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Rosamunde Pilcher

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Beschreibung

«Rosamunde Pilchers große Stärke ist es, Figuren zu schaffen, die einem wirklich ans Herz wachsen.» (Daily Express) Rosamunde Pilcher begeistert uns mit ihren gefühlvollen Romanen – und mit ihren Erzählungen, die die hinreißenden Landschaften Cornwalls und Schottlands zum Greifen nah erscheinen lassen. Warm, liebevoll und mit einem unbestechlichen Sinn für feinen Humor bringt uns die Autorin in den hier versammelten Bänden «Das blaue Zimmer» und «Blumen im Regen» die heiteren und dunklen Stunden ihrer Heldinnen und Helden nahe. Alle Erzählungen der beliebten Autorin aus Großbritannien.

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Seitenzahl: 795

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Rosamunde Pilcher

Alle Erzählungen

Das blaue Zimmer • Blumen im Regen

Aus dem Englischen von Margarete Längsfeld, Ingrid Altrichter und Dorothee Asendorf

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

DAS BLAUE ZIMMERTobyEin Tag zu Hause«Spanish Ladies»Miss Camerons WeihnachtsfestTee mit dem ProfessorAmitaDas blaue ZimmerGilbertDas VorweihnachtsgeschenkDie weißen VögelDer BaumDas Haus auf dem HügelEin unvergesslicher AbendLallaBLUMEN IM REGENDas PuppenhausRückblick und AusblickBlumen im RegenLiebe im SpielChristabelDer BrombeertagDas rote KleidEin Mädchen, das ich früher kannteDen Wind herbeipfeifenDie WasserscheideRingelblumengartenWochenendeEin SchneespaziergangCousine DorothyAbschiedsmorgenDie SchlittschuheCopyright der Erzählungen
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DAS BLAUE ZIMMER

Aus dem Englischen von Margarete Längsfeld und Ingrid Altrichter

[zur Inhaltsübersicht]

Toby

An einem kalten Frühlingstag kurz vor Ostern trat Jemmy Todd, der Briefträger, in die Küche der Hardings, legte ihnen die Morgenpost auf den Frühstückstisch und teilte ihnen mit, dass ihr Nachbar, Mr. Sawcombe, am frühen Morgen an einem Herzinfarkt gestorben war.

Vier Hardings saßen am Tisch. Toby, acht Jahre alt, aß seine Cornflakes. Als er nun von Mr. Sawcombes Tod hörte, konnte er den Mundvoll Cornflakes, teils durchweicht, teils knusprig, nicht herunterbringen, weil er das Kauen vergessen hatte und sich zudem ein Kloß in seiner Kehle bildete, der ihm das Schlucken unmöglich machte.

Nur gut, dass die übrige Familie sich ebenso erschüttert und sprachlos zeigte. Sein Vater, der fürs Büro angezogen war und gerade aufstehen und zur Arbeit gehen wollte, stellte seine Kaffeetasse hin, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah Jemmy an.

«Bill Sawcombe ist tot? Wann hast du es erfahren?»

«Der Pfarrer hat’s mir gleich erzählt, gerade als ich mit meiner Runde anfing. Hab ihn getroffen, wie er aus der Kirche kam.»

Toby sah seine Mutter an, deren Augen von Tränen glänzten. «Ach herrje.» Er konnte es nicht ertragen, sie weinen zu sehen. Er hatte sie schon einmal weinen sehen, als ihr alter Hund eingeschläfert werden musste, und da war er tagelang das Gefühl nicht losgeworden, dass seine Welt in Stücke brach. «Die arme Mrs. Sawcombe. Wie schrecklich für sie.»

«Er hatte vor ein paar Jahren schon mal einen Herzinfarkt, wie ihr wisst», sagte Jemmy.

«Aber er hat es überstanden. Und es ging ihm so gut; er hatte Freude an seinem Garten und genoss es, Zeit für sich zu haben, nachdem er all die Jahre auf dem Hof geschuftet hatte.»

Vicky, neunzehn Jahre alt, fand die Sprache wieder. «Ich halt’s nicht aus. Ich glaub, ich halt’s einfach nicht aus.»

Vicky war über die Ostertage nach Hause gekommen. Sie arbeitete in London, wo sie sich mit zwei anderen Mädchen eine Wohnung teilte. In den Ferien zog Vicky sich zum Frühstück nie an, sie kam im Bademantel herunter, aus weißem Frottierstoff mit blauen Streifen. Die Streifen waren von demselben Blau wie Vickys Augen; sie hatte lange helle Haare, und manchmal sah sie sehr hübsch aus und manchmal sehr hässlich. Jetzt sah sie hässlich aus. Kummer machte sie hässlich; dann zogen sich ihre Mundwinkel nach unten, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, was die spitzen Konturen ihres schmalen, knochigen Gesichts noch betonte. Der Vater sagte immer zu Vicky, sie sei viel zu dünn, aber da sie aß wie ein Scheunendrescher, konnte ihr niemand etwas vorwerfen, höchstens Gefräßigkeit.

«Er war so nett. Er wird uns fehlen.» Die Mutter sah Toby an, der immer noch mit vollem Mund dasaß. Sie wusste – alle wussten –, dass Mr. Sawcombe Tobys bester Freund gewesen war. Sie beugte sich über den Tisch und legte ihre Hand auf die seine. «Wir werden ihn alle vermissen, Toby.»

Toby antwortete nicht. Aber als er Mutters Hand auf seiner spürte, schaffte er es, die Cornflakes vollends herunterzuschlucken. Seine Mutter räumte voller Verständnis die halbleere Schale fort, die vor ihm auf dem Tisch stand.

«Nur gut», sagte Jemmy, «dass Tom den Hof übernimmt. So steht Mrs. Sawcombe jetzt wenigstens nicht allein da.»

Tom war Mr. Sawcombes Enkel, dreiundzwanzig Jahre alt. Toby und Vicky hatten ihn ihr Leben lang gekannt. Früher, als sie viel jünger waren, waren Vicky und Tom zusammen auf Feste gegangen, auf Bälle des Reitervereins und im Sommer ins Gymkhana-Zeltlager. Aber dann besuchte Tom die Landwirtschaftsschule, und Vicky ließ sich zur Sekretärin ausbilden und ging nach London, und jetzt hatten sie sich anscheinend nicht mehr viel zu sagen.

Toby fand das schade. Vicky lernte eine Menge neue Freunde kennen, die sie manchmal mit nach Hause brachte. Aber keinen fand Toby so nett wie Tom Sawcombe. Einmal war einer, Philip hieß er, gekommen, um mit den Hardings Silvester zu feiern. Er war sehr groß und blond und fuhr einen Wagen, der wie ein glänzender schwarzer Torpedo aussah, doch irgendwie fügte Philip sich nicht recht in ein geordnetes Familienleben, und was noch irritierender war, in seiner Gegenwart fügte Vicky sich auch nicht. Sie sprach anders, sie lachte anders.

Am Silvesterabend veranstalteten sie eine kleine Party, und Tom war auch eingeladen, aber Vicky behandelte ihn von oben herab, und Tom war offenbar sehr gekränkt. Toby fand ihr Benehmen ekelhaft. Er hatte Tom sehr gern und konnte es nicht ertragen, ihn so bedrückt zu sehen, und als der grässliche Abend um war, sagte er es seiner Mutter.

«Ich weiß genau, wie dir zumute ist», erwiderte seine Mutter, «aber wir müssen Vicky zugestehen, dass sie ihr eigenes Leben lebt und ihre eigenen Entscheidungen trifft. Sie ist jetzt erwachsen, sie kann sich ihre eigenen Freunde aussuchen, ihre eigenen Fehler machen, ihre eigenen Wege gehen. Das ist in einer Familie ganz normal.»

«Ich will keine Familie mit Vicky, wenn sie so grässlich ist.»

«Das sagst du vielleicht jetzt bloß so, aber sie ist und bleibt deine Schwester.»

«Ich kann Philip nicht ausstehen.»

 

Der unausstehliche Philip verschwand jedoch zum Glück aus Vickys Leben. Sie lud ihn nicht wieder nach Hause ein, und allmählich wurde sein Name in ihren Erzählungen durch andere ersetzt. Vickys Familie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, und alles ging wieder seinen gewohnten Gang, nur nicht für Tom. Seit jenem Abend hatte seine Beziehung zu Vicky einen Knacks bekommen, und Tom kam nicht mehr ins Haus.

«Nein, Mrs. Sawcombe steht gottlob nicht allein da», sagte Mr. Harding. «Tom ist ein braver Kerl.» Er sah auf seine Uhr und stand auf. «Ich muss los. Danke, dass du’s uns gesagt hast, Jemmy.»

«Tut mir leid, dass ich eine traurige Nachricht überbringen musste», erwiderte Jemmy und stieg in seinen kleinen roten Postlieferwagen, um die Neuigkeit in der übrigen Gemeinde zu verbreiten. Tobys Vater fuhr mit dem Auto ins Büro. Vicky ging nach oben, sich anziehen. Toby und seine Mutter blieben allein am Tisch zurück.

Er sah sie an, und sie lächelte, und er sagte: «Ich hab noch nie einen Freund gehabt, der gestorben ist.»

«Früher oder später erlebt das jeder einmal.»

«Er war erst zweiundsechzig. Er hat’s mir vorgestern gesagt. Das ist nicht alt.»

«Ein Herzanfall ist eine komische Sache. Wenigstens war er nicht krank oder gebrechlich. Er hätte es gehasst, bettlägerig und auf seine Familie angewiesen zu sein – allen eine Last. Wenn jemand stirbt, Toby, musst du an die guten Dinge denken, dich an die schönen Zeiten erinnern und dafür dankbar sein.»

