All the Little Raindrops - Mia Sheridan - E-Book + Hörbuch

All the Little Raindrops Hörbuch

Mia Sheridan

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Beschreibung

Es ist Spring Break im letzten Schuljahr und Noelle Meyer und Evan Sinclair wurden entführt. Keiner von beiden weiß, warum sie ausgewählt wurden, nur, dass sie eine tragische Vergangenheit teilen: Evans Vater kam mit dem Mord an Noelles Mutter davon und ruinierte damit praktisch ihre Familie. Obwohl sie sich aufgrund dieser Verbindung eigentlich hassen müssten, verbünden sich die Teenager stattdessen, um sich ihrem anderen gemeinsamen Nenner zu stellen – ihren Entführern. Jahre später befasst sich Evan, der inzwischen als Privatdetektiv arbeitet, erneut mit dem Verbrechen. Er bittet Noelle um Hilfe und sie entdecken, dass die Antworten bei einem Mann liegen, der nur als der Collector bekannt ist …

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Zeit:13 Std. 52 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Funda VanroyAlexis Krüger

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All the little Raindrops
Impressum
Danksagung

Mia Sheridan

All the little Raindrops

Übersetzt von Patricia Buchwald

Impressum

All the little Raindrops

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»ALL THE LITTLE RAINDROPS«.

Copyright © 2019, 2024. ALL THE LITTLE RAINDROPS by Mia Sheridan

the moral rights of the author have been asserted.

Vermittelt durch die Agentur:

Brower Literary & Management, Inc.

Deutschsprachige Ausgabe © 2025. All the little Raindrops

by VAJONA Verlag GmbH

Druck und Verarbeitung:

FINIDR, s.r.o.

Lípová 1965  

737 01 Český Těšín

Czech republic

Übersetzung: Patricia Buchwald

Korrektur: Aileen Dawe-Hennigs und Susann Chemnitzer

Umschlaggestaltung: Diana Gus

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

An diejenigen, die aus den Trümmern gekrochen sind und sich geweigert haben, ein sanftmütiges Leben in der Zeit danach zu führen.

Der Mensch ist das grausamste aller Tiere.

 – Friedrich Nietzsche

Noelle hatte versucht, die Tage zu verfolgen, aber sie waren nicht von den Nächten zu unterscheiden. Beide waren in Stille und völlige Schwärze getaucht. Schließlich hatte sie es aufgegeben. Woher sollte sie wissen, wie schwer es war, eine Stunde zu messen, wenn diese Stunde in dunkler, stiller Angst verbracht wurde?

Ihr war bewusst geworden, dass es Orte gab, an denen die Zeit nicht existierte. Denn selbst in Abwesenheit einer Uhr basierte ihr Empfinden auf Sinneseindrücken: dem Sonnenauf- und Sonnenuntergang, dem Geräusch des Verkehrs, dem fernen Klang einer Kirchenglocke … oder auf hundert anderen Signalen aus der Welt um sie herum. Doch nicht in diesem Käfig, in dem sie sich gerade befand. So zählte sie nicht mehr, wie sie es immer getan hatte, nachdem sie sich orientiert und sich zur Ruhe gezwungen hatte. Stattdessen trieb sie einfach dahin. Sie versuchte, dass ihre Fantasie nicht die Kontrolle übernahm, versuchte, sich nicht vorzustellen, sie befände sich in einer luftdichten Box tief unter der Meeresoberfläche. Denn allein dieser Gedanke ließ ihren Blutdruck in die Höhe schnellen und ihren Atem stoßweise kommen, als würde ihr der Sauerstoff ausgehen.

Das Einzige, was Noelle einen Hinweis auf die verstreichenden Stunden gab, waren die Anzeichen ihres eigenen Körpers. Sie wurde hungrig und durstig. Aber Essen und Trinken kamen in unregelmäßigen Abständen aus einer Art kleinen Tür in der Wand, gleich hinter ihrem Gefängnis. Sie hörte, wie die Tür angehoben wurde, und dann erschien ein kleiner, milchiger Lichtstrahl, der sie zwang, den Kopf wegzudrehen; selbst der schwache Schein war zu viel für ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Wie eine Fledermaus in einer unterirdischen Höhle, die auf einen Schimmer gedämpften Sonnenlichts reagierte, der durch einen Spalt fiel. Aber selbst, wenn Noelle sich abwandte, konnte sie das Hefebrot riechen, und das veranlasste sie dazu, dorthin zu kriechen und blind nach dem Essen zu greifen. Dabei erreichten ihre Fingerspitzen gerade noch das einfache Stück Brot oder ein paar Cracker und einen Pappbecher mit Wasser. Beim ersten Mal hatte sie das Wasser versehentlich umgekippt, ohne sich dessen Anwesenheit bewusst zu sein, und später war sie so ausgedörrt gewesen, dass ihre Zunge angeschwollen war und ihre Lippen rissig geworden waren. Jetzt wusste sie, dass sie vorsichtiger sein musste, wenn sie nach beidem griff. Und dann, bevor Noelle ihre Augen ganz öffnen konnte, ging der Schlitz zu und hinterließ nur noch ein verschwommenes Bild der Öffnung.

Manchmal kamen Essen und Trinken, wenn sie so ausgehungert und dehydriert war, dass sie zitterte, als sie nach der Nahrung griff, und manchmal kamen sie, wenn sie sich noch weitgehend satt fühlte. Das musste Absicht gewesen sein. Um sie zu verwirren. Um sie zu quälen. Zuerst hatte sie geschrien und gebettelt, wenn die Essenslieferungen kamen, schließlich musste jemand in der Nähe sein, aber niemand hatte jemals geantwortet. Noelle dachte, sie hätte irgendwo weit oben Schritte gehört. Aber sonst? Nichts.

Wenn sie raten müsste, würde sie sagen, dass ihr Käfig etwa einen Meter achtzig auf einen Meter zwanzig groß war und dass in der Ecke eine Toilette stand. Sie hatte sie gefunden, als sie endlich den Mut gehabt hatte, ihre Umgebung abzutasten, nachdem sie dort aufgewacht war, orientierungslos, gelähmt und allein. Sie hatte die Form ertastet und festgestellt, dass sie aus Metall war, wie eine dieser Gefängnistoiletten. Passend. Immerhin war Noelle eine Gefangene. Von wem, das wusste sie nicht. Sie konnte es auch nicht erraten. Die Toilette spülte genauso wie eine Flugzeugtoilette, mit einem lauten, saugenden Geräusch, gefolgt vom leisen Schließen einer Klappe. Wenigstens bot sie ein wenig Würde. Aber es würde sie nicht davor bewahren, zu verdursten.

Als sie sich ihrer misslichen Lage klar geworden war, dass sie entführt worden war, hatte Noelle geweint, sich hin und her gewiegt und sich vorgestellt, wie entsetzt ihr Vater sein musste. Er hätte die Polizei verrückt gemacht, um sie zu finden. In letzter Zeit hatten sie sich nur noch gelegentlich oder gar nicht mehr gesehen, aber er hätte sie angerufen oder sich Sorgen gemacht, wenn sie ihn nicht zurückgerufen hätte. Er arbeitete gerade in einem Nachtjob, und da momentan Spring Break war und sie keine Schule hatte, arbeitete Noelle tagsüber in ihrem Kellnerinnenjob. Aber sie telefonierten mindestens jeden zweiten Tag miteinander oder schickten sich kurze SMS. Ich liebe dich. Es sind noch Reste im Kühlschrank. Vergiss nicht, heute Abend den Müll rauszubringen. Und das war mindestens eine Woche her. Oder? Aber vielleicht hatte sie sich geirrt. Vielleicht waren erst nur ein paar Tage vergangen. Vielleicht hatte ihr Chef noch nicht einmal angerufen, um herauszufinden, warum sie nicht da war. Irgendwann musste sie aufhören, an ihren Vater zu denken, denn dadurch wurde ihre Panik nur noch größer und sie wollte nach ihm rufen. Sie fühlte sich wie damals, als sie als kleines Mädchen aus einem Albtraum aufgewacht war und nach ihrem Retter geschrien hatte. Ihr Vater war damals immer aufgetaucht und hatte sie in seine Arme genommen. »Psst«, hatte er gesagt. »Daddy ist hier. Du bist in Sicherheit.«

Die tiefe Sehnsucht danach brachte Noelle jetzt fast zum Hyperventilieren. Und sie fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis sie ihren Verstand verlor. Ein Teil von ihr sehnte sich nach der Gnadenfrist eines gebrochenen Geistes; einer, der nicht denken konnte, der keine Angst hatte. Oder sich Dinge vorzustellen, die in der umgebenden Dunkelheit auf der Lauer lagen. Aber der stärkere Teil von ihr lehnte es ab, eines der wenigen Dinge aufzugeben, die sie derzeit besaß: ihren Lebenswillen.

Noelle rollte sich vor dem plötzlichen Lichteinfall weg, kniff die Augen noch fester zu und stieß ein schmerzhaftes Keuchen aus. Sie setzte sich auf und hielt ihre Hand abwehrend vor sich, während sie sich so weit wie möglich zurückzog und mit der Wirbelsäule gegen die Gitterstäbe ihres Geheges stieß. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie außerirdisch-ähnliche Gestalten, die sich bewegten. Sie hörte ein Grunzen und dann ein Klirren. Jemand oder mehrere Jemands waren in dem Raum mit ihr.

