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Janis McDavid

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Beschreibung

Janis McDavid gilt als einer der engagiertesten Vordenker für Inklusion und Gleichberechtigung in Deutschland. Seit Jahren reist er als Vortragsredner durch die Welt, um energisch für eine Arbeitswelt zu werben, in der alle Menschen diskriminierungsfrei arbeiten können. In seinem Buch räumt Janis McDavid mit Vorurteilen auf, denen er und viele Menschen in Unternehmen immer noch ausgesetzt sind. Er möchte, dass sich etwas ändert und regt in jedem Kapitel an, wie wir es besser machen können. Dafür befragt er sich selbst – und profilierte Expertinnen und Experten ihres Fachs. Mit der renommierten HR-Expertin Uta Menges erarbeitet Janis McDavid Ideen, wie wir Recruiting neu denken können, um Menschen mit Behinderung als Fachkräfte wahrzunehmen und zu gewinnen. Die Deutsche-Bahn-Vorständin Dr. Sigrid Evelyn Nikutta spricht mit ihm über die "gläserne Decke" der Macht für behinderte Menschen – und wie wir sie durchbrechen. Janis McDavid stellt Fragen, denen sich alle Menschen, auch Entscheiderinnen und Entscheider, dringend stellen sollten: - Wie gestalten wir inklusive und barrierefreie Arbeitsplätze? - Was heißt eigentlich "Leistung" in der Arbeitswelt einer Leistungsgesellschaft, die seit Jahrzehnten behinderte Menschen im Job vergessen hat? - Welche Hemmnisse erleben behinderte Menschen bei ihrem täglichen Weg zur Arbeit, wie können wir ihnen eine angemessene Mobilität ermöglichen? - Wie prägen Vorurteile und Stereotype die Vorstellung von Menschen mit einer Behinderung in der Arbeitswelt? - Wie sprechen wir diskriminierungsfrei und inklusiv über Behinderungen? Gibt es einen Unterschied zwischen "behinderten Menschen" und "Menschen mit Handicap" – ist das überhaupt wichtig oder zählt schlussendlich einfach Machen statt Reden? - Hat Inklusion ein Imageproblem, bräuchte sie dringend ein Rebranding, damit CEOs, Personaler:innen und Geschäftsführer:innen sie als drängendes Thema erkennen? - Warum denken wir, wenn es um Menschen mit Behinderung in der Arbeitswelt geht, immer in Problemen und nie, wie McDavid vorschlägt, in Lösungen?Der Traum einer Arbeitswelt, in der alle Menschen willkommen sind Janis McDavid, geboren ohne Arme und Beine, ist leidenschaftlicher Lösungsfinder. Er sieht Wege, wo für andere Menschen keine erkennbar sind. Er hat den Kilimandscharo, den höchsten Berg Afrikas, bestiegen, fuhr einen Rennwagen und lernte Schwimmen. Er sah schon früh: Es ist nicht er, der behindert ist. Es die Welt, wie wir sie kennen, die ihn behindert. Und die wir mit Mut und Fantasie formen und verändern können. Und wie wir mit der Arbeitswelt anfangen – das zeigt Janis McDavid mit seinem Buch.

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Seitenzahl: 281

Veröffentlichungsjahr: 2025

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[4]Inhalt

Hinweis zum UrheberrechtImpressumREDEFINE TraumjobREDEFINE InklusionREDEFINE MobilitätREDEFINE FachkräfteREDEFINE RecruitingREDEFINE ImageREDEFINE ArbeitsplatzREDEFINE UmgangREDEFINE LeistungREDEFINE MachtREDEFINE EverythingDankeQuellen
[1]

Hinweis zum Urheberrecht

Alle Inhalte dieses eBooks sind urheberrechtlich geschützt.

Bitte respektieren Sie die Rechte der Autorinnen und Autoren, indem sie keine ungenehmigten Kopien in Umlauf bringen.

Dafür vielen Dank!

[228]Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Print:

ISBN 978-3-68951-039-8

Bestell-Nr. 12120-0001

ePub:

ISBN 978-3-68951-040-4

Bestell-Nr. 12120-0100

ePDF:

ISBN 978-3-68951-041-1

Bestell-Nr. 12120-0150

Janis McDavid

All Inclusive

1. Auflage, Mai 2025

© 2025 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG

Munzinger Str. 9, 79111 Freiburg

www.haufe.de | [email protected]

Bildnachweis Cover und Autorenfoto: © Katy Otto Photographer, Berlin

Lektorat: Ursula Thum, Text+Design Jutta Cram

Produktmanagement: Elisabeth Heueisen

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, des auszugsweisen Nachdrucks, der Übersetzung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten. Alle Angaben/Daten nach bestem Wissen, jedoch ohne Gewähr für Vollständigkeit und Richtigkeit.

[6]REDEFINE [7]TRAUMJOB

[8]Wie jedes Kind hatte auch ich einen Traumjob und wie bei jedem Kind war es ein Job, der so konkret und besonders war, dass man ihn sich nur aussuchen kann, wenn man Arbeit ausschließlich aus Bilderbüchern kennt. Es war zwar nicht Fußballstar oder Astronaut, aber fast. Ich wollte Motorradpolizist werden. Und als Kind hatte ich nie das Gefühl, dass die Tatsache mich davon abhalten könnte, dass ich ohne Arme und Beine geboren wurde. Der Gedanke, dass ich sozusagen zu behindert für meinen Traumjob wäre, kam mir damals schlichtweg nicht.

Natürlich schlummerte da der vage Eindruck, dass ich anders bin. Aber das waren viele Kinder in meinem Umfeld. Anders als ich hatten manche schwarze Haare oder rote. Anders als ich waren manche außergewöhnlich groß oder klein, dick oder dünn. Alle Kinder hatten etwas, das auffiel. Ich hatte Sommersprossen.

