All the memories we never had - M. P. Anderfeldt - E-Book

All the memories we never had E-Book

M.P. Anderfeldt

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Beschreibung

»Finn ist nicht hier, weil … na ja. Also, er ist tot.« Für die 19-jährige Liu bricht eine Welt zusammen. Mit allem hat sie gerechnet, aber nicht damit, dass ihr Freund so plötzlich stirbt. Über ein Jahr hatten sie sich nicht gesehen und sie hatten so viel geplant: Essen gehen, Ausflüge unternehmen und vor allem ganz viel Zeit miteinander verbringen. Liu ist am Boden zerstört. Und eigentlich wäre damit alles zu Ende, doch dann bekommt sie ein Geschenk und die Geschichte fängt hier erst an.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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All the memories we never had

M. P. ANDERFELDT

FürH. Z.

Inhalt

Content-Warnung

✇✇

Because I could not

✇✇

Stop for Death

✇✇

He kindly stopped for me

✇✇

The carriage held but just ourselves and Immortality

✇✇

✇✇

We slowly drove – he knew no haste and I had put away

✇✇

My labor and my leisure too, for his civility

✇✇

✇✇

We passed the school, where children strove at recess in the ring

✇✇

✇✇

We passed the fields of gazing grain, we passed the setting sun

✇✇

✇✇

✇✇

Or rather he passed us, the dews drew quivering and chill

✇✇

✇✇

For only gossamer, my gown, my tippet, only tulle

✇✇

✇✇

We paused before a house that seemed a swelling of the ground

✇✇

✇✇

The roof was scarcely visible, the cornice in the ground

✇✇

✇✇

Since then, ’tis centuries, and yet feels shorter than the day

✇✇

✇✇

I first surmised the horses’ heads were toward

✇✇

✇✇

Eternity

✇✇

✇✇

✇✇

✇✇

✇✇

✇✇

Interview mit dem Autor

Liebe Leserin, lieber Leser

Danksagung

Content-Warnung (»Trigger-Warnung«)

Content-Warnung

AmEnde des Buchs finden Sie eine Content-Warnung.

Okay.

Er machte eine Pause, nur das Band rauschte unentwegt weiter.

Das ist für dich, Liu.

✇✇

DieTropfen zogen Schlieren an der Scheibe und verwischten die Konturen des kleinen Autos mit den schwarz-gelben Karos, das über die endlose regenschwarze Betonfläche sauste und dabei irgendwie munter wirkte. Da wusste Liu noch nicht, dass er tot war.

Sie ging zur Gepäckausgabe, dann zur Passkontrolle und zu einer Tür, auf der etwas von »No return« geschrieben stand; davor ein Tisch, hinter dem sich gelangweilt ein Mann und eine Frau in Uniform unterhielten. DerMann saß auf dem Tisch, die Beine übereinandergeschlagen, die Frau lachte und machte eine wegwerfende Handbewegung. Liu war froh, dass die beiden sie nicht beachteten, denn sie hatte immer Angst vor Kontrollen, auch wenn sie bestimmt nichts Illegales dabei hatte. DieTür öffnete sich automatisch, dahinter noch eine weitere.

Dann war sie draußen. Angekommen. DutzendeBlicke musterten sie für einen Sekundenbruchteil und glitten desinteressiert weiter, zum nächsten Ankömmling.

DasMädchen stand etwas abseits. Sie hielt ein Schild mit ihrem Namen vor der Brust: LIU.

Liu ging zu ihr, sagte »Hallo« und rechnete damit, dass das Mädchen etwas erklärte, aber nicht das. Nicht das, was dann kam.

»Finn ist nicht hier, weil … na ja. Also, er ist tot.« DasMädchen spitzte die Lippen. Sie schaute Liu kurz in die Augen, dann huschte ihr Blick weiter, irgendwo hinter sie.

»Was«, krächzte Liu.

»Äh, also ja. Er ist … vielleicht setzen wir uns irgendwo hin? In ein Café oder so? Ist das alles, was du an Gepäck hast?« Sie deutete auf den roten Koffer. »Das muss ein Schock sein, schon klar. EinSchock.«

Liu nickte. Wie in Trance folgte sie dem blonden Mädchen, während die Geräusche des Flughafens um sie herum tosten wie Brandung um … um irgendwas, das gerade in den Fluten versank, jedenfalls. »This is the last call for flight number … don’t leave any luggage unattended, any unattended luggage can and will be …«

Es konnte nicht sein. Das war lächerlich. EinWitz. Ein dummer Witz. DasMädchen hatte einen Witz gemacht. Einen dummen, geschmacklosen Witz.

»Ich bin Vanessa«, sagte das Mädchen trocken. Aber das wusste Liu schon längst. Die große Schwester. Etwas übergewichtig, 20 Jahre alt, vielleicht 22. »Sorry, dass du gekommen bist. Ich wollte dir Bescheid sagen, aber –« Sie ließ den Satz in der Luft hängen. Sie hatte zwei BecherKaffee vor sie hingestellt. Das »Café« war eher eine Bäckerei; hinter dem Tresen, in dem hinter Glas eine riesige Auswahl an Gebäck und Kuchen lag, stand eine große, silbern glänzende Kaffeemaschine. Liu hatte beobachtet, wie der Kaffee in die Becher gelaufen war, erst braun, dann schaumig weiß.

»Er ist letzte Woche gestorben.« Vanessa nahm den Plastiklöffel aus dem Becher aus Porzellan, leckte den Milchschaum ab und legte ihn auf Tablett. »Ist er wirklich. Ich würde keine Witze mit so was machen.« IhrBlick, der sonst rastlos umherirrte, hielt auf LiusAugen kurz inne.

»Wieso.« Liu räusperte sich. Sie hatte einen so gewaltigen Kloß im Hals, dass sie keinen SchluckKaffee herunterbrachte.

»EinNon-Hodgkin-Lymphom, das wusstest du sicher, oder?« Wieder streifte ihr BlickLiusAugen.

»Nein.«

»EinKrebs. Sehr doof, weil, er war eigentlich noch recht fit, aber …« Sie holte kurz Luft und nahm einen SchluckKaffee. »Na ja. Was machst du jetzt?«

»Ich … ich weiß nicht.«

»Du wolltest bei ihm wohnen, nicht wahr? Oder gemeinsam wegfahren …«

Liu nickte mit zusammengepressten Lippen. Er hatte gesagt, sie sollte sich um die Unterkunft keine Sorgen machen. Natürlich hatte sie gedacht, dass sie erst einmal bei ihm – der Gedanke sorgte dafür, dass sich etwas in ihrem Magen verkrampfte.

»Du … also, es wäre vielleicht keine gute Idee, wenn du mitkommst. Mama und Papa sind noch nicht so weit. Das können wir ihnen nicht antun. Also: ausgeschlossen.«

Liu wusste nicht, was »noch nicht so weit« in diesem Zusammenhang bedeutete, aber sie hatte ohnehin keine Lust auf die Eltern. Finn hatte sie als streng beschrieben, irgendwie komisch, außerdem stritten sie oft. Davon gab es bereits mehr als genug dort, wo sie herkam.

»Ja.«

»Ich habe eine Pension für dich gebucht, sie liegt zentral und du kannst dir die Stadt ansehen. Oder willst du gleich zurückfliegen? Nein, du solltest nicht gleich zurück. Das geht wahrscheinlich auch gar nicht, oder? Flugbindung und so.«

Liu nickte. »Danke.«

Vanessa zog eine Grimasse. »Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Ich habe das Zimmer nicht bezahlt.« Sie hob ihre rechte Hand. »Aber es ist nicht so teuer.«

Because I could not

Miranda hat deine Freundschaftsanfrage angenommen.

