Die Prinzessin der Lilien - M.P. Anderfeldt - E-Book

Die Prinzessin der Lilien E-Book

M.P. Anderfeldt

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Beschreibung

Willkommen in der Hölle. Als sich die 18-jährige Japanerin Miyako 1945 mit 200 weiteren Mädchen freiwillig zum Dienst als Hilfskrankenschwester im Okinawa Militärhospital meldet, hat sie keine Ahnung, was sie erwartet. Die Amerikaner kommen, mit unzähligen Schiffen, Panzern und Soldaten, doch die japanischen Verteidiger sind wild entschlossen, die Insel nicht dem Feind zu überlassen. Die Mädchen geraten in die verlustreichste und vielleicht grausamste Schlacht des zweiten Weltkriegs. Eine wahre Geschichte.

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2014

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M.P. Anderfeldt

Die Prinzessin der Lilien

Die Geschichte der Schülerinnen von Himeyuri

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Himeyuri

Verzeichnis der wichtigsten Personen

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Teil I

1

Otohime und der Drache

2

3

4

Otohime in der Unterwelt

5

6

7

8

9

Otohime und Izanami

10

11

Teil II

Kikuko

Yoshiko

Miyako

Otohime und der Angler

Aiko

Kikuko

Yoshiko

Miyako

Otohime und Ebisu

Kikuko

Aiko

Yoshiko

Miyako

Otohime und Orochi

Kikuko

Setsu

Toyoko

Miyako

Tsubota

Masako

Otohime und die weiße Lilie

Nachwort

Okinawa

Über den Autor

Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Meine wichtigsten Quellen

Leseprobe »Nur zehn Tage«

Impressum neobooks

Himeyuri

Die private Mädchen-Oberschule von Okinawa wurde im Jahr 1900 gegründet. 1907 erschien zum ersten Mal die SchülerzeitschriftOtohime(nach der gleichnamigen mythologischen Prinzessin).

1916 wurde eine allgemeinbildende Volksschule neben die Mädchen-Oberschule verlegt. Dort gab es eine Informationsbroschüre mit dem NamenShirayuri(»weiße Lilie«). 1927 erschien die erste Ausgabe der neuen SchülerzeitungHimeyuri(»Lilienprinzessin«).

Um 1940 hatte sich für beide Institute der Name Himeyuri-Schule etabliert. Sie galten als Elite-Schulen für die behütet aufwachsenden Töchter reicher und angesehener Familien.

Die meisten Schülerinnen wollten später Lehrerinnen werden. In einer Zeit, als die die meisten Kinder nur wenige Jahre Schulbildung genossen, waren Schulen, welche Mädchen bis etwa zum Alter von 19 Jahren unterrichteten, absolute Ausnahmeerscheinungen.

Verzeichnis der wichtigsten Personen

Miyako- 18-jährige Schülerin der Himeyuri-Oberschule, Protagonistin des 1. Teils. Ihr Vater kommt aus Japan, ihre Mutter aus einem Dorf auf Okinawa.

Kikuko- 19-jährige Schülerin, stammt aus Tokio und lebt erst seit Kurzem auf Okinawa. Ihr Vater hat einen hohen Rang beim Militär, er ist Kapitän eines Kriegsschiffs.

Yoshiko- 18-jährige Schülerin und beste Freundin von Miyako.

Taira- etwa 50-jährige Frau aus Okinawa, die in der Küche des Militärhospitals arbeitet.

Suzuki- einzige Krankenschwester in der Höhle, ca. 30 Jahre alt.

Tomi- 16-jährige Schülerin der Himeyuri-Oberschule, stammt aus dem gleichen Dorf wie Miyakos Mutter.

Otohime- seltener auch Toyotama genannt, mythologische Prinzessin, Tochter des Meeresgottes Ryujin. Sie kann sich in eine Schildkröte verwandeln oder in einenWani(ein riesiges Krokodil)

Japanische Namenszusätze

-san - formelle Namensendung, entspricht etwa dem deutschen »Herr« oder »Frau«

-kun - etwas vertrauliche Namensendung, üblich unter Kollegen und gegenüber Jungen

-chan - Koseform, verwendet gegenüber sehr guten Freundinnen oder bei kleinen Mädchen

-neechan - Koseform, wörtl. »große Schwester«, wird aber nicht nur gegenüber Verwandten benutzt

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Obwohl es erst Februar war, brannte die Sonne schon heiß vom Himmel auf die gut 200 Mädchen, die in Reih und Glied im Schulhof angetreten waren. In den vorderen Reihen standen die älteren Schülerinnen, die stolz ihre strahlend weißen Matrosenuniformen trugen, weiter hinten die jüngeren mit ihren grauen und schwarzen Schuluniformen.