Manchmal sprach mich jemand auf die fehlenden Arme oder Beine an. Aber ich dachte: Das wäre ein Merkmal wie die Sommersprossen, die Haare anderer Kinder oder ihre Körperform, die anders war als meine.

Ich brachte meinen Rollstuhl nie in Zusammenhang damit, dass er mich einmal von meinem Traumjob abhalten könnte.

Ja, ich hatte schon früh meinen Rollstuhl. Aber anders als es viele Kinder bei Zahnspangen empfinden, empfand ich meinen Rollstuhl nicht als Einschränkung. Ich fand ihn sogar ziemlich cool. Knallrot war er. Ich brachte ihn nicht damit in Zusammenhang, dass er mich eventuell von Streifenfahrten oder der Verbrecherjagd auf dem Motorrad abhalten könnte.

Ich musste meinen Rollstuhl pflegen und hüten. Aber ich dachte, das ist so wie bei meinen Sommersprossen. Wenn man wie ich helle Haut hat, muss man sich halt öfter eincremen. Muss auf die Bedürf[9]nisse des eigenen Körpers eingehen. Müssen die anderen ja auch. Und die hielten ihre kleinen, großen, dicken oder dünnen Körper ja auch nicht davon ab, von einem Trip ins All zu träumen oder davon, ihren liebsten Fußballverein zur Meisterschaft zu schießen.

Ich dachte sogar, ein Rollstuhl ist gar nicht viel anders als ein Motorrad. Er machte ja so ungefähr das Gleiche. Man bewegte sich damit fort. So erklärte ich mir das. Und so deutete ich als Kind auch um, dass meine Eltern mich zwangen, im Winter grässliche Sturmhauben aus Wolle zu tragen. Die juckten schrecklich, das war schlecht. Gut war: Sie sahen eigentlich ganz cool aus. So eine Sturmhauben-Optik macht in Kinderaugen schon was her. Ich redete mir ein, die Haube wäre ein Helm. Und mit meinem Rollstuhl, den ich mir als Motorrad vorstellte, fuhr ich in den Kindergarten. Ich glaube, das ist so, wie wenn Kinder Funksprüche an die Bodenstation der NASA einüben oder den Torjubel auf dem Bolzplatz, bei dem sie so tun, als schauten ihnen 50.000 Menschen zu. Wir stellten uns vor, wir wären eigentlich schon ganz nah dran.

Ich hoffte so darauf, dass es mal einen Polizeieinsatz vor unserem Kindergarten geben würde. Einen Großeinsatz, wenigstens eine allgemeine Verkehrskontrolle. Ich wollte unbedingt mal eines meiner Idole aus der Nähe sehen. Und eines Tages war es so weit. Mein Vater brachte mich an diesem Morgen zum Kindergarten, davor parkte ein richtig echter Motorradpolizist.

Mein Vater und ich sprachen den Polizisten an, natürlich erzählte ich ihm sofort, dass ich mal den gleichen Job machen möchte wie er und wie cool er ist und überhaupt! Herrgott, war ich aufgeregt! Ich fragte den Polizisten, was ich dafür denn tun müsste. Und er sagte: »Zuerst musst du mal einen guten Schulabschluss machen.«

Heute ist mir klar, dass der Polizist sicherlich etwas überrumpelt war. Ich hatte ihn mit meiner forschen Art in die Bredouille gebracht, auf meinen Wunsch zu reagieren, so zu sein wie er. Ich hatte gedacht, ich wäre doch ein ganz normales Kind, mit Rollstuhlmotorrad und Wintermützenhelm – nur noch einen Schulabschluss davon entfernt, seinen Traumjob beginnen zu können.

[10]Wahrscheinlich war seine Antwort die für diese Situation bestmögliche. Tatsächlich hat mich der Gedanke lange getragen, dass ich werden kann, wovon ich träume.

Ich hatte gedacht, ich wäre doch ein ganz normales Kind, mit Rollstuhlmotorrad und Wintermützenhelm.

So lief meine Kindheit ab. Man würde sie rückblickend wahrscheinlich als wohlbehütet und schön bezeichnen. Vor allem diese Zeit, in der mir weder innerlich klar war noch von außen gespiegelt wurde, dass ich ein Mensch mit einer Behinderung bin und wir eine Gesellschaft sind, in der das heißt: Man kann überhaupt nicht alles werden, wovon man träumt.

Es hatte viele Gründe, warum ich nicht Polizist wurde, sondern Speaker und Autor – aber ein Gedanke aus dieser Anekdote hängt mir immer nach, wenn ich über Erwerbsarbeit nachdenke. Woran liegt es eigentlich, dass wir es verlernt haben, Menschen erst einmal zuzutrauen, was sie sich wünschen? So wie der Polizist aus der Geschichte, der mich wie einen normalen Jungen mit einem normalen Jungentraum behandelte. Seine erste Reaktion war nicht, mir diesen Traum auszureden. Seine erste Reaktion war ein sanftes Ermutigen.

Vielleicht war der Polizist überrumpelt. Womöglich war er zu feige, mir die Wahrheit zu sagen. Aber eigentlich ist das egal. Ein großer Teil von mir hält die Antwort des Polizisten noch immer für die in dieser Situation bestmögliche. Ich glaube, sie ist mir deshalb so in Erinnerung geblieben, weil sie eine große Ausnahme in meinem Leben war. Unzählige Male habe ich stattdessen erlebt, wie nichtbehinderte Menschen mir erklärt haben, dass sie leider eine Mehrheitsgesellschaft konstruiert haben, in der Menschen wie ich behindert werden. Mein Pech.