Das sagte die Nachricht auf dem Display. Er wusste nicht einmal, dass er eine gestellt hatte. Er hatte doch nur aus Langeweile die Umgebungssuche aktiviert.

Eine »Stephanie« mit Smiley-Emoji war da gewesen, mit einem Schwarzweiß-Profilbild, dem er sofort ansah, dass sie im Alter seiner Mutter sein musste; ein bärtiger »BerndMeyer« – der wohl der Meinung war, dass man sich mit Echtnamen anmelden musste – saß auf einem chromblitzenden Motorrad und eine »HelloPuppy«, die als Profilbild immerhin einen niedlichen Hundewelpen gewählt hatte. Sie war auch die Einzige gewesen, in deren TimelineFotos zu sehen waren, allerdings nur Sonnenuntergänge über dem Meer und ein StückStrand mit Pinien im Vordergrund. Wohl aus dem Urlaub, Mallorca vielleicht.

War da eine Miranda gewesen?

EinWindstoß fuhr durch die Bäume und ein Blitzlichtgewitter aus Sonnenstrahlen ließ zufällige Ausschnitte für Sekundenbruchteile im Schatten erstrahlen. EinStück hellen Kieswegs, das gelbe Shirt eines Mannes, das cremefarbene Verdeck eines Kinderwagens, einen Fußball, der durch die Luft flog.

Finn schloss die Augen und lehnte sich zurück. Er schaltete den Walkman auf Play und nach einem knappen Aufheulen drang wieder BillyJoel aus den orangefarbenen Kopfhörern. »Only the GoodDieYoung«.

Miranda, dachte Finn. Was für ein lächerlicher Name, so heißt doch niemand. Über die Musik hinweg hörte er das Anfahren der Autos am Ring. Er spürte, wie sein Handy vibrierte.

Er entsperrte es mit dem Daumen und öffnete ein Auge, um die Nachricht zu lesen.

Du postest voll ödes Zeug. Bist du wirklich so langweilig?,

stand da auf Englisch. Miranda. Oh, Fuck. Warum sollte er mit einer Person chatten, die ihn direkt beleidigte?

Was soll der ganze elektronische Schrott?

Er seufzte. Konnte sie eigentlich erkennen, ob er die Nachricht gelesen hatte? Und warum sollte ihn das überhaupt interessieren?

Nach einer Minute setzte er sich auf.

Bist du wirklich eine Katze?,

schrieb er. IhrProfilbild zeigte eine japanische Winkekatze.

Har. Har. Warum das elektronische Zeug? Der alte Schrott? Verkaufst du sowas?

Er hatte ein paar seiner Erwerbungen in der Timeline gepostet, na und? Er schürzte die Lippen. Warum sollte er ihr das erklären? Einer wildfremden Person, die ihm jetzt auch noch blöd kam.

Das würdest du nicht verstehen.

Ach, das ist zu edgy für mich, oder was?

Er antwortete nicht. EineWeile blieb das Handy ruhig. DerWalkman spielte »Movin’ Out«, eines seiner liebsten Stücke, wenn die Kassette auch ausgerechnet bei diesem Song leierte.

Sorry, wenn ich dich gekränkt habe. DieSachen sind cool. Interessant.

Ach ja, auf einmal. EinJogger kam vorbei, sein Kopf war so rot, dass Finn befürchtete, er würde jeden Moment umkippen.

DasHandy vibrierte erneut.

Warum schreibst du nichts? Störe ich dich?

Ja.

Habe ich dich beleidigt? Das tut mir leid. Ich bin eigentlich ganz nett.

Bist du sicher?

Sogar sehr. Und ziemlich heiß.

Verlockend.

Was machst du heute?

Was wollte die überhaupt?

KeineAhnung. Nichts.

Du bist weniger als einen Kilometer entfernt.

Sieht man das?

Klar. In der Umkreissuche, wenn man auf Details geht.

OK.

DerSong endete mit dem Dröhnen von SonnysMotor, als er davonbrauste. Wenn das so einfach wäre.

Du kannst mir die Stadt zeigen. MeineEltern sind weg und ich habe bis heute Abend nichts zu tun.

Finn runzelte die Stirn. »YouMay be Right«, war das nächste Stück und Finn konnte nicht widerstehen.

You may be right,

schrieb er. Du hast vielleicht recht.

✇✇

Als sie mit ihren Eltern hier gewesen war, waren sie in einem guten Hotel abgestiegen. Eines mit weichen Teppichen, einer großen Lobby mit hoher Decke und servilen Portiers. Die meisten Gäste waren Geschäftsreisende gewesen, Männer in dunklen Anzügen und Frauen in gedeckten Kostümen, die zielstrebig und langen Schrittes vom Lift zur Tür und von der Tür zum Lift gingen, Aktentaschen tragend und Rollkoffer hinter sich herziehend.

In diesem Hotel gab es nur einen Tresen, hinter dem ein schlecht gelaunter Mann saß, der schlecht gelaunt LiusPass kontrollierte, indem er abwechselnd durch seine Brille schaute und sie im Anschluss nach oben schob, schlecht gelaunt eine Nacht im Voraus kassierte und schlecht gelaunt einen Schlüssel herausgab.

LeerenBlickes verfolgte sie, wie er Blätter hin- und herschob und etwas in ein Buch schrieb. Liu griff nach dem Schlüssel.

»Zimmer 17«, sagte er und deutete auf die Treppe. Liu nickte und wandte sich um.

DieTür war hölzern-blau und innen war das Zimmer ganz weiß – bis auf das Bett, das mit einer fusseligen gelben Tagesdecke bedeckt war. Es roch abgestanden und nach Einsamkeit. Liu ließ sich aufs viel zu weiche Bett fallen und schaute zur Decke. DieZeit mit Vanessa hatte sie mitgenommen. Seit zwei Stunden hatte sie sich gewünscht, endlich allein zu sein.

Sie betrachtete die schief angebrachte Reisstrohlampe. Finn ist tot.Durch das Loch im Boden konnte sie die Glühlampe sehen, eine gewundene, altertümliche Energiesparlampe. Finn ist tot.Sie hatte mal gelesen, dass in diesen LampenQuecksilber war. Finn ist tot.Je öfter sie den Satz dachte, desto sinnloser klang er.

Sie wollte weinen, doch es gab keine Tränen.

Jetzt auch noch Finn. LetztesJahr waren ihre Eltern bei einem Autounfall gestorben und Finn hatte sie getröstet. Nächtelang hatte sie mit ihm gechattet. Er hatte gemeint, dass er immer für sie da sein würde.

Das war wohl nix. Selbst er hatte sieverlassen. Hatte er damals schon gewusst, dass er krank war? Vermutlich nicht. FinnsSchwester hatte gesagt, dass die Krankheit sehr spät entdeckt wurde und darum keine Zeit mehr für Maßnahmen war.

Nur passte das überhaupt nicht zu ihm. Okay, es passte zu niemandem. Man kannte einen Menschen, seine Stimme, man wusste, wie er aussah, wie er lachte, die Art, wie er sich an der Nase kratzte oder die Stirn runzelte und dann auf einmal nicht mehr.

Nein. Finn konnte alles Mögliche sein, aber nicht tot. Und wieder hallte das Wort in ihrem leeren Körper.

