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Das bewährte Standardwerk! Alkohol ist in unser gesellschaftliches Leben integriert, birgt jedoch ein großes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial:~/~Rund 3 Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholabhängig oder leiden unter Alkoholmissbrauch mit Folgeschäden.~/~Ärzte und Psychologen haben häufig mit Menschen zu tun, deren Alkoholabhängigkeit große therapeutische Probleme verursacht. Dieses bewährte Standardwerk bietet: Theorie und Befunde zur Entstehung der Alkoholabhängigkeit, eine ausführliche Darstellung der Folgeschäden und ihrer Therapiemöglichkeiten, Informationen zur Epidemiologie. Erkennen, behandeln, vorbeugen: - ausführliche Darstellung der körperlichen und psychischen Aspekte der Alkoholsucht - Überblick der Therapiemöglichkeiten und psychosozialen Hilfsangebote - Darstellung der rechtlichen Aspekte konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Alkoholkranken
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Seitenzahl: 965
Veröffentlichungsjahr: 2011
Entstehung – Folgen – Therapie
Michael SoykaHeinrich Küfner
begründet von Wilhelm Feuerlein
Unter Mitarbeit von Volker Dittmann und Reinhard Haller
6., vollständig überarbeitete Auflage
21 Abbildungen 49 Tabellen
Georg Thieme VerlagStuttgart · New York
Bibliografische Informationder Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 1975
2. Auflage 1979
1. spanische Auflage 1982
3. Auflage 1984
1. japanische Auflage 1986
4. Auflage 1989
5. Auflage 1998
© 2008 Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14
70469 Stuttgart
Deutschland
Telefon: +49/(0)711/8931-0
Unsere Homepage: www.thieme.de
Zeichnungen: Gay & Sender, Bremen
Umschlaggestaltung: Thieme Verlagsgruppe
Umschlaggrafik: Martine Berg, Erbach
eISBN: 978-3-13-169016-6
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Wichtiger Hinweis: Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstandbei Fertigstellung des Werkes entspricht.
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Prof. Dr. med. Volker Dittmann
Universitäre Psychiatrische Kliniken
Abteilung Forensische Psychiatrie
Wilhelm-Klein-Strasse 27
4025 Basel
SCHWEIZ
Prof. Dr. med. Reinhard Haller
Universitätsinstitut
für Suchtforschung
Krankenhaus Maria Ebene
Postfach 35
6800 Feldkirch
ÖSTERREICH
Dr. phil., Dipl. Psych. Heinrich Küfner
Institut für Therapieforschung
Parzivalstr.aße25
80804 München
Prof. Dr. med. Michael Soyka
Psychiatric Hospital Meiringen
Willingen
3860 Meiringen
SCHWEIZ
Die 6. Auflage dieses Buches erscheint 33 Jahre nach der ersten und 10 Jahre nach der 5. und letzten Auflage – eine Dekade, in der die Alkoholforschung und -therapie erhebliche Fortschritte gemacht haben. Dass dieses Buch so lange überlebt hat und im deutschsprachigen Raum immer noch das meistgelesene Buch über Alkoholismus ist, ist wesentliches Verdienst von Herrn Professor Wilhelm Feuerlein, mit dessen Namen dieses Buch seit Jahrzehnten verbunden ist und der es zu großem Erfolg geführt hat. Die Autoren werden alles daran setzen, dieses erfolgreiche Werk fortzusetzen. Wir haben dabei die von Wilhelm Feuerlein begründete Struktur des Buches im Wesentlichen fortgesetzt, wie er bemüht um eine umfassende, aber möglichst konzise Darstellung.
10 Jahre nach der letzten Auflage waren erhebliche inhaltliche Anpassungen notwendig. Selbst für den Experten ist es in vielen Bereichen schwierig, noch den Überblick über die verschiedenen Methoden, Befunde und Studien zu behalten. Ein wesentlicher Schwerpunkt des Buches ist eine umfassende Darstellung alkoholbezogener Störungen, für ein Taschenbuch eine besondere Herausforderung, das nicht zu theorielastig sein darf, aber eben auch einen Überblick geben soll. Wesentliche Schwerpunkte sind Diagnostik, Folgeschäden und Therapiemöglichkeiten. Neurobiologische Ergebnisse und Perspektiven haben deutlich an Einfluss gewonnen. Der Public-Health-Ansatz hat im Vergleich zum individuellen Therapieansatz mehr Eigenständigkeit und Gewicht entwickelt. Der umfangreiche Therapieteil wurde wegen der Überschaubarkeit in 3 größere Abschnitte eingeteilt, dem jeweils unterschiedliche Perspektiven entsprechen:
das Therapiesystem Sucht unter der Perspektive der Gesundheitsversorgung
die Therapiemethoden unter dem Gesichtspunkt der Therapieentwicklung und Integration verschiedener Therapieformen
die Therapiedurchführung unter dem Gesichtspunkt der individuellen Therapieplanung und des Therapieverlaufs
Wie schon bei den letzten Auflagen konnten wir für den österreichischen Teil des forensischen Kapitels Herrn Professor Haller (Feldkirch) und für die schweizerischen Ausführungen Herrn Professor Dittmann (Basel) gewinnen, denen wir herzlich dafür danken. Ebenso Professor Thomas Gilg (Institut für Rechtsmedizin der Universität München), PD Dr. Felix Stickel (Inselspital Universität Bern) sowie Dr. jur. Martin Soyka (Kiel) für die kritische Durchsicht und Ergänzung einzelner Kapitel.
Dem Georg Thieme Verlag, vertreten durch Frau Judith Kautz und seine Redakteurin Frau Dr. Ute Bandelin danken wir für die unermüdliche, hier und da insistierende, stets dem Gesamtwerk verpflichtete Unterstützung.
Besonderer Dank gilt Frau Kyra Dimopoulos, Meiringen und Frau Danielle Heiss, stud. cand. psych., München, für die Abfassung und technische Gestaltung der Manuskripte.
