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Ein Kontinent, unzählige Geschichten Warum wissen wir so wenig über den zweitgrößten Kontinent der Erde? Wenn Afrika in den Medien auftaucht, dann meist nur im Zusammenhang mit negativen Nachrichten. Dabei hat dieser Erdteil so viel mehr zu bieten. Das ist der Ausgangspunkt für Stève Hiobis Sachbuch: Der mit dem Grimme-Online-Award ausgezeichnete Afrofluencer klärt über die Geschichte des vielseitigen Kontinents auf und teilt sein Wissen über Afrika mit uns. So zeigt er beispielsweise, dass der Kaiserschnitt zuerst in Uganda erfolgreich durchgeführt wurde und analysiert, warum der Kolonialismus noch lange nicht vorbei ist. Immer im Blick bleibt die Frage: Was hat das mit uns zu tun? Ein faktenreiches und unterhaltsames Buch über einen Kontinent, in dem nicht nur die Wiege der Menschheit, sondern auch ihre Zukunft liegt.
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2024
Stève Hiobi
Was du über den Kontinent wissen solltest
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Ein Kontinent, unzählige Geschichten
Auf vielen Weltkarten erscheint Afrika, der zweitgrößte Kontinent der Erde, sehr viel kleiner als es tatsächlich ist. Grund dafür ist eine Kartografiemethode, die im 16. Jahrhundert Seefahrenden bei der Navigation helfen sollte. Länder am Äquator werden maßstabsgetreu darstellt, aber je weiter man nach Süden oder Norden abweicht, desto ungenauer wird das Bild. Unsere Wahrnehmung ist verzerrt - und das liegt auch an der Darstellung Afrikas in den Medien, wo der Kontinent meist nur im Zusammenhang mit negativen Nachrichten auftaucht.
Dabei hat dieser Erdteil so viel mehr zu bieten. Das ist der Ausgangspunkt für Stève Hiobis Sachbuch: Der mit dem Grimme-Online-Award ausgezeichnete Afrofluencer klärt über die Geschichte des vielseitigen Kontinents auf und teilt sein Wissen über Afrika mit uns. So zeigt er beispielsweise, dass der Kaiserschnitt zuerst in Uganda erfolgreich durchgeführt wurde und analysiert, warum der Kolonialismus noch lange nicht vorbei ist. Immer im Blick bleibt die Frage: Was hat das mit uns zu tun? Ein faktenreiches und unterhaltsames Buch über einen Kontinent, in dem nicht nur die Wiege der Menschheit, sondern auch ihre Zukunft liegt.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Einleitung: Weiße Flecken auf der Landkarte
Komm, wir sprechen Afrikanisch
Sprichst du Afrikanisch?
Die meistgesprochene Sprache in Afrika
Khoisansprachen
Pidgin- und Kreolsprachen
Afrika – warum heißt du so?
Von Fremdbezeichnungen und Eigennamen
Die Herkunft des Namens Afrika
Macht der Worte – von traditionellen Geschichtenerzählern und modernen Rappern
Die Kunst, Geschichten zu erzählen
Die Griots und Griottes
Rapper: die Griots der Neuzeit
Die großen Reiche Westafrikas
Das Reich von Ghana
Königreich Mali
Sundjata Keïta: Gründer des Mali-Reiches
Die Mandé-Charta – Erfindung der Menschenrechte
Mansa Abubakari II.: Der Entdecker der neuen Welt?
Mansa Musa – der reichste Mensch ever
»Geh doch nach Timbuktu«
Das Songhai-Reich
Die Imazighen
Die Ureinwohner Nordafrikas
Geschichte von Marokko: Die Dynastien
Fatima, die Gründerin der Al-Qarawiyin-Moschee
Der Kampf der Imazighen um Anerkennung
Es begann mit einem Fliegenwedel
Dihya, die Amazigh-Königin
L’affaire du chasse-mouches – Der Fliegenwedelskandal
Der algerische Unabhängigkeitskrieg
Der Franc CFA – ein Instrument der kolonialen Macht
Geschichte des Franc CFA
Geschichte Guineas
Lieber Armut in Freiheit als Reichtum in Sklaverei
»Operation Persil«
Die Wrestler
Senegals Geschichte
Làmb – Senegalesisches Wrestling
Der mit der Eckfahne tanzt
Vorkoloniales Kamerun und die ersten Bewohner
Getanzter Torjubel
Spuren der deutschen Kolonialzeit
Kamerun wird deutsche Kolonie
Mit dem Taxi dem Widerstand auf der Spur
Der Mord an Manga Bell
Die »anglophone Krise« – Krieg in Kamerun
Staat im Schwitzkasten
Die Kongo-Konferenz
Ishango – Knochen
Patrice Lumumba
Sapologie
100 Tage Völkermord im »Land der tausend Hügel«
Königreich Ruanda
Deutsche Kolonialzeit
Unabhängigkeit und ihre Folgen
Bürgerkrieg und Völkermord
Warum so amerikanisch? – Historische Wunden eines Kontinents
Liberia vor der Amerikanisierung
Die Vai-Schrift
Was tun mit den freigelassenen versklavten Menschen Amerikas?
Americo-Liberianer vs. indigene Liberianer
Kapitalismus rettet. Kapitalismus tötet.
Ellen Johnson Sirleaf
Der Rebell, der die Mächtigen herausforderte
Von der Firma zum Staat
Die Yoruba
Fela Kuti und die Entstehung des Afrobeat
Staatsfeind Nr. 1
Die erste Schwarze Republik
Voodoo
Was kostet die Unabhängigkeit?
Was ist eigentlich mit …?