»Ihr wisst«, rief der Direktor mit kräftiger Stimme, »dass der Krieg in eine entscheidende Phase getreten ist. Während die kaiserlichen Truppen unseres geliebten Heimatlandes von Sieg zu Sieg eilen, hat der Feind eine besonders perfide Strategie ergriffen«, er hielt inne und fuhr dann fort: »Anstatt sich unseren Soldaten im Feld der Ehre zu stellen, greift er feige Zivilisten an, tötet Alte, Frauen und Kinder. Zerstört Wohnhäuser, Krankenhäuser und … Schulen.« Er machte er eine kurze Pause, um seinen Zuhörern Gelegenheit zu geben, die Ruinen der Schule hinter ihm zu betrachten. Jedes der Mädchen erinnerte sich noch an den schrecklichen Bombenangriff im Oktober, der neben weiten Teilen der Hauptstadt Naha auch ihre Schule verwüstet hatte. Seitdem fand der Unterricht in behelfsmäßig errichteten Baracken statt.

Soweit man überhaupt noch von Unterricht sprechen konnte, denn immer häufiger wurden die Mädchen in »kriegswichtigen Tätigkeiten« unterrichtet: Sie mussten auf Hausdächer klettern und Eimerketten bilden, um das Feuerlöschen zu üben, sie marschierten über den Schulhof und wieder und wieder wurde ihnen beigebracht, wie man mit dem Speer kämpft oder Handgranaten wirft.

»Aber wir werden den Teufeln zeigen, dass wir sie auch hier schlagen können. Sie werden bald erfahren, was es heißt, sich mit dem göttlichen Japan anzulegen!«

Er blickte in die Runde und fuhr fort: »Ich bin stolz, dass ihr euch bereit erklärt habt, als Hilfskrankenschwestern unsere tapferen Soldaten zu pflegen. Major Nishiyama möchte ein paar Worte an euch richten.«

Der Direktor trat zur Seite und ein Soldat trat ans Rednerpult. Miyako kannte sich mit Rangabzeichen nicht aus, aber sie sah, dass er ein Katana trug und sie wusste, dass nur Offiziere ein Schwert tragen durften. Das hatte ihr Vater ihr erzählt. Der Major war schon älter und mit seiner straffen, perfekt sitzenden Uniform und dem gepflegten, schmalen Schnurrbart glich er den Generälen, die Miyako aus der Zeitung und aus dem Kino kannte. Ein echter Herr, da war sie sich sicher. So ein Mann würde keine Zivilisten angreifen. Nach seinem Sieg würde er die gefangenen Feinde gewiss so großmütig behandeln, dass sie sich für ihre Untaten schämten und zerknirscht um Verzeihung bitten würden.

Sie dachte an Ihren eigenen Vater, der in Birma das japanische Mutterland verteidigte. Hoffentlich ging es ihm gut. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie er das letzte Mal zu Besuch zu Hause war. Sie hatte ihn gefragt, wie lange der Krieg noch dauern würde und er hatte sie ganz komisch angesehen. Dann hatte er sie gebeten, auf ihrer Weltkarte die USA zu suchen und mit Japan zu vergleichen. Sie musste natürlich zugeben, dass Amerika viel größer war. Sie hatte sich geärgert und geantwortet, dass die japanischen Soldaten die besten der Welt seien und noch nie im Kampf besiegt worden waren. Ihr Vater hatte sie spöttisch gefragt, ob sie so etwas in der Schule lernten. Im Übrigen, fügte er hinzu, fürchte er weniger die amerikanischen Soldaten als vielmehr die amerikanische Industrie. Kein Land könne sich mit der Macht der amerikanischen Industrie messen. Außerdem fühlte er sich nicht als bester Soldat der Welt und sei froh, dass er einen Posten als Zahlmeister bekommen hätte. Ein wenig schämte sich Miyako für den Zynismus ihres Vaters. Zum Glück ahnte niemand, wie er zu Hause sprach.