München und Meiringenim April 2008
Michael Soyka
Heinrich Küfner
1 Begriffsbestimmungen, geschichtlicher Rückblick, Krankheitskonzept
1.1 Alkoholgebrauch, Alkoholmissbrauch, Alkoholabhängigkeit
1.2 Zur Geschichte des Gebrauchs und Missbrauchs von Alkohol
1.3 Allgemeine Definitionen von Konsummustern, Missbrauch, Abhängigkeit und Sucht
1.4 Spezielle Definitionen von Alkoholismus bzw. Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol
1.5 Zum Krankheitskonzept des Alkoholismus
2 Bedingungsgefüge des Alkoholismus
2.1 Allgemeines
2.2 Droge Alkohol
2.3 Individuum
2.4 Umweltfaktoren
2.5 Suchttheorien
3 Alkohol und Öffentliche Gesundheit (Public Health)
3.1 Überblick und Grundlagen
3.2 Alkoholkonsum und Prävalenz von Alkoholmissbrauch und Abhängigkeit
3.3 Alkohol als Risikofaktor der öffentlichen Gesundheit
3.4 Bewertung von Maßnahmen der Alkoholpolitik
4 Medizinisch-psychologische Folgeschäden des Alkoholismus
4.1 Akute Alkoholintoxikation (Alkoholrausch)
4.2 Alkoholentzugssyndrom
4.3 Organische Folgekrankheiten bei chronischem Alkoholmissbrauch
5 Psychische und soziale Folgen des Alkoholismus
5.1 Struktur und Überblick
5.2 Psychische Folgen für den Alkoholkranken
5.3 Folgen für die Familie
5.4 Soziale Folgen
6 Formen und Verlauf des Alkoholkonsums und Alkoholismus
6.1 Typologie der Alkoholiker
6.2 Verlaufsphasen des Alkoholismus
7 Diagnostik
7.1 Allgemeine Aspekte der Diagnostik
7.2 Suchtspezifische diagnostische Aufgaben und Ziele
7.3 Überblick über die Diagnostikinstrumente
7.4 Klinische Dokumentation
7.5 Prognostische Kriterien
8 Therapie
8.1 Überblick und allgemeine Therapieaspekte
8.2 Das Therapiesystem Sucht
8.3 Behandlungsmethoden, Behandlungskomponenten und Behandlungsbereiche
8.4 Therapieprogramme, individuelle Therapieplanung und Handlungsregeln
9 Behandlungsergebnisse und -indikation
9.1 Überblick und methodische Hinweise zur Evaluation
9.2 Behandlungssysteme
9.3 Kurztherapien
9.4 Entzugsbehandlung (Entgiftung)
9.5 Ergebnisse der Entwöhnungsbehandlung (Rehabilitationsbehandlung)
9.6 Unterschiedliche Behandlungsformen
9.7 Pharmakotherapie
9.8 Behandlungsverlauf
9.9 Vergleich verschiedener Therapiemethoden
9.10 Nachsorge, Nachbehandlung
9.11 Zusammenfassung der Wirksamkeit einzelner Therapiemodalitäten (Behandlungsformen und Behandlungsmethoden)
9.12 Patientenmerkmale als Prognosefaktoren
9.13 Indikation
9.14 Kosten und Nutzen
10. Gesundheitsförderung und Prävention
10.1 Begriffsklärung und Überblick
10.2 Beschreibung von Präventionsprogrammen
10.3 Beispiele von Prävention in Deutschland
10.4 Evidenzbasierung von Präventionszielen
10.5 Ergebnisse von Maßnahmen der primären Prävention
11 Rechtsfragen
11.1 Zivilrechtliche Aspekte
11.2 Strafrechtliche Aspekte: Schuldunfähigkeit, verminderte Schuldfähigkeit und Vollrausch
11.3 Straßen- und Verkehrsrecht
11.4 Untersuchung auf Beeinflussung durch Alkohol
11.5 Unterbringungsrecht
11.6 Maßregeln der Besserung und Sicherung
11.7 Sonstige gesetzliche Bestimmungen in Deutschland
Literatur
Sachverzeichnis
Das Wort „Alkohol“ stammt aus dem Arabischen (Al-Cool) und bedeutet „feines Pulver, Augenschminke“.
Alkohol (worunter im Folgenden immer Äthylalkohol – Äthanol – verstanden wird) weist eine Reihe von Eigenschaften auf (s. auch Kap. 2.2), die sich sonst bei kaum einer anderen Substanz vereint finden.
Alkohol ist (abgesehen von seiner technischen Anwendung)
ein Nahrungsmittel mit hohem Energiegehalt
ein Genussmittel, das Getränken Geschmack verleiht
eine psychoaktive Substanz mit der Fähigkeit, das Bewusstsein und Gefühle zu verändern. In dieser Eigenschaft kann sie für verschiedene Zwecke verwendet werden:
als Rauschmittel,
als Mittel für sakrale Zwecke,
als Mittel zur Förderung sozialer Kontakte.Als psychoaktive Substanz kann Alkohol auch zu Schäden führen, z. B.
soziale Probleme verursachen,
zum Suchtmittel werden.
ein Pharmakon mit der Wirkung
als Heilmittel (früher vielfach und auch heute noch in begrenztem Umfang eingesetzt)
als Gift (wegen seiner Nebenwirkungen bei akutem wie bei chronischem Gebrauch)
schließlich ein kulturelles Konsumgut mit wichtiger symbolischer Bedeutung für Rituale, Genuss und Feiern.
Der Terminus (chronischer) „Alkoholismus“ wurde 1852 von dem schwedischen Arzt Huss zur Bezeichnung körperlicher Folgeschäden von übermäßigem Alkoholkonsum geprägt. Dank seiner Anschaulichkeit und „Handlichkeit“ hat er sich weltweit eingebürgert. Er stellt aber einen etwas verschwommenen Begriff dar. In der Umgangssprache bezeichnet man damit ein Konstrukt, das verschiedene Phänomene umfasst, die zu trennen sind: Alkoholmissbrauch (bzw. „schädlichen Gebrauch“) einerseits und Alkoholabhängigkeit andererseits. Dieser biaxiale Ansatz hat sich seit seiner Konzeption 1977 sehr bewährt und dementsprechend weitgehend durchgesetzt (s. Kap. 1.4). Alkoholabhängigkeit ist als Synonym des alten Begriffs der „Trunksucht“ zu erachten, auf den aber heute verzichtet werden sollte, obwohl er in der Rechtsprechung noch in den letzten Jahrzehnten angewandt wurde (z. B. Bundessozialgericht 1968). Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff Alkoholismus aber weithin für die beiden Störungen Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit verwendet. Dementsprechend wurde der Titel der 1. Auflage dieses Buches „Alkoholismus
Missbrauch und Abhängigkeit“ auch für die 6. Auflage beibehalten.
Herstellung und Auswahl alkoholischer Getränke. Seit prähistorischen Zeiten haben die Menschen der verschiedenen Kulturkreise der Alten und Neuen Welt alkoholische Getränke hergestellt, meist aus Fruchtsäften, Getreideprodukten oder, seltener, aus Honig oder Milchzubereitungen. Sie machten sich dafür die natürlichen hefebedingten Gärungsvorgänge zunutze, die wohl zufällig entdeckt wurden. Das Resultat sind wein- und bierartige Getränke, Met oder Kumys (hergestellt aus Stutenmilch). Sie können wegen der toxischen Wirkung auf die Hefezellen höchstens 15–18 % Alkohol enthalten. Erst um die Wende des ersten nachchristlichen Jahrtausends gelang es im Abendland, aus diesen Getränken durch Destillation solche mit höherem Alkoholgehalt zu erzeugen. Diese Destillate haben weite Verbreitung gefunden. Sie wurden als „Geist des Weins“ oder „Lebenswasser“ („aqua vitae“) hochgepriesen. Neuerdings wird vermutet, dass man in China schon etwa 1000 Jahre früher höherprozentige alkoholische Getränke hergestellt hat (Wiederhage et al. 1994). Bier und Wein waren im Altertum und im Mittelalter die üblichen Getränke zum Löschen des Durstes und auch zum Stillen des Hungers. Wasser, das meist, zumindest in den Städten, von schlechter Qualität war, wurde nur von ganz armen Leuten getrunken. Daneben schätzte man an den alkoholischen Getränken ihre psychoaktive Wirkung, vor allem den Rausch.
Der Rausch. Der Rausch gehört wie auch der Traum, die Trance und die Ekstase zu den veränderten Bewusstseinszuständen. Er stellt eine „Bewusstseinserweiterung“ dar, die oft lustvoll, manchmal aber auch als bedrohlich erlebt wird. In sakraler Hinsicht galt der Rausch als eine Art „Vehikel“ des Übergangs in eine heilige Welt, d. h. in die zeitlos-göttliche Ordnung.
Psychosoziale Funktion. Alkoholische Getränke erleichtern in ihrer psychosozialen Funktion den Kontakt zu Mitmenschen beim fröhlichen, gemeinschaftlichen Trinken.
Die Teilnahme an den zahlreichen Trinkgelagen war in alten Zeiten Recht (und Pflicht) eines freien Bürgers. Sie nahmen einen breiten gesellschaftlichen Raum ein und hatten mehr oder minder differenzierte und strenge Regeln. Bei vielen Völkern, vor allem der nicht industrialisierten Welt außerhalb Europas, waren (und sind z. T. noch bis heute) die Herstellung und der Verkauf alkoholischer Getränke hauptsächlich eine Angelegenheit der Frauen. Dementsprechend stehen sie hier hinsichtlich des Alkoholkonsums den Männern nicht nach (Heath 1991). In allen westlichen Ländern ist allerdings der Alkoholkonsum bei Männern wesentlich häufiger als bei Frauen (Babor et al. 2002).