»Hallo?«

Ihr Herz raste, der Atem kam schwer über ihre Lippen, als sie verzweifelt versuchte, ihre Augen ganz zu öffnen. Aber Noelle war schon so lange in der Dunkelheit, dass ihre Augen noch nicht gehorchen wollten.

»Bitte! Hallo? Lasst mich raus. Bitte«, flehte sie, und die Hoffnung gab ihr den Mut, sich auf die Knie zu ziehen und zur Vorderseite ihres Käfigs zu krabbeln. Wieder ein metallisches Klirren, irgendeine Tür schloss sich zu ihrer Rechten, und dann ertönten Schritte – jemand im Raum bewegte sich auf eine offene Tür in der Wand zu ihrer Linken zu. »Bitte, nein!«, schrie sie. »Geht nicht! Bitte! Lasst mich raus!«

Die Tür glitt zu, und der Raum wurde wieder dunkel. Die Lücken, in denen sich die Tür befand, spendeten nicht einmal ein kleines Rinnsal an Licht. Das leise Geräusch von Schritten entfernte sich und Noelle fiel nach hinten, wobei ihr die Tränen über die Wangen liefen, als sie sich der Hoffnungslosigkeit hingab.

Es waren zwei Personen im Raum gewesen, und sie hatten ihre Bitten ignoriert. Ihre Schultern bebten von ihren Schluchzern, die sie sich nicht leisten konnte, da sie ihrem Körper die Flüssigkeit entzogen. Und wer wusste schon, wann Noelle das nächste Mal etwas zu trinken bekommen würde. Vielleicht würde sie gar nichts mehr bekommen.

Vielleicht wäre das besser so.

Hör auf damit, Noelle. Du bist stärker als das, oder nicht?

Sie hatte gedacht, sie wäre es. Zumindest hatte sie gehofft, dass sie es sein könnte. Aber wie bereitete man sich darauf vor, ohne erkennbaren Grund gefangen und in der Dunkelheit eingesperrt zu werden? Und die wichtigste Frage, über die sie sich den Kopf zerbrochen hatte: Warum? Warum war sie entführt worden? Warum ich?

Noelle erschrak und gab ein Quietschen von sich, als sie ein leises Stöhnen von rechts hörte. Sie erstarrte und spitzte die Ohren, als ein weiteres Stöhnen ertönte. Eine Bewegung. Panik schoss ihr die Wirbelsäule hinunter wie ein Stromschlag. O Gott! Irgendetwas war mit ihr in diesem Raum. Eine irrationale Vision bildete sich in ihrem Kopf: ein schuppiges, echsenartiges Wesen mit gezackten Zähnen, das sie zerfetzen würde. Noelle bewegte sich nicht und war plötzlich dankbar für den Schutz der Gitterstäbe, die sie umgaben und über die sie mit ihren Fingerspitzen jeden Zentimeter gestrichen hatte.

»Hilfe.« Das Wort wurde kaum geflüstert, es klang eher wie ein Ausatmen als eine richtige Aussprache. Noelle blieb regungslos, jede Zelle ihres Körpers, jedes Härchen auf ihrer Haut konzentrierte sich auf die Richtung der Geräusche, die von rechts kamen. Ein Rutschen, ein weiteres Stöhnen, ein Geräusch, das wie das Aufeinanderschlagen von Haut auf Metall klang. »Hilfe.« Dieses Mal war es ein Wort, fester, klarer und mit der Stimme eines Mannes. Also kein Außerirdischer.

Wahrscheinlich.

Noelle blieb ruhig.

Eine weitere Bewegung, ein lauteres Grunzen, als würde der … Mann sich aus dem Liegen aufrichten.

»Ist hier jemand? Hilfe!«

Noelles Schultern sanken kaum merklich herab, ihre Hand löste sich langsam aus dem todesähnlichen Griff, mit dem sie sich an der Stange ihres Käfigs festgeklammert hatte, während sie völlig erstarrt dagesessen hatte. »J-ja. Ich bin hier«, flüsterte sie.

Es herrschte einen Moment lang Schweigen, und dann: »Wer bist du? Wo sind wir?« Er klang immer noch schmerzerfüllt, aber es lag auch Panik in seiner Stimme. Furcht.

»Ich heiße Noelle. Ich weiß nicht, wo wir sind. Ich weiß nicht, was für einen Tag wir haben. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich von der Arbeit nach Hause gegangen bin. Ich glaube … Ich glaube, jemand hat mir ein Tuch über den Mund gelegt.« Ein Geschmack kam zu ihr zurück. Scharf. Medizinisch. Sie glaubte, sich daran zu erinnern, wie sie um sich geschlagen hatte, wie sie hochgehoben worden war … aber mehr nicht. »Ich bin hier aufgewacht. In der Dunkelheit.«

Abgesehen von einem rauen Ausatmen blieb der Mann still.

»Wie heißt du?«, fragte sie schließlich.

»Evan. Mein Name ist Evan. Ich glaube, mir ist etwas Ähnliches passiert.« Er stieß einen Seufzer aus, gefolgt von einem leichten Stöhnen. »Jemand hat mich von hinten angegriffen, als ich das Fitnessstudio verlassen habe. Ich bin mir auch nicht sicher, welcher Tag heute ist.«

In Noelles Kopf drehte sich alles. Sie wusste nicht, was geschehen war oder warum, und die Angst saß ihr immer noch schwer auf der Brust, aber sie weinte fast vor Erleichterung, einen anderen Menschen bei sich zu haben. Sie war nicht mehr allein.

»Bist du verletzt?«, fragte sie, als sie erneut Bewegungen hörte und er wieder ein leises, schmerzhaftes Stöhnen von sich gab.

»Ein bisschen. Ich habe mich gegen wen auch immer gewehrt. Sie hatten offensichtlich die Oberhand. Ich glaube, die Person trug eine Brille, um im Dunkeln sehen zu können.«

Noelle drehte sich in seine Richtung, obwohl es zu dunkel war, um die Umrisse des Mannes zu erkennen, und schlang beide Hände um die Gitterstäbe, wobei sie ihr Gesicht dazwischen presste, während sie sprachen. Eine Brille, um im Dunkeln sehen zu können. Was zum Teufel war hier los? »Wer? Wer hat uns hierhergebracht? Und warum?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung.«

»Aus welchem Grund denn? Warum tun sie das?«

Es gab eine kurze Pause. »Meine Familie hat Geld. Sie hätten mich gegen ein Lösegeld entführen können.«

Noelle leckte sich über die trockenen Lippen und tastete mit ihrer Zunge einen der Risse ab. »Mein Vater … er hat kein Geld.« Er arbeitete als Elektriker. Es ging ihm gut … jetzt, nach vielen Jahren des Kampfes. Selbst in diesen harten Jahren hatte es ihr nie an etwas gefehlt, auch wenn sie sich keine Designermarken leisten konnten. Nicht einmal ansatzweise. Aber ihr Vater hatte ganz sicher keine große Summe irgendwo versteckt, mit der man ein Lösegeld für Noelle hätte zahlen können. Auch keine kleinen Beträge, wen man ehrlich war. Keine Aktien oder Anleihen. Kein Schmuck. All das war längst verkauft worden, sogar die Stücke mit sentimentalem Wert. Wenn es das war, was ihre Entführer – wer auch immer sie waren – sich erhofften, Geld, dann würden sie schwer enttäuscht sein. Andererseits … »Wenn sie mich zufällig ausgewählt haben, müssten sie das mittlerweile wissen.« Noelle hatte eine Handtasche an ihrer Schulter getragen, als sie entführt worden war. Sie hatten sich bestimmt ihren Ausweis angesehen und mit ein bisschen Recherche herausgefunden, dass ihre Familie kein Geld besaß. Außerdem wurde sie beim Verlassen von ihrem Kellnerinnenjob entführt. Wäre das nicht schon ein Hinweis darauf, dass sie nicht reich war?

»Du hast deinen Vater erwähnt. Was ist mit deiner Mutter?«

Noelle stieß einen leisen Seufzer aus. »Meine Mutter starb, als ich zwölf war. Sie war eine Hausfrau. Und meine Eltern hatten nie eine Lebensversicherung abgeschlossen.« Nach dem Tod ihrer Mutter hatten Noelle und ihr Vater viele Jahre lang damit zu kämpfen gehabt, die Anwaltskosten zu bezahlen, denn ihr Vater hatte versucht, Gerechtigkeit für den Tod seiner Frau zu erlangen – und war gescheitert. Letztendlich war es als Unfall gewertet worden. Der Gerichtsstreit hatte seine Ersparnisse getilgt, und sein Unternehmen hatte gelitten. Er war immer noch ihr Vater, und Noelle liebte ihn sehr, aber in vielerlei Hinsicht war er nur noch ein Schatten seiner selbst.

»Tut mir leid«, murmelte der Typ.

Sie antwortete nicht. Ihm musste nichts leidtun, und die Trauer über den Tod ihrer Mutter war längst verblasst. Manchmal traf es Noelle noch, aber eher wegen ihres Vaters und nicht ihretwegen. Aber nicht jetzt. Jetzt waren ihre Probleme viel größer als der Schmerz über den Verlust eines ihrer Elternteile. Jetzt sehnte Noelle sich nach ihrem Vater, dem Elternteil, den sie noch hatte. Derjenige, der sie retten könnte, der sie retten würde, wenn er eine Chance dazu hätte.