Sie musste eingeschlafen sein, denn sie wachte angezogen und bei brennender Lampe auf. DasBett quietschte, als sie sich erhob, um sich die Zähne zu putzen. Sie hatte Hunger, doch inzwischen war es schon Abend und sie wusste nicht, wo sie essen wollte. Sie betrachtete sich im Spiegel, ihre Augen waren rot, fast so, als hätte sie geweint. Dabei hatte sie nur geschlafen. Fake it til you make it. Vielleicht war es das, wie es bei ihr laufen würde. Keine echten Gefühle, sondern nur Fakes.

Andererseits: Wozu? Sie musste niemandem etwas vorspielen. Eigentlich wusste keiner von Finn. IhreEltern hatten nur geahnt, dass es da jemanden gab; sie wollte es ihnen erzählen, zumindest Mama, aber dann waren sie plötzlich tot. Auf dem Weg zum Baumarkt hatte sie ein Truck gerammt. Sie waren sofort tot, hatte man ihr gesagt. Bloß was hätte sie ihren Eltern erzählen sollen? Dass es da einen Jungen gab, mit dem sie chattete, auf der anderen Seite des Atlantiks?

Dann war sie eben grundlos nach Deutschland gereist. Big fucking deal.Sie würde wieder nach Hause gehen. Also, fliegen natürlich. Vielleicht könnte sie ihren Rückflug vorverlegen. Sie würde gleich morgen prüfen, ob sie umbuchen könnte. Aber jetzt erst mal schlafen.

Nur war das nicht so einfach. Fuck. Denn als sie schließlich im Bett lag, weigerte sich ihr Körper zu akzeptieren, dass es mitten in der Nacht war. Klar, nach ihrer inneren Uhr war es erst 21 Uhr – und zu allem Überfluss hatte sie bereits ein bis zwei Stunden geschlafen.

Genervt starrte sie zur Decke. Wenn wenigstens Tränen kämen. Sie ließ ihre Augen offen, bis es schmerzte – nichts.

Das ist so scheiße. Ich fühle nichts. Er ist einfach nicht da.

Er hätte sie am Flughafen abholen sollen, aber er war nicht da. Stattdessen war seine Schwester gekommen, die, mit der er sich in letzter Zeit immer gestritten hat.

Liu fühlte sich leer. Als hätte Finn ein riesiges Loch in ihr Leben, in sie selbst gerissen. EineWunde, die nicht einmal wehtat. Weil da nichts war.

Vielleicht stirbt man jedes Mal ein bisschen mit, wenn ein Mensch stirbt, den man liebt.

Dann wäre sie schon dreimal gestorben. Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden, aber vielleicht vergisst man die Wunden nur. Man merkt nicht mehr, dass man nur noch aus Löchern besteht.

Irgendwann würde sie Finn vergessen. Sie versuchte, sich auf sein Gesicht zu konzentrieren. Wie hatte er ausgesehen? Irgendwie … normal. Nicht groß, eher klein, nicht dick, eher dünn, nicht blond, eher dunkel.

Vielleicht kam ein besonderer Mensch einem immer besondersnormal vor. Dass er einfach irgendwie richtig aussah. Sie tastete nach ihrem Handy und hielt es sich vors Gesicht. DasDisplay flammte auf, als ihr Finger den Sensor berührte. So hell.

Während sie getrennt waren, hatte er ihr keine Fotos geschickt und sie hatte ihn nicht drum gebeten. Sie wusste, dass er Kameras auswich, doch jetzt kamen ihr Zweifel: War es vielleicht, weil er im Krankenhaus war? Wie lange war er schon wie krank gewesen?

DieFrage war allerdings: Wollte sie das überhaupt wissen? Wäre es besser, sich so schnell wie möglich zu lösen? Immerhin war er tot. Er würde niemals zurückkommen. WelchenSinn hatte es, sich an ihn zu erinnern?

Eine alberne Fernsehserie kam ihr in den Sinn, über SpaceMarines, die gegen Aliens kämpften und immer, wenn ein Kamerad zu Tode gekommen war, jede Erinnerung an ihn tilgten. Es war dann verboten, über den Toten zu sprechen. Aber das ist das Leben und keine fucking TV-Serie.

Und es fühlte sich einfach nur leer an. So leer.

Was alles hätte passieren können und nun niemals passierte ... All die Dinge, die nie sein werden.

Ohne bewusst eine Entscheidung getroffen zu haben, hatte sie die Bildergalerie ihres Smartphones geöffnet und so lange nach unten gewischt, bis sie bei jenem Tag angelangt war.

Sie kannte die Fotos in- und auswendig und ohnehin war er auf keinem richtig zu sehen. Was hatte sie stattdessen für einen Unsinn aufgenommen: den Blick vom Kirchturm. EinenSpringbrunnen. Diesen komischen asiatischen Turm. DasGlockenspiel, bzw. die Stelle, wo es hätte sein sollen. EineStraße. EinenSurfer. Bahngleise. EinenSonnenuntergang. DasEssen. Auf einem Bild sah man immerhin seine Hand, schlank und bleich lag sie neben dem Teller, auf dem Ringfinger ein winziger Leberfleck, direkt über seinem Knöchel. Das unscharfe Bild, wo sie ihn ablichten wollte, ohne dass er es merkt. Aber er war ja irgendwie immer in Bewegung.

Immer in Bewegunggewesen.

Stop for Death

Sie erkannte ihn, bevor er sie erkannte. Klar, er hatte ein erkennbares Profilbild in Let’sChat. Warum eigentlich? Sicher hoffte er, damit Mädchen aufzureißen. So wie er aussah, dürfte er sich damit allerdings schwertun.

Nein, entschied sie, jetzt bist du fies. Der ist doch ganz niedlich. Wie ein Aufreißer sah er allerdings wirklich nicht aus. Und die Niedlichen, unschuldig wirkenden sprechen ja auch manche Frauen an. Eher so die älteren, glaube ich.

Trotz der sommerlichen Temperaturen trug er ausgeblichene Jeans, Liu tippte auf Vintage 501, und einen lachsfarbenen Hoodie. Immerhin trug er halbwegs angesagte Retro-Chucks. Seine kurz geschnittenen Haare waren dunkel und ein wenig lockig, sodass sich die Frisur fast von selbst ergab. SeinGlück, denn er sah nicht aus wie jemand, der sich um FrisurenGedanken machte. Auf dem Kopf trug er einen altmodischen, kabelgebundenen Bügelkopfhörer, der mit einem Gerät verbunden war, das für ein Handy zu klobig schien und das sie als Walkman erkannte.

Immerhin war der Typ nicht so alt wie die Technik, mit der er herumlief. »Normalguy«, wie er sich in Let’sChat nannte, dürfte etwa in ihrem Alter sein.

Suchend schaute er sich um. Er hatte die Sonnenbrille abgenommen und einmal sah er sogar in ihre Richtung; doch ihr Äußeres schien nicht dem zu entsprechen, was er erwartete. Er zog ein Smartphone aus der Gesäßtasche – das erste Gerät aus diesem Jahrhundert! – wischte übers Display und tippte.

Bist du bald da?,

erschien auf ihrem Display. Er hatte sich auf den Rand eines Blumenkübels gesetzt.

Gleich da. Noch zwei Minuten.

Sie beobachtete, wie er den Text las und das Handy wegsteckte. Er setzte die Sonnenbrille wieder auf und wandte sich der Sonne zu. Im strahlenden Licht wirkte seine Haut ziemlich hell. The whitest kid, dachte sie in Anlehnung an eine YoutTube-Serie über weiße und besonders uncoole Kids. Da würde er schon reinpassen, nerdy, wie der aussieht. Sammelt alte Elektronik. Immerhin keine Briefmarken oder Münzen oder Waffen aus dem Bürgerkrieg.

