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Beinahe ist Studentin Lisa Opfer eines Mörders geworden. Was niemand ahnt: Sie hat selbst eine dunkle Seite. Um die Seele ihrer verstorbenen Freundin am Leben zu halten, muss sie immer wieder töten. Da tritt ein gut aussehender Mann in ihr Leben; gleichzeitig taucht eine Frau auf, die behauptet, die Cousine dieser Freundin zu sein. Wem soll sie vertrauen? Die Ereignisse spitzen sich zu und immer tiefer versinkt Lisa in einem Morast aus Leidenschaft, Verbrechen und altägyptischer Mystik … Übersinnlicher Thriller für starke Nerven.
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Seitenzahl: 161
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Impressum neobooks
M.P. Anderfeldt
(C) 2017
Alle Rechte vorbehalten.
Ob du lebst oder stirbst, ist für dich und ein paar Leute um dich herum vielleicht wichtig.
Für die meisten deiner »Mitmenschen« ist es aber wesentlich bedeutsamer, wenn beim Mittagessen das Ketchup alle ist.
Y. H.
Lieber Leser,
zu diesem Buch gibt es auch einen ersten Teil. Der ist bei Droemer Knaur erschienen und trägt den Titel »Der kleine Vogel des Todes«.
Aber, keine Angst, »Die kalten Wurzeln der Welt« kann man auch ohne Kenntnis des ersten Teils lesen und genießen.
Wenn Sie Lust haben, können Sie den ersten Teil auch noch später lesen, dann erfahren Sie, was in jener Halloween-Nacht passiert ist und lernt viel über die Vorgeschichte von Lisa und Jia Ling. Am Ende dieses Buchs findet sich eine Leseprobe dazu.
Ich wünsche viel Spaß!
Martin
Im Herbst stirbt die Natur.
Vielleicht gibt es deshalb kaum etwas Poetischeres als einen Spielplatz im November. Einsam stehen die Spielgeräte da, Tautropfen wölben sich an roten, blauen und rostfarbenen Stangen wie unzählige, kleine Geschwüre. Es sind weniger Kinder da als im Sommer und die sind stiller als sonst, gehen verloren zwischen den Geräten umher, als hätten sie Scheu, den sterbenden Ort zu entweihen.
Lisa blickte in die Ferne, ohne irgendetwas anzusehen. Das gelegentliche Geschrei der Kinder bildete eine Geräuschkulisse, die ihr dabei half, den Kopf freizubekommen. Töne ohne Bedeutung. Eine Art weißes Rauschen.
Während die anderen Studenten in die immer gleichen, coolen Cafés und »In«-Kneipen strömten, kam sie lieber hierher. Eine Kommilitonin hatte sie einmal gesehen und auf einer Party erzählt, daran merke man, was für ein Familienmensch Lisa sei. EinFamilienmensch! Konnte es ein schlimmeres Schimpfwort geben, wenn man von ein paar ansehnlichen Vertretern des anderen Geschlechts als mögliche Sexualpartnerin in Betracht gezogen werden wollte?
Vielleicht hatte das Mädchen es gar nicht böse gemeint, sie war ein gutmütiges Ding, proper und wohlgenährt, mit einem Körper, der perfekt geeignet schien, in ein Dirndl gesteckt zu werden. Sie kam ja auch von einem Bauernhof in Oberbayern. Vermutlich sahen die dort alle so aus. Im Dirndl würde der Busen ordentlich rausquellen und die Männer von ihrem langweiligen, runden Gesicht ablenken. Lisa spürte Hass in sich aufsteigen, wenn sie nur an sie dachte. Dieses blöde Landei.
Heute war es eigentlich zu kalt für den Spielplatz. Nur eine Handvoll, mit dicken Jacken und bunten Wollmützen bekleidete Kinder turnten auf dem hölzernen Kletterturm herum, rutschten auf der nebelfeuchte Rutsche und stritten sich um die beiden offensichtlich stets heiß begehrten Plätze auf den beiden Schaukeln.
