehirnleistung
Übergewicht
Interaktionen von Alkohol mit der Krebstherapie
Interaktionen von Alkohol mit Diabetes
Einschränkungen der Fahr- und Verkehrstüchtigkeit bei Alkoholkonsum
Ändert sich die Alkoholverträglichkeit mit dem Alter?
9 Auswirkungen von Alkohol auf das Krebsrisiko?
Gibt es einen Schwellenwert von Alkohol für das Krebsrisiko?
Kritische Bewertung von Studien zum Einfluss von Alkohol auf das Krebsrisiko?
10 Hypothesen zur Krebsförderung durch Alkoholkonsum
Direkt mutagen wirkende Faktoren
Zur indirekten Wirkung von Alkohol als Verstärker (Promotor, Krebsaktivator)
Alkohol als Krebspromotor. Hypothesen zur (indirekten) Krebsförderung durch Alkohol
Gibt es einen (krebs)risikolosen Alkoholkonsum?
Wie hoch ist das Krebsrisiko bei mäßigem Alkoholkonsum?
Untersuchungen, die etwas über das Vorliegen einer möglichen Alkoholabhängigkeit aussagen?
Die vier Fragen des CAGE-Tests
11 Möglicher Wirkmechanismus und Einfluss von Alkohol auf das Krebsrisiko
Zur Bedeutung von Acetaldehyd
Sind Bier und Wein ebenso schädlich wie Schnaps?
Stellungnahmen nationaler und internationaler Organisationen zum Krebsrisiko von Alkohol
12 Maßnahmen und Strategien zur Einschränkung des Alkoholkonsums
Verhaltensempfehlungen im Umgang mit Alkohol
Verhältnispräventive Maßnahmen im Umgang mit Alkohol
Verlockungen bei Einladungen und in der Gesellschaft
Verschiedene Vorschläge verhältnispräventiver Maßnahmen zur Senkung des Alkoholkonsums
Stellungnahmen und Empfehlungen verschiedener Gesundheits-Institutionen zum Alkoholkonsum
13 Alkoholkonsum, Missbrauch und Abhängigkeit (Sucht)
Ursachen einer Alkoholabhängigkeit
Formen der Alkoholabhängigkeit
14 Nachweise einer Alkoholabhängigkeit
Laboruntersuchungen zur Feststellung des Alkoholkonsums und des Alkoholspiegels
Charakteristische Laborbestimmungen zum Nachweis von Alkoholkonsum
Symptome einer Alkoholabhängigkeit
Charakteristische Entzugsbeschwerden beim Alkoholentzug
15 Die Entzugsbehandlung (Entgiftung)
Die Entwöhnungsbehandlung (Ambulante oder stationäre Rehabilitation)?
Die ambulante Entwöhnung (Rehabilitation)
Vorteile einer ambulanten Entwöhnungsbehandlung (Rehabilitation)
Stationäre Entwöhnung (Rehabilitation)
Indikationen und Vorteile einer stationären Entwöhnungsbehandlung (Rehabilitation)
16 Organisation der Langzeittherapie
Zugangswege und versicherungsrechtliche Voraussetzungen für eine Alkohol-Entwöhnung (Rehabilitation)
Medikamente zur Behandlung und zur Rückfallprophylaxe (Anti-Craving-Medikamente)
Kann man bei einer vererbbaren Alkoholkrankheit seine „Alkohol Gene“ genchirurgisch entfernen lassen (CRISP)?
17 Abstinenz oder risikoarmes (kontrolliertes oder mäßiges) Trinken
Argumente für eine (totale) Abstinenz bei Abhängigkeit
Argumente für risikoarmes und/oder kontrolliertes Trinken
18 Hilfen für Alkoholkranke
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS)
Suchtberatungsstellen
Hilfen für Angehörige
Mäßigkeitsvereine, Abstinenz- und Selbsthilfeverbände sowie -gruppen
Selbsthilfe Organisationen, die Betroffenen Hilfe bei Alkoholproblemen anbieten . . .
Kreuzbund e. V
Blaues Kreuz in Deutschland e. V.
Blaues Kreuz in der Evangelischen Kirche
Deutscher Guttempler-Orden (IOGT)
Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe e. V.
Anonyme Alkoholiker (AA)
Zwölf-Schritte-Programm der „Anonymen Alkoholiker Bewegung“
19 Öffentliche Maßnahmen zur Vorbeugung und Mäßigung des Alkoholkonsums
Gesetzliche Beschränkungen des Alkoholkonsums
Maßnahmen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS)
Maßnahmen im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens
Die Psychiatrie-Enquete-Kommission
Präventionsprogramme
Das deutsche Präventionsgesetz
Die nationale Präventionskonferenz (NPK)
Alkoholprävention im Kindes- und Jugendalter (das Jugendschutzgesetz)
Der Nationale Krebsplan. Die Nationale Dekade gegen Krebs
Maßnahmen der Deutsche Krebshilfe und des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ)
Beitrag der Industrie zur Alkoholprävention
20 Der Einfluss von Alkohol auf die Entwicklung spezieller Krebserkrankungen
Mundhöhle und Rachen
Kehlkopf
Speiseröhre
Magen
Bauchspeicheldrüse
Leber
Gallenblase
Gallengänge
Dickdarm
Enddarm und Afterkrebs (Rektum- und Analkarzinom)
Schilddrüse
Brust
Eierstöcke
Gebärmutterhals
Gebärmutter
Schamlippen (Vagina und Vulva)
Lunge
Nieren
Harnblase
Prostata
Hoden
Penis
Haut
Leukämien
Lymphome, Myelom (NHL)
Anhang
Glossar
Weiterführende Literatur und Quellen
Informationsmöglichkeiten
Bücher aus der Reihe „Krebsvorbeugung und Krebsvorsorge/ Früherkennung“ von Prof. Dr. med. Hermann Delbrück
Vorworte
Vorwort zur Buchreihe „Personalisierte Krebsvorsorge und Früherkennung“
Jeder zweite Mensch erkrankt im Laufe seines Lebens an Krebs. Jeder Vierte stirbt an dieser Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht beim Krebs daher von einer Epidemie, die ebenso energisch bekämpft werden muss wie die lebensbedrohenden Infektionskrankheiten. Krebs sei das am schnellsten wachsende Gesundheitsproblem. Gelinge es nicht die Entwicklung einzudämmen, so erwarte uns in den nächsten Jahren „ein Tsunami“ an Krebsneuerkrankungen, erklärt sie.
Dabei machen die Einschätzungen der International Agency for Research on Cancer (IARC) und des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg (DKFZ) etwas Mut. Sie meinen, dass wir der Herausforderung nicht völlig machtlos gegenüberstehen. 37,4 % aller Krebserkrankungen in Deutschland seien allein auf einen ungesunden Lebensstil zurückzuführen und somit vermeidbar, sagen sie. Nach aktuellen Berechnungen können sie - Vorbeugung und Früherkennung zusammengenommen - die Krebssterblichkeit um 50 bis 75 Prozent senken (Behrens et al 2018, Baumann 2018).
Bei der Krebsbehandlung gibt es beeindruckende Fortschritte. Krebsmedikamente sind (mit 7 Milliarden Euro und einem durchschnittlichen Kostenanstieg von 8,3 % im Jahr) inzwischen die umsatzstärkste Indikationsgruppe der forschenden Pharmaindustrie. Die Zahl der Produkte in der klinischen Entwicklung ist 2011 von 870 auf 2197 im Jahr 2021 gestiegen und wird noch weiter steigen. Die „Pipeline“ ist voll von vielversprechenden Präparaten (Quelle IQV1a). Deren Wirksamkeit kann man heute - dank dem besseren Verständnis der molekularen Ursachen von Krebserkrankungen und der Kenntnis immunologischer Angriffspunkte und prädiktiver molekularer Biomarker – gut vorhersagen. Die Entdeckung gezielt behandelbarer Treibermutationen hat das therapeutische Vorgehen verbessert. Sie erhöhen die Wirksamkeit von Medikamenten bei gleichzeitig besserer Verträglichkeit. Sie verhindern allerdings nicht die Zunahme der Neuerkrankungen. Letztendlich sind sie nur Teil einer Reparaturmedizin. Nur die Vorbeugung kann Krebsneuerkrankungen verhindern.
Die vorliegende Buchreihe befasst sich nicht mit der Therapie, sondern mit der Vorsorge. Sie legt hierbei den Schwerpunkt auf die Verursachung und Vermeidung (Vorbeugung) von Krebs und kommentiert lediglich die Bedeutung der Krebsfrüherkennung in der Prävention.