Eintritt für Colonizer verboten
Die Rastafari und die Mau-Mau
Die Tradition des Christentums und des Islams
Die Königin von Saba und die Salomonische Dynastie
Die Schlacht von Adua
Der Abessinienkrieg
Symbol des Panafrikanismus
Die Afrikanische Union
Das Tor zu Afrika
Die Amo-Story
Kwame Nkrumah
Königreiche, Kaiserschnitt und Kaffee
Königreiche
Kaiserschnitt der Bunyoro
Obote, Amin, dann wieder Obote
Die Regenbogennation
Südafrikas ethnische Vielfalt
Krieg um Land und Macht: Südafrikas Konflikte im 19. Jahrhundert
Der African National Congress (ANC)
Die Apartheid
Das Sharpeville-Massaker und die Folgen
Der ANC am Ziel
Ein ziemlich unrühmlicher Held
Deutsch-Ostafrika
Robert Koch
Ein Krieg, kürzer als eine Mittagspause
Der vergessene Sklavenhandel
Der kürzeste Krieg der Weltgeschichte
Mutter der Bäume
»She thinks globally, and acts locally«
Schönheitsideale und kulturelle Ausdrucksformen
Die roten Frauen der Ovahimba
Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts
Besser spät aufarbeiten als nie
Das Guérewol-Festival der Wodaabe
Die dicken Männer der Bodi
Schluss:Wir brauchen mehr Afrofluencer
Alles und nichts
Wie wir zusammenrücken können
Auf den meisten Karten sieht Afrika, der zweitgrößte Kontinent der Erde, kleiner aus als Europa, China oder die USA. Das liegt an einer alten Kartenzeichnungsmethode, der sogenannten Mercator-Projektion, erfunden 1569 von dem Geografen Gerhard Mercator.1 Sie war dazu gedacht, Seefahrern die Navigation zu erleichtern, denn sie ermöglichte das Zeichnen geradliniger Reiserouten. Und hier kommt der Haken: Diese Methode stellt zwar die Länder am Äquator maßstabsgetreu dar, doch je weiter man nach Norden oder Süden geht, desto größer werden die Länder.2 Im Ergebnis erscheint Europa viel größer, als es wirklich ist, Afrika hingegen deutlich kleiner, als es den Tatsachen entspricht. Diese Verzerrung kann leicht dazu führen, dass wir die wahre Größe und Bedeutung Afrikas unterbewerten. Glücklicherweise hat der Computergrafiker Kai Krause mit seiner verblüffenden Visualisierung die Größenverhältnisse klargestellt. Seine Karte zeigt, dass die USA, China, Indien und ganz Europa zusammen in Afrika Platz finden.3
Die tatsächlichen Größenverhältnisse Afrikas, verdeutlicht durch eine Karte von Kai Krause.
© wikimedia.org / Kai Krause / https://commons.wikimedia.org/wiki/File:True_size_of_Africa.jpg
Die optisch verzerrte Darstellung der überholten Mercator-Projektion ist nur ein Beispiel für die »weißen Flecken« in unserem Verständnis von Afrika. Unser Afrika-Bild lässt neben den wahren Größenverhältnissen oft auch wichtige Details des riesigen und vielfältigen Kontinents vermissen. Obwohl wir durch das Internet und andere Medien Zugang zu unglaublich vielen Informationen haben, ist unser Wissen über Afrika mehr oder weniger oberflächlich, lückenhaft und manchmal auch gar nicht vorhanden. Die »weißen Flecken« sind nicht nur geografischer Natur, sondern betreffen auch gesellschaftliche, kulturelle und historische Aspekte, geprägt durch langjährige stereotypische Darstellungen, Vorurteile, Rassismus und Ignoranz.
Lasst mich euch ein paar Fakten anbieten, die dieses Bild ziemlich schnell zurechtrücken: Afrika ist gigantisch. Es dehnt sich über mehr als 30,3 Millionen Quadratkilometer – das entspricht etwa 4,25 Millionen Fußballfeldern. Damit ist es ungefähr dreimal so groß wie ganz Europa und über achtzigmal größer als Deutschland. Afrika besteht aus 54 souveränen Staaten. Der Kontinent beherbergt knapp 1,5 Milliarden Menschen – das ist knapp ein Fünftel der Weltbevölkerung –, die mehr als 2000 verschiedene Sprachen und Dialekte sprechen.4 Jedes der 54 Länder bietet eine einzigartige Mischung aus Kultur, Geschichte und Entwicklung. Stellt euch die belebten Märkte in Nigeria vor, die friedlichen Dörfer in Malawi, die Hightech-Zentren in Südafrika und Kenia oder die traditionellen Viehzüchter in Namibia – jedes Land erzählt seine eigenen faszinierenden Geschichten.
Und ich habe noch mehr Fakten: Afrika ist reich an natürlichen Ressourcen. Es verfügt über die weltweit größten Vorkommen an Kobalt, Diamanten und Uran sowie über bis zu 90 Prozent der globalen Chrom- und Platinvorräte. Dazu kommen 40 Prozent der Goldvorkommen unseres Planeten. Auch was Erdöl und Erdgas betrifft, ist der Kontinent nicht zu unterschätzen, etwa zwölf Prozent der weltweiten Ölreserven und sieben Prozent der Erdgasbestände lagern dort.5
Trotz der Herausforderungen durch geografische und klimatische Bedingungen und der schweren Last der Geschichte, die von Rassismus und Kolonialismus geprägt ist, zeigen Länder wie Botswana, Ghana, Mauritius und Ruanda bemerkenswerte Fortschritte.6 Eine junge, immer besser ausgebildete Bevölkerung setzt sich energisch für die Zukunft Afrikas ein, treibt Innovationen voran und gestaltet die Entwicklung aktiv mit. Städte wie Lagos, Nairobi und Johannesburg sind zu pulsierenden Metropolen geworden, Zentren für innovative Start-ups und kulturelle Initiativen.
Vielleicht denkt ihr jetzt: Warum erzählt er das alles? Die paar Fakten über Afrika sollte wirklich jeder kennen, oder? Na, dann lasst mich dazu etwas erzählen.