Wann, frage ich mich, sind wir als Gesellschaft falsch abgebogen? Wann haben wir damit begonnen, bestimmte Menschen zu behindern und ihnen wenig bis absolut gar nichts zuzutrauen, wenn es um Job [11]und Alltag geht? Oder waren wir noch nie auf der richtigen Spur? Diese Fragen haben mich seither nie ganz losgelassen. Nicht, als ich, wie vom Polizisten geraten, mein Abitur machte. Nicht, als ich mich an der Universität einschrieb, und auch nicht, als ich mein Studium wieder abbrach. Ich vergaß diese Fragen nicht, als ich mich selbstständig machte, um mich als Speaker und Autor für Inklusion einzusetzen. Und hörte nicht auf, darüber nachzudenken, als diese Karriere sich als erstaunlich erfolgreich herausstellte.

Wann haben wir damit begonnen, bestimmte Menschen zu behindern und ihnen in Alltag und Job wenig bis gar nichts zuzutrauen?

Ich habe als Speaker mittlerweile so viele Unternehmen von innen gesehen. Für jede einzelne Einladung bin ich dankbar, über jede glücklich. Aber es ist auch oft so, als sei ich ein Raumschiff, das dort landet. Ich sorge für offene Münder. Wenn ich gehe, ist es, als sei eine Erscheinung vorüber. Man reibt sich die gerade noch großen Augen und denkt sich: Ist das wirklich passiert? Welche Impulse setzen meine Vorträge – und wie nachhaltig sind sie? Wie hoch ist der Anteil meiner Geschichten, Tipps und Warnungen, der verpufft? Ich weiß es nicht. Aber ich befürchte: Vieles wird an der Umsetzung scheitern. Sicherlich ist das auch ein Antrieb gewesen, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte das Bedürfnis, einmal all meine vagen und wolkigen Eindrücke der letzten Jahre systematisch mit Expertinnen und Experten ihres Faches abzuklopfen. Deshalb habe ich für dieses Buch eine Reise durch Deutschland unternommen, um sie zu treffen.

Ich will nicht aus Gefühlen heraus argumentieren. Oder aus Kränkungen. Ich kann die Erfahrungen, die mich geprägt haben, nicht ungeschehen machen. Zwar ist mir Wut darüber bis heute fremd. Hass sowieso. Aber dieses Buch ist, wie wahrscheinlich so gut wie jedes Buch, [12]für mich eine Form von Therapie. Es ist Teil meines Findungsprozesses: Wer will ich sein – und in welcher Gesellschaft will ich leben?

Das sind zwei der schwierigsten Fragen überhaupt, denn so richtig weiß ich beides noch nicht. Leichter fällt es mir, sie andersherum zu stellen: Wer möchte ich nicht sein? Ich weiß, ich möchte nicht einfach nur als sympathischer, netter Rolli-Fahrer von nebenan wahrgenommen werden. Der denkt, er müsse dankbar sein für das Wenige, was ihm eine Mehrheitsgesellschaft an Barrierefreiheit hinwirft oder an Inklusion ermöglicht. Ich weiß, dass ich nicht mehr denken will, dass ich eine Last bin. Zu Hause will ich nicht mehr daran denken, ob mein im Flur abgestellter Rollstuhl andere Hausbewohner nerven könnte. Auf der Arbeit will ich nicht mehr denken, ich müsse dankbar sein, wenn der Zugang zur Kantine so umgebaut wird, dass sie nicht nur einer Gruppe von Menschen zugänglich ist, sondern allen.

Alles, was ich verlange, ist eine Frage der Würde.

Bevor ich von Business rede, will ich von Würde sprechen. Denn alles, was ich verlange, ist eine Frage der Würde. Es geht um Menschenrechte, auf die wir uns als Gesellschaft so grundlegend geeinigt haben, dass wir sie in den allerersten Artikel unseres Grundgesetzes geschrieben haben. Aber da steht noch mehr. In Artikel 12 etwa: Alle haben das Recht, ihren Beruf frei zu wählen. Der Artikel kennt keine Ausnahmen. Die Wirklichkeit schon. Und die Lücke zwischen Theorie und Praxis kann nur gelebte Inklusion füllen.

[13]BASICS

Dass ich bisher den Begriff Inklusion recht unbedarft verwendet habe, möchte ich kurz erklären. In der Diskussion um Teilhabe am beruflichen und öffentlichen Leben von Menschen mit Behinderung gerät dabei nämlich gern einiges durcheinander.

Es gibt vier wichtige Begriffe in dieser Diskussion:

Exklusion bedeutet so viel wie Ausschluss. Der Begriff wird verwendet, um zu beschreiben, dass Menschen von einem Bildungsweg oder Beruf ausgeschlossen werden, der allen anderen Menschen offensteht. Menschen mit Behinderung zum Beispiel schauen gewissermaßen von der Seitenlinie aus zu. Sie werden keine Motorradpolizisten.

Separation bedeutet Trennung. Manche Menschen erhalten zwar schulische Bildung, aber in eigens für sie geschaffenen Schulen. In Deutschland sind das die sogenannten Förderschulen, in denen ausschließlich Menschen mit einer Behinderung unterrichtet werden. Im Arbeitskontext wäre hier das System der Werkstätten für Menschen mit Behinderung zu nennen. Dort kann einer Erwerbsarbeit nachgegangen werden, man kann etwa das Gewinde für Schrauben fräsen, die einmal in einem Dienstmotorrad der Polizei verbaut werden.

Integration könnte man mit Eingliederung übersetzen. Menschen aus einer marginalisierten Gruppe dürfen überall dabei sein: in der Schule, im Job, im Alltag. Es ist aber – in dieser Vorstellung von Teilhabe – ihre Aufgabe, sich an die Bedingungen der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Übertragen auf meinen Traumjob aus der Kindheit hieße das, es gäbe vielleicht innerhalb der Polizei eine eigene Einheit, nur zuständig für die Verkehrsüberwachung von zu schnell fahrenden Rollstuhlfahrern und bei Rot über die Straße gehenden Menschen mit Sehbehinderung.