Krebsvorsorge wurde in Deutschland bislang vornehmlich mit Krebsfrüherkennung gleichgesetzt. Dem lag die Vorstellung zugrunde, je früher man den Krebs erkenne, desto höher sind die Heilungschancen und umso mehr nimmt die Anzahl der Krebskranken ab. Ein „Dogma“, das der kritischen Kommentierung bedarf. Nicht etwa, weil bei besseren Heilungschancen die Gesamtzahl der lebenden Krebskranken steigt und aktuellen Studien zufolge die Gesamtheit aller etablierten Krebsfrüherkennungsmaßnahmen die Gesamtmortalität in Westeuropa nur um ein bis drei Prozent senken (Stang, A und KH Jockel 2018, Zeissig, S et al (2020). Schwerwiegender ist der Vorwurf zunehmender Krebs Überdiagnosen. Überdiagnosen sind Diagnosen bei Menschen, die nie Symptome oder Schäden erfahren hätten, wenn der Krebs bei ihnen unentdeckt und unbehandelt geblieben wäre (Zeissig et al 2020). Sie stehen im engen Zusammenhang mit dem Fortschritt der Diagnostik. Je höher die Empfindlichkeit eines Diagnostikums, desto größer ist die Gefahr einer Überdiagnose. Hinzu kommt, dass jeder Verdachtsfall diagnostische und/oder therapeutische Maßnahmen nach sich zieht, die (abgesehen von den individuellen Belastungen) für die Betroffenen auch gesundheitsökomisch relevant sind.
Dank der besseren Bildgebung, empfindlicherer Tumormarker, Genanalysen, der Analyse von zirkulierender Tumor-DNA im Blut (liquid biopsy) sowie der DNA-Sequenzierung können wir Krebsgewebe heute zwar wesentlich früher erkennen, doch wissen wir nach wie vor nicht, ob alle vorzeitig entdeckten „Frühkarzinome“ klinisch relevant sind und zu Beschwerden führen, die die Lebenszeit verkürzen und/oder die Lebensqualität beeinflussen. Würde man alle vorzeitig endeckten Krebserkrankungen behandeln, so wären auch zahlreiche „gesunde Menschen“ betroffen. Viele der dank Früherkennung entfernten Tumoren hätten später nie Probleme bereitet. Eine großen australischen Studie geht davon aus, dass etwa 20 % aller bislang gestellten Krebsdiagnosen das Ergebnis von Überdiagnosen sind (Glasziou et al 2019). Kritiker der Krebsvorsorge-Früherkennungs-Untersuchungen behaupten, dass das durch sie verursachte gesundheitliche Risiko wesentlich größer sei als der erhoffte Nutzen.
Einer pauschalen Ablehnung von Früherkennungsmaßnahmen stimmt die Buchreihe nicht zu, warnt allerdings vor systematischen Vorsorge-Untersuchungen bei Gesunden ohne Erkrankungsrisiko. Sie schlägt stattdessen Screening-Untersuchungen bei Gefährdeten (Risikopersonen) vor. Gefährdete können gesund aussehen, sich subjektiv wohl fühlen, aber dennoch ein großes Erkrankungsrisiko haben. Wer ein Erkrankungsrisiko hat und wie groß dieses ist, ist Gegenstand dieser Buchreihe. Die vorliegende Buchreihe empfiehlt einen Paradigmenwechsel hin zu risikoadaptierten Krebs-Früherkennungs-Untersuchungen. Nur im Falle eines Erkrankungsrisikos sollen Vorsorge Untersuchungen durchgeführt werden, die dann aber mit wesentlich empfindlicheren (sensitiveren) und aussagekräftigeren (spezifischeren) Untersuchungsmethoden als bislang vorzunehmen sind.
Die Aufzählung und Kommentierung von Krebs Erkrankungsrisiken, die zur Aktivierung latenter Krebsgene und Krebszellen führen, bilden einen Schwerpunkt der Reihe. Dabei stützt sie sich auf Schätzungen und Untersuchungen nationaler wie internationaler Krebsforschungszentren
Zahlen und Anteile der durch vermeidbare Krebsrisikofaktoren bedingten Krebsfälle in Deutschland 2018. (Aus Behrends, G et al: Krebs durch Übergewicht, geringe körperliche Aktivität und ungesunde Ernährung (Dtsch. Ärztebl 115, 35-36) (2018).
Die Bedeutung und Möglichkeiten der Krebsvorbeugung werden unterschätzt. Es herrscht eine weitgehende Unkenntnis ihrer Effektivität. Tatsächlich sollen laut Forschern des DKFZ in Heidelberg etwa 40 Prozent der Krebserkrankungen in Deutschland auf vermeidbare Life-Style-Risikofaktoren zurückzuführen sein. So ist die Häufigkeitsabnahme des Gebärmutterhalskrebses nicht etwa nur auf die Früherkennung und präventive Entfernung der Krebsvorstufen zurückzuführen, sondern auch eine Folge der besseren Sexualhygiene (und neuerdings vor allem der HPV-Impfung). Gewichtsabnahme und mehr Bewegung, und nicht etwa Vorsorge-Untersuchungen führen bei übergewichtigen Frauen zur Reduzierung von Gebärmutterkrebs. Nicht die Krebsvorsorge-Früherkennung, sondern der geringere Tabakkonsum, die Verteuerung von Zigaretten sowie die Vermeidung der Asbestexposition haben zum Rückgang von Lungenkrebserkrankungen geführt. Dass die Anzahl der Darmkrebs-Neuerkrankungen gesunken ist, verdankt man zwar auch der Früherkennung von Krebsvorstufen und Frühkarzinomen, weit mehr aber ihrer prophylaktischen Entfernung. Der signifikante Rückgang von Magenkarzinomerkrankungen ist eine Folge der besseren Ernährung, der wirksameren Konservierung von Lebensmitteln sowie der Helicobacter Eradikation, nicht aber der Früherkennung. Der Rückgang von Leberkrebserkrankungen ist eine Folge der Hepatitis-Impfung, der Warnung vor zu hohem Alkoholkonsum sowie der besseren Hygiene, nicht der Krebs-Früherkennung.
Die Buchreihe verkennt nicht die Vorteile der Krebsfrüherkennung, plädiert jedoch für ihre Individualisierung. Sie schlägt eine Risikostratifizierung vor, die sich auf anamnestische Angaben bezieht, auf ererbte Risiken, Lifestyle-Verhalten, Umweltfaktoren und die private sowie berufliche Exposition zu krebsverursachenden Schadstoffe. Ziel der Krebsvorsorge sollte die Reduzierung von Risiken, die Abnahme der Erkrankungen, aber auch die Optimierung der Effizienz des Ressourceneinsatzes im Gesundheitssystem sein.
Es wird immer offensichtlicher, dass das Krebsproblem nur dann zu bewältigen ist, wenn die Krebsentwicklung frühzeitig gehemmt wird. Setzt man weiterhin primär auf Erkennung und Therapie und geschieht nicht mehr, so ist das Gesundheitswesen bald überfordert und Krankheiten nehmen zu. Auf lange Sicht ist Prävention die kosteneffizienteste Krebsbekämpfung.
Die vorliegende Reihe verdankt ihre Entstehung der zunehmenden Kritik an der derzeit praktizierten systemischen Krebsvorsorge-Früherkennung (sekundäre Prävention), deren Nutzen in der Gesundheitspolitik, der Bevölkerung, aber auch der Ärzteschaft deutlich überschätzt wird. Sie möchte auf die Fortschritte und das Potential der Vorbeugung (primäre Prävention) hinweisen. Ziel der Buchreihe ist auch, Ärzte stärker zur Gesundheitsberatung zu motivieren.
Prof. Dr. med. H. Delbrück, Wuppertal 2012
Arzt für Innere Medizin, Arzt für Hämatologie und Onkologie, Arzt für physikalische und rehabilitative Medizin, Arzt für Sozialmedizin und Rehabilitationswesen, Diplomé d’université de parasitologie et de santé tropicale (Université d’Aix-Marseille), Assistant étranger des hopitaux de Paris.
Vorwort zum Band 9: Alkohol und Gesundheit. Empfehlungen zur Gesundheit, speziell zur Krebsvorbeugung
Wie auch in den vorherigen Bänden der Reihe geht es auch in diesem Band darum, das Bewusstsein für einen gesunden Lebensstils zu stärken, da dieses ein wichtiger Stimulanz für die Krankheitsvorbeugung ist.
Laut dem World Cancer Report (2014), dem IARCC (International agency for cancer research) (Rumgay (2021) und dem Deutschem Krebsforschungszentrum (Behrens et al 2018) soll Alkohol bei bis zu 4,1 % aller Krebsfälle ursächlich mitbeteiligt sein. Wie bei einer J-Kurve steigt das Krebsrisiko mit der Höhe des Konsums an. Doch nicht nur der Alkohol selber, sondern auch seine Metaboliten und die Begleitumstände sind für die Langzeit Nebenwirkungen wie Krebs verantwortlich. Sie werden in diesem Band deswegen ausführlich kommentiert.