«Ich bin nicht dankbar, dass Mr. Sawcombe tot ist.»

«Der Tod ist ein Teil des Lebens.»

«Er war erst zweiundsechzig.»

«Möchtest du Eier mit Speck?»

«Will ich nicht.»

«Was möchtest du denn?»

«Weiß ich nicht.»

«Magst du nicht ins Dorf gehen und David fragen, ob er mit dir spielen will?» David Harker war Tobys Ferienfreund. Sein Vater war der Wirt der Dorfkneipe, und manchmal bekam Toby eine Brause oder eine Packung Chips geschenkt.

Toby überlegte. Es war vielleicht besser als nichts. «Ist gut.» Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Er hatte ein schrecklich beklemmendes Gefühl in der Brust, als hätte jemand sein Herz verwundet.

«… und sei nicht zu traurig wegen Mr. Sawcombe. Er würde nicht wollen, dass du traurig bist.»

 

Er ging aus dem Haus und den Feldweg entlang. Zwischen dem Weg und der Kuhweide, die zu Mr. Sawcombes Bauernhof gehörte, lag eine kleine Koppel, auf der Vicky früher ihr Pony gehalten hatte. Aber das Pony gab es längst nicht mehr, und Tobys Vater hatte Mr. Sawcombe das Weideland für Mrs. Sawcombes vier Jacob-Mutterschafe verpachtet. Sie waren ihre Lieblinge, gehörnt und gefleckt, und hatten altmodische Namen wie Daisy oder Emily. An einem kalten Morgen Ende Oktober war Toby hergekommen, um die Schafe zu sehen, und hatte mitten unter ihnen einen mächtigen gehörnten Widder angetroffen. Der Widder war eine Weile geblieben und dann von seinem Besitzer würdelos im Laderaum eines ramponierten Lieferwagens nach Hause verfrachtet worden.

Aber er hatte seine Pflicht getan. Schon waren drei Lämmerzwillingspaare geboren, und nur Daisy wartete noch auf ihre Niederkunft. Toby lehnte sich über den Zaun und rief nach ihr. Sie kam langsam, würdevoll, liebkoste mit ihrer edlen Nase seine Hand und gestattete ihm, ihr den wolligen Schädel zwischen den stolzen, gebogenen Hörnern zu kraulen.

Toby besah sie mit Kennerblick, so wie Tom sie zu begutachten pflegte. Sie war riesenhaft; das lange, weiche Vlies ließ den Leib noch massiger wirken.

«Kriegst du heute deine Zwillinge?», fragte er sie.

Wenn Daisy auch Zwillinge kriegt, hatte Mr. Sawcombe erst vorige Tage gesagt, bekommen wir eine Lammung von zweihundert Prozent, Toby. Zweihundert Prozent. Das ist das Beste, was ein Schafzüchter verlangen kann. Es würde mich freuen. Für Mrs. Sawcombe würde es mich freuen.

Es war unvorstellbar, dass er nie mehr mit Mr. Sawcombe sprechen würde. Unvorstellbar, dass er tot war, dass er einfach nicht da war. Viele Menschen waren gestorben, aber noch keiner, der Toby so nahestand wie Mr. Sawcombe. Tobys Großvater war gestorben, doch das war schon so lange her, dass Toby sich nicht mal mehr an ihn erinnern konnte. Er kannte nur die Fotografie am Bett der Großmutter und die Geschichten, die Granny ihm erzählt hatte. Nach dem Tod seines Großvaters war Granny in dem alten, leeren Haus wohnen geblieben, bis ihr die Arbeit zu viel wurde. Darauf hatte Tobys Vater den hinteren Flügel seines Hauses zu einer Wohnung für Granny umgebaut, und nun wohnte Granny bei den Hardings. Und doch nicht bei ihnen, denn es war eine separate Wohnung. Granny hatte ihre eigene Küche und ihr eigenes Bad, sie kochte sich ihr Essen selbst, und man musste an die Tür klopfen, bevor man sie besuchen durfte. Tobys Mutter sagte, es sei wichtig, stets anzuklopfen, denn unangekündigt bei Granny hereinzuplatzen sei eine Verletzung ihrer Privatsphäre.

 

Toby verließ Daisy und ging tief in Gedanken versunken ins Dorf. Er kannte noch mehr Leute, die gestorben waren. Als Mrs. Fletcher starb, die den Dorfladen und das Postamt betrieb, hatte Tobys Mutter einen schwarzen Hut aufgesetzt und war zu Mrs. Fletchers Beerdigung gegangen. Aber Mrs. Fletcher war keine Freundin gewesen. Toby hatte sich vielmehr vor ihr gefürchtet. Sie war so alt, so hässlich; wie eine große schwarze Spinne hatte sie dagehockt und Briefmarken verkauft. Nach Mrs. Fletchers Tod hatte ihre Tochter Olive den Laden übernommen, doch bis an ihr Ende war Mrs. Fletcher dort gewesen, hatte finsteren Blicks mit ihrem Gebiss geschmatzt, Strümpfe gestrickt und mit den kleinen, glänzenden Augen alles beobachtet, was vorging. Nein, er hatte Mrs. Fletcher nicht geliebt. Aber Mr. Sawcombe vermisste er schon jetzt.

Er dachte an David. Geh doch mit David spielen, hatte seine Mutter vorgeschlagen, aber Toby war überhaupt nicht danach, Astronaut zu spielen oder in dem schlammigen Fluss, der am Ende des Gartens hinter der Kneipe floss, nach Fischen zu sehen. Er wollte lieber einen anderen Freund besuchen, Willie Harrell, den Dorftischler. Willie war ein sanfter Mensch, der gemächlich sprach und altmodische Latzhosen und eine unförmige Tweedmütze trug. Toby hatte sich mit ihm angefreundet, als Willie ins Haus kam, um neue Küchenschränke einzubauen, und seither gehörte es an müßigen Ferienvormittagen zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, ins Dorf zu spazieren und in Willies Werkstatt ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

Die Werkstatt war ein magischer Ort, der süßlich roch und mit Hobelspänen übersät war. Hier schreinerte Willie Hofgatter und Scheunentore, Fensterrahmen, Deckenträger und Balken. Und hier fertigte Willie von Zeit zu Zeit auch Särge, denn er war nicht nur der Tischler, sondern auch der Bestattungsunternehmer des Dorfes. In dieser Rolle wurde er ein vollkommen anderer Mensch, mit Melone und schwarzem Anzug, und dann nahm er eine gedämpfte, respektvolle Stimme und eine fromme, betrübte Miene an.

Die Tür seiner Werkstatt stand heute Morgen offen. Sein kleiner Lieferwagen parkte in dem vollgestellten Hof. Toby ging zur Tür und steckte den Kopf hinein. Willie lehnte an seiner Werkbank und trank eine Tasse Tee aus einer Thermoskanne.

«Willie?»

Er sah auf. «Hallo, Toby.» Er lächelte. «Na, was gibt’s?»

«Ich dachte, ich komm einfach mal vorbei.» Ob Willie von Mr. Sawcombe wusste? Er ging zu Willie hinüber, lehnte sich neben ihn an die Werkbank, nahm einen Schraubenzieher und fummelte damit herum.

«Nichts zu tun?»

«Nicht viel.»

«Vor einer Minute hab ich David auf seinem Fahrrad gesehen, mit ’nem Cowboyhut auf. Macht nicht viel Spaß, ganz allein Cowboy zu spielen.»

«Hab keine Lust zum Cowboyspielen.»

«Ich hab heute keine Zeit, mich mit dir zu unterhalten. Hab zu tun. Muss nach elf zu Sawcombes.»

Toby sagte nichts darauf. Er wusste, was das bedeutete. Willie und Mr. Sawcombe waren ihr Leben lang Freunde gewesen, sie waren Kegelbrüder und sonntags zusammen Kirchendiener gewesen. Jetzt musste Willie … Toby scheute sich zu Ende zu denken, was Willie tun würde.

«Willie?»

«Ja?»

«Mr. Sawcombe ist tot.»

«Hab mir gedacht, dass du es weißt», sagte Willie mitfühlend. «Hab’s deinem Gesicht angesehen, gleich als du reingekommen bist.» Er stellte seine Teetasse hin und legte Toby seine Hand auf die Schulter. «Du darfst dich nicht grämen. Ich weiß, du wirst ihn vermissen, aber du darfst dich nicht grämen. Vermissen werden wir ihn alle», fügte er hinzu, und plötzlich hörte er sich unglücklich an.

«Er war mein bester Freund.»

«Ich weiß.» Willie schüttelte den Kopf. «Freundschaft ist was Komisches. Du, ein kleiner Knirps – wie alt bist du? Acht Jahre. Trotzdem seid ihr zwei prima miteinander ausgekommen. Wir dachten immer, das lag daran, dass du so viel dir selbst überlassen warst. Warst ja viel kleiner als Vicky. Kleiner Nachkömmling, haben Bill und ich dich immer genannt. Hardings kleiner Nachkömmling.»

«Willie … machst du einen Sarg für Mr. Sawcombe?»

«Werd ich wohl.»

Toby stellte sich vor, wie Willie den Sarg machte, wie er das Holz auswählte, es glatt hobelte, seinen alten Freund in das warme, duftende Innere bettete, ganz so, als ob er ihn ins Bett legte. Eine seltsam tröstliche Vorstellung war das.

«Willie?»

«Was gibt’s?»

«Ich weiß, wenn einer stirbt, kommt er in einen Sarg und wird auf den Friedhof getragen. Und ich weiß, Leute, die tot sind, gehen zu Gott in den Himmel. Aber was passiert dazwischen?»