Ihre Gedanken kehrten zu dem Mann zurück, der mit ihr gefangen war. Er hatte gesagt, dass seine Familie Geld besaß. »Wenn sie dich gegen Lösegeld entführt hätten, wüsstest du das nicht schon längst? Hätten sie sich nicht ein Lebenszeichen von dir schicken lassen?«, fragte sie.

»Ich habe wirklich keine Ahnung. Niemand hat ein verdammtes Wort zu mir gesagt.« Jetzt, wo er mehr sprach und seine Stimme klarer wurde, erkannte Noelle, dass er jung sein musste. Vielleicht sogar fast so alt wie sie.

»Wie alt bist du, Evan?«

»Achtzehn. Und du?«

»Auch.« Ein seltsames Flattern machte sich in ihrer Brust breit. Sie hörte, wie er sich bewegte, spürte, wie er sich ihr zuwandte, und seine Stimme – nur ein paar Zentimeter näher – bestätigte es. Es gab eine lange Pause, die sie nicht nur hörte, sondern auch fühlte.

»Gehst du auf die Northland High?«, fragte er schließlich.

Noelle atmete tief durch. »Ja.« Das kann nicht sein. O mein Gott, das kann nicht sein.

»Heißt du Noelle Meyer?«

Sie schluckte. »Ja.« Das Wort war so schwer wie ihre ausgetrocknete Zunge. Und plötzlich wusste sie auch genau, wer er war. »Evan Sinclair«, flüsterte sie fast. »Dein Vater ist Leonard Sinclair. Er hat meine Mutter getötet.«

Der Collector beugte sich vor, sein Gesicht war nur wenige Zentimeter vom Bildschirm entfernt. Sie haben erkannt, dass sie sich kennen. Sein Vater hatte ihre Mutter umgebracht. Natürlich würden sie später noch ausführlich darüber reden, was auch den anderen Beteiligten einen Hinweis geben würde. Es verlieh der ganzen Angelegenheit definitiv eine zusätzliche Ebene, nicht wahr? Das Bild flackerte leicht, und der Grünstich verlieh ihm einen unnatürlichen Glanz. Aber für einen Raum, der durch ein Nachtsichtgerät übertragen wurde, war das Bild bemerkenswert klar.

Der Mann – genauer gesagt ein Junge, noch ein Teenager – saß mit dem Rücken an die Gitterstäbe seines Käfigs gepresst, während das Mädchen kniete und die Gitterstäbe ihres eigenen Containers umklammerte. Der Ton war gut. Der Collector konnte jedes Flüstern, jeden Atemzug und jeden schmerzhaften Seufzer hören.

Meine Güte, ihr Mistkerle genießt eure Unterhaltung wirklich.

Ein Auge des Jungen war geschwollen und er hatte etwas an seiner Lippe, das wie Blut aussah. Er brachte immer wieder seinen Finger zu seiner Wange und sein Gesichtsausdruck verzerrte sich jedes Mal, als würde er ein anderes Ergebnis bekommen, wenn er es oft genug machte. Trotz der Verletzungen in seinem Gesicht war es offensichtlich, dass er sehr gut aussehend war. Groß. Muskulös. Ein kantiges Kinn und ebenmäßige Gesichtszüge. Ein waschechter, amerikanischer Goldjunge. Gute Gene, könnte man sagen. Der Gedanke brachte den Collector zum Glucksen. Es war ein Lachen, durchzogen von bitterer Säure.

Dem Jungen musste es besonders schwerfallen, die Kontrolle abzugeben. Normalerweise war das Leben für Jungen wie ihn ziemlich einfach und sehr gut.

Wie viele Zugeständnisse waren dem Jungen schon gemacht worden? Welche, die er weder verdiente noch sich je verdient hatte? Viele, vermutete der Collector. Vielleicht viel zu viele. Tragödien trafen selten gerecht – und meistens trafen sie die Falschen. Eine Tragödie hatte diesen besonderen Goldjungen definitiv erwischt, denn jetzt saß er in einem Zwinger wie ein Hund.

Vielleicht sollte er den Jungen nicht mögen, allein schon wegen dieses … guten Stammbaums. Und doch stellte der Collector fest, dass er, statt Abscheu zu empfinden, sich irgendwie … mit Evan verbunden fühlte. In mancher Hinsicht zumindest.

Sein Blick wanderte nach rechts, wo das Mädchen zusammengesunken war und sich zur Seite gedreht hatte, die langen Beine angezogen, die Wange auf dem, was zweifellos kalter Stahl sein musste. Schlank. Feinknochig. Glattes, dunkles Haar. Hübsch, auf eine ganz normale Art und Weise. In einem kitschigen Film wäre sie das Mädchen, dem ihre Freundinnen ein Makeover verpassen würden, weil sie das Potenzial unter der Oberfläche sehen würden. Das passierte aber nur in Filmen. Im wirklichen Leben waren Teenager-Mädchen in der Regel zu eifersüchtig, um einen Schwan aus einem hässlichen Entlein zu kreieren, außer man machte sich selbst zu einem hübschen Schwan.

Frauen. Was für kleinliche Kreaturen sie sein konnten. So sehr von Gefühlen beherrscht. Natürlich konnte das auch ihre Stärke sein. Aber meistens kontrollierte es sie, und nicht andersrum. Schade.

Der Collector ließ seine Gedanken schweifen. Er wollte nicht zu viele Vermutungen anstellen und etwas übersehen, das ihm etwas anderes sagen könnte. Beobachte. Höre zu. Lerne. Das war es, was er am besten konnte.

Ein Licht blitzte im Raum auf, und sowohl der Junge als auch das Mädchen stießen überraschte Laute der Angst aus und zogen sich in die Ecken ihrer jeweiligen Zellen zurück, weg von der Lampe. Das Mädchen hielt sich den Arm über die Augen und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Das Licht musste nach so langer Dunkelheit eine Qual sein. Der Junge saß still da, obwohl sein Gesicht ähnlich schmerzerfüllt verzerrt war, ein Arm schützend vor sich ausgestreckt, als erwartete er einen Angriff. Er konnte nicht viel dagegen tun, aber er wollte spüren, wenn es kam. Sein linkes Auge war zugeschwollen, aber er blinzelte immer wieder mit dem anderen und versuchte verzweifelt, etwas zu erkennen.

»Was passiert hier?«, fragte Noelle mit atemloser und angsterfüllter Stimme.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Evan und bewegte seinen Arm mal in die eine, mal in die andere Richtung, um die unsichtbare Bedrohung abzuwehren, die sein Verstand ihm vorspielte. Vor ihm war jedoch nichts zu sehen. Nur Licht war in seinen Käfig eingedrungen.

Der Collector wartete zusammen mit den Gefangenen darauf, was als Nächstes passieren würde. Sein Blick glitt zu seinem Handy, das neben ihm auf dem Schreibtisch lag. Eine seiner Optionen war es, die Behörden anzurufen. Aber er glaubte nicht, dass das die beste Wahl war. Zumindest jetzt noch nicht.

Er war hier als Voyeur gelandet, durch eine Reihe von gut geplanten Liaisons, aber auch durch eine Reihe von glücklichen Ereignissen. Als ihm klar geworden war, worum es hier ging, hatte er nicht damit gerechnet, dass er zuschauen wollte. Er würde zwar mitspielen, ja, aber eigentlich hatte er nur am Rand entlanggleiten wollen. Schließlich hatte er eine andere Art Sieg im Sinn. Doch jetzt konnte er nicht mehr wegschauen. Die Leute dachten, sie würden Reality-TV schauen, aber in Wahrheit hatte das kaum etwas mit Realität zu tun. Es war ein Skript, geschnitten und darauf ausgelegt, den Zuschauer zu vorgefertigten Schlüssen zu führen. Das hier jedoch – das war fesselnd. Er verstand die Faszination.

Gott helfe ihm, das tat er wirklich.

Evan zuckte zusammen, versuchte, etwas zu sehen, war jedoch hilflos gegen die schmerzhaften Lichtblitze, die plötzlich in seine Augen stachen. Blindlings schwang er seinen Arm von einer Seite zur anderen. Wenn er angegriffen wurde, bevor er es schaffte, seine Lider – oder besser gesagt, sein Lid – zu öffnen, wollte er spüren, wenn es kam. Nicht so wie beim ersten Mal, als er unsanft aus dem Schlaf gerissen und aus dem ersten Käfig gezerrt wurde, in dem er gefühlte Wochen eingesperrt war. Damals war er überrumpelt worden, aber das würde er nicht noch einmal zulassen. Zumindest nicht, solange er wach war.

Er nahm flimmernde Eindrücke des Raums durch den Spalt seines Auges auf, hielt es jeweils nur für eine Millisekunde offen.

Seine ausgestreckte Hand hielt er vor sich.

Graue Metallstangen.

Eine verschwommene, thekenähnliche Struktur jenseits seines Käfigs.

Er hörte Noelle keuchen, vernahm ihre Bewegung und drehte seinen Kopf in ihre Richtung. Er sah sie verschwommen, als sie zur Vorderseite ihres eigenen Käfigs kroch, der einige Meter von seinem entfernt war.

Betonboden zwischen ihnen.

»Was siehst du?«, fragte er, als sie es offensichtlich geschafft hatte, ihre Augen vor ihm zu öffnen. Wahrscheinlich, weil sie zwei unversehene hatte.