Sie setzte sich auf die andere Seite des Blumenkübels. Es war warm, nicht heiß. War der Sommer hier immer so? Sie schaute auf ihr Handy. Er hatte nicht mehr geschrieben. Klar, er wartete.

Sie konnte sich jetzt nicht umdrehen, ohne Verdacht zu erregen, aber sie stellte sich vor, dass er sich immer noch sonnte; den weißen, sehnigen Hals nach hinten gebogen. Irgendwie war er vielleicht doch cool. Zumindest entspannt. Jedenfalls nicht gruselig, so wie der Opa, der neulich auf ihre Umkreissuche geantwortet hatte. Sie schüttelte sich.

Bin fast da. Wie siehst du aus?,

tippte sie. DieAntwort ließ auf sich warten.

NormalGuy. Sie verdrehte die Augen und wandte sich zu ihm um. Er saß keinen Meter von ihr entfernt und blickte in die falsche Richtung.

»Du siehst nicht wie ein normaler Typ aus«, sagte sie. Zu ihrer Erleichterung zuckte er ein wenig zusammen, als er ihre Stimme so nah an seinem Ohr hörte.

»Oh, hi.« Er streifte den Kopfhörer ab und es klickte, als er eine Taste an seinem Walkman drückte.

»Hi.«

»Ich bin … äh. Ich bin Finn.«

»Liu, aka Miranda.«

»Ich hatte … also ich hatte … äh …«

»KeineChinesin erwartet? Hey, ich bin Amerikanerin.« Sie grinste schief und kniff ein Auge zusammen, was wohl irgendwie amerikanisch aussehen sollte. VielleichtPopeye?

»Na ja.« Er kratzte sich am Kopf. »Fuck, bin ich gerade Opfer meiner Vorurteile geworden?«

»Sagen wir: Stereotype.« Sie lächelte und betrachtete ihr Gesicht in seiner Sonnenbrille. »WelcheFarbe haben deine Augen?«

»Sagst du beim ersten Treffen immer so was?«

»Nur wenn mich ihre Sonnenbrillen nerven. So locke ich die Leute aus der Reserve.«

»Was glaubst du, welche Farbe sie haben?«

»Blau wie Kornblumen.«

»Das wäre toll, was?« Er nahm seine Sonnenbrille ab, sah kurz nach unten, bevor er in ihre Augen schaute. »Sorry.« Er hatte graue Augen. Ziemlich hell. Auch nicht schlecht.

»Niemand ist vollkommen.« Sie hob die Schultern. »Was jetzt?«

»Ich zeige dir die Stadt, oder?«

»Und dann?«

»Wie lange hast du denn Zeit? Ich äh … also, ich habe nicht so lange Zeit.«

Sie grinste, das war so offensichtlich eine Lüge. Er hatte vermutlich Angst, dass er sich zu lange um das psychopathische Mädchen kümmern musste. »Wenn du keine Lust mehr hast, geh einfach.«

»Es ist nicht so, dass ich keine Lust –«

»Okay, wenn du keine Zeit hast, geh einfach. Dreh dich um und geh weg. Es ist kein Problem.«

»Wäre das nicht irgendwie … unhöflich?«

Liu runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Glaubst du?«

»Puuh«, er hob die Schultern, »ich bin kein Fachmann in Etikette. Wie wäre es, wenn ich ›bye‹ rufe und dann schnell weglaufe?«

»Klingt nach einem Gentleman der alten Schule. Man merkt, dass in Europa gutes Benehmen noch etwas zählt.«

»Danke. Dann also die Stadt. Ich bin allerdings kein Fremdenführer.«

»Ist okay. Was machen wir?« Liu war aufgestanden.

»Bist du gut zu Fuß, ja?«

Sie hob das Kinn und sah ihn kämpferisch an. »Ha!«

✇✇

DieNacht war so lang gewesen, dass sie am nächsten Morgen das Gefühl hatte, überhaupt nicht mehr die gleiche Person zu sein wie tags zuvor.

Vielleicht werden wir jede Nacht neu erschaffen und uns werden die Erinnerungen an früher nur eingepflanzt?

Sie wusste, dass der Gedanke absurd war, dennoch hatte er etwas Tröstliches. Dann war sie Liu siebentausendirgendwas und hatte nichts von dem erlebt, an das sie sich zu erinnern glaubte. Nur das Heute zählte, denn wenn sie schlief, würde sie von Liu siebentausendirgendwas plus eins ersetzt.

Liu siebentausendirgendwas sollte also das Beste aus diesem Tag machen, denn sie hatte nur diesen.

Fuck, das ist aus irgendeinem Science-Fiction-Film, oder?

Sie stand auf, ging in das winzige Badezimmer und spritzte sich ein bisschen Wasser ins Gesicht. Sie ging ganz nah an den Spiegel. Sie hatte nicht einmal Ringe unter den Augen, ganz zu schweigen von eingefallenen Wangen.

Was, wenn sie wirklich ein neuer Mensch war?

Sie erschrak, als plötzlich das Telefon klingelte. Nicht ihr Handy, sondern das altertümliche, elfenbeinfarbene Telefon auf ihrem Nachttisch. DasDing besaß nicht mal ein Display und die Tasten waren so riesig, dass selbst ein Elefant sie betätigen könnte. Sie nahm den Hörer in die Hand. Er war groß und schwer und sie fühlte sich ein bisschen wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film. GretaGarbo, die von CaryGrant angerufen wird.

»Hallo?«

»Hier die Rezeption. Sie haben Besuch. Darf sie zu Ihnen hoch?«

»Ja, äh, klar. Wer–«

Doch der Mann hatte schon aufgelegt. Und die Frage, um wen es ging, war nicht schwer zu beantworten – die einzige Person, die wusste, wo LiuZimmer bezogen hatte, war Vanessa, FinnsSchwester.

Sie strich sich durch ihre Haare und betrachtete sich nochmals im Spiegel, diesmal kritisch. Sie hätte sich gerne die Zähne geputzt, doch dafür war es zu spät. Sie nahm einen SchluckWasser direkt aus der Leitung und spülte damit den Mund.

Natürlich war es Vanessa. Und sie hatte irgendein riesiges Ding dabei – eine ArtKoffer, der in einer Tasche steckte. »Hi, Liu. Ich hoffe, ich war gestern nicht zu …« Sie verzog den Mund, als würde sie das richtige Wort nicht finden. »Äh, ich weiß nicht. Zuirgendwas. Ich hoffe, ich habe dich nicht beleidigt oder so.«

»Nein, wieso denn?«

Vanessa winkte ab. »Na ja, passiert mir ständig, dass ich irgendwen beleidige. Natürlich ohne Absicht.« Sie spitzte die Lippen. »Also, meistens ohne Absicht. Bei dir ganz sicher ohne Absicht!«, schob sie schnell hinterher, als ihr klar wurde, dass man das missverstehen könnte. »Siehst du? Ich bin … ein Elefant im Porzellanladen. Also, manchmal. Sagt man das auf Englisch auch so?«

Liu dachte kurz nach. »Man sagt: EinStier im Porzellanladen.«

»Ziemlich ähnlich, was?«

»Tatsächlich kein großer Unterschied.« Sie bemerkte, dass Vanessa auf eine etwas linkische Art versuchte, nett zu sein.

»Ich habe hier etwas für dich.« IhrGast stellte die Tasche mit dem Koffer auf LiusBett. Wie sich herausstellte, war es kein Koffer.

»Was … was ist das?«, fragte Liu.