«Ah», sagte Willie. Er nahm noch einen Schluck Tee, trank seine Tasse leer. Dann legte er seine Hand auf Tobys Kopf und zauste ihm ein bisschen die Haare. «Vielleicht ist das ein Geheimnis zwischen Gott und mir.»

Toby hatte noch immer keine Lust, mit David zu spielen. Als Willie in seinem kleinen Lieferwagen zu Sawcombes gefahren war, machte sich Toby auf den Nachhauseweg, weil ihm nichts anderes einfiel. Er nahm die Abkürzung über die Schafweide. Die drei Mutterschafe, die schon gelammt hatten, grasten mitten auf der Weide, umgeben von ihren Kindern. Aber Daisy hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, in den Schatten einer großen Waldkiefer, wo sie vor dem Wind und der blendenden Frühlingssonne geschützt war. Und neben ihr stand, winzig wie ein Hundejunges, auf unsicheren Beinen schwankend, ein einziges Lämmchen.

Toby wusste, dass er jetzt nicht in ihre Nähe durfte. Er beobachtete sie ein Weilchen, sah das Baby den riesigen wolligen Leib mit der Schnauze nach Milch absuchen, hörte Daisy sachte mit ihrem Baby sprechen. Er war hin und her gerissen zwischen Freude und Enttäuschung. Freude, weil das Lamm gesund auf die Welt gekommen war, und Enttäuschung, weil es keine Zwillinge waren und Mrs. Sawcombe jetzt nicht auf ihre zweihundertprozentige Lammung kam. Daisy legte sich nach einer Weile schwerfällig nieder. Das Lamm ließ sich neben sie fallen. Toby ging weiter, stieg über den Zaun und trat ins Haus, um es seiner Mutter zu erzählen. «Daisy hat ihr Lamm gekriegt. Das war das letzte.»

Seine Mutter stampfte gerade Kartoffeln fürs Mittagessen. Sie drehte sich am Herd zu Toby um. «Keine Zwillinge?»

«Nein, bloß eins. Es nuckelt und sieht ganz gesund aus. Vielleicht sollten wir es Tom sagen.»

«Warum rufst du ihn nicht an?»

Aber Toby mochte nicht bei Sawcombes anrufen. Vielleicht ging Mrs. Sawcombe an den Apparat, und dann wüsste er nicht, was er sagen sollte.

«Kannst du nicht anrufen?»

«Ach Liebling, im Moment geht es schlecht. Das Mittagessen ist fertig, aber nachher will ich zu Mrs. Sawcombe und ihr einen Blumenstrauß bringen. Dann kann ich es Tom ausrichten lassen.»

«Ich finde, er muss es gleich wissen. Mr. Sawcombe wollte es immer sofort wissen, wenn die Lämmer kamen. Bloß für alle Fälle, hat er gesagt.»

«Schön, wenn dir so viel daran liegt, lass Vicky Tom anrufen.»

«Vicky?»

«Fragen kannst du sie ja. Sie ist oben, bügeln. Und sag ihr, das Essen ist fertig.»

Er ging zu seiner Schwester hinauf. «Vicky, Essen ist fertig, und Daisy hat ihr Lamm gekriegt, und könntest du vielleicht bei Sawcombes anrufen und Tom Bescheid sagen. Er will’s bestimmt gerne wissen.»

Vicky stellte das Bügeleisen mit einem Plumps hin. «Ich ruf Tom Sawcombe nicht an.»

«Warum nicht?»

«Weil ich nicht will, darum. Ruf du ihn doch an.»

Toby wusste, weshalb sie Tom nicht anrufen wollte. Weil sie Silvester so grässlich zu ihm gewesen war und weil er seitdem nicht mehr mit ihr gesprochen hatte.

Toby rümpfte die Nase. «Was soll ich sagen, wenn Mrs. Sawcombe ans Telefon geht?»

«Schön, dann soll Mutter ihn anrufen.»

«Sie hat keine Zeit, weil sie nach dem Essen zu Mrs. Sawcombe geht.»

«Wieso lässt sie es Tom dann nicht ausrichten?»

«Tut sie ja, hat sie gesagt.»

«Ach Toby», sagte Vicky wütend, «wozu dann das ganze Theater?»

Er sagte störrisch: «Mr. Sawcombe wollte es immer am liebsten sofort wissen.»

Vicky zog die Stirne kraus. «Mit Daisy ist doch nichts schiefgegangen?» Sie hatte Daisy genauso gern wie Toby, und sie hörte sich jetzt nicht mehr mürrisch und schnippisch an, sondern sprach mit ihrer normalen, netten Stimme.

«Ich glaube nicht.»

«Dann ist ja alles gut.» Sie schaltete das Bügeleisen ab und stellte es zum Abkühlen aufrecht auf das Bügelbrett. «Gehen wir runter, essen. Ich bin am Verhungern.»

 

Die spärlichen Wolken vom Vormittag verdichteten sich und wurden dunkler, und nach dem Mittagessen begann es zu regnen. Tobys Mutter zog einen Regenmantel an und fuhr in ihrem Auto mit einem großen Strauß Narzissen Mrs. Sawcombe besuchen. Vicky sagte, sie ginge sich die Haare waschen. Toby, der nichts Rechtes anzufangen wusste, zockelte in sein Zimmer, legte sich aufs Bett und fing ein Buch zu lesen an, das er sich aus der Bücherei geholt hatte. Es handelte von Erforschern der Arktis, aber er hatte das erste Kapitel noch nicht zu Ende gelesen, als er vom Geräusch eines Autos unterbrochen wurde, das den Feldweg entlangkam und knirschend auf dem Kies vor der Haustür anhielt. Er legte sein Buch beiseite und ging zum Fenster. Draußen stand Tom Sawcombes alter Landrover, und dann sah er Tom aussteigen.

Er öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. «Hallo.»

Tom guckte nach oben. Toby sah seinen blonden, mit Regentropfen beperlten Lockenkopf, sein braunes Gesicht und die blauen Augen, seine breiten Rugbyschultern unter der geflickten Khakijacke, die er immer zur Arbeit trug. Seine verblassten Blue Jeans steckten in grünen Gummistiefeln.

«Deine Mutter hat mir wegen Daisy Bescheid gesagt. Ich will mal nach ihr sehen. Ist Vicky da?»

Das war verwunderlich. «Sie wäscht sich die Haare.»

«Kannst du sie holen? Ich bin nicht sicher, ob nicht noch ein Lamm unterwegs ist, und dann brauche ich Hilfe.»

«Ich helf dir.»

«Ich weiß, Junge, aber du bist ein bisschen klein, um ein altes Schaf wie Daisy festzuhalten. Geh lieber Vicky holen.»

Toby zog sich vom Fenster zurück und tat wie geheißen.

 

Er fand Vicky im Badezimmer. Sie hielt den Kopf ins Waschbecken und spülte ihre Haare mit der Brause.

«Vicky, Tom ist da.»

Vicky drehte das Wasser ab und richtete sich auf. Ihre hellen Haare tropften auf ihr T-Shirt. Sie schob sie aus dem Gesicht und sah Toby an.

«Tom? Was will er?»

«Er meint, Daisy hat vielleicht noch ein Lamm im Bauch. Er sagt, er braucht Hilfe, und ich bin nicht groß genug, um sie festzuhalten.»

Sie griff sich ein Handtuch und wand es sich um den Kopf. «Wo ist er?»

«Unten.»

Schon war sie aus dem Badezimmer und lief die Treppe hinunter. Tom wartete unten; er war einfach ins Haus gegangen, wie in alten Zeiten, bevor er und Vicky sich zerstritten hatten.

«Wenn noch ein Lamm da ist», meinte Vicky, «ist es dann nicht längst tot?»

«Wir werden sehen. Hol einen Eimer Wasser, sei so lieb, und Seife. Bring alles auf die Weide. Komm, Toby, du gehst mit mir.»

Draußen goss es jetzt in Strömen. Sie gingen den Feldweg entlang, überquerten bei den Rhododendren das hohe, nasse Gras, dann kletterten sie über den Zaun. Durch den Regenschleier konnte Toby Daisy auf sie warten sehen. Sie war auf den Beinen, schützte das Lämmchen und streckte ihnen den Kopf entgegen. Als sie näher kamen, gab sie ein tief aus der Brust kommendes Geräusch von sich, das in keiner Weise an ihr übliches gesundes Blöken erinnerte.

«Ruhig, Mädchen, ruhig.» Tom sprach mit sanfter Stimme. «Ist ja gut.» Er ging geradewegs zu ihr und griff ohne Umschweife nach ihren Hörnern. Sie wehrte sich nicht wie sonst, wenn jemand das machte. Vielleicht wusste sie, dass sie Hilfe brauchte und dass Tom und Toby deswegen gekommen waren. «Ruhig, Mädchen, ganz ruhig.» Tom strich mit einer Hand über das dicke, regennasse Fell auf ihrem Rücken.

Toby sah zu. Er hatte Herzklopfen, nicht so sehr vor Sorge als vor Aufregung. Er hatte keine Angst, denn Tom war ja da, ebenso wie er nie vor etwas Angst gehabt hatte, wenn Mr. Sawcombe neben ihm stand.

«Aber Tom, wenn sie noch ein Lamm im Bauch hat, warum ist es dann nicht herausgekommen?»