Arten der Produktion und des Vertriebs alkoholischer Getränke (Übersicht in Babor et al. 2002):
private Eigenproduktion und die handwerkliche Herstellung von destillierten Spirituosen sowie von traditionellen Gärprodukten
gewerbliche und industrielle Produktion im Vertrieb, einheimische Alkoholgetränke
lokale und gewerbliche industrielle Produktion nationaler alkoholhaltiger Getränke
Produktion internationaler Firmen und Marken, die z. T. global vertrieben werden. Beispiele sind hier bestimmte Biersorten, Markenspirituosen und Wein.
In vielen Ländern ist die Produktion von alkoholischen Getränken ein wichtiger Wirtschaftszweig, der erhebliche Gewinne für Produzenten, Handel, Werbefirmen, vor allem aber auch den Staat generiert, der erhebliche Steuereinnahmen hat (s. Kap. 3).
Maßnahmen gegen die negativen Folgen des Alkoholkonsums. Negative Folgen des Alkoholkonsums sind schon seit Jahrtausenden in westlichen wie östlichen Kulturen bekannt. Schon in der Antike warnten u. a. Platon, Cicero, Cato, Seneca, in den biblischen Schriften der Prophet Jeremia und der Apostel Paulus vor den Gefahren übermäßigen Genusses berauschender Getränke. Man wusste auch, dass es bestimmte Menschen gab, die nicht mit dem Trinken aufhören konnten, die sozusagen dem „Trunk verfallen“ waren. Sie traf ein moralisches Urteil. Man versuchte auf verschiedene Weise, den Wein- und später auch den Schnapskonsum einzudämmen, allerdings ohne nachhaltigen Erfolg. So empfahl man z. B. Selbstkontrolle und Änderung der Trinksitten. Schließlich wurden auch wiederholt strenge, ja prohibitive Maßnahmen verfügt, in China schon im 8. Jahrhundert v. Chr. Viel mehr Erfolg hatten allerdings die großen von Asien ausgehenden Religionen, vor allem der Islam, der Buddhismus und der Hinduismus mit ihrem Verbot des Genusses berauschender Getränke. Diese religiösen Vorschriften haben entscheidende Verhaltensänderungen unter der Anhängerschaft zur Folge gehabt, was heute noch in Ethnien und Ländern zu beobachten ist, die von ihnen geprägt sind (Caetano et al. 1998, Miller 1998).
Einstellung der Mediziner. Die Einstellung der Mediziner gegenüber den alkoholischen Getränken war jahrtausendelang durch Ambivalenz zwischen ihren vermuteten heilsamen Wirkungen (z. B. als Betäubungs- und Schmerzmittel, aber auch als „Blutreinigungsmittel“ und als Mittel gegen „Phlegma“) und ihren negativen Folgen geprägt. Schon frühzeitig wurde eine Reihe von alkoholbedingten Schäden, wie „Fallsucht“, „Wassersucht“, Zittern usw., beschrieben, was aus heutiger Sicht auf scharfe Beobachtung und folgerichtige Ursachenzuweisung hindeutet. Aber erst seit der Aufklärung beschäftigte man sich eingehender mit den Ursachen häufiger „Unmäßigkeit“.
1780 schrieb der schottische Arzt Trotter, dass die „Begierde nach häufiger Trunkenheit eine durch die chemische Natur der alkoholischen Getränke hervorgerufene Krankheit“ sei. Er wurde damit zum Vater des Krankheitskonzepts des Alkoholismus (s. Kap. 1.5). Daraus folgte konsequenterweise die Ablehnung von „Zuspruch und Sittenpredigten gegenüber demjenigen Säufer, dem einmal das Trinken zum physischen Bedürfnis geworden ist“ (Rösch 1839, zit. in Spode 1993). Dieser müsse als Kranker gelten. Gegen diese revolutionären Ansichten gab es natürlich viele Einwände. So hielten puritanisch geprägte Theologen daran fest, dass jeder Trinker ein Sünder sei.
Entsprechend wurde im 19. Jahrhundert auch von Ärzten lange die Auffassung vertreten, Alkoholismus sei ein moralisches Versagen oder eine Charakterschwäche. Diese, mittlerweile überwundene, Einschätzung fand auch in frühen Ausgaben psychiatrischer Klassifikationssysteme, wie des DSM (s. Kap. 1.3), noch insofern Berücksichtigung, als Alkoholismus und Drogenabhängigkeit zunächst innerhalb der Persönlichkeitsstörungen und erst später als eigenständige Krankheitsidentitäten aufgeführt wurden.
Alkoholgegnerische Zusammenschlüsse. Anfang des 19. Jahrhunderts kam es, von den USA und England ausgehend, auch in Deutschland zur Gründung von „Mäßigkeitsvereinen“ mit Millionen von Mitgliedern, die sich schriftlich verpflichteten, keine Spirituosen zu trinken. Schnapskonsum galt ihnen als Laster, während der Konsum des „Volksgetränks“ Bier nicht kritisiert, sondern eher empfohlen wurde. Diese „Bewegung“ brach aber um die Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden „alkoholgegnerische Verbände“, also Abstinenzvereine (das „Blaue Kreuz“, der „Kreuzbund“, der „Guttemplerorden“, s. Kap. 8.3.3). In diesen Jahrzehnten wurden auch zahlreiche „Trinkerheilstätten“ gegründet, die von einem „Hausvater“ (meist einem Geistlichen) geleitet wurden. Die Behandlung bestand hier vor allem in „plötzlichem Entzug des Alkohols, guter Pflege, reichlicher Beschäftigung im Freien und religiöser Einwirkung“. Diesem Konzept stimmten auch die meisten Psychiater des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu, von denen sich relativ viele eingehend mit dem Alkoholismusproblem befassten (z. B. E. Kraepelin in Deutschland, A. Forel und E. Bleuler in der Schweiz).
Trink- und Konsummuster. Die modernen psychiatrischen Klassifikationssysteme definieren heute unter den alkoholbezogenen Störungen schädlichen Gebrauch bzw. Missbrauch sowie Abhängigkeit als krankhafte Zustände. Weniger gut operationalisiert sind verschiedene Trink- und Konsummuster in Bezug auf alkoholische Getränke, die aber als zunehmend wichtig für die Entwicklung von körperlichen und sozialen Schäden angesehen werden (s. Kap. 2.2)
Generell kann man Alkoholkonsumenten von Abstinenten unterscheiden, wobei Abstinenz hinsichtlich des Zeitraums (epidemiologisch z. B. lebenslang oder das letzte Jahr) und auch hinsichtlich der Abstinenzstrenge (z. B. ein Glas pro Jahr erlaubt als fast abstinent) unterschiedlich definiert sein kann (s. auch Kap. 3.3.3).
Unter den Alkoholtrinkenden, in den westlichen Ländern die breite Masse der Bevölkerung, gibt es solche mit einem geringen (Low Risk), einem gefährlichen (hazardous), einem schädlichen (harmful) und einem Hochrisiko-Konsum von alkoholischen Getränken (Übersicht in Bühringer et al 2002). Die Frage, ab wann ein Alkoholkonsum als problematisch oder gefährlich anzusehen ist, ist in der Literatur immer wieder kontrovers diskutiert worden und es ist schwierig, konkrete Grenzwerte dafür anzugeben.
Allgemein geht man heute davon aus, dass zur „Niedrig-Risiko-Gruppe“ Männer mit einem Konsum von bis zu 30 g reinem Alkohol pro Tag gehören (Frauen: bis 20 g Alkohol pro Tag).
Von einem problematischen Alkoholkonsum spricht man bei einer täglichen Trinkmenge von 30 bis 60 g Alkohol (Frauen 20 bis 40 g).
Ein schädlicher Konsum liegt bei einem Alkoholkonsum von 60 bis 120 g (Frauen 40 bis 80 g) vor.
Die Hochrisikogruppe umfasst Alkoholkonsumenten, die mehr als 120 g Alkohol pro Tag konsumieren (Frauen 80 g). Bei ihnen ist die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung oder von alkoholbedingten Organschäden besonders hoch (
s. auch Kap.