Den Behauptungen, dass Alkohol gesundheitsschädlich sei, stehen Behauptungen anderer Experten entgegen, dass Alkohol auch die Gesundheit fördern könne, ja, sich sogar hemmend auf das Krebswachstum auswirke. Die meisten Behauptungen und Argumente gesundheitsfördernder Einflüsse entlarvt dieser Band allerdins als Mythen, obwohl bestimmte Inhaltsstoffe von alkoholischen Getränken bei ausgeglichenem Lifestyle auch gesundheitsfördernd sind. Mäßiger Alkoholkonsum kann – im Gegensatz zum unmäßigem Alkoholkonsum - ein Marker für einen gesunden Lebensstil sein. Die Frage, was moderat, mäßig, riskant und unmäßig sowie gefährlich ist und ob es einen Schwellenwert gibt, spinnt sich wie ein roter Faden durch das Buch.
Dass unmäßiger Alkoholkonsum ungesund ist, ist eine Binsenweisheit. Sie wird von kaum Jemandem bezweifelt. Aber was mäßiger Alkoholkonsum ist, ab welcher Menge der Konsum riskant oder gar gefährlich ist, weiß kaum jemand zu definieren. Die meisten unterschätzen das Risiko ihres eigenen Konsums. Die Frage, ob und ab wann eine Gesundheitsgefahr vorliegt, wird im Buch ausführlich kommentiert.
Für das vorliegende Buch führte der Autor eine aufwendige Recherche zu der Frage durch, welche Organe besonders alkohol- und krebsgefährdet gefährdet sind und welche Wirkmechanismen hierfür verantwortlich sind. Nach wie vor ist nicht gesichert, warum Alkohol das Brustkrebsrisiko stark erhöht, hingegen auf das Nierenkarzinom- und das Prostatakarzinomrisiko – wenn überhaupt – nur einen geringen Einfluss hat. Der Autor schließt sich der Meinung derjenigen Krebsforscher an, die Alkohol selber gar nicht für genschädigend halten, also Krebs verursachen. Mutagen, also krebsverursachend ist vielmehr Acetaldehyd, ein Abbauprodukt von Alkohol. Alkohol selber ist „lediglich“ ein Krebspromotor, der die Aggressivität von Alkoholgenen und Kanzerogenen fördert und das Wachstum von Krebszellen stimuliert. Vererbbare Faktoren, Alkohol Gene, spielen sicherlich eine Rolle. Doch sie alleine führen noch nicht zu einer Abhängigkeit und zu Krebs. Dafür bedarf es zusätzlicher „Promotoren“.
Deutschland ist ein Hochkonsumland für Alkohol. Die OECD weist auf einen dringenden Handlungsbedarf zur Reduzierung des Alkoholkonsums hin. Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) beklagt die mangelhafte Kenntnis von Alkoholkonsum als Risikofaktor für Krebs. Der Förderung des Wissens um einen gesunden Lebensstil sollte eine höhere Priorität eingeräumt werden, sagen alle bedeutenden Krebsorganisationen. Der Kampf gegen die Alkoholabhängigkeit über alle Bevölkerungsschichten hinweg zählt zu den großen Herausforderungen unserer Zeit, sagen die Ökonomen. Dennoch setzt das öffentliche Gesundheitswesen die Priorität in der Kuration und nicht in der Prävention. Dabei wird es immer offensichtlicher, dass die Probleme chronischer Erkrankungen wie die Alkoholkrankheit nur dann, auch ökonomisch, zu bewältigen sind, wenn die Ursachen verhindert werden. Wenn auch weiterhin die Therapie von chronischen Krankheiten wie Krebs und Alkoholkrankheit im Vordergrund steht und nicht darüber hinaus etwas geschieht, darf man sich nicht wundern, wenn das Gesundheitswesen bald überfordert sein wird, sagen die Mitarbeiter des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) (Steindorf und Herbolsheimer 2021).
Das Wissen hinsichtlich der Bedeutung eines gesunden Lebensstils für die Entstehung von Krebserkrankungen ist noch rudimentär. Hypothesen überwiegen noch, aber verdichten sich. Die grundsätzliche Bedeutung eines gesunden Lebensstils für die Entstehung chronischer Erkrankungen ist eindeutig, die Gefahr einer Alkoholabhängigkeit und die damit verbundenen Gefahren sollten jedem Einzelnen bewusst sein. Zu den Gefahren gehören auch Krebskrankheiten. Hierfür eine größere Sensibilität in der Bevölkerung zu entwickeln ist der Wunsch des Autors.
Mit dem 2015 verabschiedetem Präventionsgesetz hat der Gesetzgeber in Deutschland neue Akzente in der Gesundheitsprävention gesetzt. Es werden neue Wege beschritten. Nicht nur die Folgen, sondern auch die Ursachen der Alkoholkrankheit sollen angegangen werden. Hierzu gehört die Verhinderung der Alkoholkrankheit. Wie die vorherigen Bücher der Reihe will auch dieser Band einen Beitrag dazu leisten, einen Paradigmenwechsel weg von der Verhaltensprävention und hin zur Verhältnisprävention vorzunehmen.
Prof. Dr. med. H. Delbrück
Wuppertal, im Dezember 2022
Danksagungen
Dem Medizinhistoriker und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Herr Dr. med. Alexander Rothkopf, danke ich für seine Anregungen und die Erlaubnis für den Abdruck des von ihm angefertigten „CAGE“ Linolschnitts.
Herrn Dr. med. Jan Tomaschoff, Arzt für Neurologie und Psychiatrie in Düsseldorf, danke ich für die von ihm angefertigten Cartoons.
Meinem Weinhändler, Herrn Andreas Orthmann, danke ich für die stets gute Beratung und großzügige Versorgung mit Rot- und Weißweinen. Möge er mir trotz dieses Buchs auch weiterhin gewogen bleiben!
Herrn Prof. Dr. theol. Martin Karrer von der kirchlichen Hochschule, Herrn Prof. Dr. med. Rasche von den Helioskliniken sowie Herrn Prof. Dr. med. W. Mendling danke ich für die Korrekturen und kritischen Interventionen.
Herrn Alexander Keller und Dr. rer. nat. Enrico Ellinger danke ich für die mühevolle Formatierung des Manuskripts.
Nicht zuletzt danke ich, Herrn Dirk Bittner, für die zahlreichen sprachlichen Verbesserungen des Manuskripts.
Kapitel 1
Alkoholkonsum und Gesundheit – ein historischer Überblick
I Alkoholkonsum zum „Kontakt mit der heiligen Welt“
Seinen geographischen Ursprung hat der Weinbau vermutlich in Vorderasien, in der Gegend des heutigen Georgien, Armenien und Südost-Anatolien. Von dort breitete sich die Weinkultur über den Mittelmeerraum bis nach Zentraleuropa und schließlich in die Neue Welt aus. Wein wurde nachweislich bereits um 4000 v.Ch. von den Ägyptern, Babyloniern und Indern angebaut. Man nutzte ihn demnach als Genussmittel, zur Stärkung, zur Fermentierung und Konservierung von Lebensmitteln, zur Bewusstseinserweiterung, als Heilmittel und zum „Berauschen“ bei rituellen und religiösen Anlässen. Wein wurde als "göttliches Getränk"verehrt. Er spielte eine wichtige Rolle bei den altägyptischen Totenfesten, bei denen „sich die Grenzen vom Diesseits zum Jenseits der Teilnehmer verwischten.“ In der Antike gab es in jeder Hochkultur eine Gottheit, die den Wein und den Weingenuss repräsentierte, etwa in Ägypten Osiris, in Griechenland Dionysos und in Rom Bacchus. Alkohol galt als bewusstseinserweiternd und erkenntnisfördernd. Im Rausch glaubte man, Beziehungen zu den Göttern herstellen zu können. Die Vorstellung, im berauschten Zustand den „Kontakt zur heiligen“ Welt aufnehmen zu können, wurde auch in der Heilkunde genutzt.
II Studien der Schule von Hippokrates zum Alkohol
Hippokrates (400 vor Christus) und seine Schüler unternahmen auf Kos umfassende Studien hinsichtlich der Wirkung des Wein auf den gesunden und kranken Organismus. Wein wurde zur Stärkung, zur Beruhigung und als Schlafmittel, gegen Kopfweh und Depressionen, bei Herz-Kreislaufstörungen, Darmerkrankungen, als Harn treibendes Mittel und zur Wundbehandlung eingesetzt. Hippokrates war der Erste, der die Folgen des Alkohols zu erforschen versuchte und seine Beobachtungen beschrieb. Das alkoholische Delir war für ihn keine „göttliche Krankheit“. So führte er das Delir eines thrakischen Königs eindeutig auf dessen unmäßigen Weingenuss zurück.
Auch die Bierbraukunst hat eine lange Tradition. Bei dem Bier handelte es sich allerdings in der Regel eher um Met, das nur wenige Gemeinsamkeiten mit unserem heutigen Bier hat. Es wurde auf der Basis von vergorenem Honig unter Zutaten verschiedenster Gewürze und Wasser hergestellt und enthielt bis zu 20 Vol.-% Alkohol. Met fand ebenso wie Wein vielseitige Verwendung: als Opfergabe für die Götter, als Grabbeigabe, bei religiösen Festlichkeiten, aber auch als Heilmittel. Griechen und Römer hielten Bier auf Getreidebasis für ein Charakteristikum der Barbaren. Die Gallier stellten mehrere Biersorten aus unterschiedlichem Getreide her (Cervesia) (André 2013).