Auf Instagram poste ich unter dem Namen @deinbrudersteve und auf TikTok unter @brudersteve Videos über verschiedene Aspekte des afrikanischen Kontinents. Es geht dabei um Politik, Geschichte und Kultur, immer mit einer Prise Humor und Ironie. Und da Deutschland und der afrikanische Kontinent eine lange, komplexe Geschichte teilen, die oft unter den Teppich gekehrt wird, fühle ich mich fast verpflichtet, auch diesen Teil der Geschichte zu erforschen und darüber in meinen Videos zu erzählen. Ich betrachte mich als Influencer, der, so wie andere zum Beispiel zum Kauf von Mode oder zum Treiben von Sport animieren, Menschen dazu inspirieren möchte, sich mit den verschiedenen Aspekten des afrikanischen Kontinents auseinanderzusetzen. Ich bin also sozusagen ein »Afrofluencer«.
Einer meiner ersten Beiträge über Afrika war ein kurzes Aufklärungsvideo über Kamerun anlässlich des Fußballturniers »Africa Cup of Nations 2022«, das in meinem Geburtsland stattfand. Ich stellte darin fünf Fakten über Kamerun vor: die Einwohnerzahl, die Hauptstadt, die Nachbarländer, die Amtssprachen sowie die Staats- und Regierungspolitik. Ein User schrieb zu dem Video folgenden Kommentar: »Ist mir neu, dass Englisch in Kamerun Amtssprache ist, da ich bisher noch nie jemanden aus Kamerun getroffen habe, der nicht Französisch spricht.«
Ich frage euch jetzt mal: Hättet ihr auf Anhieb gewusst, welche Amtssprachen es in Kamerun gibt? Oder überhaupt, wie viele Sprachen in Kamerun gesprochen werden? Ich dachte mir, womöglich wissen noch viele andere Menschen wenig bis gar nichts über die Marginalisierung der anglophonen Bevölkerung Kameruns und dass seit 2016 ein Bürgerkrieg – die sogenannte Anglophonkrise – im Westen des Landes tobt. Ein Krieg, der kaum internationale Beachtung findet, dessen Konflikte tiefgreifend sind und dessen Ursprung bis in die Kolonialzeit zurückreicht.
Daraufhin entschied ich, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken. In einem weiteren Video ging ich detaillierter auf die Anglophonkrise ein, erklärte ihre Ursprünge und die Auswirkungen auf das tägliche Leben in Kamerun. Es gab viele Kommentare, in denen sich Menschen bei mir für die Informationen bedankten oder schrieben, dass sie noch nie von dem Konflikt gehört haben.
Ein User schrieb: »Seit 60 Jahren unter Selbstverwaltung hat sich nichts verändert? Sind bestimmt wieder die Weißen schuld!« Diese Bemerkung hat mich wirklich getroffen, und zwar in einem positiven Sinn, denn sie motivierte mich, regelmäßig und ausschließlich Videos über Afrika zu posten. Solche Statements zu meinen Videos – wie ich sie bis heute immer mal wieder lese – lenken den Fokus plötzlich weg von den Menschen in Kamerun und richten ihn auf »die Weißen«. Ich lese daraus zudem den Vorwurf einer »Opfermentalität«, der suggeriert, dass ein Land – und damit seine Menschen, in dem Fall also Kamerunerinnen und Kameruner – sich nicht ausreichend um Eigenverantwortung und die Suche nach Lösungen bemüht. Es schwingt außerdem mit, dass afrikanische Länder im Vergleich zu europäischen Nationen wie etwa Deutschland als rückständig betrachtet werden. Wie können wir solche eingefleischten Vorurteile überwinden? Die Antwort liegt möglicherweise darin, wie wir Afrikas Geschichte – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – verstehen und vermitteln.
Die aktuelle Darstellung Afrikas hat ihre Wurzeln in der Kolonialzeit und setzt sich bis heute durch und fort, besonders in der Art, wie die hiesigen Medien oftmals den Kontinent porträtieren, nämlich aus einem eurozentrischen Verständnis. Als europäische Mächte ihre Vorherrschaft etablierten, zeichneten sie ein stark vereinfachtes, eindimensionales, kurz: ein verzerrtes Bild des Kontinents. Es zielte darauf ab, die angebliche Überlegenheit der weißen europäischen Rasse zu betonen und afrikanische Menschen zu entmenschlichen, abzuwerten und zu stigmatisieren. Es diente als Werkzeug kolonialistischer Propaganda, um koloniale Eroberungen und Unterdrückung zu legitimieren und die Ausbeutung von »Menschen« sowie natürlichen Ressourcen zu rechtfertigen. Warum steht »Menschen« in Gänsefüßchen? Ganz einfach. Wer nicht als Mensch klassifiziert wird, dem werden auch keine Menschenrechte zuteil und der kann als Untermensch – gemäß dem europäischen Weltbild von damals, das bis heute nachwirkt – für den eigenen Nutzen und im Namen des Fortschritts ausgebeutet werden.
Der tief verwurzelte Eurozentrismus formt nicht nur unsere historische Wahrnehmung, sondern beeinflusst auch direkt die mediale Darstellung Afrikas. Eurozentrismus präsentiert Europa als modern, zivilisiert und fortschrittlich, während der Rest der Welt als minderwertig, fremd oder einfach »anders« wahrgenommen wird und sich noch »entwickeln« muss, um wie Europa zu sein. Dieses sogenannte Othering – das Anders- beziehungsweise Fremd-Machen – dient dazu, zwischen »uns« und den »anderen« zu differenzieren, also eine Gruppe von Menschen von einer anderen abzugrenzen, und bildet die Basis für Diskriminierung, Ausgrenzung sowie die Verbreitung rassistischer Vorurteile.7
Die Medien spielen eine zentrale Rolle in der Formung dieser Perspektiven. In Filmen und Serien wird Afrika häufig ein exotischer Hintergrund zugeschrieben, charakterisiert durch Dschungellandschaften, Savannen, Menschen in Lehmhütten, exotische Tiere oder chaotische Städte. Dabei bleiben die vielfältigen urbanen Kulturen und die florierenden Kunstszenen in Städten wie Lagos, Kinshasa oder Accra oft unbeleuchtet.
