Schneesturm im Frühling - Rosamunde Pilcher - E-Book

Schneesturm im Frühling E-Book

Rosamunde Pilcher

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Schneeflocken und Blütenblätter Die Hochzeitsvorbereitungen sind bereits in vollem Gange, doch Caroline stellt sich Fragen, die einer glücklichen Braut nicht in den Sinn kommen sollten. Auf einer Reise nach Schottland verursacht sie dann während eines unerwarteten Schneesturms einen Autounfall. Als sie sich auf die Suche nach Hilfe und einer Bleibe für die Nacht macht, verschlägt es sie auf das Anwesen des reichen Geschäftsmanns Oliver. Die Begegnung zeigt Caroline, was ihr bisher fehlte. Doch auch Oliver ist gebunden …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 233

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rosamunde Pilcher

Schneesturm im Frühling

Roman

Aus dem Englischen von Christiane Buchner

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel
[zur Inhaltsübersicht]

1

In parfümierten Dampf gehüllt, die Haare in einer Badehaube nach oben gedreht, lag Caroline Cliburn träge in der Badewanne und hörte Radio. Das Bad war groß – wie alle Zimmer in diesem großzügigen Haus. Ursprünglich diente es als Ankleidezimmer, aber Diana hatte schon vor langer Zeit bestimmt, dass man Ankleidezimmer heutzutage weder nutzte noch brauchte, hatte es ausgeräumt, Klempner und Schreiner bestellt und es mit rosa Porzellan, einem flauschigen weißen Teppich und bodenlangen Chintzvorhängen ausstaffiert. Am Kopfende der Wanne stand ein niedriger Glastisch mit Badesalzen, Zeitschriften und großen rosa Seifenkugeln, die nach Rosen dufteten. Und Rosen zierten ebenso die französischen Badetücher und die Badematte, auf der jetzt Carolines Morgenrock, ihre Hausschuhe, das Radio und ein Buch ruhten, das sie angelesen und dann weggelegt hatte.

Im Radio lief ein Walzer. Eins-zwei-drei, eins-zwei-drei schmachteten die Geigen und riefen Bilder von Palmengärten wach, mit Herren in weißen Handschuhen und alten Damen auf vergoldeten Gartenstühlen, die im Takt zu der hübschen Melodie mit den Köpfen nickten.

Ich ziehe das neue Kostüm an, dachte sie. Und dann fiel ihr ein, dass einer der Goldknöpfe von der Jacke abgesprungen und inzwischen aller Wahrscheinlichkeit nach verlorengegangen war. Man konnte den Knopf natürlich ohne weiteres suchen, eine Nadel einfädeln und ihn annähen. Das Unternehmen würde keine fünf Minuten in Anspruch nehmen, doch noch einfacher war es, gar nicht erst anzufangen, sondern lieber den türkisen Kaftan oder das schwarze lange Samtkleid anzuziehen, in dem sie laut Hugh aussah wie Alice im Wunderland.

Das Wasser kühlte allmählich ab. Sie drehte mit der Zehe den Warmwasserhahn auf und nahm sich vor, um halb acht aus der Wanne zu steigen, sich abzutrocknen, Make-up aufzulegen und nach unten zu gehen. Dann kam sie zwar zu spät, aber das machte nichts. Die anderen würden alle, um den Kamin gruppiert, auf sie warten: Hugh in dem Samtsmoking, den sie insgeheim verabscheute, und Shaun mit seinem scharlachroten Kummerbund um den Bauch. Die Haldanes waren vermutlich auch schon da; Elaine, sicher längst bei ihrem zweiten Martini, Parker mit seinem vielsagenden Blick sowie die Ehrengäste, Shauns Geschäftspartner aus Kanada, Mr. und Mrs. Verkniffen-und-Dröge. Nach geziemender Frist würde man sich dann zum Essen begeben, zu Schildkrötensuppe und dem französischen Wildeintopf, mit dessen Zubereitung Diana den ganzen Vormittag beschäftigt gewesen war, gefolgt von einem sensationellen Nachtisch, der wahrscheinlich flambiert und unter lauten Ooohs und Aaahs und «Liebste Diana, wie machen Sie das bloß?» aufgetragen werden würde.