Sie sah zu Kikuko, die in der ersten Reihe stand. Ihr Vater war ganz anders. Er war Kapitän auf einem Kriegsschiff und Miyako hatte ihn einmal in seiner weißen Uniform gesehen. Groß war er gewesen, braun gebrannt und er hatte sich mit einer unglaublich selbstsicheren Geschmeidigkeit bewegt. Miyako konnte sich gut vorstellen, wie er mitten in einem schweren Sturm unbewegt auf der Brücke seines Schiffs stand und mit ruhiger Stimme Befehle gab. Wie stolz Kikuko neben ihm spaziert war, als er zu Besuch auf Okinawa gewesen war. Sicher hatte sie die ehrfürchtigen Blicke genossen. Vielleicht, dachte Miyako resigniert, vielleicht hat Kikuko die Schneidigkeit auch geerbt – wie sie da stand, so völlig ruhig und kein einziger Schweißtropfen sich an ihrem Nacken bildete … Ihr Vater war eben nur ein Kaufmann …

Die Stimme des Offiziers holt Miyako zurück in die Gegenwart. »Mädchen von Okinawa! Euer Direktor hat mir berichtet, dass ihr euch freiwillig für diesen Dienst gemeldet habt. Der Feind kann uns nichts anhaben, solange wir fest zusammenstehen. Unsere Truppen haben die schöne Insel Okinawa zu einer uneinnehmbaren Festung ausgebaut. An diesen Felsen werden die Amerikaner zugrunde gehen. Lang lebe der Kaiser! Lang lebe Japan!«

Daraufhin trat er zurück und Soldaten im Hintergrund, die Miyako nicht sehen konnte, riefen: »Banzai! Banzai! Banzai!«

Die Mädchen stimmten mit ein, teils unsicher, teils begeistert. Beim dritten Banzai jubelte Miyako auch mit und warf ihre Arme nach oben. Jetzt bin ich schon fast ein richtiger Soldat, dachte sie lächelnd.

Teil I

1

Noch bevor sie etwas sah, roch sie die Mischung aus Schweiß, Blut, Erbrochenem, Urin und Fäkalien. Keine fünf Schritte vom Eingang entfernt war die Luft schon zum Schneiden dick. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen derartigen Gestank erlebt. Nur langsam gewöhnten sich Miyakos Augen an die Dunkelheit in der Höhle – während draußen die Sonne hoch am Himmel stand und die Augen vor Helligkeit schmerzten, war im Innern alles in braunes Zwielicht getaucht.

Dieser nur provisorisch aus dem Felsen geschlagene Grotte entsprach nicht dem, was Miyako sich vorgestellt hatte, als sie sich als Hilfskrankenschwester für das »Okinawa Militärhospital« gemeldet hatte. Der Raum war Teil eines Komplexes natürlicher und künstlicher Höhlen. Es war geplant gewesen, sie im Innern miteinander zu verbinden, dann hätte die Luft zirkulieren können, aber die Zeit hatte nicht ausgereicht. Zu schnell waren die Amerikaner da gewesen und die Arbeiter wurden anderswo gebraucht, um Befestigungen auszuheben. So stand die Luft in der Höhle und es stank schon wenige Schritte vom Eingang entfernt unerträglich. Miyako atmete tief durch. Natürlich musste sie erst einmal husten.

»Daran wirst du dich gewöhnen, Kleine!« Miyako erschrak, als sie direkt neben sich einen Mann auf einer Liege erblickte. Er trug die Uniform der kaiserlichen Truppen und grinste sie frech durch seine Zahnlücken an.

Erschrocken wich sie zurück und trat dabei auf die Hand eines anderen Mannes, der zusammengesunken auf dem Boden saß.

»Pass doch auf«, rief er ärgerlich. Miyako entschuldigte sich sofort mit einer tiefen Verbeugung, doch der Mann sah demonstrativ weg. Um seine Stirn war ein Verband gewickelt, der eines seiner Augen bedeckte. Auch er trug die braune Uniform.

Der erste Soldat winkte ab: »Nimm den nicht ernst, Kleine. Sag mal, wo kommst du denn her?«

Miyako schlug die Augen nieder. Sie war es nicht gewöhnt, dass ein Mann sie ansprach – und dann noch in einem derart vertraulichen Ton. Mit fester Stimme antwortete sie: »Wir haben die Ehre, als Hilfskrankenschwestern von der Himeyuri Oberschule auszuhelfen.«

»Dachte ich mir, dass du so eine bist. Na dann: Willkommen, Lilienprinzessin.« Wieder lachte der Mann.