Ein typischer Nachrichtenbeitrag über Afrika könnte selbstverständlich von Krankheiten, Dürre und Konflikten sprechen, doch selten erfährt das Publikum von den innovativen Start-ups in Nairobi, die durch Technologie landwirtschaftliche Produktivität steigern und nachhaltige Energieprojekte vorantreiben. »Bad news are good news«, so lautet ein alter Spruch der Medienbranche, und so funktionieren Nachrichten heute immer noch, und für Afrika scheint das umso mehr zu gelten. Die Tatsache, dass viele Afrika als ein einziges Land sehen, führt zu verkürzten Analysen und starken Verallgemeinerungen, zum Beispiel zu der Annahme, dass überall auf dem Kontinent die gleichen Probleme herrschen würden – als ob 54 Länder und knapp 1,5 Milliarden Einwohner so einfach zu generalisieren wären. Ein Missverständnis, das vermutlich nicht hilft, die Vielschichtigkeit der Probleme adäquat zu erfassen.
Auch in Schulen wird diese Tradition der Afrikawissensvermittlung fortgesetzt. Oft wird die Geschichte des Kontinents auf die Kolonialzeit und die Sklaverei reduziert. Seltener werden die reichen und mächtigen Königreiche wie Mali oder Benin thematisiert, die vor der Kolonialisierung existierten und bedeutende wissenschaftliche und kulturelle Beiträge geleistet haben.
Wirtschaftsanalysen konzentrieren sich häufig auf die Herausforderungen afrikanischer Märkte, wie politische Instabilität oder Korruption. Dass es in Afrika jedoch auch schnell wachsende Finanzmärkte und eine junge, unternehmerisch denkende Bevölkerung gibt, wird selten hervorgehoben. Europäische Unternehmen und Investoren fokussieren sich zumeist auf die Rohstoffgewinnung und -verarbeitung, wie im Fall der Kobaltminen im Kongo, die entscheidend für die globale Elektronik- und Automobilindustrie sind, ohne jedoch die sozialen und ökologischen Auswirkungen dieser Industrien auf die lokalen Gemeinschaften zu thematisieren.8
Diese vielschichtigen Beispiele verdeutlichen, wie schwer es vielen europäischen Ländern fällt, die volle Tragweite und die Nachwirkungen ihrer kolonialen Aktivitäten anzuerkennen, um verantwortungsvoll damit umzugehen. Deutschland beispielsweise hat die Aufarbeitung seiner kolonialen Vergangenheit lange Zeit vernachlässigt, begann erst in jüngerer Zeit, sich intensiver damit auseinanderzusetzen, was die späte Anerkennung des Völkermords an den Herero und Nama deutlich macht.
Eine bewusste Auseinandersetzung mit diesen Perspektiven und deren kritische Überarbeitung sind entscheidend für eine gerechte und realitätsnahe Darstellung Afrikas. Aber keine Sorge, genau dafür habe ich etwas vorbereitet, etwas, das euer Verständnis von Afrika komplett auf den Kopf stellen wird.
Ich stelle euch ein Buch vor, das euch durch viele verschiedene Länder Afrikas mitnimmt. Jedes Kapitel widmet sich einem Land und beleuchtet einen oder mehrere Aspekte, erzählt mal von einer herausragenden Persönlichkeit, mal von der reichen Kultur oder der einzigartigen Geschichte. Und das Beste? Ihr werdet verstehen, was das mit uns hier in Deutschland zu tun hat.
Am Ende dieses Buches werdet ihr nicht nur viele Geschichten vom afrikanischen Kontinent kennen – ihr werdet auch mit diesem Wissen glänzen können, sei es beim nächsten Small Talk oder als spannender Beitrag in Diskussionen. Dieses Buch ist eure Gelegenheit, die oft erwähnten »weißen Flecken« auf der Landkarte eures Wissens zu füllen. Es geht darum, Afrika jenseits von Klischees und Stereotypen zu verstehen und die Vielfalt und Tiefe des Kontinents zu würdigen.
Also, wenn ihr bereit seid, über den Tellerrand hinauszuschauen und euer Bild von Afrika zu erweitern, dann ist dieses Buch genau das Richtige für euch. Und wenn ihr nicht dazu bereit seid, ist es vielleicht erst recht der richtige Lesestoff. Hier ist meine Einladung an euch, mehr über den afrikanischen Kontinent zu erfahren. Und wer weiß: Vielleicht wecke ich damit auch eure Lust, euch mehr mit Afrika auseinanderzusetzen. Jetzt würde ich aber sagen, genug der Einleitung.
In einem Landstrich im Süden Deutschlands lebt ein stolzer Stamm, genannt die Bayern. Angeführt werden sie von ihrem Häuptling Markus Söder. Sie sind bekannt für ihre rustikale Lebensart und eine herzhafte Küche. Ihr Leben ist hart und unerbittlich, aber einmal im Jahr versammelt sich der ganze Stamm, um ein Fest zu feiern. Auf dem Oktoberfest, wie der Bayern-Stamm es nennt, tanzen sie in ihren Stoffhütten, Tiere werden geschlachtet, und das Bier fließt in Strömen, bis mancher ohnmächtig wird – ganz im Sinne ihrer alten Tradition. Trotz dieser primitiven Lebensweise zeigen die Bayern ein großes Potenzial für Entwicklung und Zivilisation. Es gibt noch so viel zu entdecken in der unbekannten Welt dieses Stammes.
Habt ihr schon einmal einen solchen oder ähnlichen Text über die Bayern gelesen? Nein? Ich auch nicht. Werden wir hoffentlich auch nicht. So ein Text ist unangebracht und historisch ungenau. Erstens ist Markus Söder kein Häuptling und sind die Bayern kein Stamm. Zweitens ist das Oktoberfest kein uraltes Ritual, bei dem die Bayern bis zur Besinnungslosigkeit trinken. Es ist weltberühmt, für seine Bierkultur bekannt und hat große kulturelle Bedeutung für viele Menschen in Bayern. Drittens ist es falsch, das bayerische Leben als primitiv zu bezeichnen. Bayern ist die Heimat bedeutender Hochschulen wie der Technischen Universität München und der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie von Global Playern wie Siemens und BMW.