III Wein zur Pflege der Geselligkeit
In Rom verlor der Wein viel von seiner mystischen Bedeutung. Im Vordergrund stand der Genuss. Betrachtet man die zahlreichen Abbildungen aus der damaligen Zeit, so muss es damals wahre Weinorgien gegeben haben. Wein wurde aber auch therapeutisch genutzt: schwere rote Weine gegen Magen-Darmerkrankungen, gerbstoffreiche Weine bei Blutungen und alte Weine gegen Appetitlosigkeit. Wein diente auch zur Kräftigung, weswegen Schwerarbeiter und Ruderknechte zur Kräftigung Wein erhielten. Wein war nur erwachsenen Männern zugänglich, den Frauen war er verboten (André 1998). Ansonsten zählte Wein zu den Grundnahrungsmitteln und wurde – allerdings verdünnt und mit zahlreichen Zutaten versehen - zu jeder Mahlzeit und zu jeder Zeit getrunken.
IV Met zur Stärkung von Mut und Entscheidungsfreude
Von übermäßigem Alkoholkonsum der „Barbaren“, den Kelten und den Thrakern berichteten römische Schriftsteller. Tacitus beschreibt in der Germania ausschweifende Gelage der germanischen Führungseliten. Es heißt dort, dass bei den Barbaren wichtige Beschlüsse nur im berauschten Zustand gefasst wurden, wobei jeder Beteiligte die gleiche Menge Alkohol erhielt. Es herrschte Trinkzwang, damit niemand Vorteile aus dem Rausch des Anderen ziehen konnte. Getrunken wurde Met. Die Kunst des Weinanbaus erreichte Germanien erst mit der römischen Besatzung. Nach dem Zerfall des Römischen Reiches wurden die Bierzubereitung und der Weinbau vor allem in den Klöstern weiterentwickelt
V Bier und Wein als Universalheilmittel
Im Mittelalter, zurzeit Karl des Großen, verbreitete sich die Überzeugung, statt des häufig verunreinigten Brunnenwassers besser Wein zu trinken. Alkohol erlangte als Arznei eine zentrale Bedeutung. Wegweisende Autoritäten der Medizin (zum Beispiel Arnald von Villanova, 13. Jahrhundert) priesen das „aqua vitae“ als Universalheilmittel (Schott 2001). Die Mystikerin Hildegard von Bingen (1089 bis 1179 n. Chr.) sprach dem Bier große Heilkräfte zu. Sie fasste ihren medizinischen Rat bei vielen Krankheiten kurz und bündig mit den Worten zusammen: „Cerevisiam bibat“„Er möge Bier trinken!“
VI Herstellung von Branntwein
Bereits im alten Ägypten kannte und praktizierte man die Destillation von Wein. In Europa verbreitete sie sich aber erst im Zuge der Expansion des Osmanischen Reiches – während des 14. und 15. Jahrhunderts -. Sie ermöglichte die Herstellung vom Branntwein, dem „Spiritus Vini“, der als magisches Mittel bei der Krankenheilung galt, so auch bei der Pest. Whisky wurde von den Mönchen in England zur Behandlung aller möglichen Erkrankungen, einschließlich Pocken und Lähmungen verwendet.
VII Erlass des Reinheitsgebots von Bier
Hopfenbier setzte sich erst im 16. Jahrhundert durch. Mittelalterliche Klöster entwickelten jene Standards der Braukunst, die noch heute gültig sind. 1516 wurde das „Reinheitsgebot“ erlassen. Weinanbau und Bierproduktion entwickelten sich zu bedeutenden Industriezweigen. Die Biersuppe galt als gesund. Sie wurde in den Klöstern hergestellt und zu hohen Preisen verkauft. Im historischen Keller der Winzergenossenschaft Mayschoß-Altenahr befindet sich noch heute der Spruch „Gegen alle Kränk und Pest ist der Rotwein das Best“.
VIII Exzessives Trinken, ein Privileg der Oberschicht
Reichlicher Alkoholkonsum gehörte beim Adel zum guten Ton. Die Chroniken und Memoiren des 16. und 17. Jahrhunderts liefern vielfältige Schilderungen ausschweifender Trinkgelage. An den Universitäten, in Offizierskorps und den Pfarreien wurde viel und exzessiv getrunken. Das „Saufen“ galt dabei - vergleichbar mit dem „Fressen“ (Völlerei) und „Huren“- zwar als Laster und Sünde, ein mäßiges Trinken erschien hingegen im Hinblick auf Geselligkeit und Wohlergehen aber erstrebenswert (Schott 2001). Auch den Professoren war das Laster nicht fremd, nicht zuletzt darum, weil viele von ihnen zur Verbesserung ihres Einkommens neben dem Lehramt den Bier- und Weinausschank betrieben.
IX Erste gewerblichkommerzielle Brennereien. Alkohol zur Entspannung und Stärkung
Im 16. Jahrhundert entdeckte die breite Bevölkerung Alkohol als wohlschmeckendes Genussmittel. Schnaps wurde zur Entspannung eingesetzt. Der Konsum von destilliertem Alkohol wurde, ausgehend vom Adel, über die wohlhabenden Bürger der Städte und die ländlichen Oberschichten, langsam in das Trinkverhalten der städtischen – später auch der ländlichen Unterschichten – integriert. So richtig setzte sich der Branntweinkonsum aber erst im Verlaufe des 18. Jahrhunderts durch. Nach 1700 entstanden gewerblichkommerzielle Brennereien, die Branntwein aus Getreide herstellten. Hausbrennereien setzten sich später durch.
Ärzte verschrieben Alkohol zur Stärkung und Anregung bei „asthenischen Krankheiten“. Seeleute, Soldaten und generell Menschen, die im Freien arbeiteten, entdeckten den Branntwein als „Schutz“ gegen die Kälte. Die Soldaten Napoleons sollen in den Schlachten große Mengen Branntwein konsumiert haben. Branntwein diente sowohl zur Motivation als auch als Nahrungsersatz und sollte im Gefecht die Angst verdrängen. Noch Ende des 19. Jahrhunderts wurde ernsthaft die Frage diskutiert, ob Lohnarbeiter überhaupt auf den Alkohol als vermeintlich notwendiges Nähr- und Stärkungsmittel verzichten könnten (Schott 2001). Der durchschnittliche Konsum lag bei ein bis drei Litern pro Tag; die Getränke hatten allerdings einen nur geringen Alkoholgehalt.
X Kartoffelschnaps als Getränk des gemeinen Volkes. Auswüchse des Branntweinkonsums.
Ende des 18. Jahrhunderts erfolgte der Übergang von der Getreidezur Kartoffelbrennerei. Der Kartoffelschnaps war wesentlich preiswerter und wurde ein Massengetränk. Auch die ärmsten Bürger konnten sich nun den qualitativ minderwertigen (und mit Wasser gestreckten) Kartoffelschnaps leisten. Das hatte dramatische Auswirkungen, da sich der Alkoholismus wie eine Seuche über das Land ausbreitete (“Branntweinpest“). Es kam zu erheblichen Auswüchsen des Alkoholkonsums. Ärzte wiesen auf die Gefahr des Branntweins hin und propagierten stattdessen das Bier (Büren 1826). Spätestens seit dieser Zeit verbindet man Branntwein mit allen möglichen Eigenschaften, aber kaum noch mit positiven. Der Alkoholkonsum wurde verteufelt. Man erklärte ihn fortan als Auslöser aller möglichen sozialen und wirtschaftlichen Probleme - und als Ursache von Krankheiten. Zunehmend wurden die Auswüchse des Alkoholkonsums kritisiert und zur Gefahr für die Gesellschaft erklärt. Zur gleichen Zeit wurden wirksame Medikamente entwickelt, die Krankheiten besser bekämpften und die Heilkraft des Alkohols in den Hintergrund drängten. Alkohol als Heilmittel verlor an Bedeutung.
XI Branntwein als „Seelentröster“
Die Begleitumstände der Industrialisierung führten zu sozialen Missständen und machten die Bevölkerung für den Alkoholkonsum anfällig. Die teilweise unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Früh- und Hochindustrialisierung verleiteten so manchen Arbeiter, zur Flasche zu greifen. Schwierige Arbeitsbedingungen, Verarmung, Wohnungsnot, das Fehlen einer sozialen Absicherung und der Verlust familiärer Bindungen führten zum „Elendsalkoholismus“ und zur Flucht in den Alkohol (Schivelbusch 2005). Viele Arbeitgeber erlaubten den Alkohol am Arbeitsplatz, ja förderten seinen Konsum. Sie gaben ihren Beschäftigten Alkohol, damit diese die harten Arbeitsbedingungen besser ertragen konnten, denn überlange Arbeitszeiten, hohe oder niedrige Temperaturen am Arbeitsplatz und schwere körperliche Arbeit forderten ihren Tribut. Ein Teil des Lohnes wurde in Kartoffelschnaps ausgezahlt. Die Folgen waren verheerend. Der jährliche Branntwein-Pro-Kopf-Verbrauch (der in Preußen um 1800 noch bei 2 – 3 Litern lag) stieg in den 1830er und 1840er Jahren allein in Brandenburg auf über 13 Liter. “Der Arbeiter benutzt den Alkohol als Fluchthelfer und Seelentröster gegen seine unmenschlichen Lebensbedingungen und verelendet schließlich im Alkohol”, schrieb Engels (1845).