Bei dem Gedanken an all die Speisen wurde ihr wie üblich schlecht. Es war schon seltsam. Magenverstimmung leisteten sich doch sonst nur steinalte oder gefräßige Leute, höchstens noch Schwangere, und Caroline mit ihren zwanzig Jahren gehörte zu keiner dieser Gruppen. Sie fühlte sich auch nicht richtig krank, bloß nie so ganz gesund. Vielleicht sollte sie vor nächstem Dienstag – nein, Dienstag in einer Woche – zum Arzt gehen. Sie stellte sich vor, wie sie ihr Leiden zu beschreiben versuchte. Ich heirate bald, und mir ist die ganze Zeit schlecht. Sein väterliches, verständnisvolles Lächeln sah sie bereits vor sich. Die Aufregung vor der Hochzeit, das ist ganz natürlich, ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel …

Der Walzer verklang diskret, und dann meldete sich der Nachrichtensprecher. Halb acht. Mit einem Seufzer setzte Caroline sich auf, zog den Stöpsel heraus, bevor sie der Versuchung erliegen konnte, sich noch länger zu aalen, und stieg auf die Badematte. Sie drehte das Radio aus, trocknete sich flüchtig ab, zog sich den Morgenrock über und trottete in ihr Schlafzimmer, wobei sie auf dem mattweißen Teppich nasse Fußstapfen hinterließ. Dann setzte sie sich an die altmodische Frisierkommode, nahm die Badehaube ab und betrachtete ohne rechte Begeisterung ihr dreifaches Spiegelbild. Sie hatte langes, glattes hellblondes Haar, das seidig glänzend ihr Gesicht einrahmte. Es war kein nach üblichen Maßstäben hübsches Gesicht; die Wangenknochen waren zu hoch, die Nase zu stumpf, der Mund zu breit. Sie wusste genau, dass sie sowohl grauenhaft als auch sehr gut aussehen konnte. Nur ihre weit auseinanderstehenden dunkelbraunen Augen mit den dichten Wimpern fielen immer auf – sogar jetzt, müde, wie sie war.

(Sie musste an Drennan denken und an etwas, das er vor langer Zeit einmal zu ihr gesagt hatte, während er beide Hände an ihren Kopf legte und ihr Gesicht zu sich anhob. «Wie kommt es bloß, dass du so ein Lausbubengrinsen hast und dabei die Augen einer Frau? Noch dazu einer verliebten Frau.» Sie hatten vorn in seinem Auto gesessen, draußen war es stockdunkel gewesen, und es hatte geregnet. Sie konnte sich an das Rauschen des Regens erinnern, an das Ticken der Uhr am Armaturenbrett und an die Berührung seiner Hände, doch es kam ihr wie eine Episode aus einem Buch oder einem Film vor, etwas, bei dem sie zugesehen hatte, ohne beteiligt zu sein.)

Unvermittelt griff sie nach ihrem Make-up-Pinsel, band die Haare zu einem Pferdeschwanz hoch und begann mit dem Make-up. Während sie noch mit der Wimperntusche hantierte, kamen Schritte, gedämpft durch den dicken Teppich, den Korridor entlang und blieben vor ihrer Tür stehen. Es klopfte sacht.

«Ja?»

«Darf ich reinkommen?» Es war Diana.

«Klar.»

Ihre Stiefmutter war bereits in Abendgarderobe, ganz in Weiß und Gold, das graublonde Haar zu einer Muschel geschlungen und mit einer Goldnadel durchspießt. Sie war wie immer schön, schlank, groß und unglaublich elegant. Die blauen Augen wurden von einem braunen Teint zur Geltung gebracht, den sie sich durch regelmäßige Sitzungen unter der Höhensonne erhielt. Caroline beneidete sie darum, dass sie im Skianzug oder in Tweedsachen genauso gut aussah wie jetzt, da sie sich für eine höchst förmliche Einladung zurechtgemacht hatte.

«Caroline, du bist ja nicht mal halbwegs fertig!»

Caroline setzte zu komplizierten Prozeduren mit der Wimpernbürste an.

«Bin gleich so weit. Du weißt doch, wie schnell ich sein kann, wenn ich erst mal angefangen habe.» Sie fügte hinzu: «Wahrscheinlich das einzig wirklich Praktische, was ich an der Schauspielschule gelernt habe: mich in einer Minute fix und fertig zu schminken.»