DasGerät war so lang und so breit wie ein großer Laptop, nur viel höher. Wie acht oder zehn aufeinandergestapelte Notebook-Computer. AmRand verliefen glänzende Chromleisten; die Seiten waren matt in dunkelblau und beige. Oben war ein einklappbarer Griff angebracht, weswegen sie es für einen Koffer gehalten hatte.

»EinGeschenk von unserem kleinen Nerd. VonFinn.«

Liu zuckte zusammen, als sie seinen Namen hörte.

»Es ist ein … keine Ahnung, wie das auf Englisch heißt«, erklärte Vanessa. »So etwas wie ein Kassettenrekorder, nur ohne Kassetten. Dafür«, sie drehte den Koffer auf die Seite. »Dafür hat es hier diese riesige runde Magnet… Ding, Schnecke.« Sie skizzierte mit der Hand eine Spirale. »Wie eine halbe Kassette, nur größer.«

»Sieht unpraktisch aus.«

»NoShit. Aber du kennst Finn ja. Er hat dieses alte Zeug geliebt.«

Liu nickte mit zusammengepressten Lippen. Vanessa blickte kurz auf. »Hauptsache, unpraktisch, was? Na, egal.« Sie deutete auf einen großen Knopf in einer Reihe neben vier anderen Knöpfen. »Hier spielt man es ab. Start.«

Liu betrachtete das altertümliche Gerät. Es passte eigentlich gut zu dem Telefon in ihrem Zimmer. »Und was soll ich damit?«

»Er schenkt es dir. Also, er hat es dir geschenkt. Er hat so eine ArtTestament hinterlassen, eine kleine Liste, und mir genau gesagt, was ich mit dem Ding anstellen soll. Dass ich es dir geben soll und dass ich es auf keinen Fall benutzen darf. Als ob ich daran irgendeinInteresse hätte.« Sie verdrehte die Augen.

Liu strich über die raue Plastikoberfläche. »GRUNDIG« stand in silberfarbenen, erhabenen Buchstaben auf der Seite.

»Okay, dann starten wir das Ding mal, oder? Müssen wir es nicht in die Steckdose stecken?«

»Da sind Batterien drin. Die größten, die ich je gesehen habe. In der Tüte ist auch ein Netzkabel. Und: Halt!« Sie hielt den Start-Knopf mit der Hand zu. »Du musst das alleine anhören.«

»Wieso?«

»Das hat er mir eingeschärft.« Sie verstellte ihre Stimme zu einem Bass, das sollte wohl eine Imitation von Finn sein: »Sie muss auf jeden Fall allein sein, wenn sie das Band anhört. Niemand darf bei ihr sein – das schließt dich mit ein, geliebte Schwester.«

Liu fragte sich, ob er sie wirklich ›geliebte Schwester‹ genannt hatte, oder ob das VanessasFantasie entsprungen war. In jedem Fall klang es ziemlich ironisch. Was war nur zwischen den beiden passiert, dass sie sich wie Hund und Katze verhielten?

»Hier, für unterwegs«, Vanessa zog einen altertümlichen, grauen Kopfhörer unter dem Gerät hervor. »Hör’s dir an, wann du willst, ich wollte sowieso gehen. Kann ich noch irgendwas für dich tun?« Sie machte eine kurze Pause, Liu fiel nichts ein. Sie schüttelte den Kopf. »Weißt du schon, wann du heimfliegst?« Liu schüttelte erneut den Kopf. »Na dann.« Vanessa legte ihre Hand kurz auf Lius linken Oberarm. Sollte das ein aufmunterndes Schulterklopfen oder ein Streicheln sein?

»Ich bin weg. Wenn du frühstücken willst, schräg gegenüber ist ein Bäcker – ist billiger als ein Café.«

»Okay … bye. Und … danke!«, fiel ihr ein, als Vanessa schon fast aus der Tür war.

Ohne sich umzudrehen, hob Vanessa die Hand, marschierte den Gang entlang und verschwand hinter einer Biegung.

Liu atmete tief durch. Sie war dankbar, dass Vanessa sich um sie kümmerte, dennoch sie konnte irgendwie nicht vergessen, dass sie Finn nicht mochte. Nicht gemocht hatte. Zwar gehörten zu einem Streit immer zwei, bloß wie konnte sie nur mit ihm streiten? Finn war so ein … er war fast schon klischeehaft in seiner Art. Ein netter, schüchterner Junge; einer, der keinem etwas zuleide tat, der alten Damen über die Straße half und den man nach dem Weg fragte, weil er so harmlos aussah. Einer, der – da war Liu sich sicher – sein jungenhaftes Aussehen behalten würde, wenn er schon älter wäre. Emma hatte das gleiche gesagt, sie hatte zwar nur dieses eine Foto –

Oh, Mist. Er wird niemals älter sein. Sie selbst würde bald 20, irgendwann 30 Jahre alt werden, 40, 50,  … womöglich 80 oder gar 90. AberFinn würde nie ein anderes Alter als 18 erreichen.

Eigentlich nicht mal das. Fuck. Er fehlte ihr.

Sie drückte den Knopf, den ihr Vanessa gezeigt hatte.

EinRäuspern ertönte, dann:

Okay.

Oh mein Gott! Das ist seine Stimme! Schnell drückte sie die »Stop«-Taste. IhrHerz schlug bis zum Hals.

Sie setzte sich aufs Bett, schloss die Augen und atmete einmal tief durch.

Er hatte »okay« gesagt. Na ja. Er hat eben seine Stimme aufgenommen. So what. Ist ja jetzt nichts Sensationelles. Ich bin schließlich kein Höhlenmensch, dass ich ausflippe, wenn ich die Stimme eines T- … also, wenn ich seine Stimme höre.

Liu zog die Augenbrauen hoch und schüttelte leicht den Kopf, um sich selbst zu versichern, dass es keine große Sache war. Ganz locker, geradezu beiläufig, drückte sie den Knopf erneut.

Vanessa, du solltest nicht mehr hier sein. Das ist nur für Liu.

Er sprach Englisch mit seinem deutschen Akzent, mit dem alles immer so ernst klang.

Vanessa sollte jetzt weg sein.

Er machte eine Pause, nur das Band rauschte unentwegt weiter.

Okay.

Er räusperte sich abermals.

Das ist für dich, Liu.

He kindly stopped for me

Ich kann noch.«

»Ich auch.«

»Dann geh doch schneller. Ich würde ja überholen, blöderweise ist die Treppe so schmal, außerdem weiß ich nicht, ob das in Europa vielleicht als unhöflich gilt …«

»Ich könnte viel schneller, ich habe nur gerade etwas hinter mir sehr schwer schnaufen hören und habe mir natürlich Sorgen gemacht –«

»Pfft. DeinEcho vielleicht. Jetzt leg’ mal einen Zahn zu. Ich langweile mich hier hinten.« Sie passierten ein vergittertes Fenster. Sie waren schon sehr hoch und Liu fragte sich, wie stabil ein so dünner Turm sein konnte. Nicht sehr, dachte sie. Aber er wird schon nicht ausgerechnet jetzt umfallen.

»Hast du Höhenangst?«, scholl es von oben. Finn war auf der Wendeltreppe bereits außer Sichtweite.

»Ich doch nicht. Ich wollte nur den Blick genießen. Hey, ich bin Amerikanerin. Bei mir zu Hause stellen sich die Leute so was wie dein historisches Glockentürmchen in den Garten zwischen die Plastikflamingos. Ich glaube, in Manhattan gibt’s Bushäuschen, die sind höher als dieses Ding.«

»Ha-ha. Dann warte, bis wir oben sind – in der sturmumtosten Höhe.«

»Oh, die sturmumtosteHöhe … du bist ja ein kleiner Poet.« Sie war nach oben gespurtet und sah seine weißen Turnschuhe immer gerade hinter der nächsten Biegung verschwinden.