3.3.3
).
Zur Vermeidung häufiger Missverständnisse hinsichtlich des Begriffs Alkohol- oder Drogenmissbrauch ist es erforderlich unterschiedlich weit gefasste Definitionen zu unterscheiden.
Weite Definition. Einer allgemein gefassten abstrakt-theoretischen Definition liegt die Vorstellung einer Schaden-Nutzen-Relation zugrunde. Wenn der Schaden (unter Einschluss von sozialen Schäden) den Nutzen klar übersteigt oder in absehbarer Zeit und mit hinreichender Sicherheit übersteigen wird, spricht man von Missbrauch (Missbrauch im weiteren Sinn). Damit kann auch ein einmaliger Rauschzustand als Missbrauch bezeichnet werden. Zu beachten ist dabei noch, ob Missbrauch als Oberbegriff unter Einschluss der Alkoholabhängigkeit oder als Komplementärbegriff (zu den Diagnosen schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit) verstanden wird.
Bei der konkreten Beurteilung, ob ein Missbrauch im weiteren Sinne vorliegt, können medizinische Indikationen, vor allem bei einem Arzneimittelmissbrauch, hilfreich sein (bestimmungsgemäßer Gebrauch). Darüber hinaus spielen vor allem Gesetze über den Konsum von Alkohol in bestimmten Situationen, wie beim Autofahren im Straßenverkehr eine entscheidende Rolle. Das Verbot von illegalen Drogen definiert einen Missbrauch im weiteren Sinne, wenn man davon ausgeht, dass zumindest der soziale Schaden den Nutzen übersteigt. Wenn die Orientierung an Indikationen und Gesetzen nicht ausreichend Klarheit bringt, muss auf die allgemein-abstrakte Definition zurückgegriffen werden.
Als (stoffgebundene) Abhängigkeit bezeichnet man ein Syndrom, das Symptome der physiologischen, der kognitiven und der Verhaltensebene umfasst. Das Abhängigkeitssyndrom ist bei allen Substanzen ähnlich, die ein nennenswertes Abhängigkeitspotenzial aufweisen (s. Kap. 4.2.1).
Man hat seit Langem zwischen körperlicher und psychischer Abhängigkeit unterschieden.
Körperliche Abhängigkeit ist durch das Auftreten von zwei Phänomenen gekennzeichnet:
Entzugssyndrom: Symptome, die nach längerem Gebrauch von Alkohol und dessen nachfolgendem Absetzen auftreten (
s. Kap.
4.2
)
Toleranzentwicklung: definiert durch eine Dosissteigerung nach längerem Konsum, um die gleiche Wirkung wie am Anfang zu erzielen. In späteren Phasen kann es auch zu einem Toleranzbruch kommen.
Das Auftreten von Symptomen der körperlichen Abhängigkeit ist nicht hinreichend für die Diagnose einer Abhängigkeit (vgl. auch Caroll et al. 1994). Es gibt eine Reihe von Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial, bei denen Zeichen einer körperlichen Abhängigkeit (Entzugssyndrom) völlig oder weitgehend fehlen (z. B. bei Halluzinogenen und Cannabinoiden). Entscheidend ist vielmehr die psychische Abhängigkeit. Sie ist schwerer zu charakterisieren.
Psychische Abhängigkeit. Psychische Abhängigkeit ist nach der älteren Definition der WHO (1965) das „unwiderstehliche Verlangen nach einer weiteren oder dauernden Einnahme der Substanz, um „Lust zu erzeugen oder Missbehagen zu vermeiden“, also das, was man in den letzten Jahren als „craving“ bezeichnet. Daneben ist die mangelnde Kontrollfähigkeit ein wesentlicher Aspekt der psychischen Abhängigkeit. Sie wird definiert durch einen Alkoholkonsum trotz damit verbundener Schäden im körperlichen, sozialen und psychischen Bereich.
Sucht. Der Terminus Sucht ist ähnlich verschwommen (aber auch ähnlich handlich und deswegen weit verbreitet) wie der Terminus Alkoholismus. Etymologisch leitet sich das Wort Sucht von „siech“ (= krank) ab. Es hat eine Doppelbedeutung:
Krankheit (z. B. Gelbsucht, Wassersucht)
(im allgemeinen Sprachgebrauch) Laster (z. B. Habsucht, Eifersucht u. ä.).
Eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung einer Sucht ist die Gewöhnung (Habituation), sowohl in pharmakologischer wie in psychologischer Sicht. Bei der Gewöhnung handelt es sich ganz allgemein um eine spezifische Reaktionsminderung nach fortgesetzter Reizwiederholung, hier nach wiederholtem Alkoholkonsum. Dabei tritt keine Generalisierung auf. In der „gewohnten Reizsituation“ verlieren z. B. angeborene wirksame Schlüsselreize ihre auslösende Wirkung, behalten sie aber in allen anderen Situationen.
Von der Gewöhnung ist die Bildung von Gewohnheiten (habits) zu unterscheiden. Darunter werden relativ automatisierte Reaktionsabläufe verstan den, die nach der Terminologie der Lerntheorie entweder als eingeschliffene Antwort auf einen diskriminitativen Stimulus oder als ein operantes Verhalten mit hoher Auftretenswahrscheinlichkeit aufzufassen sind. Gewohnheiten entstehen durch Konditionierung (klassisch oder operant) einer spezifischen Reaktionsweise, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens anderer möglicher Verhaltensweisen verringert. Ob eine Reaktion in einer konkreten Situation eintritt, hängt zusätzlich von der jeweiligen Bedürfnisspannung ab. Die Gewohnheitsbindung kann für die Entstehung eines Missbrauchs bedeutsam sein.
Aus psychiatrischer Sicht versteht man unter Sucht ein bestimmtes Verhaltens- und Erlebnismuster, das mit einem „unabweisbaren Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebens- und Bewusstseinszustand“ umschrieben werden kann (Gross, W. 1992, zit. nach Poppelreuter 1996).
Dieses Muster stellt eine potenziell in jedem Menschen vorhandene Disposition dar, die „aber keinesfalls als naturgegebenes, schicksalhaftes Krankheitsgeschehen“ aufgefasst werden kann. Sucht ist nicht auf den Umgang mit bestimmten Stoffen beschränkt, die ein mehr oder minder ausgeprägtes (und experimentell definierbares) „Suchtpotenzial“ (s. u.) aufweisen. Vielmehr kann „jede Form menschlichen Verhaltens süchtig entarten“ (Gebsattel 1958). Das schließt die sog. (nicht stoffgebundenen) Tätigkeitssüchte (z. B. Magersucht, Glücksspiel, sexuelle Perversionen, s. Grüsser u. Thalmann 2006) mit ein.
Freilich birgt diese Erweiterung des Suchtbegriffs auch die Gefahr in sich, dass dadurch dessen pathologischer Charakter verwässert wird. Gerade in den letzten Jahren ist wieder eine Tendenz beobachtbar, verschiedene Formen menschlichen Fehlverhaltens mit dem Begriff „Sucht“ zu kontaminieren und auch die Umgangssprache kennt viele solche Begriffe: Geltungssucht, Arbeitssucht, Sexsucht.
Da der Begriff „Sucht“ schwer zu definieren ist, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1964 vorgeschlagen, auf ihn im Zusammenhang mit der Einnahme chemischer Substanzen (Drogen) völlig zu verzichten und ihn durch den Begriff der Abhängigkeit zu ersetzen. Trotz seiner Unschärfe wird der Terminus Sucht in den letzten Jahren verschiedentlich (auch im wissenschaftlichen Bereich) wieder häufiger verwendet, vor allem im Zusammenhang mit den nicht stoffgebundenen Süchten. In den weltweit verbreiteten Klassifikationsschemata (International Classification of Diseases [ICD] [Dilling et al. 1993] und Diagnostisches und Statistisches Manual [DSM] der American Psychiatric Association [Sass et al. 1996]) wird er vermieden. Pragmatisch werden in zahlreichen Studien die beiden Diagnosen „schädlicher Gebrauch“ und „Abhängigkeit“ zusammengefasst und können als Alkoholismus oder als Substanzstörung bezeichnet werden. Für wissenschaftliche Analysen ist jedoch eine Differenzierung wünschenswert (vgl. Babor 2008).