»Da ist ein Tisch. Oder eine Theke«, sagte sie, und er ließ seine Hand sinken. Er konnte jetzt genug sehen, um zu wissen, dass er der Einzige in seinem Käfig war. Auch er bewegte sich vorwärts und kroch auf die Vorderseite seines Käfigs zu. Dort befand sich eine Tür, und als er seinen Kopf neigte, konnte er ein schwarzes Tastenschloss erkennen, das die Tür verschlossen hielt. Das würde er sich gleich genauer ansehen.

Er spürte eine kleine, aber ermutigende Welle der Hoffnung. Wenn er sehen konnte, verbesserten sich seine Chancen auf Flucht dramatisch.

Er hielt sich am Gitter fest und sah zu Noelle. Ja, das war eindeutig sie. Er wusste nicht, warum oder wie sie hier zusammen gelandet waren, aber er musste glauben, dass es ein kranker Plan gewesen war. Sie waren absichtlich ausgewählt worden. Warum, konnte er nicht sagen, aber ihre Verbindung war kein Zufall. Da war er sich fast sicher.

Dein Vater ist Leonard Sinclair. Er hat meine Mutter getötet.

Was zum Teufel? Wer steckte dahinter?

Noelle schaute zu Evan, die Augen immer noch teilweise zusammengekniffen, die Haut blass. Sie trug schwarze Leggings und ein übergroßes, blassrosa Sweatshirt. Ihre Füße waren genauso nackt wie seine. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er konnte spüren, wie sein Puls in seinem Hals pochte. Als sie das erste Mal im Dunkeln miteinander gesprochen hatten, hatte er geglaubt, dass er sie sich eingebildet hatte. Nach so vielen Tagen und Nächten allein in der Dunkelheit war er endlich übergeschnappt, und sie war nichts weiter als ein Hirngespinst seiner gestörten Fantasie. Irgendwie schien es sogar passend, dass er sie heraufbeschworen hatte, um sich selbst zu quälen, während er in totalen Wahnsinn verfiel.

Noelle drehte den Kopf und beugte sich vor, um zu sehen, was sich vor ihnen befand. Evan schaute auch nach vorn, zu der Theke an der Wand. Sie war etwa einen Meter von ihnen entfernt, außer Reichweite, aber es standen einige Gegenstände darauf. Von seiner Position aus konnte er die Gegenstände auf der Rückseite der Theke nicht genau erkennen, einen jedoch schon, der etwas weiter vorn stand. »Da ist ein Eispickel«, sagte Noelle atemlos. Ihre Augen waren jetzt noch weiter geöffnet, als sie Evan kurz ansah und dann wieder wegschaute. Er reckte den Hals, blinzelte schnell mit seinem offenen Auge, während der Raum sich langsam schärfer vor ihm abzeichnete. Ja. Ja, da war ein Eispickel zwischen den weiter hinten liegenden Dingen. Zumindest sah es wie einer aus. Aber alles, was er sah, war eine Waffe.

Evan drehte sich um und suchte verzweifelt in seinem Käfig nach einem Gegenstand, mit dem er das Werkzeug vielleicht erreichen könnte, doch die Zelle war leer – bis auf die Metalltoilette in der hinteren Ecke. Er streckte seine Arme aus, umklammerte die Gitterstäbe auf beiden Seiten seines Gefängnisses und warf sich mit seinem ganzen Gewicht nach vorn, in der Hoffnung, die Konstruktion zu bewegen. Evans Zähne vibrierten, während der Käfig bebte, aber er rührte sich nicht. Er schien auf dem Boden festgeschraubt zu sein. Mit einem genervten Grunzen ließ Evan davon ab, kehrte zur Vorderseite zurück und starrte wieder zur Theke.

»An einem der Dinger da hinten ist ein Seil befestigt … glaube ich«, murmelte Noelle, die mit ihrem Kopf die Oberseite ihres Käfigs berührte, während sie versuchte, den erhöhten Tisch zu untersuchen. »Das ist schwer zu sagen.« Sie schaute in Evans Richtung.

Er konnte nur mit einem Auge sehen, also würde ihre Einschätzung ohnehin besser sein als seine. Sein Blick blieb einen Moment lang auf der Waffe hängen, bevor er schnaubte, sich hinsetzte und gegen die Gitterstäbe lehnte. Dann zog er seine Knie an und stellte seine Füße fest auf den Boden. Er fuhr sich mit der Hand durch sein fettiges, ungewaschenes Haar. »Fuck!«, schrie er. »Was nützt uns ein verdammtes Maschinengewehr, geschweige denn, ein Eispickel, wenn er auf der anderen Seite des Raumes steht und wir wie verdammte Tiere eingesperrt sind!«

»Wenn wir ihn irgendwie zu fassen kriegen, könnten wir vielleicht versuchen, das Ding damit aufzubrechen«, schlug Noelle vor und warf einen Blick nach oben auf das identische Schloss an ihrer eigenen Käfigtür.

»Aufbrechen?«, fragte Evan. »Weißt du überhaupt, wie man ein Zahlenschloss mit einem Eispickel knackt? Selbst wenn du es irgendwie schaffst, heranzukommen? Gott, selbst dann würdest du deine Hand gar nicht durch diese Gitter kriegen, um das Schloss überhaupt zu erreichen«, sagte er und wies mit dem Kopf auf die Gitterstäbe der Käfigtür, die dünner und enger waren als die übrigen Gitterstäbe und in zwei Richtungen verliefen, sodass sie ein Gitter bildeten.

»Hast du eine bessere Idee?«, fuhr Noelle ihn an.

»Jemand hat das Licht angemacht«, erwiderte er und ignorierte den Spott in ihrem Ton. »Vielleicht taucht dieser Jemand noch auf.«

Sie stieß ein dünnes Lachen aus. »Ist das also dein Plan? Dich aus dem Käfig rauszuschmeicheln? Ihnen dieses Megawattlächeln zu zeigen? Vielleicht versprichst du ihnen ein paar Goldbarren, falls sie nicht schon wissen, wer dein Daddy ist.«

Dazu war es sehr schnell gekommen. Wie könnte es anders sein? Selbst in dieser unvorstellbaren Situation – gefangen und traumatisiert.

Evan spürte, wie seine Gedanken zu rasen begannen, in denen Unglaube und Entsetzen darum kämpften, jede Vernunft oder Ruhe, an denen er sich festhalten wollte, zu verdrängen, um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden.

Er griff erneut nach den Stäben, schüttelte sie mit aller Kraft und stieß ein wildes Brüllen aus. Ein paar Minuten lang erlaubte er sich, zu wüten, zu kämpfen, obwohl er wusste, dass es vergeblich sein würde, wenn das, was er bekämpfte, Stahl und Umstände waren. Ein grässlicher Plan, dessen Sinn er bis jetzt noch nicht verstanden hatte. Evan schrie und brüllte und rüttelte an den Gitterstäben seines Gefängnisses, bis seine Muskeln protestierten und seine Kehle wund war. Aber es kam immer noch niemand. Schließlich ließ Evan sich erschöpft gegen die Gitterstäbe fallen und griff in sein Haar, während sein Kopf nach vorn fiel.

»Hast du das nicht schon versucht?«, fragte Noelle, die mit ihrer Ruhe einen Kontrast zu seiner Wildheit bildete.

Evan rang nach Luft und ein Rinnsal Schweiß lief ihm langsam an seiner Schläfe hinunter. Ja. Ja, das hatte er. Er hatte dasselbe getan, als er das erste Mal in der Dunkelheit aufgewacht war. Er hatte sich sogar gewehrt, als der gesichtslose Mann in seinen Käfig gekommen war, um ihn zu holen und in diesen zweiten Käfig zu bringen. Er hatte wild um sich geschlagen, wie ein betrunkener Seehund, während der Mann ihm mühelos ausgewichen war und in jedem passenden Moment nach Evan geschlagen hatte. Er hatte ihn ausgeknockt und dann irgendwie in diesen Raum gebracht.

»Vielleicht steckt dein Vater dahinter«, sagte Evan schließlich. Welchen anderen Grund könnte es dafür geben als einen verdrehten Rachegedanken?

»Du Arschloch«, zischte Noelle. »Wie kannst du es wagen?« Er sah immer noch nicht auf. Er wollte ihren Gesichtsausdruck nicht sehen. »Mein Vater ist nicht der Mörder.« Sie schleuderte ihm diese Aussage entgegen, und als wäre sie ein Stachel, spürte er, wie sie sich in sein Fleisch bohrte.

»Er hat sie nicht ermordet. Es war ein Unfall.«

»War es auch ein Unfall, den Namen meiner Mutter in den Dreck zu ziehen? Meinen Vater zu zerstören? Und mich?«

Dann hob Evan den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Sie sah aufgewühlt aus, aber trotzig. Der Anblick ließ seine Gedanken verschwimmen. Ein eingesperrtes Mädchen, mit loderndem Zorn in ihren Augen. Und für einen kurzen Moment war er froh, dass er genau das in ihr ausgelöst hatte, egal aus welchem Grund.

Zumindest für diesen einen Moment war ihr Wille zu groß, um eingesperrt zu bleiben. Es hielt nicht lange. Noelle sackte gegen die Gitterstäbe zurück, und beide saßen einander schweigend gegenüber. Er hatte den Eindruck gehabt, sie sei schüchtern. So wie sie sich gab, den Kopf gesenkt, die Arme immer mit Büchern beladen. Aber in ihr brannte ein Feuer. Vielleicht würde ihnen das helfen.