Bestimmte Wörter in der deutschen Sprache, die ihr und ich verwenden, können die Denkweise und die Wahrnehmung von Kulturen und Gesellschaften beeinflussen. Die Frage ist also: Warum sprechen wir über die einen Gesellschaften so und über andere anders? Warum reden wir bei Europäern von Völkern und bei Afrikanern von Stämmen? Warum wird der Ministerpräsident von Bayern nicht als Häuptling bezeichnet, aber der König der Akan in Westafrika oder das Oberhaupt der Herero in Namibia schon?
Die Antwort darauf ist Rassismus. Rassismus hat seine Entstehung in der Geschichte von Sklaverei und Kolonialismus. Er ist nicht aus einem Kampf Schwarz gegen Weiß entstanden, sondern wurde von Europäern als Rechtfertigung für die barbarische und unmenschliche Behandlung der Afrikaner erschaffen. Im Wort Rassismus steckt ja schon das Wort Rasse, das impliziert, dass es eine Unterteilung von Menschen gibt, zum Beispiel anhand körperlicher Merkmale. Europäische Denker, Philosophen und Wissenschaftler begannen, Konzepte zu entwickeln, um das »Wir« gegenüber »die anderen« zu erschaffen – auf der einen Seite der fortschrittliche und zivilisierte Europäer, auf der anderen der rückständige und unzivilisierte Afrikaner.9 Diese Konstrukte stützten sich oft auf pseudowissenschaftliche Theorien, um ihre rassistischen Ansichten zu legitimieren, die Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen zu rechtfertigen und zu institutionalisieren. Die Theorien und Denkmuster beeinflussten sowohl die kolonisierten Gesellschaften als auch die Kolonisatoren selbst, wurden über Generationen weitergegeben und prägen noch heute unsere Alltagssprache.
Zum Beispiel wird der Begriff »Stämme« oft verwendet, um afrikanische Gesellschaften zu beschreiben. Dies impliziert Rückständigkeit und übersieht dabei die komplexen politischen und sozialen Strukturen in vielen afrikanischen Gesellschaften. Der Terminus »Häuptling« für afrikanische Könige und Oberhäupter wirkt durch das Suffix »-ling« abwertend und spiegelt die rassistische Sichtweise der europäischen Kolonialmächte auf afrikanische Staatsführer wider. Worte wie »primitiv« oder Bezeichnungen wie »Buschmänner« werden oft genutzt, um afrikanische Völker und Kulturen als wild und unzivilisiert abzuwerten.10
Selbst Ausdrücke wie das N-Wort, bei dem eigentlich bekannt ist, welch tief verletzende, abwertende und gewaltvolle Bedeutung es hat, werden immer noch diskutiert oder sogar verteidigt. Gern wird argumentiert, dass das Wort aus dem Lateinischen kommt und »schwarz« bedeutet, doch das ändert nichts an seiner historischen und gegenwärtigen Nutzung zur Entmenschlichung und Unterdrückung von Schwarzen Menschen. Fremdbezeichnungen wie »Mischling«, »dunkelhäutig« oder »farbig«, die entweder aus der Tierwelt oder aus der Kolonialzeit stammen, werden von vielen Betroffenen als erniedrigend empfunden und daher abgelehnt. Solche Begriffe entmenschlichen und reduzieren Menschen auf oberflächliche Merkmale, die historische und rassistische Konnotationen tragen.11
Auch in scheinbar positiven Kontexten findet man rassistische Muster in der Sprache. Ein Kommentator lobt einen weißen Spieler für seine »intelligente Spielweise« und »strategischen Fähigkeiten«. Gleichzeitig wird ein Schwarzer Spieler für seine »beeindruckende körperliche Präsenz« und »schnellen Läufe« hervorgehoben. Diese subtile Unterscheidung trägt dazu bei, Stereotype zu verstärken: Der Schwarze Spieler wird auf seine physischen Fähigkeiten reduziert, der weiße Spieler auf seine geistigen.
Beim Schreiben dieses Buches möchte ich vermeiden, koloniale Sprachmuster zu reproduzieren. Viele historische europäische Persönlichkeiten werden als »Entdecker«, »Forscher« oder »Abenteurer« beschrieben. Obwohl ihre Motive oft Naturforschung, Reiselust oder Missionierung waren, waren ihre Vorstellungen über Afrika und dessen Menschen häufig rassistisch geprägt. Diese »Entdecker« und »Forscher« könnten auch als Diebe, Betrüger oder Mörder bezeichnet werden, wenn man bedenkt, was sie während ihrer sogenannten Forschungsreisen den Afrikanern angetan haben. Sie verfassten Bücher und Berichte über »unbekannte Gebiete« im »dunklen Afrika«, wo es noch viel zu »entdecken« gebe und die »unzivilisierten Wilden« angeblich in einer ursprünglichen, naturverbundenen Form lebten. Wendungen, die sich auch in so manchen Reisewerbeslogans oder Dokumentationen über Afrika wiederfinden könnten. Solche Darstellungen tragen dazu bei, koloniale Denkmuster aufrechtzuerhalten und die gewalttätigen und ausbeuterischen Aspekte dieser »Erkundungen« zu verschleiern.
Sprache ist nicht neutral. Durch unsere Wortwahl und Ausdrucksweise können implizite Bedeutungen, Vorurteile und offener Rassismus transportiert werden. Wir leben leider noch in einer postkolonialen Gesellschaft, in der der Kolonialismus noch nicht vollständig aufgearbeitet wurde und Rassismus zum täglichen Kampf für viele Schwarze Menschen gehört. Ohne unsere Sprache zu hinterfragen, führen wir koloniale Machtverhältnisse und Denkmuster fort und normalisieren oder verstärken Diskriminierung und Rassismus – selbst wenn es nicht beabsichtigt ist.
Daher ist es wichtig – selbst für mich –, genau darauf zu achten, wie wir über Menschen aus afrikanischen Kulturen sprechen und wie wir diese Kulturen beschreiben, gerade dann, wenn man nicht selbst Teil dieser Kultur ist. Fragt euch mal selbst, welche Bezeichnungen ihr für afrikanische Gesellschaften verwendet? Welche Adjektive nutzt ihr, wenn ihr die Menschen aus Afrika beschreibt? Nur durch bewusste und respektvolle Sprache können wir helfen, rassistische Strukturen zu überwinden, zu einem respektvolleren Umgang untereinander beizutragen und koloniale Muster nicht weiterzutragen.