Inklusion ist schwierig zu übersetzen. Einschluss – das klingt nach Justizvollzugsanstalt. Einbeziehen ist da schon besser. Hierunter versteht man, dass die Bedingungen angepasst werden: Es gibt barrierefreie Büros, Assistenzpersonen auf der Arbeit oder technische Hilfs[14]mittel, die Menschen zur Verfügung gestellt werden, damit sie – genau wie alle anderen – teilhaben können. Man könnte auch davon sprechen, dass es die Mehrheitsgesellschaft als ihre Pflicht sieht, eine Art Nachteilsausgleich für jene zu schaffen, für die die Mehrheitsgesellschaft ursprünglich nicht konstruiert ist.

Um diesen Ansatz geht es in meinem Buch.1 Darum, dass jedes Kind, das Motorradpolizist werden will, eine realistische Chance hat, das auch zu erreichen (und es die Strafbehörden als ihre Aufgaben ansehen, ein Verkehrsmittel für mobilitätseingeschränkte Menschen umzubauen).

Wie definieren wir eigentlich, wer eine Behinderung hat – und wie messen wir sie?

Daran schließt sich die Frage an, ob es einen Maßstab gibt, um Behinderungen festzustellen oder gar zu messen. Taugen dafür die Diagnosen, die im ICD-11 hinterlegt sind, dem international anerkannten Katalog von Krankheiten und anderen Gesundheitsproblemen? Taugt der in Deutschland für viele Behördengänge und für die Kommunikation mit Ämtern und Versicherungen wichtige Grad der Behinderung? Sagen wir, dass alle, die vom Staat einen Schwerbehindertenausweis ausgestellt bekommen, behindert sind?

Mir gefallen all diese Maßstäbe nicht. Sie folgen der medizinischen Definition von Behinderung. Wir, die Menschen mit Behinderung, gelten darin als krank, nichtbehinderte Menschen als gesund. Die Behinderung ist somit immer ein Makel, der zwangsläufig zu Nachteilen führen muss.

Diese Vorstellung ist so tief in unserem kulturellen Gedächtnis verankert, dass es außerordentlich mühsam ist, sie zu reformieren. Was ich damit meine? Ein Blick in die Geschichte macht es vielleicht etwas greifbarer.

[15]WAS BISHER GESCHAH

Wie kamen wir als Menschheit eigentlich dazu, Behinderung medizinisch zu definieren – und wie kommen wir in jüngster Vergangenheit und Gegenwart dazu, uns neue Definitionen zu überlegen?

Denn, wenn man mich fragen würde, würde ich sagen: Lasst uns endlich umdenken. Lasst uns radikal sein – Menschen mit einer Behinderung sollen selbst entscheiden, ob und, wenn ja, als wie relevant sie ihre Behinderung in unterschiedlichen Situationen einschätzen. Lasst uns darauf vertrauen, dass sie es selbst ansprechen, wenn es nötig ist.

Inklusion ist kein neuer, sondern der natürliche Zustand!

Lasst uns endlich umdenken. Lasst es uns als gesellschaftliche Aufgabe sehen, eine Mehrheitsgesellschaft zu werden, in der Menschen möglichst wenig behindert werden. Inklusion ist doch kein neuer, sondern der eigentlich normale Zustand. Normal ist, dass Menschen eingebunden werden, mitgestalten dürfen. Bestimmte Gruppen davon auszuschließen und sie zu behindern, ist in einer Gesellschaft, wie ich sie mir vorstelle, willkürlich und völlig unnormal.

Ich glaube oder hoffe zumindest, dass mir heute viele Menschen in der Definition zustimmen würden, dass die meisten Behinderungen nur deshalb existieren, weil bestimmte Menschen behindert werden. Die Menschen der Vergangenheit hätten mir wahrscheinlich einen Vogel gezeigt.

Eine kurze Geschichte des Umgangs mit Menschen mit Behinderung ist eine, die deprimierend beginnt. Wir wissen enorm wenig darüber. Es gibt nämlich keine alten sumerischen Schrifttafeln oder Hieroglyphen, anhand derer wir Biografien von behinderten Menschen in Mesopotamien oder entlang des Nils rekonstruieren könnten. Geht man davon aus, dass es Behinderungen schon immer gegeben haben muss, muss [16]man davon ausgehen, dass Menschen mit Behinderungen unsichtbar gemacht wurden. Im besten Fall wurden sie geduldet oder ignoriert. Im schlimmsten Fall eingesperrt und getötet. Historiker gehen heute davon aus, dass das Leben von Menschen mit einer Behinderung schlichtweg so irrelevant für viele Menschen in unserer Ur- und Frühgeschichte war, dass ihre Leben nicht als überliefernswert gesehen worden sind.

Die Philosophen des antiken Griechenlands, so humanistisch und egalitär, wie wir sie manchmal in Erinnerung haben, waren nicht gerade besser. Aristoteles etwa warb in seiner berühmten Schrift Politiká, die den bestmöglichen Aufbau eines Staates skizziert, dafür, Kinder mit Behinderung töten zu lassen. Drüben im antiken Rom setzte man solche Kinder im Wald aus und ließ sie dort verhungern.

Immerhin, könnte man sagen, fanden in der klassischen Antike einige Menschen mit einer Behinderung ihren sehr speziellen Weg in die Arbeitswelt. Einige kapitalisierten ihre körperlichen Behinderungen als Bettler, indem sie an das Mitleid der Menschen appellierten, um Geld zu verdienen. Einige Reiche aus der römischen Oberschicht hielten sich Menschen mit Behinderung als hauseigene Hofnarren zur Belustigung.

In der Bibel heißt es, Gott habe die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Das sind keine guten Voraussetzungen für die Inklusion.