Diese Bemerkung war gedankenlos dahingesagt, und Caroline bereute sie sofort. Die Schauspielschule war, was Diana betraf, noch immer verbotenes Terrain, und bei der bloßen Erwähnung des Wortes fuhr sie sofort die Stacheln aus. «Dann waren ja deine beiden Jahre dort wenigstens nicht vollkommen vergeudet», sagte sie kühl. Als Caroline vor Schreck keine Antwort gab, wurde ihr Ton etwas milder. «Jedenfalls hast du noch Zeit. Hugh ist zwar schon da, Shaun macht ihm gerade einen Drink, aber die Lundstroms kommen ein bisschen später. Linda hat von Connaught aus angerufen, John sei bei einer Konferenz aufgehalten worden.»

«Lundstrom. Ich wusste den Namen nicht mehr. Bei mir hießen sie die Verkniffen-und-Dröges.»

«Sei nicht ungerecht. Du kennst sie doch gar nicht.»

«Kennst du sie denn?»

«Jawohl, und sie sind sehr nett.»

Sie begann, betont hinter Caroline herzuräumen, ging von hier nach da, stellte Schuhe nebeneinander, legte einen Pullover zusammen, hob das feuchte Badetuch auf, das mitten auf dem Boden lag, und trug es ins Bad. Dort spülte sie, für Caroline deutlich hörbar, das Waschbecken aus und öffnete den Spiegelschrank – bestimmt, um den Deckel wieder auf das Handcremetöpfchen zu schrauben.

«Diana, worüber konferiert Mr. Lundstrom eigentlich?», rief Caroline hinüber.

«Hm?» Diana tauchte wieder auf, und Caroline wiederholte ihre Frage.

«Er ist Bankier.»

«Hat er was mit diesem neuen Geschäft von Shaun zu tun?»

«Allerdings. Er finanziert es. Deshalb ist er ja nach England gekommen, um die letzten Details zu klären.»

«Dann müssen wir also fürchterlich charmant und manierlich sein.» Caroline stand auf, ließ den Morgenrock fallen und machte sich auf die Suche nach einem passenden Kleidungsstück.

Diana setzte sich auf den Bettrand. «Fällt dir das so schwer? Caroline, du bist entsetzlich dünn. Wirklich zu dünn, du solltest mal versuchen, ein bisschen zuzunehmen.»

«Ach was.» Sie suchte sich aus einer überquellenden Schublade Unterwäsche zusammen und zog sie an. «Ich bin eben so gebaut.»

«Unsinn. Man sieht ja alle deine Rippen. Du isst auch wie ein Spatz. Das ist sogar Shaun neulich aufgefallen, und du weißt, wie blind er sonst durch die Gegend läuft.» Caroline zog eine Seidenstrumpfhose an. «Und dein Teint ist so ungesund, so blass. Als ich vorhin hereinkam, bin ich richtig erschrocken. Vielleicht solltest du mal Eisen nehmen.»

«Kriegt man davon nicht schwarze Zähne?»

«Wo hast du denn dieses Ammenmärchen her?»

«Vielleicht hat es ja was mit dem Heiraten zu tun. Dass man hundertdreiundvierzig Dankesbriefe schreiben muss.»

«Sei nicht undankbar … ach, übrigens, Rose Kintyre rief an und wollte wissen, was sie dir schenken könnte. Ich habe ihr die Sektgläser vorgeschlagen, die du in der Sloane Street gesehen hast, weißt du, die mit den eingravierten Initialen. Was ziehst du denn heute Abend an?»

Caroline öffnete den Schrank und nahm das erstbeste Kleid heraus – zufälligerweise das schwarze Samtkleid. «Das da?»

«O ja, das liebe ich sehr. Aber dazu müsstest du dunkle Strümpfe tragen.»

Caroline hängte es wieder zurück und nahm das nächste heraus. «Dann das?» Der Kaftan, zum Glück nicht das Kostüm.

«Ja. Ganz reizend. Mit den goldenen Ohrringen.»

«Die habe ich verloren.»

«Doch nicht die, die dir Hugh geschenkt hat?»