Die diagnostischen Kriterien für Missbrauch und Abhängigkeit (s. Tab. 1.2) sind für die einzelnen Suchtformen bislang gleich. Dies mag sich zukünftig bei neueren Fassungen der psychiatrischen Klassifikationssysteme von ICD und DSM ändern (Schmidt 2006, s. Kap. 1.4).
Stoffe mit Abhängigkeitspotenzial. In der ICD-10 werden 10 Stoffgruppen mit „Abhängigkeitspotenzial“ unterschieden, die also zu Störungen führen können, die für Abhängigkeit charakteristisch sind:
Alkohol
Opioide (z. B. Heroin)
Cannabinoide (z. B. Haschisch)
Sedativa oder Hypnotika (z. B. Benzodiazepine)
Kokain
Andere Stimulanzien einschließlich Koffein (z. B. Amphetamine)
Halluzinogene (z. B. LSD)
Tabak
Flüchtige Lösungsmittel (sog. Schnüffelstoffe)
Multipler Substanzgebrauch und sonstige psychotrope Substanzen.
Im DSM-IV (1996) werden noch zusätzlich Koffein und Phencyclidin erwähnt; vom Tabak wird Nikotin (als die Substanz mit dem eigentlichen Suchtpotenzial) aufgeführt.
In den älteren Definitionen des Alkoholismus (z. B. der WHO von 1952) wird auf die Folgen des exzessiven Trinkens auf körperlichem, geistigem, sozialem und wirtschaftlichem Gebiet abgehoben. Diese Definitionen haben in den folgenden Jahren erhebliche Kritik erfahren.
1977 wurde von einer Expertenkommission der WHO (Edwards et al.) vorgeschlagen, zwischen alkoholbezogenen Folgeschäden und Alkoholabhängigkeit zu unterscheiden. Diese Differenzierung zwischen Missbrauch und Abhängigkeit hat sich (auch für die anderen Stoffe mit Abhängigkeitspotenzial) als fruchtbar erwiesen und Eingang in die o. g. Klassifikationsschemata gefunden.
1992 wurde in den USA von den beiden führenden Fachinstanzen (National Council on Alcoholism and Drug Dependence, American Society of Addictive Medicine) folgende zusammenfassende Definition des Alkoholismus formuliert. Sie lautet (in freier Übersetzung):
Alkoholismus ist eine primäre, chronische Krankheit, deren Entstehung und Manifestation durch genetische, psychosoziale und umfeldbedingte Faktoren beeinflusst werden. Sie schreitet häufig fort und kann tödlich enden. Alkoholismus wird durch eine Reihe von dauernd oder zeitweilig auftretenden Kennzeichen charakterisiert: durch die Verschlechterung des Kontrollvermögens beim Trinken und durch die vermehrte gedankliche Beschäftigung mit Alkohol, der trotz besseren Wissens um seine schädlichen Folgen getrunken und dessen Konsum häufig verleugnet wird.
Zunächst soll darauf hingewiesen werden, dass der in den letzten Jahrzehnten vor allem in der angloamerikanischen Literatur häufig verwendete Begriff „problem drinking“ (Trinken in einem Ausmaß, dass es zu Problemen auf körperlichem, psychischem oder/und sozialem Gebiet kommt) weder im DSM-IV noch in der ICD 10 benutzt wird.
Verwirrung entsteht in der Literatur oft dadurch, dass Ergebnisse unterschiedlicher Teilgruppen sich auf Abhängigkeit, schädlichen Gebrauch und auf andere Konsumformen mit Schäden beziehen, die aber nicht die diagnostischen Kriterien erfüllen.
Im DSM-IV wird für die Diagnose des Missbrauchs psychotroper Substanzen (hier des Alkohols) das Vorhandensein von mindestens einem der folgenden Kriterien innerhalb desselben 12-Monats-Zeitraums verlangt:
wiederholter Alkoholkonsum, der zu einem Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder zu Hause führt (z. B. wiederholtes Fernbleiben von der Arbeit und schlechte Arbeitsleistungen in Zusammenhang mit dem Alkoholgebrauch, Schulschwänzen, Einstellen des Schulbesuchs, Vernachlässigung von Kindern und Haushalt)
wiederholter Alkoholkonsum in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann (z. B. Alkohol am Steuer oder das Bedienen von Maschinen unter Alkoholeinfluss)
wiederkehrende rechtliche Probleme im Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum (Verhaftungen aufgrund ungebührlichen Betragens im Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum)
fortgesetzter Alkoholkonsum trotz ständiger oder sich wiederholender sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme, die durch die Auswirkungen des Alkohols verursacht oder verstärkt werden (z. B. Streit mit dem Ehegatten über Folgen der Intoxikation, körperliche Auseinandersetzungen, Kindesmissbrauch).
Wenn diese Probleme zusammen mit Alkoholtoleranz, Entzug oder zwanghaftem Verhalten, das in Zusammenhang mit Alkoholkonsum steht, auftreten, sollte eher die Diagnose Alkoholabhängigkeit als die eines Alkoholmissbrauchs in Erwägung gezogen werden. Die Symptome haben niemals die Kriterien für Alkoholabhängigkeit erfüllt.
In der ICD-10 wurde der früher, auch in der ICD-9 verwendete Begriff des Alkoholmissbrauchs (definiert durch „Schaden der Gesundheit oder der sozialen Anpassung“) aufgegeben und durch den Begriff des „schädlichen Gebrauchs“ ersetzt. Im Unterschied zum schädlichen Gebrauch werden in die Missbrauchsdefinition nach DSM-IV auch soziale Schäden mit einbezogen.
Schädlicher Gebrauch ist definiert durch ein Konsummuster psychotroper Substanzen, das zu einer Gesundheitsschädigung führt. Diese kann eine körperliche Störung oder eine psychische Störung, z. B. eine depressive Episode nach massivem Alkoholkonsum, sein. Soziale Schäden werden nicht berücksichtigt.
Nach der ICD-10 handelt es sich beim Abhängigkeitssyndrom um „eine Gruppe körperlicher, Verhaltens- und kognitiv-emotionaler Phänomene, bei denen der Konsum einer Substanz oder einer Substanzklasse für die betreffende Person Vorrang hat gegenüber anderen Verhaltensweisen, die von ihr früher höher bewertet wurden. Ein entscheidendes Charakteristikum ist der oft starke, gelegentlich übermächtige Wunsch, Substanzen oder Medikamente (ärztlich verordnet oder nicht), Alkohol oder Tabak zu konsumieren.“ Es heißt weiter: „Der innere Zwang, Substanzen zu konsumieren, wird meist dann bewusst, wenn versucht wird, den Konsum zu beenden oder zu kontrollieren.“
Im Einzelnen werden (nach der Version von 1992) 6 Kriterien aufgeführt:
Starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren
Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums
Körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch substanzspezifische Entzugssyndrome oder durch die Aufnahme der gleichen oder einer nahe verwandten Substanz, um Entzugssyndrome zu mildern oder zu vermeiden (
s. Kap.
4.2.1
)
Nachweis einer Toleranz: Erforderlichkeit von zunehmend höheren Dosen, um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung der Substanz hervorzurufen, (eindeutige Beispiele hierfür sind Tagesdosen von Alkoholikern oder Opioidabhängigen, die bei Konsumenten ohne Toleranzentwicklung zu einer schweren Beeinträchtigung oder sogar zum Tode führen würden)
Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums; erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen
Anhaltender Alkoholkonsum trotz Nachweis eindeutiger schädlicher Folgen, wie Leberschädigung durch exzessives Trinken, depressive Verstimmungen infolge starken Substanzkonsums oder drogenbedingte Verschlechterung kognitiver Funktionen. Es sollte dabei festgestellt werden, dass der Konsument sich tatsächlich über Art und Ausmaß der schädlichen Folgen im Klaren war oder dass zumindest davon auszugehen ist.