«Vielleicht ist es ein großer Bursche. Vielleicht hat es sich nicht in die richtige Lage gebracht.» Tom sah zum Haus hinüber, und Toby folgte seinem Blick. Vicky kam mit ihren langen Storchenbeinen und ihren pitschnassen Haaren zu ihnen, ein überschwappender Eimer zog sie mit seinem Gewicht zur Seite. Als sie bei ihnen angelangt war und den Eimer abgestellt hatte, sagte Tom: «Gut gemacht, Mädchen. Jetzt hältst du sie, Vicky. Fest und doch sachte. Sie wird sich nicht wehren. Krall dich ruhig mit den Fingern in ihr Fell. Und Toby, du nimmst ihre Hörner und sprichst auf sie ein. Beruhigend. Dann weiß sie, dass sie in guten Händen ist.»

Vicky schien drauf und dran, in Tränen auszubrechen. Sie kniete sich in den Schlamm, legte die Arme um Daisy und drückte ihre Wange an Daisys weiche Wolle. «Oh, arme Daisy. Du musst ganz tapfer sein. Alles wird gut.»

Tom zog sich aus. Jacke, Hemd, das weiße T-Shirt. Nackt bis zur Taille, seifte er sich Hände und Arme ein.

«So», sagte er. «Jetzt wollen wir mal sehen, was da los ist.»

Toby klammerte sich an Daisys Hörner und hätte am liebsten die Augen zugemacht. Aber er tat es nicht. Sprich auf sie ein, hatte Tom gesagt. Beruhigend. «Ruhig, ruhig», sagte Toby zu Daisy, weil er Tom das zu ihr hatte sagen hören und ihm nichts anderes einfiel. «Ruhig, Daisy, Schätzchen.» Dies war eine Geburt. Das ewige Wunder, hatte Mr. Sawcombe es genannt. Dies war der Beginn des Lebens, und er, Toby, half dabei.

Er hörte Tom sprechen. «Weiter so. Weiter so … keine Bange, altes Mädchen.»

Daisy gab aus Unbehagen und Unmut ein einziges Stöhnen von sich, und dann sagte Tom: «Da ist er! Ein Pfundskerl, und er lebt.»

Und da war es, das kleine Geschöpf, das die ganze Mühe verursacht hatte. Ein weißer Widder mit schwarzen Flecken. Blutbeschmiert lag er auf der Seite, aber es war ein kräftiges, gesundes Lamm. Toby ließ Daisys Hörner los, und Vicky lockerte ihren Griff. Erleichtert machte sich Daisy an die Begutachtung des Neuankömmlings. Sie stieß einen leisen, mütterlichen Laut aus und beugte sich, um das Neugeborene zu lecken. Nach einer kleinen Weile stupste sie es sachte mit ihrer Nase, und es dauerte nicht lange, da rührte es sich, hob den Kopf und kam erstaunlicherweise wackelnd auf seine langen, unsicheren Beine. Sie leckte es abermals, erkannte es als ihres und nahm es liebevoll und fürsorglich in ihre Obhut. Das Lämmchen machte ein, zwei torkelnde Schritte und fing alsbald, von seiner Mutter ein wenig ermuntert, zu saugen an.

 

Noch lange nachdem Tom sich mit seinem Hemd abgetrocknet und seine Sachen angezogen hatte, blieben sie da, ohne auf den Regen zu achten, und sahen Daisy und ihren Zwillingen zu, gefesselt von dem Wunder, zufrieden mit sich und ihrer vereint vollbrachten Leistung. Vicky und Toby saßen nebeneinander unter der alten Waldkiefer auf der Erde, und Vicky hatte ein Lächeln im Gesicht, wie Tom es seit einer Ewigkeit nicht gesehen hatte.

Sie sah Tom an. «Woher wusstest du, dass da noch ein Lamm war?»

«Sie war immer noch sehr unförmig, und sie schien sich nicht besonders wohl zu fühlen. Sie war unruhig.»

Toby sagte: «Mrs. Sawcombe hat eine zweihundertprozentige Lammung erzielt.»

Tom lächelte. «Das stimmt, Toby.»

«Aber warum ist das Lamm nicht von allein gekommen?»

«Schau es dir nur an! Ein großer Bursche mit einem großen Kopf. Aber jetzt geht es ihm gut.» Dann sah er auf Vicky hinunter. «Aber dir wird es nicht gutgehen, wenn du noch länger hier im Regen sitzen bleibst. Du holst dir einen Schnupfen, deine Haare sind ja ganz nass.» Er bückte sich nach dem Eimer, dann reichte er Vicky seine andere Hand. «Komm jetzt.»

Sie nahm seine Hand, und er zog sie auf die Beine. Da standen sie und lächelten sich an.

Er sagte: «Gut, dass wir miteinander reden.»

«Ja», sagte Vicky. «Verzeih.»

«Es war genauso meine Schuld.»

Vicky blickte schüchtern drein. Sie lächelte wieder, wehmütig, ein Lächeln, das die Mundwinkel nach unten bog. «Lass uns nicht wieder streiten, Tom.»

«Mein Großvater sagte immer, das Leben ist zu kurz zum Streiten.»

«Ich habe dir noch nicht gesagt, wie leid es mir tut … dass er … es ist für uns alle ein Verlust. Ich weiß nicht, wie ich es richtig sagen soll.»

«Ist schon gut», sagte Tom. «Manche Dinge muss man nicht aussprechen. Komm jetzt.»

Toby schienen sie vergessen zu haben. Sie schlenderten fort von ihm, über die Weide, Tom hatte den Arm um Vicky gelegt, und Vickys nasser Kopf lehnte an Toms Schulter.

Toby beobachtete die zwei zufrieden. Mr. Sawcombe hätte sich gefreut. Er hätte sich auch über Daisys Zwillinge gefreut. Das zweite Lamm war wirklich ein hübscher Bursche, nicht bloß ein Pfundskerl, wie Tom ihn genannt hatte, sondern mit schöner, ebenmäßiger Zeichnung und einem Paar Hörner, schon sichtbar wie Knospen, in weiche, lockige Wolle gebettet. Wie Mrs. Sawcombe das Lamm wohl nennen würde? Vielleicht Bill. Toby blieb, bis es zu nass und zu kalt wurde, um noch länger herumzustehen. Er kehrte den Schafen den Rücken und machte sich auf den Heimweg.

Seine Mutter kam von ihrem Besuch bei Mrs. Sawcombe zurück und bereitete ihm zum Tee eine üppige Mahlzeit mit Fischstäbchen, Chips und Bohnen, Pflaumenkuchen und Schokoladenplätzchen. Während er kräftig futterte, berichtete er von dem großen Abenteuer mit Daisy. «… und Tom und Vicky sind wieder dicke Freunde», erzählte er ihr.

Nach dem Tee kam Tobys Vater vom Büro nach Hause, und sie sahen sich zusammen im Fernsehen ein Fußballspiel an. Danach ging Toby nach oben in die Badewanne. Er lag in dem heißen, dampfenden Wasser, das nach Fichtennadeln duftete, weil er ein wenig von der Essenz aus Vickys Flasche gemopst hatte, und befand, dass der Tag alles in allem doch nicht ganz so schlimm gewesen war. Und dann beschloss er, seiner Großmutter einen Besuch abzustatten, die er den ganzen Tag nicht gesehen hatte.

Er stieg aus der Wanne, zog seinen Schlafanzug und seinen Bademantel an und ging durch den Flur, der zu ihrer Wohnung führte. Er klopfte an die Tür, sie rief «Herein», und es war, als trete er in eine andere Welt, weil ihre Möbel und Vorhänge und alle ihre Sachen so anders waren. Niemand sonst hatte so viele Fotografien und Nippessachen, und ständig brannte im Kamin ein kleines Kohlenfeuer. Er fand seine Großmutter strickend in einem ausladenden Sessel, und auf ihren Knien hatte sie ein Buch liegen. Sie besaß zwar einen Fernsehapparat, aber ihr lag nicht viel daran. Sie las lieber, und immer wenn Toby an sie dachte, sah er sie in das eine oder andere Buch vertieft. Aber wenn er sie unterbrach, legte sie jedes Mal ein ledernes Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das Buch zu, um Toby ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen.

«Hallo, Toby.»

Sie war schrecklich alt. (Die Großmütter anderer Jungen waren oft recht jung, aber Tobys war sehr alt, weil Tobys Vater, wie Toby, ein Nachkömmling gewesen war.) Und dünn war sie. So dünn, dass es aussah, als könnte sie entzweibrechen, und ihre Hände waren fast durchsichtig, mit dicken Knöcheln, über die sie ihre Ringe nicht bekam, sodass sie sie immerzu trug. Und sie funkelten und sahen richtig flott aus.

«Was hast du heute gemacht?»

Er zog sich einen Hocker heran, setzte sich und berichtete. Er erzählte ihr von Mr. Sawcombe, aber das wusste sie schon. Er erzählte ihr, dass Willie einen Sarg für Mr. Sawcombe schreinerte. Er erzählte ihr, dass er nicht mit David Cowboy gespielt hatte, und er erzählte ihr von Daisys Lamm. Und dann erzählte er ihr von Vicky und Tom.

Granny wirkte hocherfreut. «Das ist das Beste. Sie haben den blöden Streit beigelegt.»

«Meinst du, sie verlieben sich und heiraten?»

«Kann sein, kann auch nicht sein.»

«Warst du verliebt, als du Großpapa geheiratet hast?»

«Ich glaube schon. Es ist so lange her, dass ich es manchmal vergesse.»

«Hast du …» Er zögerte, aber er musste es wissen, und Granny hatte sich noch nie durch eine peinliche Frage in Verlegenheit bringen lassen. «Als er starb … hast du ihn da sehr vermisst?»

«Warum fragst du? Vermisst du Mr. Sawcombe?»