»Ich habe viele Qualitäten.«

»Da muss ich ja ein echtes Glückskind sein, dass ich dich gefunden habe. Hey, was ist das?« DieWendeltreppe war zu Ende und sie betraten einen staubigen Raum, voller riesiger, hölzerner und gemauerter Stützbalken.

»Da sind die Glocken.« Er deutete über sie. Tatsächlich, direkt über ihnen hingen mächtige Glocken.

»Oh, wie nett.« Sie streckte die Hand zu diesem dunklen, unglaublich schweren Körper aus, doch die Glocke hing zu hoch.

»Nett … sagst du jetzt. Wenn man drunter steht, während sie schlagen, kann es sein, dass man sein Gehör verliert. Zur vollen Stunde schlagen sie so laut, dass … wie spät ist es eigentlich …« Sie sah sein Gesicht für einen Moment weiß erleuchtet vom Display des Handys. »Oh mein Gott!«

»Oh mein Gott?« Sie rang die Hände.

»Oh mein Gott! Wir haben nur wenige Sekunden!« Er tippte hektisch auf sein Smartphone und wandte sich rasch zum Gehen.

Liu atmete tief durch. Dann blieb sie genau unter den Glocken stehen und zückte ihr Handy.

»Bist du des Wahnsinns?« Finn war stehengeblieben.

»FürInstagram.«

»MeineGüte. Du riskierst dein Leben für ein Foto.«

»Ich dachte, nur mein Gehör?«

»Erst das eine, dann das andere.«

EineFamilie kam von oben herunter – Mama, Papa und zwei Jungen von vielleicht acht und zehn Jahren mit identischen weißen T-Shirts und roten Basecaps. DieMutter rief etwas von oben, wahrscheinlich, dass sie warten sollten, doch die beiden Jungs rannten weiter nach unten. Dabei lachten sie unentwegt.

BeimAbsetzen sah Liu auf ihr Display. »Es ist 20 Minuten vor. DieGlocke schlägt noch lange nicht.« Sie stützte die Arme in die Hüften und legte den Kopf leicht schief.

»Ja, aber ich weiß doch jetzt, wie langsam du bist.«

»Na warte!« Sie ballte die Hände zur Faust und lief zu ihm, er wandte sich um und rannte die Treppe nach oben. Keuchend kamen sie auf der obersten Stufe an. Liu hielt ihn am Pulli fest, als er völlig außer Atem die Tür nach draußen öffnete. Statt hindurchzustürzen, ließ er ihr den Vortritt. »Du hast gewonnen.«

»Natürlich. Ich gewinne immer.« Sie schritt durch dir Tür und er kam hinterher.

»Das trifft sich. Ich verliere immer.« Finn kratzte sich am Kopf und Liu fragte sich, ob das eine unwillkürliche Geste war oder ob er sie aus einem Film abgeschaut hatte.

»Das würde Wettkämpfe zwischen uns irgendwie absurd machen. Voraussehbar.« Sie hob die Schultern und grinste. Lachend schwang sie eine Faust in der Luft, doch irgendwie wirkte er plötzlich ernst und sie senkte die Hand. »Ach komm«, sagte sie; er hatte sich bereits umgewandt und schaute nach unten.

»Das ist also die sturmumtoste Plattform.«

»DasGitter ist neu. Vermutlich sind einfach zu viele amerikanische Touristinnen abgestürzt.«

»Das muss lästig gewesen sein. Unten sitzen die Leute im Straßencafé und andauernd fliegt ihnen eine Touristin in den Apfelstrudel.« Sie sah sich um. »Was ist das?« Liu deutete auf das neugotische Gebäude auf der anderen Seite des Platzes.

»Das neue Rathaus.«

»Sieht nicht sehr neu aus.«

»Das da unten ist das alte.«

»Das ist viel kleiner. Sie hätten es ›das kleine‹ und ›das große‹ Rathaus nennen sollen.«

»Ich werde bei der nächsten Bürgerversammlung vorschlagen, die beiden Gebäude umzubenennen.«

Geduldig erklärte ihr Finn, was er wusste. Schmerzlich wurden ihm seine Wissenslücken bewusst, manchmal konnte er einfach nur sagen: ›Noch eine Kirche.‹, ›Das könnte vielleicht ein Theater sein.‹ manchmal dachte er sich auch einfach etwas aus.

Sie fixierte ihn von der Seite, betrachtete sein Gesicht, während er auf irgendwelche Gebäude zeigte. Sie mochte den Ernst, mit dem er die Dinge erklärte, die er kannte – und sie mochte es, wie er es zu vertuschen versuchte, wenn er etwas nicht wusste. Auf so plumpe, übertriebene Art, dass sie das Gefühl hatte, dass er nicht gut im Lügen war. »Das ist die größte finnische Sauna der Welt – ich meine, außerhalb der USA.«

»Die hat drei wirklich große Schornsteine.«

»Logisch. Sie wird mit finnischem Holz beheizt und das macht viel Rauch.«

Oder log er absichtlich schlecht?

»DasStadion der BavariaYankees.«

»Baseball?«

»Vermutlich. Es war noch nie jemand bei einem Spiel. WirEuropäer interessieren uns nur für Fußball, weißt du?«

»Vielleicht eine verdeckte CIA-Einrichtung?«, schlug Liu vor.

»Wenn das so ist, sind sie wirklich clever.«

»Dann muss es doch etwas anderes sein.«

Er lächelte, schnaubte, dann entspannten sich seine Züge. Ganz langsam. Er sagte nichts mehr, schaute irgendwo in die Ferne. »Kennst du Dickinson?«, fragte er ohne sie anzusehen.

»Was?«

»EmilyDickinson.«

»Na, sicher. Wir haben mal ein Gedicht in der Schule gelesen.«

»Und?«

»Ich glaube, ich habe es nicht verstanden … Warum?«

»Nur so. Ist nicht so wichtig.«

»Wie jetzt?«

»Es spielt keine Rolle.«

»Nein?« Zweifelnd legte sie den Kopf schief.

»Es spielt wirklich keine Rolle.« Er lächelte sie an.

Und sie lächelte zu ihm zurück.

✇✇

Das ist für dich, Liu.

Er machte eine Pause und sie spürte, dass es ihm schwerfiel, weiterzusprechen.

Ich will nicht, dass das so ernst wird hier. Also. DiesesDing ist ein Tonbandgerät. Sozusagen der Opa von meinem Walkman. Es ist kein Wunder, dass alle Menschen froh waren, als Kompaktkassetten erfunden wurden, denn Tonbänder sind echt unpraktisch.

Aber keine Angst, du musst nichts machen. Außer natürlich, dieses Ding mit dir herumzuschleppen.

Was? Wieso?, dachte sie und hätte es beinahe laut gesagt.

Hast du eigentlich schon mal das Tonbandgerät betastet?

Betastet? Finn, du bist rätselhaft.

Er lachte.

Du fasst doch immer alles an.

Was? So ein Unsinn. Sie schüttelte energisch den Kopf.

Wenn du es noch nicht angefasst hast, solltest du das jetzt tun.

Sie schüttelte nochmals den Kopf.

Probier’s mal. Ich habe das auch gemacht.

Na gut. Zögerlich streckte sie die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen die metallische Oberfläche.

DasMetall fühlt sich kühl an, nicht wahr? Jetzt das Geriffelte.

Sie hörte das Geräusch, als er mit den Fingernägeln darüber glitt. Sie machte das Gleiche. Knubb, knubb, knubb.

Mach deine Augen zu.