»Warum hast du mir diese Fragen noch nie gestellt? Oder irgendeine Frage. Du hast noch nie mit mir gesprochen, dabei laufen wir fast jeden Tag aneinander vorbei«, sagte er. Vielleicht hätte er mit ihr sprechen sollen. Aber was sollte er sagen? Sie war ihm immer aus dem Weg gegangen, und so hatte er sie in Ruhe gelassen. Er hatte sie jedoch beobachtet, ohne dass sie es wusste. Er war … neugierig. War das das richtige Wort? Noelle und Evan verkehrten in ganz unterschiedlichen Kreisen. Nicht, dass sie eine Menge um sich herum hatte, nicht so wie er. Soweit er es beurteilen konnte, hatte sie nur eine Freundin, eine mausgraue Rothaarige.

Sowohl sie als auch Noelle kamen von öffentlichen Schulen und waren für akademische Stipendien ausgewählt worden, um die exklusive Privatschule zu besuchen. Es gab vier Stipendiaten auf Northland, und sie wurden alle wie Außenseiter behandelt, die sie waren.

»Mit dir reden?« Noelle fragte das, als hätte er ihr vorgeschlagen, Dreck zu essen. »Es gab nie einen Grund. Ich kannte die Antworten damals und kenne sie auch jetzt. Ich habe es nur angesprochen, weil die Emotionen übergekocht sind. Verständlicherweise.« Sie fuchtelte mit dem Arm in ihrem Käfig herum, als müsste sie den Grund für ihren derzeitigen Geisteszustand erklären.

»Was dann? Wie lauten die Antworten?«

Noelle stieß einen Atemzug aus. »Vielleicht solltest du lieber fragen, was die Fragen sind, Evan. Warum musste dein Vater unser Leben ruinieren, anstatt die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen?« Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Privileg. Anrecht. Gelegenheit.«

»Deine Mutter hat Hausfriedensbruch begangen, Noelle«, erwiderte Evan leise. »Sie hat ihn gestalkt.«

Wieder dieses Feuer, das in Noelles Augen aufflackerte. Sie richtete es auf die Wand und kaute an der Innenseite ihrer Wange. »Das hätte sie nicht getan. Und es gibt keine Beweise, dass sie ihm nachgestellt hat«, sagte sie. »Ich habe immer gedacht, dass er sie eingeladen und dann gelogen hat, um sein eigenes Verbrechen zu vertuschen.«

»Die Geschworenen waren anderer Meinung.«

Sie starrte ihn sekundenlang an, und er spürte, dass etwas in ihr brodelte. Aber was auch immer es war, sie hielt es zurück und entschied offensichtlich, dass es keine Rolle spielte oder dies nicht der richtige Zeitpunkt war. »Hör zu«, fing sie an. »Wenn wir eine Chance haben wollen, hier rauszukommen, müssen wir zusammenarbeiten. Alles andere ist sinnlos.«

Evan nickte, ein stilles Eingeständnis, das ihm vermutlich leichter fiel als ihr. Sie hegte eindeutig eine tiefe Abneigung gegen seine Familie, während er ihr gegenüber vor allem neugierig war.

Um ehrlich zu sein, war die Sache, die ihr Leben dezimiert hatte, für ihn eher ein tragischer Fleck auf dem Radar gewesen, ein äußerst unglücklicher Unfall, den sein Vater zu verantworten hatte. In diesem Sommer war Evan nicht einmal zu Hause gewesen, sondern bei seiner Mutter in den Hamptons. Und auf jeden Fall waren aus seiner Sicht vor der … Tragödie sowohl ihre Mutter als auch sein Vater schuld. Vielleicht hatte Noelle recht, was das Privileg anging. Er hatte weitergemacht, während sie es nicht getan hatte. Aber ihre Mutter ist gestorben. »Du hast recht. Wir müssen zusammenarbeiten.«

Leider gab es in diesem Moment keine ›Arbeit‹ zu erledigen. Sie hatten keine Werkzeuge in Reichweite. Keine Person, an die sie sich wenden konnten. Im Moment konnten sie nur warten. Worauf, wusste er nicht.

Sie rannte einen Pfad entlang, der sich schlängelte und drehte, und jemand war ihr dicht auf den Fersen. Die Vegetation umgab sie. Es war kein Wald, sondern ein Garten voller Büsche, die zu monströsen Formen geschnitten waren. Sie hatte die vage Vorstellung, dass sie Noelle beobachteten und demjenigen, der sie verfolgte, ihren Aufenthaltsort zuflüsterten. Sie würde niemals entkommen. Nicht hier, wo es überall Augen gab. Plötzlich bohrte sich etwas Heißes in ihre Brust, ein quälender Schmerz durchfuhr sie, und sie fiel, fiel –

»Noelle!«

Mit einem Ruck setzte sie sich auf, ein Schrei kam über ihre Lippen und sie sah sich hektisch um, während sie versuchte, sich zu orientieren. Gitterstäbe umgaben sie. Noelle legte sich wieder hin und ließ ihren Kopf auf den Zementboden fallen. O Gott! Das ist real. Ich bin immer noch hier.

Der Schrecken, der sie jedes Mal durchfuhr, wenn sie aufwachte, würde nie nachlassen. Wie sollte er auch? Tränen drohten, überzuquellen. Einen Moment lang überlegte Noelle, ob sie beten sollte, zu sterben. Seit sie in der Dunkelheit aufgewacht war, hatte sie diesen Gedanken schon einige Male gehabt, aber sie hatte sich jedes Mal aufgehalten.

»Essenslieferung«, sagte Evan neben ihr.

Wieder setzte sie sich auf und strich ihr Haar zurück. Sie hatte von ihrer Mutter geträumt. Von der Nacht, in der sie gestorben war. Noelle war ihre Mutter gewesen, eine Kugel hatte sich in ihr Fleisch gebohrt. Seufzend richtete Noelle sich auf und schaute auf das Tablett, das in dem kleinen Fach an der Wand hinter ihrem Käfig stand. Das Geräusch der sich öffnenden Tür musste es gewesen sein, das sie aus ihrem Traum geweckt hatte. Ein kurzer Blick verriet ihr, dass auch Evan ein Abteil in seiner Reichweite hatte.

Noelle kroch zu ihrem Essen. Es war das erste Mal, dass sie ihr Essen sehen konnte, und im Gegensatz zu all den anderen Malen, als sie nach Brot und Wasser gegriffen hatte, wurde diese ›Mahlzeit‹ auf einem Tablett aus weichem Plastik serviert. Ein gelbes Kindertablett. Noelle griff mit den Fingerspitzen danach und zog es vorsichtig zu sich, wobei ihre Hände bestätigten, was ihre Augen bereits wahrgenommen hatten. Es hatte abgerundete Ecken, nichts, was zu einer Waffe gefeilt werden könnte, selbst wenn Noelle es in Stücke brechen würde.

Es gab eine Scheibe trockenes Weißbrot, einen halb mit Wasser gefüllten Pappbecher in der Ecke und aufgeschnittene Pfirsiche in dem Teil des Tabletts, der sich zu einer kleinen Schüssel wölbte. Noelles Augen weiteten sich, und sie steckte ihre andere Hand durch die Gitterstäbe, tauchte ihren Finger in den blassgelben Pfirsichsaft und leckte ihn ab. Stöhnend hob sie eines der vier weichen, sirupartigen Fruchtstücke auf und führte es zum Mund. Der süße Geschmack explodierte auf ihrer Zunge, und sie nahm sich einen Moment Zeit, um ihn zu genießen. Es war das erste Mal, was sich wie Jahre anfühlte, dass ihr etwas mit echtem Geschmack serviert wurde. Noelle griff nach einer weiteren Scheibe und betrachtete die weiße Stoffserviette, die auf dem Tablett lag. Beim ersten flüchtigen Blick hatte Noelle gedacht, sie sei einfach nur aufgefaltet und achtlos zu einem unordentlichen Haufen zusammengeknüllt worden. Doch bei genauerer Betrachtung schien sie schlampig um etwas gewickelt zu sein.

»Was hast du bekommen?«, fragte Evan.

Noelle schaute zu ihm, er hielt sein eigenes Stück Weißbrot in der Hand. Evan führte es zum Mund und inhalierte es praktisch mit einem Bissen.

»Pfirsiche«, murmelte sie.

Er hörte auf, zu kauen. »Ich habe keine Pfirsiche bekommen.«

»Und ich glaube, da ist etwas unter meiner Serviette.«

»Serviette?«

Er kroch zu ihr in den hinteren Teil des Käfigs und steckte seinen Kopf zwischen zwei Gitterstäbe, um einen genaueren Blick zu erhaschen. Und jetzt, wo er es erwähnt hatte, fiel ihr auf, dass sie noch nie eine Serviette bekommen hatte. Warum sollte ein Gefängniswärter, der sie in einem Käfig hielt und sie mit Brot und Wasser fütterte, solch eine Nettigkeit hinzufügen? Noelle starrte die Serviette einen Moment lang an und erwartete fast, dass sie sich bewegte. Sie tat es nicht; trotzdem erfüllte Noelle Angst, und sie streckte ihre Hand zaghaft aus, während sie ihren Körper so weit wie möglich weghielt.