XII Gründung der Mäßigkeitsvereine und Nüchternheitsbewegungen.
Mäßigkeitsvereine und Nüchternheitsbewegungen wurden gegründet. Sie propagierten Mäßigkeit und warben für Nüchternheit beziehungsweise Abstinenz; so der 1851 in den USA gegründete Guttempler-Orden. Die Gewerkschaften erkannten die Gefahr für die Arbeiterschaft und fassten u. a. Beschlüsse gegen den Verkauf von Alkohol am Arbeitsplatz. Nahezu alle Regierungen in Europa und den USA bauten Barrieren zur Bekämpfung des Alkoholkonsums auf (Prohibition), sei es durch Erhöhung der Branntweinsteuern, durch den Entzug von Brennrechten oder dem Verbot von Hausbrennereien. Der Branntwein verteuerte sich dadurch und der Alkoholkonsum reduzierte sich auf wohlhabende Genusstrinker. In der Bevölkerung verlagerte sich die Bedeutung von Alkohol als Nahrungs- und Suchtmittel hin zum Genussmittel.
XIII Beginnendes Interesse der medizinischen Forschung an Fragen von Sucht und Abhängigkeit.
Mediziner hatten sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts vorrangig mit der Eigneschaft von Alkohol als Heilmittel befasst, nicht aber mit dessen Nebenwirkungen. Zunehmend begannen sie nun auf die negativen Auswirkungen des Alkoholkonsums für das Individuum und die Gesellschaft hinzuweisen. Wesentliche Anstöße zur Einstufung des Alkoholismus als behandlungsbedürftige Krankheit kamen von Huss aus Schweden (1807 – 1890) und Auguste Forel in Zürich (1848 – 1931). Forel zählt zu den interessantesten und vielseitigsten Wissenschaftlern im 19. Jahrhundert. Ihm sind wesentliche wissenschaftliche Erkenntnisse in der Hirnforschung, der Entomologie, der Sozialmedizin zu verdanken. Er gründete die erste Trinkerheilanstalt und befasste sich intensiv mit den Ursachen, der Behandlung, aber auch der Prävention der Alkoholkrankheit. Forel gilt als Begründer der Psychiatrie in der Schweiz und gab als Sozialreformer wesentliche Anstöße. Wegen seiner sozialethischen und rassistischen Vorstellungen zur Rassenhygiene (die er später allerdings teilweise revidierte) und seines zeitweisen Engagements für die Verhinderung der Fortpflanzung von Alkoholikern genießt er heute keinen ungeteilten Zuspruch.
Alkoholabstinenzbewegung 1890: Anton Delbrück, Auguste Forel, Eugen Bleuler, (S. Orelli-Rinderknecht?)
Mit gerade fünfzig Jahren gab Forel seinen Lehrstuhl an der Universität Zürich auf, um sich intensiver seinen privaten Forschungen, so der Ameisenforschung, zu widmen. Die Leitung des Universitätsinstituts wollte er an seinen Schüler Anton Delbrück übergeben, was jedoch an der Intervention der Zentralregierung in Bern scheiterte, die keinen Deutschen auf dem Lehrstuhl wünschte und stattdessen den Schizophrenieforscher Eugen Bleuler berief. Anton Delbrück verließ daraufhin die Schweiz, baute in Deutschland die Bremer Heilanstalten auf und setzte sich in Deutschland intensiv für die Abstinenzbewegung ein. In der Psychiatrie ist er heute allerdings weniger wegen seiner (Anti) Alkoholismus Aktivitäten als dem (von ihm geprägten) Begriff der „Pseudologia Phantastica“ bekannt.
XIV Die Anti Alkoholbewegung um die Jahrhundertwende
Die Jahre vor und nach dem ersten Weltkrieg waren in Deutschland von einer breiten, öffentlichen Auseinandersetzung um die Risiken des Alkoholkonsums gekennzeichnet. „Alkoholische Geistesstörungen“ rückten ins Blickfeld, ebenso Zusammenhänge von Alkohol und Nachkommenschaft von Alkohol und Verbrechen. Psychiatrie, Erbbiologie und Kriminalanthropologie gewannen an Bedeutung. Die Errichtung von Trinkerasylen“ wurde zu einer zentralen Aufgabe ärztlicher Gesundheitspolitik erklärt (Schott 2001). Abstinenz und Mäßigkeit beim Alkoholkonsum galten nicht mehr als ein Ausdruck von Schwäche, sondern als Merkmal eines vernünftigen Verhaltens. In der gleichen Zeit erreichte die Anti Alkohol Bewegung in den USA ihren Höhepunkt. Unterschiedlichste Gesellschaftsgruppen kämpften für ein Alkoholverbot: Frauen, die unter der Gewalt verarmter Trinker litten, Evangelikale, aber auch Industrielle wie Henry Ford, die sich von der Abstinenz eine Verbesserung der Arbeitsleistung versprachen. Von 1920 bis 1933 herrschte die Prohibition, d. h. „die Herstellung, der Verkauf, der Transport, der Konsum sowie die Ein- und Ausfuhr berauschender Getränke“ waren verboten. Mit der Prohibition sank der Alkoholkonsum zwar offiziell auf 30 %, aber diese Zahl beinhaltete nicht die schwarz gebrannten Spirituosen und das, was Schmuggler, Schwarzbrenner und Panscher in den illegalen Hinterzimmern, Kneipen, den „Speakeasys“ servierten. Der Konsum wurde lediglich in die Illegalität gedrängt. Die amerikanische Regierung beschloss 1933 die Aufhebung des Alkoholverbots.
XV Alkoholkonsum und Antialkoholbewegung im Dritten Reich
Im Dritten Reich hieß es, dass nur der Missbrauch, nicht aber der Alkoholkonsum als solcher zu verdammen sei. Die Weinindustrie wurde unterstützt. Zusätzlich zu Hitlers „Mein Kampf“ erhielten Brautpaare in einigen Städten zwei Flaschen Wein als Geschenk vom Bürgermeister. Obdachlose Alkoholiker hingegen riskierten eine Verhaftung und eine Abschiebung. Man stufte Alkoholismus als angeborene bzw. vererbbare Krankheit und als psychopathische Minderwertigkeit ein. Alkohol wurde zum gefährlichen „Keimgift“ erklärt. Alkoholabhängige galten als „Volksschädlinge“ und Minderwertige, vor denen die arische Rasse zu bewahren sei. Sie galten als „Saboteure“ und Schmarotzer, die die Gesundheit und Leistungskraft des Volkes schädigten und wurden der öffentlichen Missachtung preisgegeben. Trinker, die weder durch die organisierte Alkohol-Gefährdetenhilfe noch durch einen freiwilligen oder auferlegten Aufenthalt in einer Heilstätte (Trinkerasyle, Trinkerheilstätten) gebessert werden konnten, stellte man unter polizeiliche Aufsicht. Die Asylierung sollte sie einer „nutzbringenden Arbeit zuführen“ und ihre Fortpflanzung verhindern. Bei etwa 5 bis 10 % der Alkoholkranken wurde eine Zwangssterilisation gemäß dem „Gesetz zur Verhütung erbrankten Nachwuchses“ durchgeführt (Fahrenkrug 1991). Hierdurch erhoffte man sich nicht nur die “Aufwertung der germanischen Rasse“, sondern auch einen merklichen Rückgang des Alkoholismus.
XVI Alkoholkonsum in zweiten Weltkrieg
Wer sich als Soldat in alkoholisiertem Zustand etwas zuschulden kommen ließ, für den galt das Kriegsrecht. Der Rekrut musste – je nach Schwere des Delikts – mit Strafen bis hin zur standrechtlichen Erschießung rechnen. Für die Offiziere galten andere Regeln. Ihnen wurde der Alkoholkonsum zumeist zugestanden. Missbrauch wurde bei ihnen mit der geistigen, körperlichen und seelischen Erschöpfung entschuldigt, die der Kriegseinsatz mit sich brachte. Man bot ihnen Kuren an, oder sie wurden beurlaubt bzw. zum Ersatztruppenteil im Deutschen Reich versetzt. In den Konzentrationslagern wurde Alkoholmissbrauch bei den Wachmannschaften nachsichtig behandelt. In den führenden Kreisen des NS-Staates waren Alkoholexzesse an der Tagesordnung. Sie wurden toleriert. Exempel wurden nur bei schwachen Menschen statuiert, die sich nicht wehren konnten. Hitler selbst war übrigens offiziell Abstinenzler.