Sie sah keine Erwachsenen, das unterschied diesen, im Zentrum gelegenen Spielplatz von einem in einer Neubausiedlung. Die Mütter, die ihre Kinder mit dicken SUVs von BMW und Porsche in den Kindergarten brachten, ließen ihre ach so wertvollen Sprösslinge selten aus den Augen, halfen ihnen oft beim Klettern oder schimpften, wenn sie allzu unvorsichtig auf den Geräten herumturnten. Wenn sie dort auf einer Bank am Spielplatz saß, bekam Lisa manchmal fragende oder gar misstrauische Blicke. Eine junge Frau wurde dort als störend empfunden – für eine große Schwester war sie zu alt und um selbst schon Kinder zu haben, schien sie zu jung. Zumindest bekamen ordentliche Frauen nicht schon mit Anfang 20 Kinder, oder?
Kein Wunder, dass sie viel lieber hier war.
Dann sah sie den Mann. Er stand am Zaun und beobachtete die Kinder.
Na und, dachte Lisa. Ich werde doch nicht so werden wie die gluckenhaften Supermamis aus der Vorstadt. Sie schloss die Augen und versenkte sich in das Geschrei der Kinder. Mittlerweile konnte sie einzelne Stimmen unterscheiden, ein kleines Mädchen, das lautstark protestierte, wenn es nicht bekam, was es wollte, ein älterer Junge, wahrscheinlich ihr großer Bruder, der immer wieder beruhigend, wenn auch mit genervtem Unterton, auf sie einredete, zwei Zwillingsmädchen, die bei allem, was sie taten, laut quietschten.
Der Mann stand immer noch genau so da. Wen beobachtete er? Wenn er ein Vater wäre, würde er zu seinem Kind doch mal etwas sagen, oder?
Er schien sich auf ein Kind mit einem glänzenden, blauen Anorak und einer roten Bommelmütze zu konzentrieren, das allein im Sandkasten saß und selbstvergessen mit den Händen ein Loch in den kalten Boden grub. Lisa konnte nicht erkennen, ob es ein Mädchen oder ein Junge war. Vielleicht war er doch der Vater, er wollte sein Kind eben nicht beim Spielen stören. Oder er war einer dieser Väter, die nichts mit ihren Kindern anfangen konnten.
Sie schloss wieder die Augen, doch es klappte nicht mehr. Sie konnte keine Ruhe finden.
Sie richtete ihre Augen zum Himmel, der von einem völlig gleichmäßigen Hellgrau war. Als lehnte er es ab, sie abzulenken.
Sollte sie sich auch in ein Café setzen? Nein, danke. Allein der Gedanke an ihre lärmenden, flirtenden, schwatzenden Kommilitonen ließ sie erschaudern.
In die Bibliothek? Da war es auch nicht besser, da gab es zusätzlich noch die Streber, die meinten, sie müssten in jeder freien Minute lernen.
Der Mann hatte zu ihr gesehen. Fragte er sich, ob eines der Kinder zu ihr gehörte? Wollte er abwarten, bis sie weg war?
Er trug einen hellen Mantel, die Hände hatte er tief in die Taschen gesteckt und sie konnte nur spekulieren, womit die gerade beschäftigt waren.
Nein, dachte sie, jetzt geht meine Fantasie mit mir durch. Ich sollte gehen. Das ist nur ein Mann. Ein harmloser Mann. Selbst wenn er etwas versucht, und das glaube ich nicht, würden die anderen Kinder Alarm schlagen. Der eine Junge ist ja schon etwas größer. Der merkt, wenn etwas nicht stimmt.
Sie erhob sich. Sie wusste zwar nicht, wohin, aber sie wollte weg. Nicht ihr Problem. Nein, es gab gar kein Problem.
Sie schlang die Jacke enger um ihren Körper. Sie hätte ihren Mantel anziehen sollen, die feuchte Kälte ging durch Mark und Bein.
Zögernd ging sie auf die Tür des Spielplatzes zu. Sie hörte das Kind im Sandkasten reden, als sie vorbei ging, aber es sah nicht auf. »Und ihr habt eine Straße«, glaubte sie zu verstehen, vielleicht sagte das Kind aber auch etwas ganz anderes.