Tabelle 1.1 Klassifikation von κ-Werten (aus Landis u. Koch 1977)
Wert
Übereinstimmung
0,0–0,20
minimal
0,21–0,40
gering
0,41–0,60
mittelgradig
0,61–0,80
gut
0,81–1,00
ausgezeichnet
Die Diagnose sollte nur gestellt werden, wenn irgendwann während des letzten Jahres 3 oder mehr der genannten Kriterien vorhanden waren. Einzelheiten über die Anwendung der genannten Klassifikationsschemata können hier nicht gegeben werden; Näheres für die ICD-10: Schulte-Markwort u. Freyberger 1994.
Die Übereinstimmungsreliabilität der Termini für „Störungen durch psychotrope Substanzen“ (F 1) ist für Abhängigkeit deutlich höher als für Missbrauch (κ-Werte 0,70 vs. 0,30, s. Tab. 1.1).
Nach dem DSM-IV gilt Abhängigkeit als ein unangepasstes Muster von Alkoholgebrauch, das in klinisch bedeutsamer Weise zu Beeinträchtigungen oder Leiden führt, wobei sich mindestens 3 der folgenden 7 Kriterien manifestieren, die zu irgendeiner Zeit in demselben 12-Monats-Zeitraum auftreten:
Toleranzentwicklung: Verlangen nach ausgeprägter Dosissteigerung, um einen Intoxikationszustand oder erwünschten Effekt herbeizuführen, oder deutlich verminderte Wirkung bei fortgesetzter Einnahme
Entzugssymptome, die etwa 12 Stunden nach der Reduktion bei lang anhaltendem, starkem Alkoholkonsum entstehen und sich durch eines der folgenden Kriterien äußern:
charakteristisches Entzugssyndrom (
s. Kap.
4.2.1
)
Einnahme derselben (oder einer sehr ähnlichen) Substanz, um Entzugssymptome zu lindern oder zu vermeiden
3. Häufige Einnahme von Alkohol in größeren Mengen oder länger als beabsichtigt
4. Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Alkoholgebrauch zu verringern oder zu kontrollieren
5. Viel Zeitaufwand für Aktivitäten, um die Substanz zu beschaffen, sie zu sich zu nehmen oder sich von ihren Wirkungen zu erholen
6. Aufgabe oder Einschränkung wichtiger sozialer, beruflicher oder Freizeitaktivitäten aufgrund des Alkoholmissbrauchs
7. Fortgesetzter Alkoholmissbrauch trotz Kenntnis eines anhaltenden oder wiederkehrenden Problems, das wahrscheinlich durch den Alkoholmissbrauch verursacht oder verstärkt wurde.
Kriterium 5 und 6 der DSM-IV sind in der ICD-10 zusammengefasst.
Die Klassifikationen mit dem multiaxialen System des DSM-IV beziehen sich auf die Achse I. Persönlichkeitsstörungen, körperliche Erkrankungen, psychosoziale und Umgebungsfaktoren sowie Aussagen über das globale Funktionsniveau können auf den Achsen II – V codiert werden. Nach Untersuchungen über die Konstruktvalidität der Kriterien des DSM-IV (Feingold u. Rounsaville 1995) unterscheiden sich diese eindimensional und faktoriell von den Kriterien der Alkoholfolgeschäden, sind jedoch auf andere Drogen mit Abhängigkeitspotenzial übertragbar (Opioide, Cannabinoide, Kokain, Sedativa und Stimulanzien).
Das DSM-III-R hatte noch unter Missbrauch sozusagen ein Prodromalstadium der Abhängigkeit verstanden, bei der die Kriterien der Abhängigkeit noch nicht erfüllt waren, d. h. also, dass die Abhängigkeit den Missbrauch voraussetzte und mit einschloss.
Tabelle 1.2 Vergleich der Items von DSM IV und ICD 10
DSM IV
ICD-10
Schädlicher Gebrauch bzw. Missbrauch
Vernachlässigung von Pflichten (1)
Alkohol trotz körperlicher Risiken (2)
Alkohol trotz Problemen mit der Polizei (3)
Alkohol trotz psychosozialer Probleme (4)
Schadigung der psychischenoder physischen Gesundheit
Abhängigkeit
*
Toleranz (1)
Entzugssyndrom (2)
Kontrollminderung (3)
zwanghaftes Triken (4)
hoher Zeitaufwand für Alkoholbeschaffung (5)
Vernachlässignung anderer Aktivitäten (6)
Konsum trotz Wissen um negative Folgen (7)
Toleranz (4)
Entzugssyndrom (3)
Kontrollminderung (2)
zwanghaftes Trinken (1)
hoher Zeitaufwand fü Alkoholbeschaffung (5)
Vernachlässignung anderer Aktivitäten (5)
Konsum trotz Wissen um negative Folgen (7)
*Die Ziffern entsprechen der Reihenfolge in dem jeweiligen Diagnosesystem.
In der jeweils letzten Ausgabe der beiden Klassifikationsschemata (ICD-10 und DSM-IV) werden Missbrauch und Abhängigkeit jedoch als getrennte Phänomene betrachtet und entsprechend klassifiziert.
Allerdings hat sich bei den erwähnten Studien gezeigt, dass die Kriterien von Missbrauch und Abhängigkeit intern konsistent sind (gemessen mit dem Addiction Severity Index [ASI], s. Kap. 7.2.4).
Wie aus der Tabelle 1.2 hervorgeht, findet man beim Vergleich beider Klassifikationsschemata bei der Diagnose des Missbrauchs bzw. schädlichen Gebrauchs von Alkohol beträchtliche Unterschiede (trotzdem werden beide Begriffe weithin als synonym verwendet, vor allem in Gegenüberstellung zum Begriff der Abhängigkeit). Zwar sind die negativen körperlichen und psychischen Folgen des Alkoholkonsums in beiden Schemata als Kriterien für Alkoholmissbrauch aufgeführt. Negative soziale Konsequenzen finden sich aber in der ICD-10 als Kriterium des schädlichen Gebrauchs überhaupt nicht; im DSM-IV jedoch stellen sie den Inhalt aller 4 Kriterien für Alkoholmissbrauch dar. Außerdem werden in der ICD-10 im Gegensatz zum DSM-IV keine Zeit- und Häufigkeitskriterien genannt.
Bei der Diagnose der Abhängigkeit findet man mehr Übereinstimmungen: Alle wesentlichen Symptome sind in beiden Schemata aufgeführt.
Beim Vergleich der Validität und Reliabilität beider Schemata ergeben sich aus Studien, bei denen die endgültigen Fassungen des DSM-IV (mit 7 Items für das Abhängigkeitssyndrom) und der ICD-10 (mit 6 Items für das Abhängigkeitssyndrom) verwendet wurden, jedoch Unterschiede: So wurde Alkoholabhängigkeit mit dem DSM-IV bei 3,9 %, mit der ICD-10 bei 5,5 % derselben Populationen gefunden. Der κ-Wert betrug dementsprechend nur 0,67 (Caetano u. Tam 1995).
Entwicklung der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit). In Ergänzung zur ICD mit dem Schwerpunkt der Krankheitsklassifikation wurde die ICF entwickelt, deren Schwerpunkt die Erfassung funktionaler Gesundheit unter Einbeziehung des sozialen und ökologischen Umfeldes darstellt (WHO 2001, DIMDI 2005). Die ICF hat dazu ein eigenes Begriffssystem entwickelt und unterscheidet zunächst folgende basale Gesundheitsfunktionen:
Abb. 1.1 Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF (DIMDI 2005).