«Ja. Den ganzen Tag. Den ganzen Tag hab ich ihn vermisst.»

«Das gibt sich. Später ist das mit dem Vermissen nicht mehr so schlimm, und dann erinnerst du dich nur an die schönen Zeiten.»

«Ist es dir mit Großpapa so gegangen?»

«Ich glaube schon. Ja.»

«Hat man große Angst, wenn man stirbt?»

«Das weiß ich nicht.» Sie lächelte ihr vertrautes Lächeln, belustigt und spitzbübisch, das so erstaunlich in diesem alten, runzligen Gesicht war. «Ich bin noch nie gestorben.»

«Aber …» Er sah ihr fest in die Augen. Kein Mensch konnte ewig leben. «Aber hast du denn keine Angst?»

Die Großmutter nahm Tobys Hand. «Weißt du», sagte sie, «ich habe mir immer vorgestellt, dass das Leben eines jeden Menschen wie ein Berg ist. Und jeder muss allein auf diesen Berg steigen. Du beginnst im Tal, es ist warm und sonnig, ringsum sind Weiden und Bächlein, Butterblumen und sonst noch allerlei. Das ist deine Kindheit. Und dann fängst du an zu steigen. Allmählich wird der Berg etwas steiler, es geht sich nicht mehr so leicht, aber wenn du hin und wieder stehen bleibst und dich umschaust, ist die wunderbare Aussicht jede Anstrengung wert. Und ganz oben auf dem Berg, wo Schnee und Eis in der Sonne glitzern und alles unglaublich schön ist, das ist der Gipfel, die große Leistung, das Ende des langen Aufstiegs.»

Bei ihr hörte es sich wundervoll an. Voller Liebe zu ihr sagte er: «Ich will nicht, dass du stirbst.»

Die Großmutter lachte. «O mein Liebling, mach dir deswegen keine Sorgen. Ich werde euch allen noch lange zur Last fallen. So, und nun gibt’s für jeden von uns eine Pfefferminzcreme, und dann legen wir zusammen eine Patience, was hältst du davon? Es ist so schön, dass du mich besuchst. Mir war allmählich ein bisschen langweilig, so mit mir allein …»

 

Später sagte er ihr gute Nacht und verließ sie, ging sich die Zähne putzen und dann in sein Zimmer. Er zog die Gardinen zurück. Es hatte zu regnen aufgehört, und im Osten ging der Mond auf. Im Halblicht sah er die Koppel und die Umrisse der Schafe und ihrer Lämmer unter den schützenden Ästen der alten Kiefer versammelt. Er zog seinen Bademantel aus und ging ins Bett. Seine Mutter hatte eine Wärmflasche hineingetan, das war ein Genuss. Er legte sie sich auf den Bauch, lag mit weit offenen Augen im sanften, warmen Dunkel und dachte nach.

Er fand, dass er heute eine Menge gelernt hatte. Über das Leben. Er hatte bei einer Geburt geholfen und, bei Vicky und Tom, den Beginn einer neuen Beziehung beobachtet. Vielleicht würden sie heiraten. Vielleicht auch nicht. Wenn sie heirateten, würden sie Babys bekommen. (Er wusste schon, wie die Babys entstanden, weil Mr. Sawcombe es ihm einmal im Verlauf eines männlichen Gespräches über Viehzucht erklärt hatte.) Und er, Toby, würde dann Onkel.

Und dann der Tod … Der Tod ist ein Teil des Lebens, hatte seine Mutter gesagt. Und Willie hatte gesagt, der Tod sei ein Geheimnis zwischen Gott und ihm. Aber Granny glaubte, der Tod sei der glitzernde, strahlende Gipfel des persönlichen Berges eines jeden Menschen, und das war vielleicht das Beste, das Tröstlichste von allem.

Mr. Sawcombe war auf seinen Berg gestiegen und hatte den Gipfel erreicht. Toby stellte ihn sich vor, wie er triumphierend dort stand. Er trug eine Sonnenbrille, weil der Himmel so hell war, und seinen besten Sonntagsanzug, und vielleicht hielt er eine Fahne in der Hand.

Toby war auf einmal sehr müde. Er schloss die Augen. Eine zweihundertprozentige Lammung. Mr. Sawcombe wäre sehr zufrieden gewesen. Wie schade, dass er Daisys Zwillinge nicht mehr erlebt hatte.

Aber als der Schlaf ihn langsam umfing, lächelte Toby in sich hinein, denn ohne besonderen Grund war er sich plötzlich ganz sicher, dass sein alter Freund, wo immer er jetzt sein mochte, es längst wusste.

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Ein Tag zu Hause

Nach einer Geschäftsreise, die fünf europäische Hauptstädte, sieben Mittagessen mit Direktoren und zahllose auf Flughäfen verbrachte Stunden umfasste, flog James Harner an einem Mittwochnachmittag Anfang April aus Brüssel in Heathrow ein. Natürlich regnete es. Er war am Vorabend erst gegen zwei Uhr ins Bett gekommen, seine pralle Aktenmappe wog schwer wie Blei, und obendrein schien er sich erkältet zu haben.

Robert, der Fahrer der Werbeagentur, holte ihn am Flughafen ab, und Roberts glattrasiertes Gesicht war das erste Erfreuliche, das James an diesem Tag zu sehen bekam. Robert hatte seine Schirmmütze auf, nahm James seinen Koffer ab und sagte, er hoffe, er habe eine angenehme Reise gehabt.

Sie fuhren direkt zum Büro. Nachdem James einen flüchtigen Blick auf seinen Schreibtisch geworfen und seiner Sekretärin den kleinen Flakon zollfreies Parfüm überreicht hatte, der ihr zustand, ging er durch den Flur zu seinem Chef.

«James! Na großartig, komm rein, alter Junge. Wie ist es gelaufen?»

Sir Osborne Baske war nicht nur James’ Vorgesetzter, sondern auch sein alter, hochgeschätzter Freund. Deswegen erübrigten sich förmliche Artigkeiten oder höfliches Geplauder, und binnen einer halben Stunde hatte James ihn mehr oder weniger knapp informiert: Welche Firma Interesse gezeigt, welche sich abwartend verhalten hatte. Das Beste hob er bis zuletzt auf – nämlich die zwei bedeutenden Abschlüsse, die er in der Tasche hatte: eine schwedische Firma, die vorfabrizierte zerlegbare Möbel herstellte, Qualitätsware, aber in der unteren Preisklasse, und ein etablierter dänischer Silberschmiedebetrieb, der vorsichtig in alle Märkte der EG expandierte.

Sir Osborne war mithin begeistert und konnte es nicht erwarten, den übrigen Direktoren die guten Nachrichten mitzuteilen. «Dienstag haben wir Vorstandssitzung. Kannst du bis dahin einen vollständigen Bericht fertig haben? Wenn möglich, bis Freitag. Allerspätestens Montag.»

«Wenn morgen nicht viel los ist, könnte ich ihn Freitagmorgen tippen lassen, und Freitagnachmittag haben ihn alle auf dem Tisch.»

«Hervorragend. Dann können sie ihn sich übers Wochenende zu Gemüte führen, wenn sie nicht Golf spielen. Und …» Er hielt taktvoll inne, während James, den plötzlich ein quälendes Niesen überkam, nach seinem Taschentuch fummelte, geräuschvoll hineinnieste und sich die Nase putzte. «… Hast du dich erkältet, alter Knabe?»

Es hörte sich ängstlich an, so, als ob James ihn schon angesteckt haben könnte. Er hielt nichts von Erkältungen, ebenso wenig wie er Körperfülle, gehaltvolle Geschäftsessen oder Herzanfälle schätzte.

«Ich hab mir scheint’s ’nen Schnupfen eingefangen», gab James zu.

«Hmm.» Der Chef überlegte. «Ich will dir was sagen, bleib doch morgen zu Hause, ja? Du siehst ziemlich fertig aus, und du kannst den Bericht in Ruhe schreiben, ohne dass du dauernd unterbrochen wirst. So hast du auch mehr von Louisa, nachdem du so lange weg warst. Was meinst du?»

James antwortete, es sei eine glänzende Idee, und er meinte es ernst.

«Also abgemacht.» Sir Osborne stand auf und beendete das Gespräch abrupt, bevor noch mehr Bazillen in die sterile Luft seines erlesen ausgestatteten Büros entlassen werden konnten. «Wenn du jetzt losfährst, kannst du vor der schlimmsten Stoßzeit zu Hause sein. Wir sehen uns Freitagmorgen. Und ich an deiner Stelle würde mich vor dem Schnupfen vorsehen. Whisky mit Zitrone, heiß getrunken, als Letztes am Abend. Was Besseres gibt es nicht.»

Als James und Louisa vor vierzehn Jahren heirateten, hatten sie in London in einer Souterrainwohnung in South Kensington gewohnt, aber als Louisa mit dem ersten ihrer beiden Kinder schwanger wurde, hatten sie beschlossen, aufs Land zu ziehen. Mit ein wenig finanzieller Jonglierarbeit war ihnen das gelungen, und James hatte es keine Sekunde bereut. Die einstündige Fahrt täglich zur Arbeit und zurück schien ihm ein geringer Preis für das Refugium des alten roten Ziegelhauses mit dem großen Garten und für die schlichte allabendliche Freude des Nachhausekommens. Das Pendeln, selbst auf den vollgestopften Straßen, schreckte ihn nicht ab. Im Gegenteil, die Stunde im Auto, die er mit sich allein war, war seine Zeit des Abschaltens, wenn er die Probleme des Tages hinter sich ließ.