«Nicht richtig verloren, bloß verlegt. Ich habe sie irgendwo hingelegt, aber ich weiß nicht mehr, wo. Mach dir keine Gedanken.» Sie warf sich die türkise, federleichte Seide über den Kopf. «Ohrringe sieht man bei mir sowieso nicht, außer wenn ich eine richtige Frisur habe.» Sie begann, die winzigen Knöpfe zuzuknöpfen. «Wo isst denn Jody heute zu Abend?»

«Bei Katy, im Keller. Ich habe ihm gesagt, dass er gern mit uns essen kann, aber er will lieber den Western im Fernsehen sehen.»

Caroline machte ihr Haar auf und bürstete es glatt. «Ist er jetzt unten?»

«Ich glaube schon.»

Caroline sprühte sich mit dem erstbesten Duft, der ihr zwischen die Finger geriet, großzügig ein. «Wenn es dir nichts ausmacht, sage ich ihm erst noch gute Nacht.»

«Bleib nicht zu lang. Die Lundstroms sind in zehn Minuten hier.»

«Keine Sorge.»

 

Gemeinsam gingen sie nach unten. Als sie mitten auf der Treppe standen, ging die Wohnzimmertür auf, und Shaun Carpenter erschien, mit einem roten, apfelförmigen Eiskübel in der Hand, dessen Deckel ein goldener, zu einem Griff gebogener Stiel entspross. Er hob den Kopf und erblickte die beiden.

«Kein Eis mehr», erklärte er, riss dann plötzlich die Augen auf wie ein Komiker, der erst zweimal hinsieht, bevor er reagiert, und blieb mitten in der großen Diele stehen. «Na, wenn ihr beiden nicht phantastisch ausseht! Wirklich, zwei wunderschöne Frauen.»

Shaun war Dianas Mann und Carolines … nun, sie wechselte die Bezeichnungen. «Der Mann meiner Stiefmutter», sagte sie manchmal. Oder «mein Stief-Stiefvater». Oder einfach «Shaun».

Er war seit drei Jahren mit Diana verheiratet, kannte und verehrte sie jedoch schon viel länger, wie er gern aller Welt erzählte.

«Kannte sie schon damals», sagte er dann. «Dachte, ich hätte die ganze Sache unter Dach und Fach, aber dann fuhr sie auf die griechischen Inseln, um sich ein Grundstück zu kaufen, und als Nächstes kriege ich einen Brief von ihr, dass sie diesen komischen Architekten – Gerald Cliburn – kennengelernt und geheiratet hätte. Arm wie eine Kirchenmaus, Vater von drei Kindern und ein Bohemien, wie er im Buche steht. Mich hat fast der Schlag getroffen.»

Er blieb ihrem Andenken jedoch aus der Ferne treu, und da er von Natur aus ein erfolgreicher Mensch war, machte er aus seiner Rolle als professioneller Junggeselle ebenfalls einen Erfolg und spielte ganz den älteren, gebildeten Gentleman, der bei Londoner Gastgeberinnen sehr gefragt war und seinen Terminkalender ständig auf Monate hinaus mit gesellschaftlichen Verpflichtungen gefüllt hatte.

Sein Junggesellenleben war also bestens organisiert und überaus angenehm. Als Diana Cliburn verwitwet und mit zwei Stiefkindern im Schlepptau nach London zurückkehrte und ihr Haus wieder bezog, um die alten Fäden aufzunehmen und ein neues Leben zu beginnen, fragte man sich deshalb allseits, was Shaun Carpenter nun wohl zu unternehmen gedachte. Hatte er sich zu tief in seinem behaglichen Junggesellenbau eingegraben? Würde er – selbst wenn es wegen Diana war – seine Unabhängigkeit aufgeben und sich mit dem stumpfsinnigen Leben als normaler Familienvater abfinden? Die Londoner Klatschbörse bezweifelte das stark.

Doch der Klatsch hatte die Rechnung ohne Diana gemacht. Sie kehrte von Aphros schöner und begehrenswerter denn je zurück, falls das überhaupt möglich war; mittlerweile hatte sie ihren zweiunddreißigsten Geburtstag hinter sich und war auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität angelangt. Shaun, der ihre Freundschaft behutsam wieder aufleben ließ, war innerhalb von Tagen schachmatt; nach einer Woche hielt er um ihre Hand an, und dann wiederholte er seinen Antrag regelmäßig alle acht Tage, bis sie schließlich einwilligte.