Sie schloss die Augen.

Spürst du, wie ich bei dir bin? Wir streichen beide über dieses Gerät. Es verbindet uns, irgendwie.

Sie nickte und eine Träne lief über ihre Wange.

Er flüsterte.

Ich bin bei dir, Liu. Lass uns etwas gemeinsam machen. Noch einmal, ja?

Sie nickte, obwohl sie keine Ahnung hatte, was er meinte. Aber es fühlte sich gut an. Etwas zusammen machen. Ja. Ja!

Doch erstmal zu diesem Gerät. Sind deine Finger auf der geriffelten Fläche? Anfangs dachte ich, dass dahinter die Lautsprecher liegen, aber das stimmt nicht.

Das ist einfach nur Schmuck. 60er-Jahre-Design.

»Du bist so ein Nerd«, flüsterte sie und wischte sich über die Augen.

Hättest du gern damals gelebt?

Ich schon. Ich stelle mir vor, dass ich einen Anzug tragen würde und einen Hut. So sind die damals in die Schule gegangen!

Liu betrachtete das Band, das sich langsam von einer Spule auf die andere wickelte.

Aber eigentlich –

Er machte eine Pause, und als er weitersprach, klang seine Stimme belegt.

Eigentlich will ich nur in irgendeiner Zeit leben.

Er atmete scharf ein.

Fuck. So war das nicht gedacht. KeineTrauer. Alles gut. Es geht mir gut.

Ich schätze, ich bin dir eine Erklärung schuldig. Ich mach’s kurz. Ich bin krank, bald bin ich tot. Man kann nichts machen.

Er sprach ruhig und präzise, als ginge um es die Probleme einer anderen Person.

Du weißt das vermutlich. Du weißt sogar mehr als ich. Du weißt, wann genau ich gestorben bin und womöglich weißt du sogar, ob ich am Schluss geheult habe oder vor Wut geschrien … oder ob ich ruhig geblieben bin.

Weißt du was? Das ist egal. Es ist doch nicht wirklich wichtig, wie man die letzten Stunden verbringt, nicht wahr?

Das klingt doof, weil ich keine 80 bin, doch ich bereue nichts. Klar, was soll ich schon falsch gemacht haben in meinem kurzen Leben?

Es gibt nur eines, was ich bereue. Ich wollte dich so gerne wieder sehen. Nur noch einmal deine Stimme hören, dein Lachen …

Liu presste die Lippen zusammen.

Nein, das ist gelogen.

Ich wollte dich ... ganz oft sehen. Ganz oft sehen und lachen hören.

Ach, scheiß drauf. Lass den Kopf nicht hängen, irgendwann sterben wir alle.

Er schnaubte.

Auch du, Liu. Ich meine, ich hab’s hinter mir. Du hast es vor dir.

Fuck, das klingt jetzt doof. Es soll nicht klingen wie eine Drohung oder sowas. Eher so wie: Hey, so eine große Sache ist der Tod nicht. UnzähligeMenschen haben ihn schon erlebt und die, die jetzt munter herumlaufen, die haben das eben noch vor sich.

Er räusperte sich.

Jetzt kommt etwas Wichtiges: Du kannst dieses Band nicht zurückspulen. Du kannst es nur einmal anhören. DieRückspultaste geht nicht und zerstört wahrscheinlich das Band, wenn du sie drückst. Dann zerreißt es: ein Albtraum, glaub mir.

Du musst jetzt auf »Stop« drücken. Wenn du Lust hast, kannst du bald weiterhören. Hol dir aber vorher etwas, um Notizen zu machen.

Liu drückte auf »Stop«, nahm ihr Handy zur Hand und öffnete die Notizen-App.

Sie startete das Band erneut und schrieb den Ort auf, den er ihr nannte.

Dann drückte sie auf »Stop«, wie er sie geheißen hatte. ImZimmer war es wieder ganz still.

Sie atmete langsam aus und legte den Kopf mit dem Gesicht nach unten aufs Bett.

Bewegungslos lag sie da; die Luft, die sie einatmete, war heiß und schlecht.

Nur ihre rechte Hand tastete nach dem Tonbandgerät und strich über die geriffelte Fläche, unter der keine Lautsprecher waren.

The carriage held but just ourselves and Immortality

16, wieso? Und du?«

»17.«

»Hast du ein Auto? Klar, in Amerika hat jeder mit 16 ein Auto, nicht wahr?« AmNachbartisch saß über ihren Laptop gebeugt eine Frau. Finn war sicher, dass sie zuhörte, und schämte sich ein wenig für seine schlechte Aussprache.

»Nicht ganz, ich nämlich nicht. KeinAuto und keinen Führerschein. Ich habe ein Fahrrad.« Sie hob eine Faust, um ihre Stärke zu demonstrieren. »Ich und mein rotes Giant.«

»Wo wohnst du?«

»Evansville, Indiana.«

»Kenne ich nicht.«

»Hätte mich auch gewundert! Das kennt schon in 100 KilometernEntfernung von Evansville keiner mehr.«

»Woher weißt du das? Kommst du mit deinem Fahrrad überhaupt so weit raus?« Liu lachte, Finn fuhr fort: »Ich würde einen Führerschein machen, sobald ich kann.«

»Warum?«

»Na ja, wegen der Freiheit.«

»Weil man dann irgendwo hinfahren kann? Man muss ja wieder zurück.« Liu schüttelte energisch den Kopf. »EinAuto gibt dir keine Freiheit. MeineEltern haben Autos … aber Freiheit haben sie nicht.«

Finn betrachtete sie, wie sie die Lippen zusammenpresste. Natürlich hatten ihre Eltern einen Beruf und mussten irgendwelche Dinge erledigen … oder meinte sie noch etwas anderes?

»Du könntest die Route 66 entlangcruisen.«

»Höchstens die Route 69.« Sie senkte den Kopf, dann schaute sie ihn von unten an. »Ich bin dir sehr verbunden, dass du jetzt keinen Witz gemacht hast.«

»Ehrensache. Ich weiß doch, wie prüde Amerikaner sind.«

»Ich und prüde?« Liu schnappte nach Luft. »Wenn du nicht hier wärst, würde ich längst nackt auf dem Tisch tanzen.«

Finn machte eine einladende Geste in RichtungTisch. »Bitte. Beachte mich gar nicht.«

Liu zog hoheitsvoll die Augenbrauen nach oben. »Ich möchte die Ureinwohner nicht übermäßig schockieren. Vielleicht später.«

DieKellnerin brachte zwei riesige Gläser mit einem goldgelben Getränk.

»KeinBier! Das habe ich dir gesagt!«

»EineFrau mit Prinzipien, wie mir scheint.«

»Natürlich! Und nur die besten.«

»KeineAngst, das ist kein Bier. Aber du kannst ja nicht einfach hierher kommen und nur Cola trinken. Nicht mit deinem eingeborenen Führer.«

»Das sieht aus wie Bier.«

»Apfelsaft sieht auch aus wie Bier.«

»Das ist kein Apfelsaft, Sir. UndSie sind keine 21.« Skeptisch betrachtete sie das Getränk.

»Hier darfst du ab 16 trinken.«

»Auch als Amerikanerin?« IhrFingernagel zog eine Spur, als sie am eiskalten Glas entlang strich. Sie malte einen Kreis.

»Warum nicht? Wir können ja mal bei der amerikanischen Botschaft anfragen … obwohl die um diese Zeit sicher alle im Biergarten sind.«

»Inklusive der Kinder?«

»Klar.« Er bemerkte ihren Gesichtsausdruck – entrüstet oder überrascht? – und fügte hinzu: »Da gibt’s nicht nur Bier, die haben auch Limo und meistens gibt’s einen Spielplatz.«

»Okay«, sagte sie und es gefiel ihm, dass sie nicht auf ihrer Meinung beharrte.