XXII Beweggründe für Alkoholkonsum heute
Die Beweggründe für Alkoholkonsum haben sich verändert. Kaum jemand greift heute zur Flasche, um - wie im Altertum - im berauschten Zustand den Kontakt zur „heiligen“ Welt aufzunehmen. Kaum jemand erwartet eine Besserung seiner Herz-Kreislaufbeschwerden entsprechend der Empfehlungen der Schule von Hippokrates. Zur Prävention gegen die Pest, Pocken und andere Infektionskrankheiten gibt es heute weit wirksamere Mittel als Alkohol. Lediglich einige „biologische“ und „Naturheilpräparate“ werden noch mit Alkohol zubereitet. Unser Trinkwasser ist heute weitgehend sauber und muss nicht durch Alkohol zur Durststillung ersetzt werden - wie es noch im 19. Jahrhundert der Fall war. Die Bundeswehr verordnet nicht wie Cäsar und Napoleon den Soldaten Alkohol zur Stärkung der Moral.
Heute dominieren andere Beweggründe. Alkohol ist gesellschaftlich sanktioniert. Er gilt in allen Gesellschaftsschichten als schick. Er ist in der Freizeitkultur fest verankert. Dazu hat nicht zuletzt auch die Werbung beigetragen, die sehr geschickt den Alkoholkonsum mit Sport und sportlichen Erfolgen, mit Geselligkeit, mit Urlaub, Freizeit und Lebensfreude assoziiert. Sie gibt vor, dass ein gutes Glas Wein zum Lebensstil gehöre. Gerne spricht sie vom Genuss, denkt dabei aber nur an den Konsum und natürlich den Profit. In der Tat lässt sich die Freude am Genuss auch kaum noch erkennen, wenn zu Geburtstagen, Hochzeiten, sportlichen Siegen und beruflichen Erfolgen mit Sekt und Champagner angestoßen wird, wenn Konferenzen und Kongresse mit einem Sektempfang beginnen, wenn zur Meisterschaftsfeier die Bierdusche gehört.
Alkoholismus wird heute im Sinne der „Alkoholabhängigkeit“ als ein komplexes Krankheitsbild definiert (Schott 2001). Das Bundessozialgericht erkannte 1968 – nach zuvor jahrzehntelanger vehement geführter „Krankheitsdebatte“ - den Alkoholismus als Suchtkrankheit an, was zu einer entsprechenden „Suchtvereinbarung“ der Sozialversicherungsträger und zu einem Ausbau des Versorgungsangebots führte. Die gesundheitspolitische Leitidee einer medizinischen und sozialen (beruflichen) Rehabilitation von chronisch Kranken wurde für Alkoholabhängige in einem interdisziplinären Ansatz nach und nach in der Praxis umgesetzt (Hollstein 1998).
Die 1975 gegründete Psychiatrie-Enquete-Kommission wies auf schwerwiegende Mängel der stationären Versorgung psychisch Kranker hin, die sich kaum von den menschenunwürdigen stationären Einrichtungen im Nationalsozialismus unterschied. Sie betonte, dass die psychiatrische Krankenversorgung grundsätzlich ein Teil der Gesamtmedizin sei und demgemäß in das bestehende System der allgemeinen Gesundheitsvorsorge und -fürsorge integriert werden müsse. Der psychisch Kranke, zu dem auch der Alkoholiker zählt, habe das gleiche Anrecht wie der körperlich Kranke auf optimale Hilfen unter Anwendung aller Möglichkeiten ärztlichen, psychologischen und sozialen Wissens. In der Folge entstanden gemeindenahe Versorgungsstrukturen – sozialpsychiatrische Dienste, betreute Wohnformen, Heime, tagesstrukturierende Einrichtungen, Tageskliniken, Institutsambulanzen. Für die Versorgung moderat Alkoholabhängiger bedeutet die ambulante Versorgung zweifellos eine qualitative Verbesserung. Doch ersetzt sie bei schwer Erkrankten nicht die stationäre Versorgung, die allerdings nicht im Sinne einer Aufbewahrung und Isolierung, sondern mit dem Ziel einer möglichen Resozialisierung und Rückführung in das tägliche Leben stattfinden sollte.
Aussagen im Alten und Neuen Testament zum Alkoholkonsum. Die Einstellung der Kirchen zum Alkohol
Die Aussagen der Bibel zur Bedeutung des Alkohols sind zwar nicht einheitlich, lassen aber nichts Negatives bei mäßigem Alkoholgenuss erkennen. Unmäßiger Alkoholkonsum wird von ihr abgelehnt. An einigen Stellen verteufelt die Bibel die Trunkenheit, an anderen Stellen schätzt sie den Genuss von Wein hoch ein.
Entgegen der herrschenden Vorstellung, die Kirche würde - und solle - sich für die Abstinenz einsetzen, findet man biblisch keine Begründungen. Eher das Gegenteil, denn die Bibel empfiehlt Wein gegen Traurigkeit, gegen das Vergessen von Sorgen, zur Geselligkeit, zur Ehrenbezeugung etc. (Böcher O. 1989, Wassenberg 2010). Die ursprünglich vornehmlich von den christlichen Kirchen gegründeten Alkoholabstinenz- und Selbsthilfegruppen, die die Abstinenz heute zwar nicht mehr zur Bedingung einer Mitgliedschaft machen, bekennen sich zu einer alkoholfreien Lebensweise. Ihre strikte Empfehlung zur Alkohol Enthaltsamkeit gilt allerdings nur für die ehemaligen Alkoholiker, die eine Entziehungskur durchgemacht haben und besonders anfällig für einen Rückfall sind. Der angeblich „verderbliche Einfluss der geistigen Getränke auf das Familienglück und das Volkswohl“ ist bei ihnen in den Hintergrund getreten (Rothkopf 2017, Wassenberg und Schaller 2010, Anton Delbrück 1903).
Im Alten sowie im Neuen Testament wird unmäßiger Weinkonsum mehrfach negativ erwähnt. So heißt es im Ersten Brief an Timotheus 5,23: „Berauscht euch nicht mit Wein – das macht zügellos –, sondern lasset euch vom Geist erfüllen!“ In der Prophetie wird Trunkenheit als Teil des dekadenten Lebens der Oberschicht angeprangert. Es wird recht eindringlich vor den Folgen alkoholischer Getränke gewarnt. U. a. werden als Folgen der Trunkenheit Taumeln, Verrücktheit und Wehrlosigkeit gegenüber feindlichen Angriffen erwähnt (Jesaja 51,21). Der Apostel Paulus mahnt "Berauscht euch nicht mit Wein – das macht zügellos!"(Epheser 5,18). "Gesell dich nicht zu den Weinsäufern", heißt es im Buch der Sprichwörter (Sprüche 23,20).
Drastische Erzählungen weisen auf die Enthemmung durch Alkohol hin und betrachten Alkoholgenuss gegebenenfalls als Schuldverstärkung, nicht Schuldminderung. Die Töchter Lots sollen von ihrem betrunkenen Vater schwanger geworden sein (Genesis 19,31-38). Göttliche Strafen gab es, als Israel trank und sich vergnügte, während es das goldene Kalb anbetete und tausende Sünder starben (Exodus 32). Der Prophet Jesaja prangert dezidiert den Alkoholismus an, indem er schreibt: "Weh euch, die ihr schon früh am Morgen hinter dem Bier her seid und sitzen bleibt bis spät in die Nacht, wenn euch der Wein erhitzt" (Jesaja 5,11). Für Paulus sind Trinkgelage nichts weiter als ein verderbliches "Werk des Fleisches" (Galater 5,19). Im 1. Korintherbrief werden Trinker auf eine Stufe mit Verbrechern, Dieben und "Knabenschändern" gestellt. Sie werden das Reich Gottes nicht erben, heißt es im Korinther 6,9. Der Genuss von Alkohol provoziert Streit (Sprüche 23,29f), lässt Falsches reden (Sprüche 23,33) und taumeln (Sprüche 23,34).
An Lobpreisungen des Weinkonsums mangelt es nicht. Jesus benutzt in seinen Gleichnissen immer wieder Bilder aus der Weinkultur. Laut dem Buch der Psalmen ist es Gott selbst, der den Wein wachsen lässt, damit dieser "das Herz des Menschen erfreut" (Psalm 104,15). Er bezeichnet sich selbst als Weinstock und die Gläubigen als die Reben (Johannes 15,5). Er vergleicht Gott mit einem Weinbergbesitzer (Matthäus 20,1-16). An mehreren Stellen finden sich Hinweise, dass Jesus kein Feind von Geselligkeit und Fröhlichkeit war. Offensichtlich ging er gerne auf Feste, trank und aß dort (Lukas 7,34). Gegner machten ihm, dem „Menschensohn“ sogar den Vorwurf, er sei ein „Fresser und Weinsäufer“ (Matthäus 11,19). Aber eher verhielt es sich so, wie es beim Prediger 9,7 heißt: „So gehe hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Herzen“, denn dein Wort gefällt Gott“.