Seit sich die Menschen von den vielen Göttern im Olymp verabschiedeten und nur noch zu einem beteten, also als das Christentum in die Welt kam, heißt es in der Bibel, Gott habe die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Keine sonderlich guten Voraussetzungen für die Inklusion von Menschen, die von diesem vorgestellten Ebenbild vermeintlich abwichen, könnte man meinen. Dennoch findet man in der Bibel viele Stellen, in denen Jesus jene heilt, die andere körperliche und geistige Voraussetzungen haben: Blinde, Taube, Lahme und Kranke. [17]Der große christliche Erlöser sah sich zwar noch nicht dafür zuständig, sie menschenwürdig in die Gesellschaft oder das Arbeitsleben zu integrieren. Aber wenigstens genossen sie eine gewisse Fürsorge. Tragischerweise aber sind Menschen, wie sie sind.

Neben diesen Gott trat in der Vorstellung der Menschen dessen Gegenspieler: der Teufel. Dem konnte man, wie praktisch, die Schuld an so ziemlich allem geben: Naturkatastrophen, Missernten – oder auch Kindern, die mit einer Behinderung für die Sünden ihrer Eltern bestraft wurden. Oder für ihre eigenen Sünden im vorherigen Leben, wie es teils bis heute in bestimmten Religionen geglaubt wird. Die Kirche spielte keine sonderlich rühmliche Rolle dabei – der Mythos wurde lange aufrechterhalten.

Blicken wir auf die Chancen im Berufsleben. Ausgehend vom Hofnarren entwickelte sich im späten Mittelalter ein, nun ja, weiterer Berufszweig für Menschen mit Behinderung: die Zirkusattraktion. Die öffentliche Zurschaustellung. Menschen mit offensichtlich körperlich sichtbaren Behinderungen fanden Anstellungen in den damals beliebten Freakshows.

Es gab aber auch, ich nenne sie mal selbstständige Künstler. Mitte des 16. Jahrhunderts etwa tauchten an europäischen Höfen und in der Innenstadt von Kopenhagen – und auch in Deutschland, England und der Schweiz – die beiden Männer Lazarus und Joannes Baptista Colloredo auf: siamesische Zwillinge, zusammengewachsen am Bauch. Die Colloredo-Brüder waren, so muss man es wohl sagen, ziemlich gute Unternehmer.

Geboren und aufgewachsen in Genua, tourten sie schon bald durch halb Europa. Sie hatten sich malen lassen und wohin sie kamen, bewarben sie mit diesen Bildern ihre Auftritte. Ohne Chance, jemals einen konventionellen Beruf zu ergreifen, nutzten sie die perverse Neugier der Menschen aus. Ihre Behinderung ermöglichte ihnen ein auskömmliches Leben. Einmal rettete sie sie sogar vor dem Tod.

Als sie gerade durch Frankreich tourten, wurde Lazarus von einem betrunkenen Mann beleidigt und körperlich angegangen. Er zog dem [18]Angreifer eine Weinflasche über den Kopf, was diesen schwer verletzte und schließlich zu dessen Tod führte. Lazarus plädierte auf Notwehr, auf Selbstverteidigung. Die Behörden klagten ihn dennoch wegen Mordes an. Darauf ersannen die Brüder eine besondere Verteidigungstaktik: Würde Lazarus zum Tod verurteilt werden, hätte so ja auch sein unschuldiger Bruder Joannes Baptista sterben müssen. Und die Sippenhaft existiere doch in Frankreich längst nicht mehr! Lazarus wurde also freigesprochen.

Man kann festhalten: Über Jahrtausende wurden Menschen mit Behinderung an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Arbeitswelt der Mehrheitsgesellschaft blieb ihnen verschlossen. Von ihrer Arbeit leben konnten sie entweder, indem sie gezwungen wurden, mit ihrer Behinderung Geld zu verdienen. So machten es die Colloredo-Brüder. Oder indem sie Arbeit verrichteten, bei der sie niemand sah.

So erzählt es uns etwa der französische Schriftsteller Victor Hugo in seinem Glöckner von Notre-Dame, als Buch erschienen im Jahr 1831 und 1996 von Disney verfilmt: Darin läutet ein Mann namens Quasimodo die Glocken der berühmten Kirche in Paris und singt dazu hinunter auf die Stadt. Die Menschen hören Geläut und Gesang gern – sind aber abgestoßen, sobald sie den Mann erblicken, den Hugo uns mit einer nicht weiter beschriebenen, aber offensichtlich schweren körperlichen Behinderung schildert.

Die Geschichte der Menschen mit einer Behinderung war immer eine Geschichte der Ausgrenzung.

Die Geschichte der Menschen mit einer Behinderung war also immer eine Geschichte der Ausgrenzung. Der Exklusion. Daran änderte, wenigstens sehr kurzfristig, erst der Erste Weltkrieg etwas. Aus dem Krieg kamen Menschen mit schweren Verletzungen zurück. Die Heimkehrer nannte man Kriegsversehrte. Erstmals gab es ernsthafte Bestrebungen, [19]den Behinderungen zum Trotz einen Platz in der Gesellschaft für sie zu finden. Man suchte aktiv nach Möglichkeiten, im Krieg verwundeten Menschen wieder Teilhabe an der Arbeitswelt zu ermöglichen. Man versuchte sich an so etwas wie der Vorstufe von Integration.

Doch die Hoffnung, dass hierin die Geburtsstunde eines guten Umgangs mit Menschen mit einer Behinderung läge, zerschlug sich rasch – auf unfassbar grausame Weise.

In ganz Europa kamen Faschisten an die Macht. Die pseudowissenschaftliche Idee der Eugenik wurde beliebt: das politische Steuern davon, welche Menschen sich fortpflanzen sollten. Wenig überraschend: Menschen mit Behinderung gehören nicht dazu. Die Nationalsozialisten nannten sie Ballastexistenzen oder Defektmenschen. Menschen mit Behinderung wurden massenhaft sterilisiert. Selbst zur Zwangsarbeit taugten den Nazis diese Menschen nicht. Unter dem Schlagwort der Vernichtung lebensunwerten Lebens töteten sie Hunderttausende Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen.