»Welche Sprache spricht man bei dir? Afrikanisch?« Wenn ihr Wurzeln auf dem afrikanischen Kontinent habt, dann habt ihr diese Frage wahrscheinlich schon mehrmals gehört. Sie gehört definitiv zu den Top drei der »Bullshit-Bingo«-Mythen über Afrika. Ab und zu stelle ich dazu gern eine Gegenfrage: »Spricht man bei dir Europäisch?« Es ist erstaunlich, ein wenig lustig und gleichzeitig auch frustrierend, wie hartnäckig sich die Vorstellung hält, dass ein ganzer Kontinent eine Sprache spricht. Um das Missverständnis hinter uns zu lassen, dass ein ganzer Kontinent eine einzige Sprache spricht, möchte ich mit euch die Vielfalt des afrikanischen Kontinents hervorheben.
In Afrika existieren über 2000 indigene Sprachen, und es könnten noch viel mehr sein, da ihre Erforschung bei Weitem noch nicht abgeschlossen ist. Diese Sprachen lassen sich in vier große Sprachgruppen unterteilen, wobei die Niger-Kongo-Sprachfamilie die größte der Welt ist. Die Niger-Kongo-Sprachfamilie umfasst weitverbreitete Sprachen wie Swahili, Yoruba und Zulu. Die Afroasiatische Sprachfamilie, zu der Sprachen wie Arabisch, Hausa und Amharisch gehören, ist in Nordafrika und Teilen des Nahen Ostens verbreitet. Die Nilosaharanische Sprachfamilie besteht aus Sprachen wie Kanuri und Luo, die hauptsächlich in den nördlichen und zentralen Regionen Afrikas gesprochen werden. Die Khoisan-Sprachfamilie umfasst die Sprachen der indigenen Völker im südlichen Afrika, die für ihre Klicklaute bekannt sind.12
In fast allen afrikanischen Staaten werden mehrere Sprachen gesprochen, in Kamerun gleich 279, in Nigeria sogar 537. Südafrika hat, um seine sprachliche Vielfalt abzubilden, elf anerkannte Amtssprachen.13
Für Afrikanerinnen und Afrikaner ist Mehrsprachigkeit nicht einfach eine Fähigkeit, sondern eine Lebensweise. Viele meiner Verwandten in Kamerun sprechen vier oder mehr Sprachen: die Amtssprachen Französisch und Englisch, ihre Muttersprache, wie zum Beispiel Bassa, und dann noch diejenige, die in dem Gebiet, in dem sie leben, von vielen Menschen gesprochen wird.
Einige afrikanische Sprachen haben sich über die Region ihrer ursprünglichen Sprecher hinaus verbreitet. Ein Beispiel ist Hausa, das in Westafrika weitverbreitet ist, oder Amharisch, das im multiethnischen Staat Äthiopien die bedeutendste Verkehrssprache ist. Die meistgesprochene Sprache in Afrika ist aber Swahili, auch als Kisuaheli oder Suaheli bekannt.14
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert haben die Deutschen und die Briten Swahili als Sprache für Verwaltung und Schulen in den von ihnen kontrollierten Regionen eingeführt. Tansanias erster Präsident, Julius Nyerere, hatte nach der Unabhängigkeit in den 1960er-Jahren Swahili in seinem Land gefördert und setzte es als verbindende Sprache der verschiedenen Ethnien ein. Heute ist Swahili die Muttersprache vieler Menschen in Ostafrika und spielt in deren kultureller Identität eine zentrale Rolle. Zweitsprachler eingeschlossen, verwenden es mehr als 150 Millionen Menschen in Ländern wie Tansania, Kenia, Uganda und darüber hinaus. Es erleichtert so die Kommunikation in einer Region mit großer sprachlicher Vielfalt. Die Verbreitung von Swahili als Unterrichtssprache in Schulen, als Amtssprache in einigen Ländern sowie in Medien, Literatur und Musik stärkt seine Position als Verkehrs-, Handels- und Arbeitssprache in Afrika. Beim Gipfeltreffen der Afrikanischen Union im Juli 2004 wurde Swahili als Arbeitssprache genutzt. Es gibt sogar die Idee, es als Lingua franca in ganz Afrika zu etablieren.
Eine der bedrohten Sprachgruppen sind die Khoisansprachen in Tansania und im südlichen Afrika, die für europäische Ohren ungewöhnlich klingen. Ihre Klicklaute mit verschiedenen Tönen und Variationen machen die Klicksprachen sehr komplex und bedeutungsvoll. Für Menschen, die mit indoeuropäischen Sprachen aufgewachsen sind, wie ihr und ich, ist es schwer, die Klicklaute zu erlernen und richtig anzuwenden. Es erfordert nicht nur das Verständnis neuer Laute, sondern auch eine völlig andere Art des Sprechens und Hörens. Der Verlust dieser Sprachen würde daher einen bedeutenden Teil des kulturellen und sprachlichen Reichtums zunichtemachen.
Zur Vielfalt der in Afrika gesprochenen Sprachen gehören infolge Kolonialismus und arabischer Expansion unter anderem auch Arabisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch und Deutsch. Daraus sind wiederum neue Sprachen entstanden, die wir heute als Pidgin- oder Kreolsprachen kennen. Sie gehen auf eine oder auch mehrere Kolonialsprachen zurück und mischen sie mit Wörtern einheimischer Sprachen. Bekannt ist Pidginenglisch, das besonders in Westafrika – Nigeria, Ghana, Gambia etc. – gesprochen wird. Zwei weitere Beispiele sind das englischbasierte Krio in Sierra Leone oder Camfranglais, eine mit Anglizismen durchsetzte Abart des Französischen in Kamerun.