Sie kam mit Kindern nicht allzu gut zurecht. Sie mochte sie auch nicht besonders, weil sie kein Feingefühl hatten und unhöflich und unberechenbar waren. Wenn sie gezwungen war, sich um eines zu kümmern, wusste sie nie, was sie sagen sollte.
Trotzdem.
Scheppernd fiel die Metalltür hinter Lisa zu. Der Mann sah weg, als sie sich näherte. Tat so, als müsste er gerade ganz dringend etwas in der entgegengesetzten Richtung inspizieren.
Das personifizierte schlechte Gewissen, dachte sie. Wenn noch irgendein Zweifel bestanden hatte, war er jetzt ausgeräumt.
Sie ging ganz nahe zu ihm hin. »Komm in den Park, in den Pavillon. In fünf Minuten.«
Sie merkte, wie er die Luft anhielt, als sie mit ihm sprach. Dann schnaufte er heftig aus. Sein Kopf zuckte irgendwie seltsam.
Der Mann war völlig verwirrt.
Hatte er sie überhaupt verstanden? Klar. Das verstanden Männer immer.
Würde er sie zu sich nach Hause mitnehmen? Neulich hatte einer sie auf einen Kaffee einladen wollen. Als ob sie Lust hatte, mit so einem alten Sack von ihren Kommilitonen gesehen zu werden.
Sie hatte Pfefferspray dabei und ein recht ordentliches Taschenmesser. Das wollte sie allerdings nur ungern schmutzig machen. Naja, ihr würde schon etwas einfallen.
Bald, bald, gibt es in dieser schönen Stadt einen Perversen weniger, dachte Lisa und gestattete sich ein leichtes Lächeln. Sie hatte gelesen, man sollte immer wieder mal lächeln, das würde sich positiv auf die Stimmung auswirken, außerdem wirke man dadurch attraktiver.
»Ich kann arbeiten.« Lisa rang sich ein Lächeln ab, das leicht und natürlich wirken sollte, ohne verkrampft oder gar manisch auszusehen.
»Nein, nein.« Horst blickte zu ihr, scheinbar, dabei sah er nur sich selbst, suhlte sich selbstzufrieden in seiner ach so verständnisvollen Art.
»Es macht mir nichts aus. Vielleicht«, fügte sie hinzu, »vielleicht hilft mir die Arbeit, mein Erlebnis zu vergessen.«
Die Zeitungen waren voll davon gewesen: Es war noch keine zwei Wochen her, da war Lisa beim Reinigen einer Wohnung, in der eine junge Frau gestorben war, von einem Mann angegriffen worden.
Ihr Chef schwankte einen Moment. Das war ein ziemlich cleveres Argument gewesen, wie konnte er sich jetzt noch als barmherziger Samariter aufspielen?
»Lisa.« Er machte eine Pause. Seine Stimme triefte vor Mitgefühl. Seit wann duzte er sie eigentlich? Kaum passiert einem so ein Scheiß, glaubt plötzlich alle Welt, sie müssten sich als deine Freunde aufspielen.
»Mach dir um deinen Job keine Sorgen, du kannst jederzeit wieder bei mir anfangen, das verspreche ich dir. Wenn du möchtest. Aber der Herr von der Polizei hat auch gemeint, dass Tatortreinigung erst mal nicht ganz das Richtige sein dürfte, nachdem dich dieses Schwein fast …« Er verstummte, die Lippen zusammengepresst.
Fast – was? Vergewaltigt hätte? Umgebracht hätte? Waren das wirklich so schwierige Wörter?
Horst schüttelte den Kopf und sah nach unten. Das Thema schien ihn mitzunehmen. Tatsächlich versuchte er natürlich nur, sich durch demonstrative Entrüstung und gespieltes Unverständnis vom »Täter« abzugrenzen. Klarer Fall.
»Und wenn du nicht mehr weitermachen möchtest, hat dafür sicher auch jedermann Verständnis.«
Fuck, sie hatte verloren. Da war nichts mehr zu machen. Wenn sie weiter insistierte, machte sie sich nur verdächtig. Sie nickte langsam. Sie wusste, dass der klare Blick aus ihren blauen Augen seine Wirkung nicht verfehlen würde.