Die Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft waren schließlich der tragische Startpunkt für die Inklusion von Menschen mit Behinderung in Alltag und Beruf, wie wir sie heute kennen. Den Anfang machte das UNESCO-Übereinkommen gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Wie gut dieses Übereinkommen sich mit dem deutschen System von Förderschulen verträgt, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt. Immerhin gab es nun internationale und völkerrechtliche Überlegungen zur Inklusion.

Daran schloss sich die UN-Dekade der Menschen mit Behinderung an. Sie begann im Jahr 1983. Es gab ein weltumspannendes Aktionsprogramm, in dem es erstmals nicht nur um Pflege oder Rehabilitation ging, sondern um die Idee, dass Menschen mit einer Behinderung tatsächlich Menschenrechte verdienen – wie alle anderen auch.

Zarte Blüten der Inklusion waren an vielen Orten zu sehen. Und niemand zertrat sie. Im Gegenteil: Man begann sie zu pflegen. In Deutschland formierte sich erstmals eine Bürgerrechtsbewegung von Menschen mit Behinderung, die für ihre eigenen Rechte eintraten.

[20]Aus dieser Bewegung beobachtete man kritisch die Bestrebungen, aus zwei geteilten Staaten einen zu machen. Seit Bestehen der wiedervereinigten Bundesrepublik lautet Artikel 3 des Grundgesetzes: »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.«

Aber, fragten sich Engagierte und Aktivisten: Fehlt da nicht jemand in dieser Aufzählung? Nach jahrelanger Lobbyarbeit wurde ergänzt: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« Wir, die Menschen mit einer Behinderung, sind also die Einzigen, die einen eigenen Satz in Artikel 3 des Grundgesetzes bekommen haben. Und der lässt, finde ich zumindest, die Deutung zu, dass man uns – im Gegensatz zu anderen marginalisierten Gruppen – durchaus bevorzugen dürfte.

Der bis heute politisch wohl größte Wurf war die UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2006. Auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York beschlossen zunächst 20 Staaten, darunter Deutschland, sich zu diesem völkerrechtlichen Vertrag zu bekennen.2 Der Vertrag markierte einen der wichtigsten Meilensteine des Umdenkens beim Umgang mit Menschen mit Behinderung. Heute haben ihn so gut wie alle der 193 UN-Mitgliedsstaaten unterzeichnet.3

Behinderung ist ein Nachteil, zu dessen Ausgleich wir uns als Gesellschaft verpflichtet haben.

Denn zuvor folgte man der bereits erwähnten medizinischen Definition von Behinderung. Menschen galten als krank, wenn sie nicht der Norm der Mehrheitsgesellschaft entsprachen. Nun einigte man sich auf eine neue menschenrechtliche Definition von Behinderung. Diese Definition sieht Menschen mit Behinderung als Menschen, die von [21]außen behindert werden und denen bestimmte Rechte nicht gewährt werden. Nach diesem Ansatz ist Behinderung nichts anderes als ein Nachteil, zu dessen Ausgleich wir uns als Gesellschaft verpflichtet haben. Es geht nur nachrangig um Behinderung. Vorrangig geht es um die Frage, wie wir als Gesellschaften zukünftig zusammenleben und -arbeiten wollen – es geht um die Gewährung grundsätzlicher Menschenrechte.

Nicht genau datierbar, aber trotzdem begrüßenswert ist, dass Vielfalt in der breiten Masse zunehmend als etwas Gutes und Bereicherndes wahrgenommen wird. In der Werbung, der Popkultur, in Politik und Wirtschaft. Ausgelöst durch eine kämpferische Frauenbewegung, gestützt durch Menschen, die ihre Rechte als Arbeitnehmende mit einer Migrationsgeschichte einforderten, und flankiert durch die queere Szene, ist es heute nahezu chic geworden, sich für Vielfalt und Inklusion einzusetzen.

Zum Teil ist es heute chic geworden, sich in der Werbung, der Popkultur, in Politik und Wirtschaft für Vielfalt und Inklusion einzusetzen.

Es war also ein langer Weg, auf den wir als Menschheit nicht gerade stolz sein sollten. Aber immerhin: Es scheint so, als würde es besser.4 (Auch wenn die jüngeren politischen Entwicklungen Fragen an diesem grundsätzlichen Optimismus aufwerfen.)

[22]TEILHABE

Nun könnte man sagen: Was sind einige Jahre voller Licht gegen Zehntausende voller Dunkelheit? Ich sage: Das sind helle Signale der Zuversicht, die mich ermutigt haben, ein Buch darüber zu schreiben, wie die Lage der Inklusion in Deutschland ist. Worauf können wir stolz sein? Woran müssen wir noch arbeiten? Und vor allem: Was müssen wir neu denken, wenn wir es mit der Inklusion ernst meinen?

Denn das radikale Neudefinieren von Behinderung hat mir damals bei der UN-Behindertenrechtskonvention besonders imponiert. Es beeindruckt mich bis heute: Es zeigt mir, dass es kein Naturgesetz gibt, nach dem Menschen mit einer Behinderung ausgegrenzt werden müssen. Wie wir als Gesellschaft mit ihnen umgehen, entscheiden wir selbst. Aus diesem Grund versucht jedes der Kapitel in diesem Buch einen Lebensbereich aus Alltag oder Job neu zu denken – und dabei auch neu zu definieren.