Die Pidgin- oder Kreolsprachen haben eine spezifische, vereinfachte Grammatik und Rechtschreibung. Englisch zu beherrschen bedeutet also nicht automatisch, Pidginenglisch zu verstehen, um ein Beispiel zu nennen. Außerdem unterscheiden sich die Pidgins und Kreols je nach Region und Land durch die verschiedenen Einflüsse und unterschiedlichen lokalen Sprachen, die sich über die Zeit vermischt haben.
Aber sind denn die über 2000 Sprachen in Afrika alles richtige Sprachen oder eigentlich Dialekte? Dazu erst ein kurzer linguistischer Ausflug zu den Unterschieden zwischen Sprache, Dialekt und Akzent. Einfach erklärt, kann man Sprachen auf zwei Arten unterscheiden: durch linguistische und durch politische Kriterien. Linguistisch gesehen achtet man – man glaubt es kaum – auf die sprachlichen Besonderheiten. Man untersucht, ob die Sprecher sich gegenseitig verstehen können. Wenn es nur wenige Unterschiede in der Sprache gibt, spricht man von Dialekten. Scheint einfach, oder? Jetzt kommt aber noch die politische Komponente. Ein jedes Land hat eine oder mehrere Amtssprachen. Diese sind oft auf die Staatsgrenzen beschränkt. Zum Beispiel ist in Österreich Deutsch die Amtssprache, aber es wird ein spezieller Dialekt gesprochen, das österreichische Deutsch. Niederländisch ist sprachlich gesehen ein Dialekt des Hochdeutschen, aber politisch eine eigene Sprache der Niederlande. In Ländern wie Uganda, Kenia und Tansania, wo Swahili Amtssprache ist, gibt es verschiedene Dialekte davon.15
Fangen wir nun mit den Pidginsprachen an: In der Sprachforschung besteht allgemein Einigkeit darüber, dass sie im Wesentlichen in erster Linie als Mittel zur Kommunikation zwischen Menschen dienen, die keine gemeinsame Sprache und daher keine Muttersprachler haben. Kurz gesagt sind Pidgins Verkehrs- und Handelssprachen. Der wesentliche Unterschied zu den Kreolsprachen liegt darin, dass Letztere Muttersprachen sind. Problem gelöst, oder? Leider ist diese Unterscheidung nicht immer einfach zu machen, da weltweit Sprachen mehr und mehr Aspekte anderer Sprachen borgen und somit »ähnlicher« werden. Dies bezeichnet man auch als sprachliche Konformität. Dadurch nimmt einerseits die sprachliche Vielfalt ab, entwickeln sich andererseits Pidgins weiter – und es werden Muttersprachler geboren. Diese Art von Pidgins bezeichnet man als »extended«, also als erweiterte Pidginsprachen. Beispiele solcher Pidgins, die zu Kreolsprachen wurden, sind Sango, Kamtok oder Tok Pisin, die in der Zentralafrikanischen Republik, in Kamerun und Nigeria gesprochen werden.16
Doch nicht alle Pidgins werden zu erweiterten Pidgins und somit zu Kreolsprachen. Je nach Grad der Entwicklung und Verfeinerung, also wie sehr und wie facettenreich das Pidgin angewandt wird, unterscheidet man laut dem deutsch-australischen Linguisten Peter Mühlhäusler zwischen drei Formen: (eher instabile) Jargons, stabile Pidgins und erweiterte Pidgins. Solltet ihr in nächster Zeit afrikanische Städte besuchen, dann werdet ihr es selbst feststellen. Sprecher verschiedener ethnischer Gruppen treffen dort täglich aufeinander, das Pidgin wird dann zur Stadtsprache.17
Eltern aus verschiedenen ethnischen Gruppen kommunizieren in der Regel neben der Amtssprache – oftmals eine Kolonialsprache – in Pidgin, wenn sie die Muttersprache ihres Partners oder ihrer Partnerin nicht beherrschen. Die Kinder wachsen demnach mit Pidgin als Muttersprache auf. In den heutigen Generationen regt sich allerdings gerade ein Bewusstsein dafür, die indigenen Sprachen der Vorfahren zu lernen.
Es ist wichtig, die afrikanischen Sprachen – die durch den Kolonialismus lange Zeit abgewertet und unterdrückt wurden – als eigene Sprachen zu werten. Jede Sprache spiegelt die einzigartigen Erfahrungen und Traditionen der Gemeinschaft wider, die sie spricht. Die Wertschätzung und die Bewahrung ihrer Sprachen stärken das kulturelle Erbe und die Identität der afrikanischen Völker. Dabei hilft auch die Unterscheidung zwischen Sprachen und Dialekten.
Bleiben wir noch etwas länger bei der Sprache und beschäftigen uns mit der Bedeutung von Namen. Alles braucht einen Namen, Pflanzen, Tiere und sogar Steine. Ohne Namen wäre unsere Welt ein undurchschaubares Chaos, in dem wir uns kaum orientieren könnten.
In Wissenschaft und Technik sind Namen für die Kommunikation essenziell. In der Programmierung zum Beispiel müssen Variablen, Funktionen, Klassen und Dateien eindeutige und beschreibende Namen haben, um den Code lesbar und wartbar zu machen. Gute Namen geben Aufschluss über den Zweck und die Funktion eines Codes.
In Kunst und Literatur bleiben berühmte Gemälde wie da Vincis Mona Lisa oder Literaturklassiker wie Orwells 1984 durch ihre prägnanten Namen im Gedächtnis.
Auch in der Musik tragen Titel zur emotionalen Resonanz und zum Erfolg bei, wie Michael Jacksons Earth Song oder Queens Bohemian Rhapsody. Ein gut gewählter Name kann die Wahrnehmung und den bleibenden Eindruck eines Werkes erheblich beeinflussen.
Genau das tut er auch beim Menschen. Eltern achten sehr genau darauf, welchen Namen sie ihren Kindern geben. Warum? Einerseits, um Identität zu definieren und ihr Kind von anderen zu unterscheiden. Aber auch, um Emotionen, Eigenschaften, Ereignisse oder Hoffnungen auszudrücken oder die Wahrnehmung des Kindes durch einen wohlklingenden Namen zu beeinflussen. In einigen Kulturen haben Namen eine weitere Bedeutung, da sie zum Beispiel das Erbe festlegen oder die Tradition einer Familie bewahren.