Wenn er im Winter bei Dunkelheit in seine Zufahrt einbog, sah er durch die Bäume das Licht über seiner Haustür brennen. Im Frühling war der Garten mit Narzissen übersät; im Sommer freute James sich auf den langen, trägen Abend. Duschen, ein Hemd mit offenem Kragen und Espadrilles anziehen, Drinks auf der Terrasse unter den rauchblauen Blüten der Glyzinie, dazu das Gurren der Ringeltauben aus dem Buchenhain am Ende des Gartens.

Die Kinder fuhren mit ihren Rädern über den Rasen und schwangen sich auf die Strickleiter, die von ihrem Baumhaus herunterhing, und am Wochenende war das Grundstück meistens von Freunden bevölkert, Nachbarn oder Flüchtlingen aus London, die ihre Familien und ihre Hunde mitbrachten; alles lümmelte sich mit der Sonntagszeitung in Sesseln oder erging sich in freundschaftlichen Puttingwettkämpfen auf dem Rasen.

Und der Mittelpunkt von alledem war Louisa. Louisa, die James immer wieder in Erstaunen setzte, denn als er sie heiratete, hatte er nicht im Geringsten geahnt, als was für ein Mensch sie sich entpuppen würde. Sanft und anspruchslos hatte sie im Laufe der Jahre einen nahezu unheimlichen Instinkt dafür an den Tag gelegt, was ein Haus behaglich machte. Hätte man ihn gebeten, dies genauer zu erläutern, James hätte passen müssen. Er wusste nur, dass das Haus, obwohl häufig die Spielsachen, Schuhe und Zeichnungen der Kinder herumlagen, ein friedliches, heimeliges Ambiente hatte. Immer waren Blumen da, Lachen erfüllte das Haus, und immer gab es genug zu essen für die unerwarteten Gäste, die beschlossen hatten, zum Abendessen zu bleiben.

Das wahre Wunder aber war, dass all dies so unaufdringlich passierte. James kannte Familien, wo die Frau des Hauses den ganzen Tag mit abgehärmtem Gesicht herumlief, ununterbrochen putzte und aufräumte, sich in die Küche zurückzog und erst zwei Minuten bevor das Essen aufgetragen wurde, wieder zum Vorschein kam, erschöpft und obendrein schlechtgelaunt. Nicht, dass Louisa nicht in ihre Küche ging, aber die Leute schlenderten hinterher, nahmen ihre Drinks oder ihr Strickzeug mit und hatten nichts dagegen, wenn sie ihnen Bohnen zum Schnippeln oder Mayonnaise zum Rühren gab. Die Kinder zockelten zwischen Küche und Garten hin und her, und auch sie halfen Erbsen palen oder aus den Teigresten der Apfelpastete kleine Plätzchen formen.

Manchmal kam James der Gedanke, dass Louisas Leben, verglichen mit seinem, sehr fade sein musste. «Was hast du heute gemacht?», fragte er, wenn er nach Hause kam, aber sie sagte jedes Mal nur: «Nicht viel.»

Es regnete noch, an diesem Nachmittag würde es früh dunkel werden. Er hatte jetzt Henborough erreicht, die letzte Kleinstadt an der Hauptstraße vor der Abzweigung zu ihrem Dorf. Die Ampel zeigte Rot, und er kam vor einem Blumengeschäft zum Stehen. Drinnen sah er Vasen mit roten Tulpen, mit Freesien, Narzissen. Er dachte daran, Louisa Blumen zu kaufen, aber da sprang die Ampel auf Grün, er vergaß die Blumen und fuhr im Verkehrsstrom weiter.

Es war noch hell, als er zwischen den Rhododendronsträuchern die Zufahrt entlangkam. Er fuhr den Wagen in die Garage, stellte den Motor ab, nahm sein Gepäck aus dem Kofferraum und ging durch die Küchentür ins Haus. Rufus, ein Spaniel, der langsam in die Jahre kam, stieß in seinem Korb ein warnendes «Wuff» aus, und James’ Frau blickte vom Küchentisch auf, wo sie eine Tasse Tee trank.

«Liebling!»

Wie schön, so freudig begrüßt zu werden. «Überraschung, Überraschung.» Er stellte seine Aktenmappe hin, Louisa stand auf, sie liefen sich entgegen und verloren sich in einer langen, innigen Umarmung. Er fühlte ihre zarten Rippenknochen durch ihren alten braunen Pullover. Sie duftete köstlich, es erinnerte entfernt an Feuer im Freien.

«Du bist früh dran.»

«Ich bin vor dem Stoßverkehr entwischt.»

«Wie war’s auf dem Festland?»

«Europa existiert noch.» Er hielt sie von sich. «Hier stimmt was nicht.»

«Wieso?»

«Das musst du mir sagen. Keine verlassenen Fahrräder mitten in der Garage, kein aufgeregtes Geplapper, keine Rasselbanden, die durch den Garten flitzen. Keine Kinder.»

«Sie sind in Hamble bei Helen.» Helen war Louisas Schwester. «Das hast du doch gewusst.»

Er hatte es gewusst. Er hatte es schlicht und einfach vergessen.

«Ich dachte, du hättest sie womöglich ermordet und im Komposthaufen verscharrt.»

Sie runzelte die Stirn. «Hast du dich erkältet?»

«Ja. Irgendwo zwischen Oslo und Brüssel muss es mich erwischt haben.»

«Ach du Ärmster.»

«Gar nicht Ärmster. Deswegen muss ich morgen nämlich nicht nach London. Ich bleibe hier, bei meiner Frau, und schreibe meinen EG-Bericht am Esszimmertisch.» Er küsste sie. «Du hast mir gefehlt. Weißt du das? Du hast mir wahrhaftig gefehlt. Unglaublich. Was gibt’s zum Essen?»

«Steaks.»

«Das wird ja immer besser.» Er öffnete seine Aktenmappe und gab Louisa den Parfümflakon (größer als der für seine Sekretärin), empfing ihre Dankesumarmung, dann ging er nach oben, um auszupacken und ein heißes Bad zu nehmen.

 

Als James am nächsten Morgen aufwachte, schien blass die Sonne, und es herrschte eine wunderbare, nur von leisem Vogelgezwitscher gebrochene Stille. Er schlug die Augen auf und sah, dass er allein im Bett war, nur die Mulde in dem anderen Kissen zeugte von Louisas Anwesenheit. Er stellte erstaunt fest, dass er sich nicht erinnern konnte, wann er jemals in der Woche einen Tag frei genommen hatte. In Trägheit schwelgend, kam er sich vor wie ein Schuljunge an einem unerwarteten Ferientag. Er fummelte seine Uhr unter dem Kopfkissen hervor. Es war halb neun. Herrlich. Der heiße Whisky mit Zitrone, den er gestern Abend zu sich genommen hatte, hatte seine Wirkung getan, seine Erkältung war auf dem Rückzug. Er stand auf, rasierte sich, zog sich an, ging nach unten und fand seine Frau in der Küche, wo sie ihren Kaffee trank.

«Wie geht’s dir?», fragte sie.

«Ich fühle mich wie neugeboren. Die Erkältung ist weg.»

Sie ging zum Herd. «Eier mit Speck?»

«Wunderbar.» Er griff nach der Morgenzeitung. Gewöhnlich las er die Morgenzeitung, wenn er abends nach Hause kam. Es war ein nahezu obszöner Luxus, sie in Muße am Frühstückstisch zu lesen. Er überflog den Wirtschaftsteil, den Kricketbericht, schließlich die Schlagzeilen. Louisa räumte die Spülmaschine ein. James sah sie an.

«Räumt Mrs. Brick die Spülmaschine nicht ein?»

Mrs. Brick war die Frau des Installateurs aus dem Dorf, die Louisa bei der Hausarbeit half. Zu den angenehmen Dingen am Samstagmorgen gehörte es, dass Mrs. Brick kam, hinter dem Staubsauger hersauste, die Bodendielen polierte und im Haus den süßen Duft von Bienenwachs verbreitete.

«Mrs. Brick kommt donnerstags nicht. Mittwochs und montags kommt sie auch nicht.»

«Nie?»

«Nie.» Louisa servierte ihm Eier mit Speck und schenkte ihm eine große Tasse schwarzen Kaffee ein. «Ich drehe im Esszimmer die Heizung an. Es ist eiskalt da drin.» Damit ging sie hinaus. Gleich darauf lärmte der Staubsauger durch die Morgenluft. Arbeiten, schien er zu sagen. Arbeiten, arbeiten. James verstand den Hinweis, er begab sich mit seiner Aktenmappe und seinem Taschenrechner ins Esszimmer. Die Morgensonne strahlte durch die hohen Fenster. Er öffnete seine Aktenmappe und breitete den Inhalt um sich aus. Das, dachte er, während er seine Brille aufsetzte, ist das Leben. Keine Störungen, keine Anrufe.

Sogleich klingelte das Telefon. Er hob den Kopf und hörte Louisa drangehen. Nach langer Zeit, wie ihm schien, verkündete ein einzelnes Klingeln, dass das Gespräch beendet war. Der Staubsauger brummte aufs Neue. James machte sich wieder an die Arbeit.

Ein neues Geräusch durchdrang die Morgenstille. Von irgendwo ertönte ein Surren und Schwirren, das James nach einigem Nachdenken als die Waschmaschine identifizierte. Er schrieb: Nordengland. Absolut abgedeckt.

Dann, in dichter Folge, zwei weitere Anrufe. Louisa nahm alle entgegen, aber als es das vierte Mal klingelte, ging sie nicht an den Apparat. James versuchte, das beharrliche Klingeln zu überhören, doch nach einer Weile schob er entnervt seinen Stuhl zurück und stürmte durch die Diele ins Wohnzimmer.