Was heißt zum Beispiel echte Teilhabe an der Volkswirtschaft Deutschland? An seiner Arbeitswelt? Natürlich stehen Menschen mit Behinderung nicht alle Berufe offen, das ist auch nicht zwangsläufig das Problem. Ich glaube, dass eine inklusive Arbeitswelt auch existieren könnte, ohne dass wir bei Dachdeckermeisterinnen und Baumpflegern die gleiche Verteilung von Menschen mit und ohne Behinderung haben.

Ich verlange von einer Gesellschaft, die sich inklusiv nennen möchte, dass Menschen mit Behinderung in Machtpositionen kommen können.

Es geht mir vielmehr darum, ob sämtliche Hierarchiestufen der Karriereleiter für Menschen mit Behinderung erklimmbar sind. Ich sage es mal so: Wenn wir über eine echte, aufrichtig und komplett ernst gemeinte Inklusion sprechen, müssen wir über das Amt des Bundes[23]kanzlers sprechen. Über die CEOs der DAX-40-Unternehmen. Über die Spitzenpositionen in Verbänden, Gewerkschaften bis hin zum Verbraucherschutz und den obersten Gerichten des Landes.

Ich verlange von einer Gesellschaft, die sich inklusiv nennen möchte, dass Menschen mit Behinderung selbstverständlich in Machtpositionen kommen können.

Steht man dem Projekt Inklusion weniger offen gegenüber, kann man diese Forderung natürlich ins Absurde führen. Will ich, dass Todkranke, die beatmet im Krankenhaus liegen, ein Unternehmen führen? Oder jemand im Wachkoma den Oberbefehl über die Bundeswehr hat? Natürlich nicht!

Es gibt rund acht Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung in Deutschland. Fast jeder Zehnte!

Ich will Sensibilität dafür schaffen, wie viele Menschen in Deutschland eine Behinderung haben – und wie viele von ihnen gern die Karriere machen würden, die allen anderen genauso offensteht.

Achtung! Es gibt rund acht Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung in Deutschland. Fast jeder Zehnte! Und dabei sind nur jene mitgerechnet, die einen sogenannten Grad der Behinderung von über 50 haben. Die etwa mit starken chronischen Schmerzen leben. Mit Demenz, Epilepsie, schweren Herausforderungen mit Ohren oder Augen, einer Muskeldystrophie, im Autismus-Spektrum, mit Multipler Sklerose oder Krebs im fortgeschrittenen Stadium.

Rechneten wir all jene, wie soll ich sagen, leicht behinderten Menschen mit einem Grad unter 50 hinzu, kommt noch einmal eine riesige Menge an Menschen dazu. Rund fünf Millionen Menschen.5 Diejenigen mit Schwerhörigkeit auf einem Ohr, Farbenblindheit, depressiven Phasen, ADHS, Bluthochdruck, leichtem Asthma, schweren Allergien oder Adipositas.

[24]Übrigens: Längst nicht einmal alle Menschen in Deutschland, die könnten, haben einen Grad der Behinderung feststellen lassen.6 Deshalb lässt sich sagen: Wir sind viele Millionen!

Und noch mal Achtung! Nur 3 Prozent dieser Behinderungen sind angeboren. 97 Prozent werden im Lauf des Lebens durch Krankheit, Unfall oder als Folge des Alterns erworben.

Wenn wir über Inklusion sprechen, sage ich: Tut es nicht für mich. Tut es für uns alle.

Wenn wir also über die Umsetzung von Inklusion sprechen, sage ich: Tut es nicht für mich. Tut es für uns alle. Wir sind eine alternde Gesellschaft. Und eine barrierefreie Welt ist für alte Menschen genauso angenehm wie für Eltern mit Kinderwagen. Wenn wir heute damit anfangen, werdet auch ihr morgen davon profitieren. Nur eine inklusive Welt in Job und Alltag ist zukunftsfähig.

Und versprochen: Was uns hilft, stört euch gar nicht. Ich stelle mir manchmal vor, jede öffentliche Toilette in Deutschland wäre barrierefrei ausgebaut, also dementsprechend größer als diese engen Kabinen, in die man sich hineinquetschen muss. Ich würde eine nicht unerhebliche Geldmenge wetten, dass sich niemand über die Größe dieser Toilette beschweren würde. Ich wette, wir würden keinen einzigen Suchtrupp losschicken müssen, weil jemand darin verloren gegangen ist oder sich auf dem Weg zum Ausgang verirrt hat.

Unterschiedliche Menschen brauchen unterschiedliche Dinge in Alltag und Job. An ihrem Arbeitsplatz etwa, da brauchen manche einen Autoparkplatz, andere einen Fahrradständer und wieder andere einen Aufzug. Die meisten Menschen finden im Büro eine Türhöhe von zwei Metern angenehm, um ohne Kopfeinziehen hindurchgehen zu können. Für wieder andere gehört es zu einem guten Arbeitsplatz, dass es einen Schnitzel-Freitag in der Kantine gibt.

[25]Ich als Rollstuhlfahrer verstehe gar nicht, warum Türen, warum generell Räume so hoch sein müssen. Für mich würden eineinhalb Meter völlig ausreichen. Und wie praktisch das wäre! Ich denke daran, wie viele Etagen wir in unseren Bürotürmen unterbringen könnten, wenn sie auf meine Vorlieben und Bedürfnisse zugeschnitten wären. Ich glaube, ich könnte mit diesem Vorschlag die Krise der deutschen Baubranche lösen! Und wenn ich schon dabei wäre, Krisen zu lösen – ich habe das Patentrezept für zumutbare Kantinenpreise: jeden Tag fleischlos! Das Essen wäre garantiert günstiger – und mir als Vegetarier käme das entgegen.

Ich wünsche mir einen Austausch auf Augenhöhe darüber, was wir alle brauchen, um uns zu Hause, in der Öffentlichkeit und auf der Arbeit wohlzufühlen.