Bei vielen geografischen »Entdeckungen« wurden die Namen von den »Entdeckern« vergeben, die oft aus europäischen Ländern stammten. Ein Beispiel ist der Viktoriasee, der größte See Afrikas und der zweitgrößte Süßwassersee der Welt, der an die Länder Kenia, Tansania und Uganda grenzt. Für die Menschen, die um den Viktoriasee leben, ist der See unter verschiedenen Namen bekannt. Die Luo in Kenia und Tansania nennen den See Nam Lolwe, und in Uganda wird er Nalubaale genannt.18 Im Jahr 1858 wurde der See von den britischen Entdeckern John Hanning Speke und Richard Francis Burton für Europa entdeckt. Speke benannte ihn nach Königin Victoria von Großbritannien.
Das Beispiel des Viktoriasees zeigt, dass es viele Gründe gibt, warum ein Name anders ausgesprochen wird oder bestimmte Orte sogar einen völlig anderen Namen bekommt. Manchmal sind es Missverständnisse, Hörfehler oder einfach nur Bequemlichkeit. Es kann aber auch historische Gründe haben, wie zum Beispiel Kolonialismus. Viele Länder und Staaten in Afrika bekamen ihre Namen im Zuge des Kolonialismus und willkürlicher Grenzziehungen der Europäer. Diese Namen spiegelten oft die Perspektiven und Interessen der Kolonialherren wider, ohne Rücksicht auf die indigenen Bezeichnungen und kulturellen Bedeutungen zu nehmen. Beispiele hierfür sind Goldküste, Elfenbeinküste und Sklavenküste oder Rhodesien, das nach dem Kolonialbesatzer Cecile Rhodes benannt wurde. Nach der Unabhängigkeit vieler afrikanischer Staaten in der Mitte des 20. Jahrhunderts begannen zahlreiche Länder, ihre kolonialen Namen abzulegen und sich indigene zu geben, um ihre Identität und kulturelle Unabhängigkeit zu betonen. So wurde die Goldküste zu Ghana, Rhodesien zu Simbabwe, Swasiland zu Eswatini und Deutsch-Südwestafrika zu Namibia.
In der Linguistik spricht man in diesem Zusammenhang von Endonymen und Exonymen. Ein Endonym ist der Name oder die Bezeichnung, den die Einheimischen für einen Ort oder eine Person verwenden, während ein Exonym der Name ist, der von Außenstehenden verwendet wird.19
Besonders interessant und oftmals kritisch wird es bei Bezeichnungen für ethnische Gruppen, vor allem wenn es um diskriminierte geht. Ethnische Bezeichnungen tragen nicht nur die Identität und Kultur der Gruppe, sondern auch ihre Geschichte sowie ihren Kampf um Anerkennung und können für ihre Mitglieder sehr wichtig sein.
Die Art und Weise, wie eine Gruppe von außen benannt wird, kann ihre Wahrnehmung und ihren Status in der Gesellschaft stark beeinflussen. Daher lehnen manche Gruppen Fremdbezeichnungen ab, da sie sie als abwertend oder sogar als Schimpfwort empfinden. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das »Z-Wort«, das historisch mit Vorurteilen und Diskriminierung belastet ist. In der Linguistik spricht man hier von Ethnophaulismen.20 Die Gemeinschaft selbst verwendet das Endonym Roma.
Ich weiß, es gibt sehr viele Diskussionen darüber, »was man noch sagen darf«, oder über politische Korrektheit. Aber sehen wir das mal so: Die Verwendung von Eigenbezeichnungen zeigt, dass ihr euch dafür einsetzt, Menschen nicht zu diskriminieren, dass ihr ihre Identität respektiert und ihre Kultur würdigt. Es ist ein Zeichen des Respekts und der Anerkennung der Selbstbestimmung einer Gruppe, ihren selbst gewählten Namen zu verwenden, auch wenn ihr ihn vielleicht nicht richtig aussprechen könnt.
Deswegen ist es wichtig, sich mit den Eigenbezeichnungen von Völkern und Gruppen auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang schauen wir uns in einem späteren Kapitel die Imazighen an, wer sie sind und warum ihnen ihr Eigenname so viel bedeutet.
Der Name Afrika ist heute ein Symbol des Stolzes und der Identität geworden. Afrikaner bezeichnen sich selbstbewusst als solche, und Begriffe wie afrikanisches Essen, afrikanische Tänze und afrikanische Kultur sind weltweit anerkannt und geschätzt. Aber »Afrika« als Bezeichnung wurde von Außenstehenden vergeben.
Historiker haben verschiedene Theorien über die Herkunft des Namens. Eine der am weitesten verbreiteten führt uns zurück in die Zeit des Römischen Reiches. Die Römer nannten das Gebiet um Karthago, eine Stadt nahe dem heutigen Tunis, Terra Africa, was »Land der Afri« bedeutet. Mit Afri wiederum bezeichneten sie die Imazighen, die in dieser Region leben. Im Lauf der Jahrhunderte nach dem Untergang des Römischen Reiches breitete sich der Gebrauch des Namens Afrika allmählich auf größere Gebiete aus, insbesondere durch die Verbreitung europäischer Karten und Schriften im Mittelalter und in der frühen Neuzeit.21
Eine andere interessante Theorie lautet, dass »Afrika« vom phönizischen Afar abgeleitet sein könnte, das Staub oder Erde bedeutet und womöglich auf die Wüsten und wüstenartigen Landschaften Nordafrikas hinweist. Vielleicht liegt der Ursprung aber auch im Griechischen. Die Griechen hatten intensive Handelsbeziehungen mit den Küstenregionen Nordafrikas und wussten, dass das Klima dort aphrike – Ἀφρική, ohne Kälte – war. Eine weitere Möglichkeit ist das Amazigh-Wort Ifri (Höhle) oder Ifran (Höhlenbewohner). Diese Theorie betont die geografische und kulturelle Identität der indigenen Völker Nordafrikas.22
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