«Ja?»

Eine schüchterne Stimme sagte: «Oh, hallo.»

«Wer spricht da?», schnauzte James.

«Oh, ich glaube, ich muss mich verwählt haben. Ist das Henborough 384?»

«Ja. Hier spricht James Harner.»

«Ich wollte Mrs. Harner sprechen.»

«Ich weiß nicht, wo sie ist.»

«Hier spricht Miss Bell. Es geht um den Blumenschmuck in der Kirche für nächsten Sonntag. Mrs. Harner und ich machen das immer zusammen, und ich wollte sie fragen, ob sie etwas dagegen hat, wenn sie es diesen Sonntag mit Mrs. Sheepfold macht, dann könnte ich es nächste Woche mit der Frau des Pastors machen. Wissen Sie, die Tochter meiner Schwester hat nämlich …»

Es war an der Zeit, den Redeschwall zu bremsen. «Hören Sie, Miss Bell, wenn Sie einen Moment dranbleiben, sehe ich nach, ob ich Louisa finden kann. Legen Sie nicht auf. Bin gleich wieder da …»

Er legte den Hörer hin und ging in die Diele. «Louisa!» Keine Antwort. In die Küche. «Louisa!»

Ein schwacher Ruf drang durch die Hintertür zu ihm. Er ging hinaus und fand seine Frau auf dem Rasen, wo sie, wie ihm schien, die Wäsche eines ganzen Wäschereibetriebes aufhängte. «Was gibt’s?»

«Miss Bell ist am Telefon.» Dann war er abgelenkt und fragte: «Sagen Sie, Mrs. Harner, wie bekommen Sie Ihre Wäsche so weiß?»

Louisa parierte aufs Stichwort: «Oh, ich nehme Persil», erwiderte sie mit der Stimme der Frau in der Fernsehwerbung. «Das wäscht sogar die Unterhosen meines Mannes strahlend rein, und alles duftet so frisch. Was will Miss Bell?»

«Sie sagt irgendwas von der Tochter ihrer Schwester und der Pfarrersfrau. Das Telefon hat den ganzen Morgen ununterbrochen geklingelt.»

«Tut mir leid.»

«Ach was. Aber ich bin verrückt vor Neugierde, warum du so beliebt bist.»

«Der erste Anruf war Helen, um zu sagen, dass die Kinder noch leben. Dann war es der Tierarzt, um Bescheid zu sagen, dass es Zeit für Rufus’ nächste Impfung ist. Und dann hat Elizabeth Thomson gefragt, ob wir nächsten Dienstag mit ihnen essen gehen. Hast du Miss Bell gesagt, dass ich sie zurückrufe?»

«Nein, ich hab ihr gesagt, sie soll dranbleiben. Sie wartet.»

«O James.» Louisa trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab. «Warum hast du das nicht gleich gesagt?» Sie ging ins Haus. James versuchte, ein, zwei Socken aufzuhängen, aber das war eine knifflige Angelegenheit. Er ließ es bleiben und begab sich wieder an seinen provisorischen Schreibtisch.

Er schrieb eine neue Überschrift und unterstrich sie akkurat mit roter Tinte. Es war fast halb elf, und er fragte sich, ob Louisa wohl daran denken würde, ihm eine Tasse Kaffee zu bringen.

 

Gegen Mittag ließ sich das Bedürfnis nach einer Stärkung nicht mehr unterdrücken. Er legte seinen Stift hin, setzte seine Brille ab und lehnte sich zurück. Alles war still. Er stand auf, ging in die Diele, blieb mit gespitzten Ohren am Fuße der Treppe stehen wie ein Hund, der darauf wartet, dass man mit ihm spazieren geht. «Louisa!»

«Hier bin ich.»

«Wo ist hier?»

«Im Kinderbadezimmer.»

James stapfte die Treppe hinauf. Die Tür zum Kinderbadezimmer war zu, und als er sie aufmachte, warnte Louisas Stimme: «Vorsicht.» Also spähte er vorsichtig hinein. Auf dem Boden lagen Schutzplanen, eine Leiter war aufgestellt, und oben stand seine Frau und strich die hölzerne Vorhangleiste. Das Fenster war offen, trotzdem roch es stark nach Farbe. Und es war sehr kalt.

James schauderte. «Was machst du denn da, um Himmels willen?»

«Ich streiche die Vorhangleiste.»

«Das sehe ich. Aber warum? War sie nicht in Ordnung?»

«Du hast sie nie gesehen, weil sie immer mit Rüschen und Troddeln dran verdeckt war.»

Er erinnerte sich an die Rüschen. «Was ist damit passiert?»

«Als die Kinder weg waren, dachte ich, das ist eine gute Gelegenheit, die Badezimmervorhänge zu waschen, und da habe ich auch die Rüschen gewaschen, aber die hatten eine Versteifung, und alles wurde ganz klebrig, und die Troddeln sind abgegangen. Darauf hab ich alles in den Abfalleimer geworfen, und jetzt streiche ich die Vorhangleiste, damit sie zum übrigen Anstrich passt und nicht auffällt.»

James dachte darüber nach und sagte dann: «Ich verstehe.»

«Wolltest du was?» Es drängte sie sichtlich, mit der Arbeit weiterzumachen.

«Nein, eigentlich nicht. Ich dachte nur, eine Tasse Kaffee wär ganz schön.»

«Oh, verzeih. Daran hab ich nicht gedacht. Ich koch mir nie welchen, wenn Mrs. Brick nicht da ist.»

«Oh. Macht nichts.» Und hoffnungsvoll fügte er hinzu: «Gibt ja sowieso bald Mittagessen.» Er bekam langsam Hunger. Er kehrte an seinen Bericht zurück, nahm sich einen Apfel aus der Schale auf dem Buffet. Während er sich abermals mit Rechenschieber und Taschenrechner befasste, hoffte er, dass es zum Mittagessen etwas Warmes mit Fleisch geben würde.

 

Bald darauf hörte er Louisa die Treppe herunterkommen, vorsichtig, was bedeutete, dass sie die Leiter und den Farbeimer trug, was wiederum bedeutete, dass sie die Vorhangleiste fertig gestrichen hatte. Er hörte Küchenschubladen auf- und zugehen, Töpfe klappern, einen Mixer brummen. Bald darauf drang ein köstlicher Duft an James’ Arbeitsplatz: Der Geruch nach gebratenen Zwiebeln und Paprikaschoten hätte jedem Mann das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen.

Er schrieb seinen Absatz zu Ende, zog wieder einen sauberen Strich und befand, dass er sich einen Drink verdient habe.

In der Küche trat er hinter Louisa, die am Herd stand, legte ihr die Arme um die Taille und spähte über ihre Schulter auf das köstliche Schmorgericht, das sie rührte.

Er sagte: «Das sieht aber reichlich viel aus für zwei Personen.»

«Wer sagt, dass das für zwei Personen ist? Es ist für zwanzig Personen.»

«Du meinst, wir erwarten achtzehn Gäste zum Mittagessen?»

«Nein. Ich meine, dass wir übernächstes Wochenende Sonntagmittag zwanzig Leute sind.»

«Aber du kochst es jetzt.»

«Ja. Das ist Moussaka. Und wenn es fertig ist, friere ich es ein, und einen Tag, bevor die vielen Leute kommen, hole ich es aus der Tiefkühltruhe, und Simsalabim.»

«Aber was essen wir heute Mittag?»

«Was du willst. Suppe, Brot, Käse. Ein gekochtes Ei.»

«Ein gekochtes Ei?»

«Was hast du denn erwartet?»

«Lammbraten. Koteletts. Apfelkuchen.»

«James, so groß essen wir mittags nie.»

«Doch. Am Wochenende immer.»

«Die Wochenenden sind was anderes. Am Wochenende essen wir abends Rühreier. Am Wochenende ist es umgekehrt.»

«Warum?»

«Warum? Damit du abends, wenn du abgekämpft und fix und fertig aus dem Büro kommst, eine anständige Mahlzeit kriegst. Darum.»

Das leuchtete ihm ein. Er seufzte und sah ihr beim Würzen des Moussaka zu. Salz, Pfeffer, eine Handvoll gemischte Kräuter. Wieder lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er sagte: «Kann ich heute Mittag nicht ein bisschen davon haben?»

Louisa sagte: «Nein.» Er fand sie richtig gemein. Um sich aufzuheitern, holte er Eis aus dem Kühlschrank und machte sich einen belebenden Gin Tonic. Mit dem Drink in der Hand begab er sich ins Wohnzimmer, in der Absicht, sich ans Feuer zu setzen und die Morgenzeitung zu Ende zu lesen, bis sein Mittagessen fertig wäre.

Aber im Wohnzimmerkamin brannte kein Feuer, der Raum war kühl und freudlos.

«Louisa!»

«Ja?» Bildete er es sich ein, oder klang sie wirklich ein kleines bisschen ungeduldig?

«Soll ich den Kamin für dich anzünden?»

«Kannst du machen, wenn du willst, aber ist es nicht Verschwendung, wenn keiner von uns im Zimmer ist?»

«Wirst du dich denn heute Nachmittag nicht etwas hinsetzen?»

«Glaub ich kaum», sagte Louisa.

«Um wie viel Uhr machst du sonst immer Feuer?»

«Meistens so gegen fünf.» Sie sagte wieder: «Du kannst es anzünden, wenn du willst», aber er ließ es störrisch bleiben und machte sich ein nahezu masochistisches Vergnügen daraus, sich in einen Sessel zu setzen und stur den Leitartikel zu lesen.