Aber ich erwarte ja gar nicht, dass meine Bedürfnisse und Sichtweisen zur Norm werden. Und ich weiß natürlich, dass diese Vergleiche hinken. Dabei lasse ich Mehrheitsverhältnisse und Normalverteilungen dieser Gesellschaft völlig außer Acht. Natürlich brauchen viele Menschen zwei Meter hohe Türen. Natürlich wollen die meisten Menschen die Wahl zwischen Kichererbsen und Kotelett. Ich will mit diesem Gedankenspiel nur zeigen, dass es absurd ist, die Bedürfnisse einer Gruppe vollends zu beachten – und die einer anderen vollends zu ignorieren.

Ich wünsche mir einen Ausgleich zwischen diesen Interessen. Einen Austausch auf Augenhöhe darüber, was wir alle brauchen, um uns zu Hause, in der Öffentlichkeit und auf der Arbeit wohlzufühlen. Deshalb hoffe ich für dieses Buch auf interessierte Leserinnen und Leser. Gern auch solche, die an Positionen sitzen, an denen sie etwas verändern können.

[26]Denn wir haben wahrlich keinen Mangel an Ideen zu mehr Inklusion. Uns mangelt es an der Umsetzung. Natürlich nehme ich dabei alle Menschen in die Pflicht. Aber vor allem jene vom DAX-Vorstand bis zur Chefin eines kleinen Handwerksbetriebs, deren Hebel zur Veränderung größer sind, weil sie mehr politische, wirtschaftliche und kulturelle Macht haben.

Gemeinsam mit all jenen, die dieses Buch lesen oder als Gesprächspartnerinnen und -partner darin auftauchen, möchte ich mich zum einen weiter für Inklusion einsetzen. Zum anderen möchte ich nach dem Buch endlich nicht mehr hören müssen, was ich seit Jahren höre: Inklusion sei zu teuer, zu kompliziert, unnötig oder hässlich. Ich möchte all diese Pseudoargumente zerbröseln sehen. Dafür unternehme ich diese Reise durch Deutschland. Ich treffe Entscheiderinnen und Entscheider dieses Landes, in Konzernzentralen und im politischen Berlin.

Eines vorweg: Ich lasse mich von ihnen inspirieren, streite mit ihnen und am Ende werde ich gleichermaßen euphorisiert und enttäuscht wieder nach Hause kommen – was ja eigentlich meine Erfahrung mit der Inklusion in Deutschland recht gut zusammenfasst, seit ich als Kind davon träumte, Motorradpolizist zu werden.

[28]REDEFINE [29]INKLUSION

[30]Im großen Saal der Evangelischen Schalom-Gemeinde in Dortmund versammeln sich an diesem Tag im Dezember 1981 rund 400 Menschen, um den deutschen Staat anzuklagen. In der Nacht zuvor hat es gefroren. Der festgetretene Schnee macht es denen schwer, die da kommen. Aber sie trotzen der Witterung, der Kälte, der widrigen Anreise – und der Tatsache, dass die Toiletten der Schalom-Gemeinde nur über eine steile Kellertreppe erreichbar sind.

Angeführt von Gusti Steiner, einem Sozialarbeiter, der mit Muskelschwund im Rollstuhl sitzt, hängen sie drinnen ihre Plakate auf. Endstation Werkstatt steht auf einem. Rehabilitation spart Rente und Sozialhilfe. Auf dem größten aller Plakate steht: Krüppeltribunal. Es ist die Inszenierung eines Schauprozesses, bezeichnet mit einem Wort, das sie sich selbstbewusst von denen zurückholen, die sie damit verletzen.

Menschen mit Behinderungen werfen dem deutschen Staat systematische Menschenrechtsverletzungen vor.

Bei diesem Tribunal im Dezember des Jahres 1981 gibt es keine Richter, keine Verteidiger, nur Kläger: Menschen mit Behinderungen, die dem deutschen Staat systematische Menschenrechtsverletzungen vorwerfen. Spätestens an diesem Tag vor über 40 Jahren, mit diesem Tribunal, beginnt in Deutschland der Kampf für eine echte Inklusion von Menschen mit Behinderung.

Auf die Idee, ein solches Tribunal durchzuführen, kommt Gusti Steiner schon während der Vorbereitungen auf das erste Internationale Jahr der Behinderten, für 1981 ausgerufen von der UN. Das deutsche Motto lautet: Einander verstehen – miteinander leben.

Was heute wohlig und nett klingt und wenigstens in Teilen gelebt wird, klingt für einen wie Gusti Steiner wie Hohn. Es ist ein Motto, in dem er und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter ihre Lebensrealität nicht widergespiegelt finden. Sehr viel krasser als heute sind Menschen [31]mit Behinderung Anfang der Achtzigerjahre noch Diskriminierung, Ausgrenzung und Missbrauch ausgesetzt.

Vor allem aber, und das treibt Gusti Steiner an: Behinderung wird damals rein karitativ gedacht. Steiner möchte daraus einen politischen Kampf machen. Eine seiner wichtigsten Aktionen ist die Herausgabe des sogenannten Behindertenkalenders. Auf dem Cover ist ein Rollstuhlfahrer in Comic-Optik abgebildet, den Gusti Steiner sich ausgedacht und betextet hat: »Unser Musterkrüppelchen – dankbar, lieb, ein bisschen doof und leicht zu verwalten.« Die Botschaft ist klar: So lassen wir nicht länger mit uns umgehen. So einfach kommt ihr uns nicht mehr davon.

Dafür vernetzen Gusti Steiner und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter erstmals behinderte Menschen aus ganz Deutschland. In mehreren Regionalgruppen der damaligen Bundesrepublik sowie in West-Berlin organisieren sie Koordinierungstreffen und planen dort die ersten öffentlichkeitswirksamen Proteste für ihre Inklusion in die Gesellschaft und, auch das ist von Anfang an ein Anliegen: auf dem Arbeitsmarkt.