Noelle griff nach dem Rand der Serviette und zog mit einem scharfen Atemzug das Stück Stoff von dem … Ding darunter ab, nahm ihre Hand sofort zurück und warf den weißen Stoff weg.

»Es ist ein Seil«, sagte sie.

»Was zum Teufel?«, fragte Evan.

Erneut streckte sie die Hand aus und griff nach dem weißen Nylonseil. Es fühlte sich seidig zwischen ihren Fingern an.

»Lass mich sehen«, sagte er aufgeregt.

Noelle zögerte. Sie hatte das Seil bekommen, nicht er, und sie wollte es nicht so schnell wieder hergeben. »Nein«, murmelte sie und schaute stirnrunzelnd auf das Seil. Hatte ihr das jemand unter die Serviette geschmuggelt? Oder hatte ihr das jemand mit Absicht gegeben? Und wenn ja, aus welchem Grund?

Evan gab ein frustriertes Geräusch von sich. »Schön, aber versuche, den Eispickel damit zu fangen. Beeile dich.«

Noelle warf einen Blick auf den Eispickel und dann wieder auf das Seil. Sie hatte keine Ahnung, ob sie irgendwelche Lasso-Künste besaß, aber vielleicht konnte sie das Seil irgendwie so schleudern, dass sie das Werkzeug damit traf und es herunterfiel? Evan hatte zumindest eine brauchbare Idee. Es war einen Versuch wert.

Noelle kroch an die Vorderseite ihres Käfigs und anstatt aus dem Ende des Seils ein Lasso zu binden, band sie einen Doppelknoten, von dem sie hoffte, dass er genug Kraft haben würde, um den Eispickel hinunterzuwerfen. »Versuche, ihn zu fangen«, wies Evan sie erneut an. Er war auch vor seinen eigenen Käfig gekrochen.

»Alles andere als ein Knoten würde dieses Seil zu sehr verkürzen.« Noelle konnte schon sehen, dass es selbst ohne Knoten wahrscheinlich zu kurz sein würde, um die Theke zu erreichen. Sie schaute zu Evan, der einen eifrigen Gesichtsausdruck hatte. Er hatte Abdrücke von dem rauen Zementboden auf der Wange, weil er auf der Seite geschlafen hatte. »Und es ist schon eine Weile her, dass ich eine Kuh gejagt habe. Ich bin völlig aus der Übung.«

»Lustig. Okay, versuche deine Methode.«

Noelle steckte beide Hände durch die Gitterstäbe unten an der Vorderseite des Käfigs. Die Tür, deren Gitterstäbe zu klein waren, wo ihre Hand hindurchgepasst hätte, nahm den Rest des Käfigs ein, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als es unten zu versuchen. Sie spürte Evans Aufmerksamkeit, seine Anspannung vermischte sich mit ihrer eigenen. So gut es in ihrer misslichen Lage möglich war, warf Noelle das Seil nach oben, aber es fiel nutzlos auf den Boden, einen halben Meter von der Theke entfernt. Nicht annähernd so hoch, wie es hätte sein müssen, um die Oberfläche zu erreichen. »Verdammt«, murmelte sie.

Sie versuchte es noch ein paarmal, nur um sich selbst zu beweisen, dass dieser Plan nicht funktionierte, aber dann zog sie ihre Hände durch die Gitterstäbe zurück und warf das Seil beiseite.

»Ja, verdammt«, murmelte Evan. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er sie nicht gebeten hatte, ihm das Seil zu reichen, damit er es versuchen konnte, was offensichtlich unmöglich war. Er hatte es genauso gut gesehen wie sie. »Hast du einen anderen Plan?«, fragte er stattdessen.

Noelle seufzte, ging zurück zum Tablett mit dem Essen und griff nach dem Brot. Neben ihr hörte sie, wie Evan sich ebenfalls bewegte. »Ich tausche ein halbes Stück Butter gegen zwei Pfirsichscheiben«, sagte er.

Sie richtete ruckartig ihren Blick auf ihn. »Du hast ein Stück Butter?«

Er nickte und hielt das kleine Quadrat mit dem Rosenaufdruck hoch, das von einem winzigen Stück Plastik bedeckt war.

Sehnsüchtig starrte Noelle auf die Miniaturpackung der cremigen Köstlichkeit. Wann hatte sie das letzte Mal etwas Fett zu sich genommen? Brauchte man nicht Fett zum Leben? Sie war sich ziemlich sicher, dass sie einmal gelesen hatte, dass Fett die Vitamine und Mineralien zum Gehirn transportierte. Aber sie brauchte auch Vitamin C. Wie lange dauerte es ohnehin, bis Skorbut auftrat? »Abgemacht«, sagte sie, griff nach den beiden verbliebenen Pfirsichscheiben und hielt sie ihm hin.

Evan beäugte ihre Hand. »Auch etwas von dem Saft«, befahl er.

Noelle kniff die Augen zusammen, zog ihre Hand aber wieder durch und wandte sich dem Tablett zu. Warum glaubt er, dass er das Recht hat, Anforderungen zu stellen? Evan Sinclair war es einfach gewohnt, seinen Willen durchzusetzen, und jetzt, wo er in einem Käfig saß, war es in ihrem besten Interesse, zu kooperieren. Sogar mit jemandem, den ich verabscheue. Sie trank das gesamte Wasser in ihrem Becher in drei großen Schlucken aus und schöpfte dann die Hälfte des Pfirsichsaftes auf, bevor sie wieder beide Hände durch die Gitterstäbe streckte, um Becher und Obst anzubieten.

Während sie sich abgewandt hatte, hatte er begonnen, das Butterstück mit dem kleinen Stück Plastik, das es bedeckt hatte, in zwei Hälften zu schneiden. Er war gerade fertig, als sie ihre Hände durch die Gitterstäbe schob. Ein paar Sekunden lang blickten sie sich beide misstrauisch an und überlegten, wie sie ihre Sachen am besten austauschen konnten. Einer würde zuerst loslassen müssen. Evan schürzte die Lippen, als er das halbe Stück Butter auf den Boden legte und es mit dem Finger zu ihr schob. Es glitt an den Rand ihres Käfigs. Für den Hauch eines Augenblicks war sie diejenige, die im Besitz aller Waren war, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er zumindest in dieser Angelegenheit auf ihre Integrität gesetzt, war sich aber nicht sicher, ob es sich auszahlen würde. Noelle beugte sich vor, stellte den Becher auf den Boden, damit er ihn erreichen konnte, und hielt ihre Handfläche offen.

Ihre Blicke trafen sich, als er ihr das Obst abnahm, seine Hand zurückzog und die Pfirsiche in seinen Mund steckte. Er schloss die Augen, während er kaute, und stöhnte leise vor Entzücken.

Noelle sah weg, nahm die Butter und leckte sie vom Papier. Sie wollte weinen, als die reichhaltige, salzige Creme auf ihrer Zunge schmolz. Genüsslich schloss sie die Augen und saugte an den Innenseiten ihrer Wangen, um auch den letzten Rest zu schmecken.

»Was glaubst du, wie lange wir schon als Geiseln gehalten werden?«, fragte Evan.

Sie öffnete die Augen gerade in dem Moment, als er den Pappbecher aufriss, um an den Inhalt zu gelangen. Er führte ihn zum Mund und leckte das Papier sauber, um den letzten Tropfen Saft zu erwischen, der darin gewesen war. Sie nahm es ihm nicht übel. Wenn sie es schaffte, es zu drehen und es durch die Gitterstäbe zu schieben, ohne die letzten Tropfen zu verschütten, würde sie gleich ihr Tablett nehmen und auch die Reste des Saftes darauf ablecken. Sie wollte den Buttergeschmack auf ihrer Zunge einfach noch ein paar Minuten länger genießen.

Noelle leckte das kleine Stück Papier ab, auf dem die Butter gewesen war. »Ich weiß es nicht. Am Anfang habe ich versucht, mitzuzählen, aber –«

»Sie haben nichts nach einem bestimmten Zeitplan gemacht«, beendete er ihren Satz.

Sie nickte. »Und die Dunkelheit war verwirrend.«

»Wenn das heißt, dass sie mich völlig durcheinandergebracht hat, dann ja.«

Ein Anflug eines Lächelns zeichnete sich auf ihren Lippen ab. Sie rieb das Papier an ihrem Shirt, trocknete es. Noelle nahm an, dass sie es behalten durfte. Was würden sie mit ihr machen, wenn sie es nicht zurückgeben würde? Würden sie es sich holen kommen? Gut. Dann gäbe es wenigstens jemanden zum Kämpfen. Aber wenn es etwas gab, was sie mit einem kleinen Stück Papier tun konnte, um das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden, dann wusste sie trotzdem nicht, was dieses Etwas sein könnte.

»Was wäre der Sinn dahinter, zu diskutieren, wie lange wir schon hier sind?«, fragte er.

Noelle dachte nach. »Ich weiß es nicht. Aber es könnte positiv sein. Es könnte bedeuten, dass sie vorhaben, uns irgendwann freizulassen, aber sie wollen nicht, dass wir der Polizei irgendwelche Informationen geben können.«

»Andere werden aber wissen, dass wir verschwunden waren«, sagte Evan. »Sie werden wissen, wie lange wir vermisst wurden.«

Noelle trommelte nachdenklich gegen die Gitterstäbe. »Wahrscheinlich.« Sie hätte drei Tage frei gehabt, als sie entführt wurde. Ihr Vater hätte sicherlich nach ein paar Tagen gemerkt, dass etwas nicht stimmte, als sie nicht auf einen seiner üblichen Anrufe oder Nachrichten reagierte. Aber auch so könnte der genaue Zeitpunkt ihres Verschwindens unklar sein. Andererseits könnte man das wahrscheinlich auch mithilfe von Kameras aus der Gegend untersuchen.