»Ich habe dich doch gern …«, sagte er mit väterlichem Tonfall.
Ich weiß genau, was du an mir gern hast, kleiner Mann, dachte sie. Als wollte sie den Schmerz darin fühlen, strich sie sich mit der Hand über die Brust und atmete tief ein. Damit sein Blick ihrer Hand ohne schlechtes Gewissen folgen konnte, schloss sie die Augen.
Als sie sie öffnete, leckte er sich mit der Zunge über die Lippen.
»Was passiert ist, ist schrecklich. Warum fährst du nicht ein paar Tage mit deinem Freund weg?«
Mit Marc? Ohne seinen Computer hält der es doch keine 5 Minuten aus. Nur, wo man bei einer Frau die Knöpfe drücken muss, das wird er wohl nie checken.
»Mit Marc – ich weiß nicht …« Obwohl Horst auch im Sitzen viel kleiner war als sie, schaffte Lisa es, scheu zu ihm aufzusehen. »Ich habe ja auch Uni. Und vielleicht ist es das Beste, wenn ich ganz normal weitermache …«
Ihr Chef nickte väterlich. Wahrscheinlich freute es ihn, dass es mit ihrem Freund nicht so toll lief. Vielleicht rechnete er sich Chancen aus, dass sie sich mal bei ihm ausweinte.
»Du hast wahrscheinlich recht. Dank dran, dass ich immer ein offenes Ohr habe, wenn du etwas brauchst.«
Klarer Fall, er würde dann gerne Marcs Pflichten übernehmen.
»Danke«, hauchte sie. »Das bedeutet mir viel.«
Jetzt stellt er sich bestimmt vor, wie ich als Jungfrau in Nöten des Nachts an seine Tür klopfe und er mich retten kann. Mich in seine starken Arme nimmt und mir dabei ganz unauffällig die Brust streichelt. Männer.
Manchmal wünschte Lisa, sie wäre lesbisch, aber sie war so hetero, wie man nur sein konnte. Sie hatte es das mit dem Lesbisch-Sein versucht, musste aber feststellen, dass sie nicht einmal bisexuell war. Den Sex mit einer Frau fand sie einfach nur krampfig, außerdem hatten die meisten lesbischen Frauen wenig an sich, das sie attraktiv fand.
So musste sie wohl oder übel weiter mit Männern vorliebnehmen, so schlicht und trottelig die auch waren.
»Dann mach’s gut, Lisa.« Aufmunternd nickte Horst ihr zu.
Sollte sie ihn zum Abschied umarmen? Sie entschied sich dagegen. Das würde jetzt auch nichts bringen. Außerdem sollte sie sparsam umgehen mit ihrem Pulver.
»Danke … ich melde mich in zwei Wochen wieder.«
Sie wandte sich ab, bevor er widersprechen und ihr großzügig eine noch längere Auszeit schenken konnte.
Wenn nur in den nächsten zwei Wochen nichts passierte … das wäre zu ärgerlich.
Es platschte nicht einmal richtig, als er ins Wasser fiel. Stattdessen ertönte nur ein einigermaßen sanftes plumps. Eher ein Klogeräusch, nicht lauter, wie ein Stein, der ins Wasser fällt.
Wieder ein Vergewaltiger weniger. Fast zu schön, um wahr zu sein. Lisa betrachtete die rote Indiomütze, die wild und dramatisch auf den braunen Wellen schaukelte. Letzter Zeuge einer Tragödie. War’s das? Klasse.
Da tauchte er wieder auf. Prustend und wild mit den Armen schlagend.
Nee, oder? Fuck, Fuck, Fuck! Das war zu schön, um wahr zu sein! Konnte man hier etwa stehen? Sie war sich fast sicher gewesen, dass der Fluss unter der Brücke tief genug war.
Lisa biss die Zähne zusammen. Gut, dass sie vorbereitet war. Wenn sie etwas gelernt hatte, dann war es, dass man immer auf alles gefasst sein musste.