»Willkommen in der Hölle«, rief ein anderer Mann, den Miyako nicht sehen konnte, weil es zu dunkel war. Diesmal lachte niemand.

Da sie nicht wusste, was sie tun sollte, verbeugte sie sich und hastete weiter. Überall lagen und saßen verwundete Soldaten, die meisten still, einige wimmerten vor sich hin. Vorsichtig und unter vielen Verbeugungen stieg sie über sie hinweg und bahnte sich ihren Weg nach hinten.

Obwohl hin und wieder eine Kerosinlampe an der Decke hing und schummriges Licht verbreitete, konnte sie kaum die Gesichter der Männer ausmachen. Sie spürte die Blicke auf sich ruhen und so mancher machte eine Bemerkung, von der sie genug verstand, um sie lieber zu überhören. Zwischen den Patienten sah sie andere Mädchen herumschleichen. Im Halbdunkel wirkten sie wie Geister.

Am Ende der Höhle war eine Sperrholztür in einen Seitengang eingepasst. Mit Kreide stand darauf geschrieben: »Chirurgie I«. Zögerlich klopfte Miyako. Als keine Antwort kam, klopfte sie nochmals, diesmal energischer.

Jemand riss von innen die Tür auf. Es war Schwester Suzuki. »Endlich! Wo hast du nur so lange gesteckt?«

»Ich - es gab einen Luftangriff und …«, stotterte Miyako, doch die Krankenschwester unterbrach sie gleich: »Hier, halt mal fest!« Ungeduldig winkte sie Miyako zu sich.

»Aber – meine Hände sind nicht desinfiziert!«

Die Schwester seufzte und zeigte stumm auf ein Becken mit Wasser und Seife. Schnell wusch Miyako ihre Hände und eilte an die Seite der Schwester.

»Komm schon. Drück das hier herunter.« Suzuki-san drückte auf den Oberschenkel eines jungen Soldaten, der auf dem Operationstisch lag. Ruhig sah der Soldat Miyako an.

Der Arzt verbeugte sich knapp vor dem Liegenden. »Es tut mir sehr leid, wir können nicht mehr Anästhetikum entbehren, als das, was ich Ihnen gegeben habe. Beißen Sie auf das hier.« Er gab dem Soldaten ein mit Stoff umwickeltes Holzstück. Dann holte er eine Säge und hob sie. Der Soldat schluckte und Tränen traten in seine Augen.

So gut sie konnte, hielt Miyako das Bein fest. Sie drückte es unterhalb der Stelle herunter, wo der Arzt sägte. Als sie bemerkte, dass der Soldat sie ansah, fühlte sie sich verpflichtet, nicht die Augen abzuwenden. Im Augenwinkel sah sie die Hin- und Herbewegung der Säge. Der junge Mann biss mit solcher Kraft auf das Holzstück, dass alle Sehnen an seinem Hals hervortraten.

Miyako wünschte ihm, dass er ohnmächtig würde, sie wünschte es ihm so sehr. Immer wieder schloss er seine Augen, doch dann öffnete er sie wieder. Tränen liefen über sein schmutziges, verschwitztes Gesicht. Miyako hielt seinem Blick stand. Wenn er das aushält, kann ich das auch, dachte sie. Noch nie hatte sie einem Mann so lange in die Augen gesehen und noch nie an dieser Stelle berührt. Wenn ein Mädchen aus der Oberschule erwischt worden wäre, wie sie mit einem jungen Mann auch nur sprach, wäre sie sofort von der Schule verwiesen worden.

Miyako dachte an das Vorjahr. Damals schien der Krieg noch fern zu sein und zeigte sich lediglich als Militär in den Straßen und als Siegesmeldungen im Radio. Die Zeitungen waren voll von Fotos jubelnder japanischer Soldaten, im Dschungel, auf Feldern, in Städten. Der Hi no Maru, die japanische Flagge, und der Kyokujitsuki, die Kriegsflagge mit den Sonnenstrahlen, wehten von Türmen, Palästen und Tempeln in weit entfernten Städten, deren Namen sie noch nie gehört hatte.