 

Am Ende war das Mittagessen besser, als er zu hoffen gewagt hatte. Kräftige Gemüsesuppe, knuspriges Vollkornbrot, Landbutter, etwas Stiltonkäse, eine Tasse Kaffee. Um das Ganze abzurunden, zündete er sich ein Zigarillo an.

«Wie läuft es?», fragte Louisa.

«Wie läuft was?»

«Mit deinem Bericht.»

«Ich hab ungefähr zwei Drittel.»

«Das ging ja schnell, mein Schlauer. Jetzt verlasse ich dich, und dann kannst du ganz ungestört weitermachen.»

«Du verlässt mich? Weswegen verlässt du mich? Sag mir den Namen deines Liebhabers.»

«Ich habe nicht gerade einen Liebhaber, aber ich muss mit Rufus raus, und da gehen wir gleich beim Metzger vorbei und holen das Lamm ab, das er mir versprochen hat.»

«Wann gibt’s Lamm zu essen? Weihnachten?»

«Nein, heute Abend. Aber wenn du weiter so sarkastisch bist, kann ich es ja einfrieren, bis du bessere Laune hast.»

«Wag es bloß nicht. Was gibt es sonst noch?»

«Neue Kartoffeln und Tiefkühlerbsen. Denkst du nie an was anderes als ans Essen?»

«Manchmal denke ich ans Trinken.»

«Du bist ein Vielfraß.»

«Ich bin ein Feinschmecker.» Er küsste sie. Dann sann er darüber nach. Er sagte: «Es ist komisch, dich beim Essen zu küssen. Ich küsse dich nicht oft am Tisch.»

«Das kommt, weil die Kinder nicht da sind», sagte Louisa.

«Lass uns das öfter machen. Die Kinder wegschicken, meine ich. Wenn deine Schwester sie nicht nehmen kann, stecken wir sie in einen Zwinger.»

 

Am Nachmittag war das Haus ohne Louisa, ohne den Hund, ohne Kinder, Gäste oder jegliche Art von Geschäftigkeit vollkommen tot. Die Stille war betäubend, beunruhigend wie ein ständiges, unerklärliches Geräusch. An seinem Arbeitsplatz konnte James nur das gedämpfte Ticken der Uhr in der Diele hören. Ihm kam der Gedanke, dass es für Louisa die meiste Zeit so sein musste, wenn er in London und die Kinder in der Schule waren. Kein Wunder, dass sie mit dem Hund sprach.

Als sie endlich zurückkam, war seine Erleichterung so groß, dass er sich zurückhalten musste, nicht gleich hinzugehen und sie zu begrüßen. Vielleicht spürte sie das, denn kurz darauf steckte sie den Kopf zur Tür herein und sprach seinen Namen. Er versuchte ein Gesicht zu machen, als habe sie ihn überrascht. «Was gibt’s?»

«Wenn du mich brauchst, ich bin im Garten.»

James hatte gedacht, sie würde das Feuer anzünden, sich an den Kamin setzen, ihre Strickerei zur Hand nehmen und warten, dass er sich zu ihr setze. Er fühlte sich betrogen. «Was willst du im Garten?»

«Ich muss das Rosenbeet in Schuss bringen. Heute ist der erste Tag, wo ich Gelegenheit dazu habe. Wenn jemand mit einem Lieferwagen kommt und klingelt, könntest du aufmachen oder mir Bescheid sagen?»

«Erwartest du Gesellschaft?»

«Mrs. Bricks Schwager hat gesagt, wenn er kann, kommt er heute Nachmittag vorbei.»

Mrs. Bricks Schwager war für James eine unbekannte Größe. «Was hast du mit ihm vor?»

«Weißt du, er hat eine Kettensäge.» James sah sie völlig verständnislos an, und Louisa wurde ungeduldig. «O James, ich hab’s dir doch gesagt. Im Wald ist eine Buche umgefallen, und der Bauer hat gemeint, ich kann die abgebrochenen Äste als Kaminholz haben, wenn sie mir jemand zersägt. Und da hat Mrs. Brick gesagt, ihr Schwager würde vorbeikommen. Das hab ich dir erzählt. Das Dumme ist, du hörst nie zu, wenn ich dir was erzähle, und wenn du zuhörst, merkst du’s dir nicht.»

«Du hörst dich an wie eine Ehefrau», erklärte James.

«Was hast du denn erwartet? Also, halt die Ohren für mich offen. Es wäre peinlich, wenn er käme und wieder wegginge, weil er denkt, ich bin nicht da.»

James stimmte zu, dass es peinlich wäre. Louisa ging und machte die Tür hinter sich zu. Kurz darauf sah er sie in Gummistiefeln mit dem Rosenbeet beschäftigt. Rufus saß neben der Schubkarre und sah ihr zu. Blöder Hund, dachte James. Er könnte ihr wenigstens helfen.

 

Der Bericht nahm ihn wieder in Anspruch. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals für etwas so lange gebraucht hatte. Aber schließlich langte er beim letzten Resümee an und bemühte sich gerade um eine besonders elegante Formulierung, als sein Friede von der knirschenden Ankunft eines uralten Vehikels erschüttert wurde. Es bog von der Straße in die Zufahrt ein und kam hinter dem Haus zum Stehen, wo es weiterknatterte, während der Fahrer, der offensichtlich nicht riskieren wollte, den Motor abzustellen, solange er nicht sicher war, ob er hierbleiben würde, am Hintereingang klingelte.

Die elegante Formulierung war für immer verloren. James stand auf und ging öffnen. Auf der Türschwelle sah er sich einem großen, gutaussehenden Mann gegenüber, weißhaarig und rotgesichtig, in Cordhose und Tweedjacke. Hinter ihm auf der Straße stand dröhnend und zitternd ein zerbeulter blauer Laster, über und über mit Schlamm bespritzt, der giftige Auspuffwolken ausstieß.

Der Mann hatte ungewöhnlich helle, unerschrockene blaue Augen. «Mrs. Harner?»

«Nein, ich bin nicht Mrs. Harner. Ich bin Mr. Harner.»

«Ich möchte aber zu Mrs. Harner.»

«Sind Sie Mrs. Bricks Schwager?»

«Der bin ich. Redmay ist mein Name. Josh Redmay.»

James war verwirrt. Der Mann sah nicht aus wie ein Verwandter von Mrs. Brick. Mit seinen blauen Augen und seinem Offiziersgehabe ähnelte er eher einem pensionierten Admiral, noch dazu einem, der es nicht gewohnt war, sich mit Schreiberlingen vom Unterdeck abzugeben.

«Mrs. Harner ist vorne im Garten. Wenn Sie …»

«Ich hab die Kettensäge dabei.» Mr. Redmay hatte keine Zeit für Höflichkeiten. «Wo ist der Baum?»

Es wäre glänzend gewesen, ihm zu erwidern: Zwei Strich Westsüdwest. Aber James konnte nur sagen: «Ich weiß es nicht genau. Meine Frau wird es Ihnen zeigen.»

Mr. Redmay bedachte James mit einem langen, abschätzenden Blick, und indem James die Schultern straffte und das Kinn reckte, gelang es ihm, diesem Blick Auge in Auge standzuhalten. Dann machte Mr. Redmay auf dem Absatz kehrt, ging zu seinem schlammbespritzten Gefährt, langte ins Fahrerhaus und stellte die Zündung ab. Es wurde still, der Laster hörte zu zittern auf, aber der unleidliche Auspuffgestank war trotzdem noch deutlich wahrnehmbar. Mr. Redmay lud die Kettensäge und einen Kanister Benzin von der Ladepritsche. Beim Anblick des Blattes, einem Haifischmaul voller Zähne, bekam es James plötzlich mit der Angst; albtraumhafte Visionen von Louisa ohne jeglichen Finger plagten ihn.

«Mr. Redmay …»

Mrs. Bricks Schwager drehte sich um. James kam sich albern vor, aber das war ihm egal. «Lassen Sie meine Frau nicht zu nahe an das Ding heran, ja?»

Mr. Redmay verzog keine Miene. Aber er nickte James zu, lud sich die Kettensäge auf die Schulter und verschwand um die Hausecke. Wenigstens, dachte James, als er wieder ins Haus ging, hat er mich nicht angespuckt.

 

Um Viertel vor fünf war der Bericht fertig. Gelesen und wieder gelesen, korrigiert, geheftet. Zufrieden steckte James ihn in seine Aktenmappe und ließ das Schloss zuschnappen. Morgen Vormittag würde seine Sekretärin ihn tippen. Am Nachmittag würde jeder Direktor der Firma eine Kopie erhalten haben.

Er war müde. Er streckte sich und gähnte. Am anderen Ende des Gartens kreischte die Kettensäge. Er stand auf, ging ins Wohnzimmer, nahm die Streichholzschachtel vom Kaminsims und machte Feuer, dann ging er in die Küche, ließ Wasser in den Kessel laufen und setzte ihn auf. Er sah den Korb mit Wäsche auf dem Tisch, Kleidungsstücke, die darauf warteten, gebügelt zu werden. Er sah die Schüssel mit geschälten Kartoffeln, und auf dem Herd köchelte etwas in einer Kasserolle; als er den Deckel hob, schlug ihm der Duft von Spargelsuppe entgegen. Seine Lieblingssuppe.

Das Wasser kochte. Er machte Tee, füllte ihn in eine Thermosflasche, dazu Tassen, eine Flasche Milch, ein Paket Würfelzucker. Er sah die Keksdosen durch und fand einen großen Früchtekuchen. Er schnitt drei dicke Scheiben ab, räumte alles in einen Korb, zog die alte Jacke an und verließ das Haus.