Der Alte stand nicht, er schwamm. Immerhin! Er ruderte im Wasser – mitsamt seiner grünen Cordhose, den Stiefeln und all seinen Jacken. Und der dreckigen Unterwäsche, die man zwar nicht sah, aber zehn Meter gegen den Wind roch.
Er grunzte etwas. Naja, er war besoffen, das wusste sie ja. Und es war sicher auch ziemlich anstrengend, in dem eiskalten Wasser zu schwimmen. Würde er sich irgendwo hochziehen können? Unwahrscheinlich. Vermutlich würde er sang- und klanglos untergehen.
Blubb, blubb, weg war er. Woher war das? Mutter hatte das manchmal gesagt. Das musste irgend so ein Witz sein.
Muttersprüche hin oder her, sie durfte kein Risiko eingehen. Seufzend trat sie einen Schritt auf das Ufer zu und ging in die Hocke.
Der Fluss strahlte eine feuchte Kälte ab, die sie selbst durch ihre Kleidung hindurch noch spürte. Als ob »Flussufer« etwas Unscharfes wäre, ein unmerklicher Übergang vom Land zum Wasser.
Genieß es doch, nicht alle haben so viel Glück wie du, wollte sie ihm zurufen. Aber natürlich tat sie es nicht. Er hätte es missverstehen können.
Oder richtig verstehen.
Langsam kam er auf sie zu. Er schwamm wie ein Hund, die Arme irgendwo unter der Oberfläche. Man sah eigentlich nur den Kopf und einen Teil der Jacke, die auf dem Wasser hinter ihm her schwamm.
Der Kopf war nur knapp über der Oberfläche, eigentlich ragte nur das Gesicht aus dem Wasser, unförmig wie ein gekentertes Boot oder so. Er stöhnte etwas und kaltes, schwarzes Wasser lief ihm in den Mund. Er würgte, versuchte zu husten, doch es fehlte ihm die Kraft. Inzwischen strampelte er nicht mehr so wild mit Armen und Beinen, es wirkte planvoller. Es könnte tatsächlich passieren, dass er sich oben hält. Das darf nicht passieren.
Er grunzte. Vielleicht wegen des Wassers, das er geschluckt hatte.
»Sch …«, machte Lisa und legte den Zeigefinger an die Lippen.
Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Ob er damit etwas sagen wollte? Sollte das »Ja« heißen? Lisa fand nicht, dass er noch versuchen sollte, zu kommunizieren.
»Sch-sch«, machte sie noch einmal und schüttelte sanft den Kopf. Ein wenig Licht fiel auf sie und ließ sie aussehen wie einen Engel.
Von der Strömung des Flusses war hier fast nichts zu spüren, dennoch musste Lisa langsam ein paar Schritte seitwärts machen, um mit ihm auf einer Höhe zu bleiben. Das war gar nicht so einfach, wenn man in der Hocke bleiben wollte.
Sie legte den Kopf ein wenig schief.
Langsam streckte sie die linke Hand aus und hielt sie ihm entgegen.
Ich bin dein helfender Engel.
Seine Bewegungen wurden wieder hektischer. Er hatte die Rettung vor Augen.
Aber was hatte er schon, für das es sich zu leben lohnte? Er war obdachlos und der Winter kam. All sein Besitz befand sich in den Plastiktüten in der Nische unter der Brücke. Wahrscheinlich hatte er keine Angehörigen – oder zumindest keine, die sich um ihn kümmerten.
Warum also? Warum noch kämpfen?
Gleichzeitig lag darin die Faszination. Alles, was lebt, will am Leben bleiben. Zumindest in diesen letzten Atemzügen entdeckten selbst die unwahrscheinlichsten Kandidaten, wie schön das Leben war.
Lisa spitzte die Lippen und pfiff. Schön ist es, auf der Welt zu sein.
Bin ich eben ein pfeifender Engel.
Seine Finger tauchten plötzlich aus der Brühe. Er versuchte, ihre Hand zu erreichen. Weil er dadurch nicht mehr gut schwimmen konnte, versank er für einen Moment bis über die Nase in den Fluten.