Wenn ein Kriegsschiff im Hafen oder vor der Küste lag, war das ein großes Ereignis und alle Jungen strömten zum Ufer, um es sich anzusehen. Familien machten dort Picknick und die Väter erklärten ihren Söhnen mit glänzenden Augen die Bewaffnung des Schiffs. Auch die Himeyuri-Schülerinnen hatten einmal im Hafen gestanden und ein Abschiedslied für ein auslaufendes Kriegsschiff gesungen. Das Schiff war über und über mit bunten Fahnen behängt gewesen und die Mädchen hatten den Seeleuten gewinkt, die an Deck standen.

Aber der Krieg, das war etwas, das weit weg passierte. Darum waren auch alle so überrascht, als letztes Jahr im Oktober auf einmal riesige amerikanische Bomber hoch am Himmel aufgetaucht waren und Naha und andere Städte verwüstet hatten.

Irgendwann spürte sie, dass das Bein sich gelöst hatte.

»Da hinein.« Die Schwester zeigte auf einen Metallcontainer in einer Ecke des Raums. Miyako nahm das Bein, wobei sie darauf achtete, dass der Soldat es nicht zu Gesicht bekam. Es war noch ganz warm und überraschend leicht. Konnte man einen Menschen auseinandernehmen wie eine Puppe? Ein schrecklicher Gedanke. Sie öffnete den Deckel der Kiste. Drinnen lagen unzählige Gliedmaßen und unförmige, nass glänzende Gedärme. Im Halbschatten wirkte es, als bewegten sich die Körperteile und die Hände sahen aus, als flehten sie um Hilfe. Miyako ließ erschrocken den Deckel los und er fiel mit einem lauten Knall zu. Der Arzt taxierte sie einen Moment, während die Krankenschwester die Wunde versorgte. Sicher wollte es sich vergewissern, ob die Schülerin Ärger machen würde. Miyako verbeugte sich entschuldigend. Nach wenigen Augenblicken wandte er sich ab. Schwester Suzuki tupfte seine Stirn mit einem Tuch ab.

Miyako stand eine Weile herum und überlegte, was sie tun sollte. Alles war ganz anders, als sie es sich während ihrer kurzen Ausbildung zur Hilfskrankenschwester vorgestellt hatte.

»Jetzt hier.« Schwester Suzuki deutete auf das andere Bein des jungen Soldaten. Miyakos Augen weiteten sich vor Schreck. Sie sollten ihm noch ein Bein abnehmen? Ruhig sah Suzuki-san sie an und wartete. Ihre Augen wirkten müde. War sie etwa die einzige Krankenschwester hier?

Miyako tat, wie ihr befohlen war, und drückte das Bein herunter, damit der Arzt es sauber durchsägen konnte. Der Soldat wand sich vor Schmerzen hin und her und biss so fest auf das Holzstück, dass es knirschte. Diesmal wagte sie nicht, den jungen Mann anzusehen. Welchen Trost hätte sie auch spenden können? Es war so schrecklich, wie man ihn auseinander sägte, ein Mensch war doch kein Baum. Machte das der Krieg mit den Menschen? Sie blickte zur Seite, damit niemand ihre Tränen sah.

Willkommen in der Hölle, dachte Miyako und schloss erschöpft ihre Augen.

Otohime und der Drache

Als Prinzessin Otohime den Thronsaal betrat, bemerkte sie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Statt ihres Vater Ryujin, dem König des Meeres, ringelte sich ein riesiger Drache um den Korallenthron. Natürlich kannte Otohime die Drachengestalt ihres Vaters, doch wunderte sie sich, sie hier zu sehen.

»Otosama. Mein Vater«, begrüßte sie ihn und verbeugte sich tief. Das Monstrum sah sie unverwandt an. Seine groben Schuppen rieben an einer Verzierung des Throns und feiner Korallenstaub bildete eine glitzernde Wolke im Wasser.

Im Augenwinkel sah die Prinzessin Kurage, den treuen Berater ihres Vaters, auf sich zukommen. Er verbeugte sich. »Otohime … Prinzessin Toyotama, welch eine Freude, Euch zu sehen.«

Die Prinzessin lächelte. »Kurage-sensei.«

»Erweist mir die Ehre und begleitet mich für einen Moment. Ich möchte gerne mit Euch sprechen.«

Otohime nickte, verbeugte sich nochmals vor dem Drachen, der sie mit seinen tellergroßen Augen anglotzte, und folgte Kurage.