Sie warf einen Blick auf die Ecke des Käfigs, wo sie ihre leeren Wasserbecher gestapelt hatte. Es waren sechzehn. Aber das half nicht dabei, die genaue Zeit zu bestimmen, die sie hier schon verbracht hatte, denn die Becher wurden in unregelmäßigen Abständen geliefert, manchmal mit nur ein paar Schlucken Wasser und manchmal fast voll, sodass sie sich das, was sie bekommen hatte, einteilen musste. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie schließlich. »Vielleicht wollte man uns nur im Dunkeln lassen, um uns zu quälen.«

Evan schnaubte. »Mission erfüllt.«

Sie quittierte seine Aussage mit einem zustimmenden Laut. »Was glaubst du, wann sie endlich das Licht anmachen?«

Evan schwieg einen Moment, offensichtlich versuchte er, das herauszufinden. »Ich denke, wir können davon ausgehen, dass sie wollen, dass wir die Dinge in diesem Raum sehen. Du hast auch nicht ohne Grund ein Seil bekommen. Sie erwarten etwas.«

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Seltsam, dass sie immer noch von irgendetwas abgeschreckt werden konnte. Könnte es wirklich noch gruseliger und schrecklicher werden als das hier? Noelle schob den Gedanken heftig beiseite und sträubte sich, über diese Frage nachzudenken, damit sie sich nicht zu einem Wirbelsturm des Schreckens aufschaukelte. Es wäre so einfach. Seit ihrem ersten Erwachen hier war sie haarscharf am Rand dieses Sturms entlanggeschlittert und sie weigerte sich, ihrem Verstand zu erlauben, ihr das anzutun, was sie nicht geschafft hatten.

Noch nicht.

»Aber was? Was könnten sie nur von uns wollen? Und warum sagen sie uns nicht, was es ist?«

»Sieh mich an«, forderte Evan, und sie tat es. Sie drehte sich und lehnte ihre Stirn an einen Gitterstab, während sie zu ihm hinübersah. »Lass uns versuchen, unsere Gefühle und unsere Angst beiseitezuschieben, damit wir so rational wie möglich denken können, okay? Wir haben kein positives Bild von der anderen Person. Ist das fair?«

»Sicher.«

»Und wir haben eine Verbindung, die uns zu natürlichen … Feinden macht, denke ich.«

Sie nickte.

»Also, ich habe Folgendes herausgefunden. Nehmen wir an, dass die Verbindung nicht zufällig ist. Wer profitiert davon?« Er streckte seinen Arm durch den kleinen Raum. »Ist es eine Übung, um uns dazu zu bringen, irgendwie zusammenzuarbeiten? Unser Essen zu teilen? Um herauszufinden, wie wir hier rauskommen?«

Noelle runzelte die Stirn. Seine Theorie klang weit hergeholt. »Aber wer würde so etwas tun? Wir wurden bisher terrorisiert und sind halb verhungert. Unsere Eltern würden uns so etwas nicht antun, zumindest weiß ich, dass mein Vater es nicht tun würde. Und wenn nicht sie, wer dann?«

»Deine rothaarige Freundin, die mir immer einen Todesblick zuwirft, wenn ich auf dem Flur an ihr vorbeigehe?«

Noelle spürte, wie sich ein Hauch von Empörung in ihre Haut bohrte. Natürlich ging er davon aus, dass es einer von ihren Leuten war. »Paula?« Sie stieß ein kurzes, humorloses Lachen aus. »Paula hat das nicht getan.«

»Woher willst du das wissen?«

»Das ist nicht die Arbeit eines schüchternen, achtzehnjährigen Mädchens, das bei traurigen Werbespots weint und davon träumt, in der Verlagsbranche zu arbeiten, weil ihr Bücher so viel Freude bereiten.« Außerdem war Paula schlau, freundlich und loyal. Das Verschwinden von Noelle musste sie zu Tode erschreckt haben.

»Warum nicht? Stille Wasser sind tief.«

»Ach, halt die Klappe.« Noelle drehte ihren Körper noch weiter zu ihm. »Du weißt nichts über uns.«

»Okay, dann … Warum hast du das Stipendium überhaupt angenommen?«, fragte er weiter.

»Warum sollte ich nicht?« Sie hatte das Stipendium verdient, und deswegen könnte sie ein weiteres Stipendium für eine Reihe von guten Colleges bekommen. Es war ihre Eintrittskarte in ein Leben, in dem sie nicht nur für sich selbst sorgen, sondern auch ihrem Vater helfen konnte, nachdem sein Leben dezimiert worden war.

»Weil ich da bin«, stellte er fest.

»Ich ignoriere dich«, konterte sie.

»Kein Witz.«

Sie knirschte mit den Zähnen. »Was ist mit dir? Wen kennst du, der krank und verdreht genug ist, um so etwas zu planen? Ich wette, es gibt eine Liste. Jemand, der völlig seelenlos ist, mit genügend Geld, um genug Leute zu bestechen, damit sie mitmachen? Um Beihilfe zu leisten? Was ist mit deiner Truppe von ziellos umherstreifenden Androiden, die immer auf der Suche nach dem nächsten Nervenkitzel sind?«

»Du wirst emotional, Noelle.«

Verpiss dich. Sie sagte es nicht, aber sie wollte es. Stattdessen wandte sie sich verärgert ab, denn sie wusste, dass er sich nur zu gern verpissen würde, wenn er könnte. Er hatte recht. Sie ließ sich von ihren Gefühlen leiten, obwohl sie doch eigentlich rational denken sollten, um dieses Problem zu lösen. Um sich etwas einfallen zu lassen, das ihre Situation verbessern könnte.

Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. »Jemand hat uns in diese Käfige gesteckt. Jemand profitiert hiervon. Was für Vorteile gibt es?«

»Finanzielle.«

»Ja, aber das ist keine Lösegeldsituation. Das ergibt für mich keinen Sinn, und wie du schon sagtest, wenn sie an einem Lösegeld für dich interessiert wären, würdest du es wissen. Dein Vater hätte ein Lebenszeichen verlangt, und sie hätten dich angerufen oder ein Foto gemacht oder so.«

»Okay. Rache. Aber es müsste jemand sein, der uns hasst und uns beide für etwas bestrafen will.«

»Oder unsere Familien, diejenigen, die sich um uns sorgen.«

»Das ist aber immer noch eine Art Lösegeld. Würden dein Vater und meine Eltern nicht einen Beweis dafür verlangen, dass diese Person uns hat?«

»Ich meine, wir werden vermisst. Wenn es darum geht, sie zu erschrecken, wäre das schon genug. Ob wir lebendig oder tot sind, spielt hier keine Rolle, oder? Wie auch immer, sie leiden. Die Ungewissheit könnte es noch schlimmer machen.« Noelle verdrängte die Vorstellung von ihrem Vater, der bis spät in die Nacht auf und ab lief und sich die Haare raufte, so wie er es getan hatte, nachdem ihre Mutter aufgefunden worden war. Noelle erlaubte sich nicht, sich vorzustellen, was er jetzt erlebte. Sie würde durchdrehen, wenn sie es täte.

Evan atmete aus, hob die Hände und massierte seine Schläfen. »Wer hasst unsere beiden Familien so sehr? Soweit ich weiß, hatten sie seit dem Prozess keinen Kontakt mehr, und das ist sechs Jahre her.«

Ja, sechs Jahre waren vergangen. Sieben Jahre und drei Monate, seit Noelles Mutter gestorben war. Und doch kam es ihr in gewisser Weise vor, als wäre es gestern gewesen. So lange hatte es gedauert, bis ihr Vater die Anwaltskosten bezahlt hatte. Sechs Jahre, in denen seine Augen jeden Tag ein bisschen trüber geworden waren. Er war in dieser Zeit von siebenunddreißig auf dreiundvierzig Jahre gealtert und sah trotzdem noch viel älter aus, als er war. Noelle seufzte und massierte ihre Schläfen, während sie versuchte, an jemanden zu denken, der mit ihnen beiden in Verbindung stand und ebenfalls einen Groll hegen könnte, rational oder nicht.

Das plötzliche Knacken eines Lautsprechers ließ Noelle aufschrecken, und Evan ruckte mit dem Kopf in ihre Richtung. »Stellt eure Tabletts und euren Müll in den Speiseaufzug.« Die Stimme war roboterhaft, der Tonfall seltsam, und Noelle erstarrte vor Angst, als die Türen, durch die ihr Essen geliefert worden war, aufglitten. Auf der Rückseite oder an den Seiten war nichts zu sehen. Es schien ein silberner Metallkasten zu sein. Ein Speiseaufzug, der zu einem unbekannten Ort nach oben gezogen werden würde.

»Was zum Teufel?«, fragte Evan, während er in seinen Aufzug starrte. Die Nachricht wiederholte sich, der Rhythmus war derselbe wie bei der ersten Wiedergabe. Es war offensichtlich ein System und keine verhüllte, menschliche Stimme.