Die Hand verschwand wieder in den Fluten, als er leise prustend wieder hochkam.
Er näherte sich weiter. Dann der nächste Versuch. Diesmal die andere Hand. Dunkle Wasserspritzer fielen auf Lisas hellbraune Jacke, als die Hand aus dem Wasser schoss.
Sie musste ihre Hand nur wenig zurückziehen, damit er sie verfehlte.
Wieder versank er kurz, bevor er nochmals auftauchte.
Unglaublich, dieser Überlebenswille. Glaubt er wirklich, dass er es schaffen kann?
Lisa lächelte ihn an. Sie hoffte, dass es ein freundliches Lächeln war, ohne Schadenfreude oder Bosheit. Schließlich hatte jeder das Recht auf einen schönen letzten Blick, oder? Sie hatte schon oft gehört, dass sie aussah wie ein Engel. Meistens natürlich von Männern, die sich von solchem Süßholzgeraspel versprachen, sie ins Bett zu bekommen. Manchmal durchaus mit Erfolg, was aber rein gar nichts mit ihren Komplimenten zu tun hatte.
Lisas andere Hand sauste nach vorn, die Hand, die sie hinter ihrem Rücken versteckt hatte. Der schwere Stein, den sie darin hielt, krachte gegen die Stirn des Mannes.
Lisa wusste, wie wichtig es war, eine wirklich massive Hiebwaffe zu benutzen, gerade, wenn man nicht so gut ausholen konnte oder wenn das Ziel abtauchen konnte. Mit einem schweren Gegenstand tat man sich da viel leichter. Einmal hatte sie nur einen Kieselstein zur Hand gehabt und alles hatte in einer blutigen Sauerei geendet. Ein guter, schwerer Stein erledigte die Arbeit praktisch von selbst.
Es knackte, als er gegen die Schläfe des Mannes schlug. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
Er schloss seine Augen nicht, kämpfte nicht, sondern versank einfach. Leb wohl, Vergewaltiger. Nein: Stirb wohl.
Viel zu schnell war er weg. Lisa tröstete sich mit dem Gedanken, dass er unter Wasser noch ein wenig weiterlebte, bis die Dunkelheit ihn ausfüllte wie das kalte Wasser, das ihm in Mund und Nase drang. Bald, sehr bald, würde sein ganzer Körper so kalt sein wie der Fluss. Ein schöner, ein absoluter Tod.
Da kam ihr ein schrecklicher Gedanke, und das Lächeln schwand jäh aus ihrem Gesicht. Was, wenn der Alte untergetaucht war und woanders ans Ufer schwamm? Unsinn, seine Jacke trieb ja noch an der Oberfläche. Da musste er drinhängen.
Außerdem war das nicht Rambo. Ein 70-jähriger Penner täuscht nicht seinen Tod vor und atmet unter Wasser durch ein Bambusrohr, bis seine Feinde weg sind.
Gemächlich schritt sie neben der Jacke her. Den Stein hatte sie noch in der Hand, sie würde ihn ganz woanders wegwerfen, auf keinen Fall hier. Jetzt tauchte auch der Körper wieder auf. Er ploppte nicht hoch, wie das in Filmen zu sehen war, sondern trieb gemächlich unter der Oberfläche weiter.
In einer plötzlichen Bewegung, die Lisa erschreckte, drehte er sich im Wasser und das Gesicht erschien an der Oberfläche. Wahrscheinlich sind irgendwelche Lufttaschen in seiner Kleidung, die ihm Auftrieb geben, oder er hat eine leere Flasche in der Jacke.
Es wirkte, als würde der Mann den Himmel betrachten wollen. Hier sahen seine weit aufgerissenen Augen nur die Unterseite der Brücke, aber schön war es trotzdem.
Sie konnte nur hoffen, dass er nicht in die stärkere Strömung in der Mitte des Flusses geriet. Stirnrunzelnd betrachtete Lisa, wie die Jacke sich um den grauhaarigen Hinterkopf drehte.
Die Zeit hatte genügt. Als sie aufsah, war er da.