Als sie durch den Palast gingen, verbeugten sich vor den beiden immer wieder ehrfurchtsvoll Soldaten und Bedienstete. Viele kannte Otohime schon seit ihrer Kindheit und begrüßte sie mit Namen. Wenn die schöne Tochter ihres Königs zu Besuch war, wurden meist ausgelassene Feste veranstaltet, die mehrere Wochen dauern konnten. Aber diesmal schien alles anders zu sein. Gerne hätte sich die Prinzessin mit ihren alten Bekannten unterhalten, doch ihr Führer schien in Eile zu sein.

Sie erreichten einen kleinen Raum. Kurage ließ der Prinzessin den Vortritt und verschloss die Tür hinter den beiden.

»Prinzessin Toyotama, ich bin untröstlich, dass Euch kein gebührender Empfang zuteil wurde. Aber, Ihr habt ja selbst gesehen …«

»Mein Vater – was ist mit ihm?«

»Wir wissen es nicht. Er war an der Oberfläche und kam sehr erzürnt zurück. Er nahm seine Drachengestalt an und hat sich seitdem nicht wieder zurückverwandelt. Wir haben die besten Ärzte und Weisen gerufen, doch keiner konnte sich einen Reim darauf machen.«

»Besteht Gefahr?«

»Es gibt Weise, die glauben, er könne verlernen, seine andere Gestalt anzunehmen.«

»Dann bliebe er für immer ein Drache?«

»Wir wissen es nicht, aber es steht zu befürchten.«

»Was kann ich für ihn tun?«

»Prinzessin, ich hoffte, dass Ihr das fragen würdet. Wir sind ratlos, aber einige der Weisen glauben zu wissen, wer eine Antwort haben könnte.«

»Ich muss ihn finden. Wo ist er?«

»Es ist … Izanami. Und wo sie ist, wisst Ihr.«

»Im Yomi, dem Reich der Schatten«, sagte Otohime tonlos.

Kurage nickte. »Wenn jemand die Antwort kennt, dann sie. Aber niemand kann dorthin gelangen und zurückkehren.«

»Ihr vergesst, wen ihr vor euch habt, Diener«, entgegnete Otohime kalt und blickte ihn hochmütig an.

»Prinzessin, ich vergesse keinen Moment, wer Ihr seid, leuchtendes Juwel des Meeres, geliebte Tochter und größter Stolz des Drachenkönigs, meines ehrwürdigen Gebieters. Aber diese Aufgabe ist zu groß. Das könnt Ihr nicht wagen – nicht allein. Es muss eine andere Möglichkeit geben …«

»Überlasst das nur mir.« Schwungvoll drehte sich die Prinzessin um und verließ den Raum. Mit wehendem rotem Umhang schritt sie so eilig durch den Palast, dass die Diener alle Mühe hatten, die großen, zweiflügligen Tore für sie zu öffnen.

Kurage hatte sie nicht mehr so wütend gesehen seit … ja, seit sie als Kind einmal nicht an einem großen Fest teilnehmen durfte, weil ihr Vater sie ins Bett schicken wollte. Er lächelte beim Gedanken an das trotzige Mädchen. Eigentlich hatte sich Otohime gar nicht sehr verändert. Vielleicht war das ja auch gut so.

Wenig später entfernte sich eine Schildkröte mit kräftigen Zügen vom rot und weiß leuchtenden Palast des Königs Ryujin und tauchte ein in die Dunkelheit der Tiefe.

Kurage stand vor dem Schloss und sagte laut: »Viel Glück, Prinzessin.« Als hätte sie es gehört, wandte die Schildkröte den Kopf und sah ihn aus uralten, jungen Augen an. Kurage verbeugte sich tief und fragte sich, ob er Otohime jemals wieder sähe.

2

Die Küche war Taira-sans Reich. Die 50-jährige Matrone sprach mit einem breiten Okinawa-Akzent und schien sich nicht daran zu stören, wenn die Ärzte und Offiziere deswegen die Nase rümpften.

Miyako liebte den Akzent, er erinnerte sie an ihre Mutter und manchmal, wenn sie alleine waren, nannte das Mädchen sie »Teera-san«, in der ursprünglichen, nicht-japanisierten Aussprache des Namens. Taira-san tat dann immer so, als wäre sie wütend und schwang drohend den Kochlöffel. Insgeheim, das wusste Miyako, freute sie sich aber und nannte sie dann »Naaku«.