»Woher kommt das?«, fragte Noelle und schob sich an das Ende ihres Käfigs, um zwischen den Gitterstäben hindurchzuspähen. Sie konnte keinen Lautsprecher entdecken, und es war schwer, zu sagen, aus welcher Richtung die Aufnahme kam.

»Hey!«, rief Evan. »Hey, wer auch immer das abspielt! Was wollt ihr von uns? Was müssen wir tun, um hier herauszukommen? Hey! Helft uns!«

Die Aufnahme wiederholte sich erneut.

Evan rüttelte an den Stäben, wie er es am Tag zuvor getan hatte. »Redet mit uns, verdammt! Sagt uns, was ihr wollt!« Doch die mechanische Stimme redete ununterbrochen. Es schien, als ob das die einzige Anweisung war, die sie bekommen würden. Noelle nahm ihr Tablett, streckte den Arm so weit wie möglich aus und warf das Tablett mit wenig Schwung, sodass es in dem kleinen Aufzug hinter ihr landete. Dann nahm sie den Stapel Becher, den sie gesammelt hatte, und warf ihn ebenfalls hinein.

Neben ihr folgte Evan diesem Beispiel.

Die Türen schlossen sich mit einem Klicken, und das System, mit dem die Kisten nach oben gezogen wurden, war gut geölt, denn aus dem Inneren kam kein weiteres Geräusch. Die Aufnahme verstummte, und Noelle drehte sich zu Evan um. Sein unverletztes Auge war weit aufgerissen und wachsam, und sie konnte sich nur vorstellen, dass sie einen ähnlichen Ausdruck trug. Ihr Herz schlug wild gegen ihre Rippen. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass etwas begann. Dass der zweite Teil von dem, was auch immer das hier war, gerade in Bewegung gesetzt wurde, etwas, das sie noch nicht definieren oder verstehen konnte.

Als hätte jemand ihre Gedanken gehört, glitt ein Teil der Wand zu ihrer Linken zur Seite, und ein Mann trat hindurch. Noelle spannte sich an und drückte sich mit dem Rücken gegen die Stäbe. Neben ihr warf sich Evan nach vorn. »Lasst uns raus«, forderte er. Er rüttelte an den Gitterstäben. »Sagt uns, was ihr wollt. Mein Vater hat Geld. Viel davon. Er wird euch bezahlen.« Seine Worte überschlugen sich, als er versuchte, mit dem emotionslosen Fremden zu verhandeln, der praktisch aus dem Nichts aufgetaucht war.

Der Mann, der eine schwarze Hose, ein schwarzes Button-Up-Hemd, einen schwarzen Mantel und rote Schuhe trug – sein Haar gescheitelt und zu einer Seite gekämmt – ignorierte Evan. Noelle beobachtete den Fremden angespannt und ängstlich, als er auf die Tür zu ihrem Käfig zuging. Sein Outfit erinnerte sie an eine Art Uniform, und aus Gründen, die sie sich nicht erklären konnte, beunruhigte sie das. Evan redete weiter auf den Mann ein, dieser schien von seinem Betteln völlig unbeeindruckt zu sein. Aber als er Noelles Käfig erreichte und sie seinem fast schwarzäugigen Blick begegnete, konnte sie die kaum unterdrückte Erregung in seinen glänzenden Augen erkennen. Das Licht wurde von seiner breiten silbernen Krawattenklammer reflektiert und sie wich noch weiter zurück.

»Du wurdest gemietet«, sagte er.

Panik schoss durch sie hindurch und für einen Moment hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Nein, nein, nein. Ihr Atem entwich in einem scharfen Stoß. »Gemietet?«, quietschte sie. Neben ihr war Evan ganz still geworden. »Wofür?« Sie wusste es. Am Rande ihrer Gedanken wusste sie es, aber sie wollte es nicht wahrhaben.

»Magst du Autos?«, fragte Evan, und sie hörte auch die Panik in seiner Stimme. »Mein Vater hat einen tollen Ferrari. Mann, das ist eine Ikone. Du könntest ihn haben. Ohne Fragen zu stellen.«

Seine Stimme klang erstickt und verzweifelt, und für den Hauch eines Augenblicks wollte Noelle lachen. Evan feilschte um sie. Aber es war auch lächerlich, denn das Versprechen von Geld hatte nicht funktioniert, und ein Auto würde es auch nicht.

Ein Trommelschlag der Angst pochte in ihrem Blutkreislauf. Gemietet.

Noelle konnte sich kein anderes Wort vorstellen, das in genau dieser Situation je so viel blankes Entsetzen ausgelöst hatte wie dieses.

Der Mann griff nach dem elektronischen Schloss und tippte eine Reihe von Zahlen ein. Noelle wich noch weiter zurück. »Nein! Bitte, nein. Ich bin … Ich bin noch Jungfrau.« Das ließ den Mann innehalten, aber nur kurz. Ihr Herz sank, als sie sah, dass seine Augen durch ihre Erklärung nur noch intensiver aufblitzten. Dann würde sie gegen ihn kämpfen. Sie würde ihm in die Eier treten. Sie würde jedem in die Eier treten, der versuchte, sie anzufassen.

Er zog die Tür auf, als er etwas aus seiner Tasche holte. Einen Elektroschocker. »Du hast die Wahl«, sagte er mit hoher, näselnder Stimme. »Hier hast du immer eine Wahl.«

Hier? Wo war hier?

Noelle schüttelte den Kopf, während ihr Atem stoßweise kam. »Dann nein. Ich sage nein. Ich werde nicht kooperieren.«

Er lächelte. Seine Zähne waren klein und eckig. »Das ist nicht die Wahl. Du kannst dich entscheiden, mit mir zu kommen. Oder du bleibst hier und sitzt sicher in deinem Käfig, und wir werden seine Finger nehmen.«

Ihr Kopf wurde leer. Sie versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was der Mann gerade gesagt hatte. »Seine … Finger?«

Das Lächeln des Mannes war weder verrutscht noch breiter geworden. Es blieb seltsam ruhig. »Genau. Ich werde ihn betäuben und ihm zwei seiner Finger entfernen.«

Entfernen. Die Welt um sie herum schien langsamer geworden zu sein, als wäre sie in einen unsinnigen Albtraum geraten. Einer, der schrecklich war, aus dem sie aber wieder erwachen würde. Sie schüttelte den Kopf und war fassungslos über die verstörenden Szenarien, die der Verstand erschaffen konnte, wenn man ihm freien Lauf ließ.

Noelle sah zu Evan hinüber, dessen Haut keine Farbe mehr hatte. Sogar der wütende, rötlich-violette Bluterguss um sein Auge sah plötzlich blass aus. Er löste langsam seine Hände von den Stäben, an denen er sich festgehalten hatte, als würde er unbewusst den Teil von sich zurückziehen, der bedroht wurde.

Komm mit mir, oder wir werden seine Finger nehmen.

Wir.

»Wer ist wir?«, fragte Noelle mit leiser und zittriger Stimme.

»Das kann ich nicht beantworten«, erwiderte er. »Selbst wenn ich es wollte.«

Er war also nur eine Art Diener? Ein Handlanger? Ein angeheuerter Muskel? Er sah eher weich als kräftig aus, sein Hüftgold war selbst unter dem dunklen Hemd deutlich zu sehen. Noelle nahm jedoch an, dass ein Elektroschocker rohe Gewalt überflüssig machte. Sie war sich auch ziemlich sicher, dass sie die Umrisse einer Waffe unter seinem Mantel ausmachen konnte. Er hatte vor, sie auszuliefern. Und er war vorbereitet, falls sie sich entschließen sollte, gegen ihn zu kämpfen.

Aber nur, wenn sie den Bedingungen zustimmte.

Komm mit mir, oder wir werden seine Finger nehmen.

Und wenn sie nicht mit ihm gehen würde? Diese Antwort brauchte Noelle sich nicht vorschreiben zu lassen. Er hatte ihr die Wahl gelassen. Es gab keine dritte Option, nicht wirklich. Rette dich vor dem unbekannten Schicksal, gemietet zu werden, oder rette Evans Finger. Sie fühlte sich wie unter Wasser und versuchte verzweifelt, aufzutauchen und aus ihrer Haut zu schlüpfen, statt sich dieser Realität zu stellen.

Gemietet.

Noelle drehte ihren Kopf und sah in Evans geweitete Augen. Er starrte sie an. Sie sah dort Angst, ja. Entsetzen. Mitleid. Verwirrung und Orientierungslosigkeit. Seine Lippen öffneten sich leicht, als ob er etwas sagen wollte, aber nicht genau wusste, was. Stattdessen wartete er. Er wartete darauf, dass sie ihre Entscheidung traf. Er versuchte nicht, zu betteln. Er gab ihr nicht die Erlaubnis, auf die sie vielleicht gewartet hatte. Lass sie meine Finger nehmen. Das ist ein Opfer, das ich bereit bin, zu bringen.

Aber das wollte sie nicht. Ihre Wahl war bereits getroffen.

Der Collector lehnte sich in seinem Stuhl zurück, das Holz knarzte leise unter seinem Gewicht, während er beobachtete, wie der Wächter zurücktrat und Noelle Platz machte, um ihren Container zu verlassen. Er seufzte. Dumme Noelle. Tapfere Noelle. Wusste sie überhaupt, warum sie diese Entscheidung getroffen hatte? Er glaubte nicht. Vielleicht würde sie das später herausfinden. Falls für sie ein Später existierte. Für beide