Er steckte die Hand durch den Griff des Glases und hob es hoch. »Also: Prost.«

Liu runzelte die Stirn, dann zuckte sie die Schultern. »Na gut. Du trägst mich ins Hotel, wenn ich betrunken bin.«

»Sollte ich schaffen. Ich werfe dich einfach über die Schulter.« Er imitierte die Bewegung.

»Alles klar, dann ist ja für mich gesorgt.« Liu hob das Glas ebenfalls. »Ui, ganz schön schwer.«

»Ist halt was für echte Männer. Und echte Frauen.«

»Und echte Kinder.«

»Wenn man den vollen Krug am ausgestreckten Arm halten kann, ist man offiziell erwachsen.« Er beugte sich nach hinten und streckte den Arm lang aus. Auffordernd sah er sie an.

Liu legte den Kopf schief und tippte mit den Fingerspitzen auf seinen Unterarm. »Du zitterst ganz schön.«

»Ja, äh, das muss wohl das Alter sein. Ich bin schon länger erwachsen.«

»Oh, okay, Opa.«

Liu nahm den Krug und tat es ihm gleich. »Ist überhaupt nichts dabei.«

»Und wie wollen wir jetzt anstoßen?«

Liu lachte und ihr Lachen klang so, als würde sie sonst nicht viel lachen. Quatsch, das bildete er sich nur ein, oder?

Er rutschte ein wenig mit dem Stuhl nach hinten, bevor er sein Glas, immer noch am ausgestreckten Arm haltend, ungelenk zu ihrem schwang.

»Cheers«, sie gluckste und winkelte den Arm an.

»Auf was trinken wir?«

»Auf was?«

»Na, auf die Gesundheit oder so.«

»Gesundheit klingt nach Krankheit.« Sie streckte die Zunge heraus. »Auf – auf das Leben?«

»Auf das Leben!« WennGesundheit wie Krankheit klingt, klingt Leben dann nicht wie Tod?, dachte er.

Sie stießen an. Liu beobachtete, wie er einen tiefen Schluck nahm, dann setzte sie ihr Glas an die Lippen. »Hey, das ist ja süß.«

»Hatte ich beiläufig erwähnt, dass das kein Bier ist?«

»Aber auch kein Apfelsaft.«

»Radler. Bier mit Zitronenlimonade. InEngland heißt das shandy.Weiß ich aus dem Englischunterricht.«

»Ich sehe, ihr lernt hier die lebenswichtigen Dinge.«

»ImSommer ist es echt gut. Da trinkt das sogar mein Papa manchmal.«

Liu nickte und leckte sich den Schaum von der Oberlippe. Tat sie das wirklich zum ersten Mal?

»Was wollen wir jetzt machen?«

»Hast du Hunger?«

»Eigentlich nicht. Müssen wir eine Bratwurst oder ein riesiges StückFleisch essen?«

»Nicht mit mir. Ich bin Vegetarier.«

»Oh.«

»Wie – oh?«

»Nur so: oh.«

»Hast du gedacht, alle Deutschen sind groß und dick und essen den ganzen TagWurst?«

»Wie es aussieht, trinken sie ja nicht einmal Bier.« Sie deutete auf ihr Radler. »Sie tun nur so. Und das ist gut so.« Sie nahm einen tiefen Schluck, ehe sie fortfuhr: »Es ist nur – in meiner Familie würdest du dir schwer tun. Chinesen verstehen vegetarisches Essen nicht. Und dir würde viel entgehen.«

»Ist das eine Einladung?«

»Äh, na ja. Wenn du in Indiana bist, musst du dich unbedingt melden.«

Finn winkte ab. »KeineAngst, das dürfte in nächster Zeit nicht passieren.«

»Reist du nicht gern?«

»Doch schon, aber ...«, er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »KeineKohle.«

»Du gibst wohl alles für deine Spielzeuge aus.«

»Sowas?« Er hob den Walkman. »DasZeug ist nicht teuer. Auf dem Flohmarkt gibt’s das für ein paar Euro.«

»Hm-hm. Nur, wenn die Frage erlaubt ist … warum?Ich meine, die Dinger klingen nicht toll, oder?«

»Probier mal« Er setzte ihr den Kopfhörer auf und drückte auf eine Taste an seinem Walkman. Nach einem kurzen Jaulen, bei dem sie das Gesicht schmerzhaft verzog, erklang BillyJoels »UptownGirl«. Durch ein Plexiglasfenster sah sie, wie sich im Gerät etwas drehte und das dünne Band auf der einen Seite aufgewickelt wurde. Sie lächelte ihn an, weil sie glaubte, das würde sich irgendwie so gehören. Weil er ihr seine Musik vorspielte, wie in einem kitschigen Liebesfilm.

»BillyJoel«, sagte er.

»Sorry.« Sie grinste entschuldigend und nahm den Kopfhörer ab. »Kenne ich nicht.«

»Kommt eigentlich aus deiner Ecke.« Mit einem Klick schaltete er den Walkman aus.

»Indiana?«

»Ich glaube, eher Ostküste.«

Sie kniff ein Auge zu und tat so, als würde sie etwas ausspucken. »Ich bin ein Mittelwest-Mädchen.«

»Lass mich raten – das sind die besten.«

»Sicher. Aber die meisten sind nicht so toll wie ich.«

»Vermutlich sind sie nicht so bescheiden wie du.«

»Nee, manche sind richtige Angeber.«

»Fürchterlich, solche Menschen.« Er sah in ihre Augen, ganz kurz. »Hast du den Text verstanden? Von dem Lied, meine ich.«

»UptownGirl?Ein unerfahrenes Vorstadtmädchen, das sich in einen weltgewandten Städter verliebt?« Sie hob die Augenbrauen.

»Wenn du das sagst, klingt es irgendwie so …«

»Schmutzig?«

Er lachte. Das hatte er nicht erwartet. Gar nicht. Wenn sie das sagte, klang es klug. »Nüchtern, irgendwie.« Er hatte das Lied immer irgendwie romantisch gefunden. Aber das war es nicht. Oder?

»So ist das Leben halt.«

»Nüchtern?«

Sie hob die Schultern. Anstelle einer Antwort trank sie einen SchluckRadler.

Er hob sein Glas. »Auf die Nüchternheit des Lebens.«

Sie zog eine Schnute. War das wieder nicht richtig? »Auf die Großstadtmädchen, die sich in Vorstadtmänner verlieben?« Nein, das ist doof.

»Vielleicht … auf die Dinge im Leben, die nicht nüchtern sind«, sagte sie vorsichtig.

»Auf die Dinge, die das Leben schön machen?«, schlug er vor.

Sie nickte bestätigend: »Auf das Schöne im Leben.«

»Auf–« Sie zögerte, dann sprudelte es heraus: »… die Umkreissuche in zweifelhaften Chatprogrammen!«

»Auf … bierähnliche Süßgetränke!«

»Auf … Türme mit ungewöhnlicher Treppenführung!«

»Auf … den MittlerenWesten und die Frauen von dort, die die besten sind!«

»AufMänner«, sie lächelte, »die noch wissen, wie man mit Frauen umgeht.« Gleich darauf bleckte sie ihre Zähne. »Und auf kurze Toasts, denn lange kann ich nicht mehr.«

»Auf … äh … uns?«Oje, wie lahm.

»Na, warum denn nicht.

---ENDE DER LESEPROBE---