Jesus wusste offensichtlich zwischen gutem und schlechtem Wein zu unterscheiden. Bei der Hochzeit zu Kana machte er aus Wasser „vortrefflichen Wein“. Der schlechtere Wein solle den „Trunkenen“ vorbehalten sein. Leider findet der Bibelleser hier und an anderen Stellen keine weiteren Erläuterungen, was einen vortrefflichen Wein ausmacht. Der Unterschied zwischen antiker und heutiger Weinherstellung ist zu beachten. Wein wurde schon alleine deswegen gerne mit Wasser gemischt, weil mit dem Alkoholgehalt die subjektiven Nebenwirkungen zunehmen. Vielerorts war man auch überzeugt, die Vermischung mit Wasser mache den guten Wein aus (Makkabäer 15,40). Gern wurde heißer Wein getrunken, zu dem Gewürze und andere Zutaten wie Honig oder Rosinen passen. Man wird daher den Verdacht nicht los, dass als guter Wein auch gepanschte Getränke geduldet wurden, die mit dem Ziel einer Geschmacksveredelung von minderwertigem Wein aufgewertet wurde (vgl. Sprüche Salomos 9,2.5 und Hoheslied 8,2). Einen kleinen Hinweis kann man dem Weinwunder von Kana entnehmen: Der Wein füllt dort Gefäße, die „rein“ (nämlich für Reinigungswasser) bestimmt waren. Überträgt man diesen Gedanken, so ist guter Wein rein. Als der Wein kredenzt wird, kostet der Tafelmeister ihn außerdem ohne Mischung mit Wasser und Gewürzen (Johannes 2,6-9). (Die Bibel weiß demnach sehr wohl die Qualität von unvermischtem Wein einzuschätzen.
Welche Rolle spielt der Alkoholgehalt? Leider findet der gesundheitsbewusste Weinliebhaber an keiner Stelle in der Bibel konkrete Angaben zum Schwellenwert, ab dem der Konsum unmäßig ist.
Wein wird in der Bibel häufig als Heilmittel erwähnt. Gelegentlich finden sich Hinweise auf eine präventive, ja sogar eine therapeutische Wirkung. Bekannt ist das Wort von Paulus an Timotheus: "Trink nicht nur Wasser, sondern brauche ein wenig Wein, um deines Magens willen und weil du so oft krank bist" (1.Timotheus 5:23). Diese Empfehlung erklärt sich mit der schon angedeuteten Tatsache, dass schon damals das Trinkwasser gelegentlich verschmutzt war. Bekanntlich war verseuchtes Brunnenwasser noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts die häufige Ursache für solch lebensbedrohende Epidemien wie die Cholera (Ernst Delbrück 1856). Der durchschnittliche Alkoholkonsum lag noch im 19. Jahrhundert bei täglich drei bis vier Litern in Köln, wobei die Getränke allerdings nur einen relativ geringen Alkoholgehalt hatten.
Im 1. Timotheus Brief und anderen Stellen wird dem Wein ein medizinischer Nutzen bescheinigt, so zum Beispiel zur Reinigung von Wunden (Lukas 10,34; 1. Timotheus 5,23). Der barmherzige Samariter goss Öl und Wein in die Wunden. Tatsächlich wird noch heute hochprozentiger Alkohol wegen seiner desinfizierenden Wirkung bei der Wundversorgung verwendet. An anderen Stellen wird Wein (bzw. Weinreben) gegen Magen-Darm-Beschwerden, gegen Depressionen und zur Säuberung von Verwundungen empfohlen.
Strenge Vertreter des Judentums und des ersten Christentums sahen im 1. Jh. Probleme darin, dass die Menschen den Weingenuss gerne mit dem Lob des Dionysos verbanden. Philo, ein berühmter jüdischer Philosoph, der zur Zeit Jesu lebte, schrieb eine ganze Schrift gegen die Trunkenheit (Ed ebrietate). Einige Christen dürften den Abendmahlskelch nicht mit Wein, sondern mit Wasser gefüllt haben – mit „Wasser des Lebens“, wie es in der Offenbarung 22,17 heißt. Doch diese Strenge ist nur eine Nebenlinie in der Bibel.
Die Nüchternheitsbewegung und die Alkohol-Selbsthilfegruppen sind Mitte des 19. Jahrhunderts auf Initiativen der Kirchen gegründet worden. Viele von ihnen stehen auch heute noch dem christlichen Glauben nahe. Wie ehedem empfehlen sie die totale Abstinenz (Wassenberg 2010). Dabei können sie sich allerdings diesbezüglich nicht auf die Bibel stützen, denn die Heilige Schrift hat - wie gerade geschildert - gegen einen maßvollen Alkoholgenuss nichts einzuwenden. Im Gegenteil, im Sirach 31,32-35 heißt es, dass Wein ein Geschenk Gottes sei und das Leben schöner mache: „Der Wein erquickt die Menschen, wenn man ihn mäßig trinkt. Und was ist das Leben ohne Wein? Denn er ist geschaffen, dass er die Menschen fröhlich machen soll. Der Wein, zu rechter Zeit und in rechtem Maß getrunken, erfreut Herz und Seele.“
Luther spricht vom Alkoholkonsum als Trinklaster, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass er nicht daran denke, auf das Trinken gänzlich zu verzichten. Den Alkohol als Genussmittel möchte er nicht verbieten, sondern nur zu einem mäßigen Genuss raten, also zu einem Mittelweg zwischen Entsagung auf der einen und Verschwendung auf der anderen Seite. Er empfiehlt den Mittelweg des vernünftigen Alkoholgenusses. Lust und Freude, so sagt er, soll nicht untersagt sein. Ein Trunk mehr oder gar ein Rausch nach großer Arbeit soll erlaubt sein. Dies gelte auch für eine Frau, wenn sie etwa auf einer Hochzeit ein „Trünklein mehr als zu Hause“ zu sich nehme. Luther wendet sich hingegen ausdrücklich dagegen, alle Tage und Nächte Wein und Bier ohne Unterbrechung in sich „hineinzugießen“ (F. Blanke 1929).
Auch Calvin sprach sich gegen einen übermäßigen Alkoholkonsum aus, hatte aber nichts gegen die Freude am Genuss. Gott habe den Wein nicht bloß als Nahrungsmittel geschaffen, sondern auch als Genussmittel, sagte er. Der Wein sei nicht nur bestimmt zur sustentatio (zum Unterhalt des Lebens), sondern auch zur exhilaratio (zur Ergötzung). „Gott will keine Askese“, sagte er. Dass uns der Wein in Heiterkeit und Lust versetzt, das ist gottgewollt. Nur dürfen wir diese Lust nicht so weit treiben, dass die Verehrung Gottes gestört wird. Durch Völlerei würde die Gottesverehrung beeinträchtigt und würden Gottes Gaben entheiligt (F. Blanke 1929).
Eine sakrale Bedeutung erhält Wein im Neuen Testament durch das letzte Abendmahl, weil Christus dort auf die Frucht des Weinstocks verweist (MK 14, 25. Die Mehrheit der christlichen Gemeinden füllte den Abendmahlskelch deshalb von Anfang an mit Wein, nur eine Minderheit mit Wasser (wie gerade erwähnt). Zusammen mit dem Brot wurde Wein zum Versprechen der Wiederauferstehung. In der Liturgie nimmt der Wein somit einen wichtigen Platz ein. Die Einstellung der katholischen Kirche zum Alkohol unterscheidet sich nicht grundlegend von der der protestantischen Kirche. Die katholische Kirche sakralisiert den Wein als das Blut Christi. Alkohol könne jedoch auch zum Symbol für Exzess und Verwirrung werden, betont sie. Sein Konsum habe Auswirkungen auf die Psyche, wirke belebend und befreiend, könne aber auch auf Abwege und zu asozialem Verhalten führen.
In der katholischen Kirche haben Wein und Brot als Sakrament des von Jesus gestifteten Abendmahls eine mystische Bedeutung. Bei der Heiligen Messe wird Brot und Wein in Christi Leib und Blut verwandelt. Dieser Vorgang bildet den Höhepunkt des Gottesdienstes. Im Gegensatz zur katholischen Kirche kann in der protestantischen Kirche statt Wein auch Traubensaft gereicht werden. In der katholischen Kirche muss es Wein sein, der allerdings mit geweihtem Wasser verdünnt werden darf.
Kommentar: Auffallend ist, dass in der Bibel kaum von einer erkenntnisfördernden Eigenschaft des Alkohols die Rede ist. Der Kontakt zur „heiligen“ Welt durch Rauschtrinken war in der Vorzeit bei den Babyloniern und Ägyptern üblich (siehe Kapitel I: Alkoholkonsum und Gesundheit. – ein historischer Überblick). Deswegen war Alkohol damals der Priesterschaft vorbehalten. Das Judentum zur Zeit Jesu und Paulus dagegen forderten (3 Mose 10,8 – 10), dass Priester beim Kult nüchtern sein müssten (Philo, de ebrietate 127 – 129).