1. Körperfunktionen und Körperstrukturen:
Körperfunktionen (einschließlich psychischer Funktionen des Denkens und des Fühlens)
Körperstrukturen
2. Aktivitäten und Teilhabe (im Sozialbereich)
3. Umgebungsfaktoren: 3a Soziale Beziehungen, 3b Ökologisches Umfeld
4. Personale Faktoren (nicht weiter klassifiziert).
Umgebungsfaktoren und personale Faktoren werden auch als Kontextfaktoren bezeichnet. Innerhalb dieser basalen Funktionsbereiche erfolgt eine Aufgliederung nach unterschiedlichen Gesundheitsbereichen (domains) von der Ebene1 mit nur globalen klassifikatorischen Begriffen über die Ebenen 2 und 3 mit genaueren Definitionen zur direkten Erfassung der Variablen. Diese dritte Ebene bildet dann die Grundlage für eine konkrete Erfassung entsprechender Kriterien (s. Abb. 1.1).
Zur Beurteilung der funktionalen Gesundheit (Funktionsfähigkeit) werden die Begriffe Behinderung (disability) mit den Unterbegriffen Schädigung (impairment) für die Bereiche Körperfunktionen und Körperstrukturen sowie Beeinträchtigungen für den Bereich Aktivitäten und Teilhabe eingeführt. Für die Beurteilung der Aktivitäten werden die Aspekte der Kapazität (capacity) und Ausführung (performance) verwendet. Bei den Umgebungsfaktoren und den personalen Faktoren werden für die Beurteilung die Begriffe Barrieren und Unterstützer (Facilitator) unterschieden.
Für die Anwendung im Suchtbereich ist die Abgrenzung eines Kernbereiches von Kriterien (Items) aus dem Gesamtbereich der Itempools von Ebene 3 erforderlich. Erst dann können daraus Erhebungsbögen entwickelt werden, deren Bedeutung durch weitere Studien im Suchtbereich untersucht werden muss.
Exkurs
Aktuelle Entwicklungen zur Diagnose von alkoholbezogenen Störungen in ICD-11 und DSM-V (Schmidt 2006)
Bislang betrachteten sowohl ICD-10 und DSM-IV Abhängigkeits- und Nichtabhängigkeitskategorien hierarchisch: Nur wenn keine Abhängigkeit vorliegt, kann schädlicher Gebrauch oder Missbrauch/ Abusus diagnostiziert werden. Während die Übereinstimmung hinsichtlich der Abhängigkeitskategorien in beiden Diagnosesystemen groß war, war diese wegen der unterschiedlichen Konzeption bei schädlichem Gebrauch und Missbrauch/Abusus gering.
Das Entscheidende ist die Frage eines dimensionalen oder kategorialen Ansatzes. Aktuell wird in Expertengremien die Neufassung der diagnostischen Kategorien für ICD 11 und DSM V beraten. Möglicherweise wird dabei die traditionelle Nomenklatur, die auf kategorialen Klassifikationen beruht und damit eher die traditionelle Sichtweise in der Medizin reflektiert, aufgegeben oder abgeschwächt. Grundsätzliche Bedeutung hat auch die Frage, ob generelle oder substanzspezifische Kriterien aufgeführt werden sollen, sprich, ob es alkoholspezifische Missbrauchs- und Abhängigkeitssymptom-Definitionskriterien gibt, die von denen zum Beispiel von Nikotin und Cannabis abweichen. Entzugssymptome beispielsweise kamen als Abhängigkeitskriterien in DSM-IV und ICD-10 für alle Substanzen außer Cannabis und Halluzinogenen vor. Ein weiterer Punkt, über den noch kein Konsens herrscht, ist die Frage der Komorbidität, insbesondere im Hinblick auf substanzbezogene und psychische Störungen. Die Frage ist, wie man diese substanzinduzierten (primären) von substanzunabhängigen (sekundären) Störungen unterscheiden kann.
Denkbar ist auch, dass im Gegensatz zu den bisherigen Fassungen auch biologische Kriterien vermehrt Berücksichtigung finden, trotz zahlreicher Befunde, etwa aus bildgebenden Verfahren oder genetischen Tests, wird dies aber kritisch gesehen (Schmidt 2006). Schließlich wird es in ICD 11 und DSM V auch um die Abgrenzung gegenüber nicht stoffgebundenen Süchten oder Verhaltenssüchten (pathologisches Glücksspiel u. a.) und Essstörungen gehen.
Etablierung des Krankheitskonzepts. Das auf Trotter u. a. zurückgehende Krankheitskonzept des Alkoholismus (s. Kap. 1.2) wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts von Jellinek wieder aufgegriffen. Es hat sich inzwischen weitgehend durchgesetzt und große Bedeutung für das Verständnis, aber auch die Therapie Alkoholkranker. 1968 wurde es zur Grundlage einer Entscheidung des Bundessozialgerichts der Bundesrepublik Deutschland, wodurch nicht nur Alkoholfolgekrankheiten, sondern Alkoholismus als solcher als Krankheit anerkannt wurden. Desgleichen definiert die American Society of Addictive Medicine (ASAM) den Alkoholismus als Krankheit (1990). Das Krankheitskonzept war allerdings von Anfang an umstritten. Die Diskussion hält über Jahrzehnte an und wird auf verschiedenen Ebenen geführt.
Zunächst soll erwähnt werden, dass möglicherweise im Englischen ein semantisches Problem besteht: Das von Jellinek verwendete Wort „disease“ bedeutet „körperliche Krankheit“ (im Gegensatz zu „illness“) (Gross 1988). Das deutsche Wort: „Krankheit“ hat nicht diese ausgesprochen somatische Bedeutung.
Eine Krankheit kann als Störung von Grundfunktionen des Körpers und des Verhaltens verstanden werden, deren Folgen einem Krankheitswert zugeordnet werden.
Diese Störungen von Grundfunktionen können als inhaltliche Bereiche beschrieben werden (s. ICF) und umfassen eine biologische, psychologische und soziale Analyseebene. Der Krankheitswert bemisst sich letztlich daran, ob der Betroffene wichtige soziale und persönliche Aufgaben nicht mehr erfüllen kann oder dies mit ausreichender Sicherheit zu erwarten ist. Gleichzeitig wird die Verantwortung für eine Revision dieser Störungen nicht überwiegend dem Betroffenen zugeschrieben.
Krankheit ist auch mit Ansprüchen auf Hilfe und Versorgung und mit abgestuften Pflichten des Betroffenen (Krankenrolle) und der Gesellschaft verbunden. Einen allgemein akzeptierten Krankheitsbegriff gibt es nicht (Helmchen 2006). Eine Abgrenzung als Pendant zum Gesundheitsbegriff (s. WHO) führt nicht weiter, weil Gesundheit idealtypisch (psychophysisches Wohlbefinden, WHO) definiert wird und dadurch ein schwer zu fassender Graubereich (weder krank noch gesund) übrig bleibt.
Anstelle von psychischer Krankheit kann auch der neutrale Begriff der psychischen Störung verwendet werden (Wittchen 2006). Die damit verbundenen Probleme sind jedoch im Prinzip die gleichen wie beim Krankheitsbegriff.
Durch chronischen Alkoholkonsum kann es auf den verschiedenen Ebenen von der Zelle über die Organsysteme bis hin zu psychischen und sozialen Grundfunktionen zu relativ dauerhaften Störungen kommen. Diese führen dazu, dass die sozialen und persönlichen Rollen nicht mehr erfüllt werden und diese sich weitgehend der Steuerung und Verantwortung des Betroffenen entziehen, sodass von Krankheit gesprochen werden kann.
Einwände gegen das Krankheitskonzept. Inhaltliche Einwände kamen in den letzten Jahrzehnten von verschiedenen Seiten.