Noch in der griechischen Antike spielte der Rausch als Heilmittel eine bedeutende Rolle. Erst die Medizinschule von Hippokrates weigerte sich, das alkoholische Delir als „göttliche Krankheit“ anzuerkennen. Nicht erwähnt werden in der Bibel auch der angebliche Erkenntnisgewinn und die Bewusstseinserweiterung, die Berauschte angeblich in den Zustand der erhöhten Schöpfungskraft versetzen. Modigliani, Maurice Utrillo, Kirchner, Francis Bacon schufen bekanntlich ihre Werke nur unter starkem Alkoholeinfluss (Fath 2005).
Zusammengefasst sei bemerkt, dass die Bibel nicht den Konsum von Alkohol verbietet – so wie es etwa der Islam tut. Doch sie mahnt sehr deutlich, Maß zu halten, gerade mit Blick auf die Nebenwirkungen auf die eigene Gesundheit und die anderen Menschen.
Die Einstellung des Islams zum Alkohol
Der Konsum von Alkohol gilt im sunnitischen und im schiitischen Islam sowie in allen Rechtsschulen als Haram (verboten). Die sunnitische Tradition sagt, dass „Alkohol der Vater aller Sünden ist und die schändlichste aller Sünden darstellt“ (Sounan Ibn-Majah, Hadith 3371). Der Konsum (schurb al-chamr) gehört im islamischen Strafrecht zu den Had-Strafen. Je nach Rechtsschule sind verschiedene Strafen für Rechtsbrüchige vorgesehen. In Saudi - Arabien kann der Alkoholkonsum u. a. mit Peitschenschlägen bestraft werden.
In der Frühzeit des Islams soll der Alkoholgenuss allerdings noch nicht verboten gewesen sein. Zumindest finden sich im Koran auch positive Aussagen zum Alkoholkonsum. So werden den Gläubigen u. a. „Bäche mit Wein“ im Paradies (Sure 47:15) versprochen. Laut zeitgenössischen Koran Kommentatoren sollen diese allerdings keine berauschende Wirkung gehabt haben. Aus den Koranversen geht im übrigen hervor, dass zur Zeit Mohammeds Handel mit Wein getrieben wurde und dass seine muslimischen Zeitgenossen Alkohol damals als berauschendes Getränk konsumiert haben. Wein wird in der Sure 16:67 (ebenso wie der Honig) als eine der guten Gaben Gottes erwähnt (16,67).
Das Verbot von Alkoholkonsum wurde erst nach und nach eingeführt. Erst zum Schluss kommt die Offenbarung in der Sure 5, Vers 90 zum Ausdruck. “Odie ihr glaubt, berauschender Trank, Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind nur ein Gräuel vom Werk des Satans. So meidet ihn, auf dass es euch wohl ergehen möge!“. Das Verbot, bei Trunkenheit zu beten (Sure 4:43), erfolgte wahrscheinlich erst im vierten Jahr nach der Auswanderung in Medina. Nicht in allen arabischen Ländern ist man so strikt wie in Saudi-Arabien. In Nord Afrika ist man z. B. wesentlich liberaler. Der Weinbau floriert in Tunesien. Europäische Cuvé Weine werden zur Geschmacksveredelung gerne mit algerischen Weinen gemischt.
Kommentar: Die Abrogationslehre stieß innerhalb des Islams immer wieder auf Ablehnung des Alkoholverbots. Als Abrogation wird in der islamischen Rechtswissenschaft und der Koranexegese die Aufhebung einer normativen Bestimmung des Korans oder der Sunna durch eine andere, zeitlich nachfolgende Bestimmung aus Koran oder Sunna bezeichnet (Wikipedia). Bemerkenswerterweise wird der Konsum von Wein stets im Zusammenhang mit dem Los Spiel (Maiziere) genannt (2:219, 5:90). Einige Experten interpretieren dies dahingehend, dass nicht etwa das strenge Alkoholverbot gemeint sei, sondern vielmehr die Begleitumstände wie das Glücksspiel.
Immer wieder wird die Frage gestellt, ob (und wenn ja, wieviel) Alkohol im alkoholfreien Bier enthalten ist und, ob Moslems alkoholfreie Biere trinken dürfen? Die meisten als alkoholfrei gekennzeichneten Biere enthalten nämlich aus Geschmacksgründen bis zu 0,5 % Alkohol. Lediglich der Alkoholgehalt oberhalb dieser Grenze muss deklariert werden. Seit wenigen Jahren gelingt nun die Herstellung von Bieren, die überhaupt keinen Alkohol mehr enthalten (0,0-prozentiger Alkoholgehalt) und trotzdem einen dem normalen Bier sehr ähnlichen Geschmack aufweisen. Davon profitieren nicht nur Alkohol-Abstinente und streng gläubige Moslems, sondern auch Menschen, die Angst vor den Alkohol-Nebenwirkungen haben. Das 0,0-prozentige alkoholfreie Bier hat effektiv keinen bemerkbaren und relevanten Alkoholgehalt und ist für diese Menschen unproblematisch.
Der Einfluss der Spiritualität
Spiritualität ist die Suche oder das subjektive Erleben einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt. Spirituelle Einsichten können mit Sinn- und Wertfragen des Daseins, mit der Erfahrung der Ganzheit der Welt in ihrer Verbundenheit, mit der eigenen Existenz, mit der „letzten Wahrheit“ und absoluter, höchster Wirklichkeit sowie mit der Integration des Heiligen, Unerklärlichen oder ethisch Wertvollen ins eigene Leben verbunden sein (Wikipedia).
Entgegen der heutigen Vorstellung, dass der Alkoholkonsum vorwiegend vom Genuss her bestimmt ist, war der Alkoholkonsum in der Antike mehr von seiner spirituellen Wirkung her beeinflusst. Er war bei den alten Ägyptern so gut wie ausschließlich den Priestern vorbehalten. Noch in der griechischen Antike bestand die Vorstellung, im berauschten Zustand den Kontakt zur „heiligen Welt“ aufnehmen zu können. Im Rausch von Drogen, Alkohol und das Bewusstsein verändernder Kräuter nehmen Medizinmänner indigener Stämme noch heute Kontakt zu den Ahnen auf. Die Schule des Hippokrates setzte den Wein erstmalig offiziell als schulmedizinisches Heilmittel ein, vorher maß man ihm nur in Verbindung mit spirituellen Einflüssen eine heilende Wirkung bei. Hippokrates selber glaubte mehr an die Naturwissenschaft
Eine sakrale Bedeutung erhält Wein im Neuen Testament durch das letzte Abendmahl, als Christus den Wein zu seinem Blut erklärt. Zusammen mit dem Brot wurde Wein zum Versprechen der Wiederauferstehung. Alkohol und Kirche waren lange Zeit untrennbar. Der christliche Glaube, die Verbundenheit mit Christus manifestiert sich auch heute noch symbolisch im Wein. In der katholischen Kirche haben Wein und Brot als Sakrament des von Jesus gestifteten Abendmahls eine mystische Bedeutung. Bei der Messe wird Brot und Wein in Christi Leib und Blut verwandelt. Dieser Vorgang bildet den Höhepunkt der heiligen Messe. In der Liturgie nimmt der Wein einen wichtigen Platz ein, wobei sich die Einstellung der katholischen Kirche zum Alkohol nicht grundlegend von der in der protestantischen Kirche unterscheidet. Beide sakralisieren den Wein als das Blut Christi. Der christliche Glaube selbst, die Ausübung des Gottesdienstes sowie der Auftritt einiger Sekten waren und sind auch teilweise heute noch mit Spiritualität verbunden.
Gerade Menschen, die sich verloren fühlen oder einfach einen Anker suchen, sind anfällig dafür, im Rausch unangenehme Gedanken und Gefühle zu verscheuchen und Glück zu finden. „Alkoholsucht ist nicht der Durst der Kehle, sondern der Durst der Seele, sagte der Pfarrer und Hospizgründer Friedrich von Bodelschwingh vor über 100 Jahren. Viele Burnout-Opfer ergeben sich dem Alkohol. Vor allem in der Phase, in der sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation nicht einsehen wollen, neigen sie dazu in den Alkohol flüchten. Alkohol ist eine legale Droge für Bürger, die sich ein schreckliches Leben „schön saufen“ wollen, heißt es.
Dafür, dass das Rauschtrinken (Binge Trinken) bei Jugendlichen so zugenommen hat, gibt es mehrere Erklärungen. Eine ist die Verzweiflung und vergebliche Sinnsuche von Leitbildern. Der Alkoholrausch dient ihnen als eine Art Fluchtdroge aus einer Welt, aus der sie entfliehen wollen.
Kapitel 2