Die Epidemiologen lassen nur eine Operationalisierung anhand von quantitativen und qualitativen Charakteristika des Alkoholkonsums gelten, wobei sie fließende Übergänge zwischen „sozialem Trinken“, „starkem Trinken“ und „pathologischem Trinken“ annehmen. Soziologen (z. B. Mäkelä et al. 1981, Heather u. Robertson 1983) postulieren einen „sozialkognitiven Ansatz“. Ausgangspunkt sind Ergebnisse von statistischen Untersuchungen, u. a. in Australien (Drew 1968), nach denen die meisten alkoholabhängigen Personen gegen Ende des 4. Lebensjahrzehnts keine behandlungsbedürftigen Probleme mehr haben, was nicht durch die Todesrate oder durch Behandlungserfolge erklärt werden konnte (s. auch Kap. 6.2.3). Des Weiteren wurde auf die ungünstigen Auswirkungen der „Krankenrolle“ hingewiesen, die den Alkoholiker aus seinen normativen Rollenverpflichtungen entlasse und seiner Verantwortlichkeit enthebe. Dies führe zu einer passiven Haltung, in der Heilung allein von der Aktivität des Therapeuten erwartet werde (Robinson 1972). Behavioristisch orientierte Psychologen stützten ihre Kritik am Krankheitsmodell vorwiegend auf laborexperimentelle Arbeiten, bei denen das Trinkverhalten von alkoholabhängigen und nicht abhängigen Personen verglichen wurde. Sie sahen im Trinkverhalten von Alkoholikern ein erlerntes Fehlverhalten, das wieder „verlernt“ werden könne. Es wurde inzwischen zu einem Modell abhängigen Verhaltens verallgemeinert (Marlatt 1985, Übersicht z. B. bei Petry 1993). Fingarette (1988) griff den von den Epidemiologen verwendeten deskriptiven Begriff des „heavy drinking“ wieder auf, das er als eine „zentrale Aktivität“ des (individuellen) Lebensstils verstand. In die gleiche Richtung weist die Kritik der „Antipsychiater“ (z. B. Szasz 1972), die Alkoholismus als „schlechte Angewohnheit“ auffassen. Auch die Pharmakologen haben früher, allerdings aus ganz anderer Sicht, das Krankheitsmodell und insbesondere die psychische Abhängigkeit infrage gestellt. Die Kontroverse wurde dann wieder belebt (z. B. Heather 1992, Jurd 1992, Levy 1992, Maltzman 1994), ohne dass wesentliche neue Argumente vorgebracht wurden. Lindström (1992) gibt eine sehr ausführliche Zusammenfassung dieses Problems, wobei er neben dem Krankheitsmodell noch 5 weitere Modelle beschreibt: das moralische Modell, das Lernmodell, das soziale Modell, das symptomatische Modell und schließlich eine „biopsychosoziale Perspektive“, die in der Psychiatrie und der klinischen Psychologie weite Verbreitung gefunden hat.
Argumente für das Krankheitskonzept.
Der Krankheitsbegriff hat sehr unterschiedliche Funktionen und Aufgaben zu erfüllen, vor allem eine Definition der Störung, der Bedingungsfaktoren einschließlich der Verantwortlichkeit, der Auswirkungen, der Prognose sowie der Ansprüche und Pflichten des Krankheitsträgers gegenüber der Solidargemeinschaft (Häfner 1984). Auch wenn bei weitem nicht alle Fragen zum Krankheitsbegriff Alkoholismus zufriedenstellend beantwortet werden können, sind auch vorläufige Antworten und Kriterien ausreichend für eine diagnostische Beurteilung.
Diesen verschiedenen Aufgaben entspricht am besten ein zunächst sehr globales biopsychosoziales Modell, wie dies der englische Medizinhistoriker Engel 1977 konzipiert hat. Auch der funktionale Gesundheits- bzw. Krankheitsbegriff der ICF (WHO 2001) entspricht dieser Breite an Aufgaben und Funktionen.
Die zunehmende Differenzierung neurobiologischer Wirkungen des Alkohols und der Alkoholabhängigkeit (molekular in den Nervenzellen, Neurotransmitter- und Hormonsystme, sowie Gehirnstrukturen) und ihre Nachhaltigkeit unterstreichen die Eigenständigkeit der Störung Alkoholismus bzw. Alkoholabhängigkeit.
Allerdings stellt die Auffassung Alkoholismus ausschließlich als Gehirnkrankheit zu verstehen eine einseitige Verkürzung des Bedingungsgefüges dar (z.B. Kritik von Tretter 2002).
Die Forderung nach einem spezifischen neurobiologischen oder biochemischen Korrelat der Krankheit Alkoholismus erscheint reduktionistisch, weil es die psychische und soziale Seite der Alkoholwirkung und deren Einfluss auf neurobiologische Funktionen nicht ausreichend berücksichtigt.
Gegen die Auffassung, der Alkoholismus sei keine eigenständige Krankheit, sondern vielmehr Folge einer zugrunde liegenden andersartigen (psychischen) Störung, spricht die Tatsache, dass es bisher nicht gelungen ist, eine solche Störung eindeutig zu identifizieren, auch nicht als einheitliche Persönlichkeitsstörung (
s. Kap.
2.3.5
).
Die Krankenrolle, etwa im Sinne von Parsons (1951), bringt dem Alkoholiker zwar eine Entlastung seiner Verantwortung und eine Dispensierung von einigen seiner normativen Rollenverpflichtungen. Zugleich impliziert die Krankenrolle aber auch die Verpflichtung, kompetente Hilfe zu suchen, sie zu akzeptieren und bei erforderlichen Gegenmaßnahmen gegen den Alkoholismus zu kooperieren, also aktiv an der Heilung mitzuwirken.
Das Krankheitsmodell ist wertneutral, während andere Modelle des Alkoholismus (z. B. als „schlechte Angewohnheit“) zwangsläufig wertbezogen sind. Die Wertneutralität hilft aber, die Tabuisierung des Alkoholismus aufzuheben und den therapeutischen Zugang zu erleichtern.
Die o. g. Entscheidung des Bundessozialgerichts von 1968 hat sich in administrativer wie in sozialer Hinsicht zumindest überwiegend positiv ausgewirkt. Dadurch wurde z. B. die Kostenübernahme der Alkoholismustherapie durch Krankenversicherungen bzw. Rentenversicherungen ermöglicht, was den Aufbau eines entsprechenden Therapienetzes (s. Kap.
8.7.1
) in Deutschland wesentlich gefördert hat.
Zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Missbrauch und Abhängigkeit von psychotropen Substanzen, speziell des Alkoholismus, wurden verschiedene Modelle entwickelt, die sich je nach Schulrichtung in somatisch-medizinische, psychologische und soziologische einteilen lassen. Man kann sie in einem multikonditionalen Bedingungsgefüge zusammenfassen, das wahrscheinlich der Komplexität des Alkoholismus am besten gerecht wird.
Im Allgemeinen werden 3 große Faktorengruppen angegeben, die in jeweils unterschiedlichem Ausmaß und komplexen Wechselwirkungen wirksam werden können (Feuerlein 1969, Kielholz u. Ladewig 1972):
die spezifische Wirkung der Substanzen, die sich vor allem in ihrem Missbrauchs- bzw. Abhängigkeitspotenzial manifestiert und ihre Verfügbarkeit voraussetzt
die spezifischen Eigenschaften des konsumierenden Individuums mit seinen biologischen und psychischen Faktoren, die durch genetische wie durch lebensgeschichtliche Einflüsse (nature and nurture) bestimmt sind
die Besonderheiten des (sozialen) Umfeldes, die von den allgemeinen soziokulturellen und sozioökonomischen Einflüssen (soziale Rahmenbedingungen) (Babor et al. 2002) bis zu Besonderheiten des familiären Kleinraumes (soziale Beziehungen) reichen (s. Klein 2008).
Dieses Bedingungsgefüge lässt sich in einem Dreiecksschema grafisch darstellen (s. Abb. 2.1). Es bedarf für Fragen der Entstehung und Aufrechterhaltung einer dynamischen Perspektive auf verschiedenen Ebenen. In der Abbildung 2. 2 wird deutlich, dass
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