Die erste ihm zugewiesene Aufgabe bestand darin, Caroline und Jody die Neuigkeit höchstpersönlich beizubringen. «Ich kann kein Vater sein», hatte er gesagt, während er wie ein Tiger auf dem Wohnzimmerteppich auf und ab lief und ihm unter ihren wachen und eigenartig ähnlichen Blicken warm in der Kragengegend wurde. «Wüsste überhaupt nicht, wie man das macht. Aber ihr sollt wissen, dass ich euch immer zur Verfügung stehe, als Vertrauter oder möglicher Geldgeber … schließlich ist das ja euer Zuhause … und ich möchte, dass ihr euch hier …»

Er wurstelte weiter, während er insgeheim Diana verwünschte, weil sie ihn in diese peinliche Lage gebracht hatte, statt abzuwarten, bis sich sein Verhältnis zu Caroline und Jody langsam und auf natürliche Weise entwickelte. Aber Diana hatte eben ein ungeduldiges Naturell, sie schätzte klare Verhältnisse und hasste es, Dinge aufzuschieben.

Jody und Caroline musterten ihn durchaus wohlwollend, ohne jedoch irgendetwas zu sagen, was ihn aus seiner Verlegenheit befreit hätte. Sie mochten Shaun Carpenter, erkannten aber mit dem klaren Blick der Jugend, dass Diana ihn bereits fest unter der Fuchtel hatte. Im Übrigen bezeichnete er Milton Gardens als ihr Zuhause, während für sie «zu Hause» doch von jeher und bis in alle Ewigkeit ein großer weißer Zuckerwürfel hoch über der marineblauen Ägäis darstellte. Doch der war verloren, spurlos versunken in der Wirrnis der Vergangenheit. Was Diana zu tun beliebte, wen sie nun zu heiraten gedachte, ging sie im Grunde nichts an. Wenn sie jedoch unbedingt heiraten musste, dann durfte es ihretwegen gern der großzügige, nette Shaun sein.

Als Caroline nun an ihm vorbeiwollte, trat er zur Seite, zuvorkommend, im gestärkten Hemd und ein wenig lächerlich mit seinem Eiskübel, den er vor sich hertrug, als wollte er den Gästen daraus etwas anbieten. Er roch nach Brut und frischer Wäsche, und Caroline musste an das oft stoppelige Kinn ihres Vaters denken und an die blauen Arbeitshemden, die er am liebsten direkt von der Wäscheleine anzog, ohne dass sie auch nur in die Nähe eines Bügeleisens gekommen wären. Sie musste auch daran denken, wie oft Diana und er sich zum Spaß ausgiebig und hingebungsvoll gestritten hatten, wobei ihr Vater fast immer gewann, und wieder einmal fragte sie sich verwundert, wie eine Frau zwei so grundverschiedene Männer heiraten konnte.

 

In den Keller, in Katys Domäne, hinunterzusteigen war wie eine Reise in eine andere Welt. Oben herrschten die Pastellteppiche, die Kerzenleuchter und die schweren Samtvorhänge, unten war alles bunt zusammengewürfelt, unkompliziert und fröhlich. Linoleum mit Schachbrettmuster konkurrierte mit leuchtend farbigen Teppichen, Vorhänge hatten Zickzack- und Blättermuster, jedwede waagrechte Fläche trug ihren Anteil an Fotos, bemalten Muscheln, Aschenbechern aus längst vergessenen Ferienorten und Vasen voller Plastikblumen. Ein Feuer brannte rötlich im Kamin, und davor saß – zusammengerollt in einem alten Lehnstuhl, die Augen auf den flackernden Bildschirm geheftet – Carolines Bruder Jody.

Er trug Jeans und einen dunkelblauen Rollkragenpullover, ramponierte Stiefel und aus unerfindlichen Gründen eine alte Seglermütze, die ihm diverse Nummern zu groß war. Als sie hereinkam, blickte er auf, um dann sofort wieder auf den Bildschirm zu starren, damit er keine Sekunde der Handlung verpasste.

Caroline schob ihn zur Seite und setzte sich neben ihn in den Sessel. Nach einer Weile fragte sie: «Wer ist das Mädchen?»

«Ach, die ist blöd. Die will immer bloß küssen. Wieder so einer von diesen komischen Filmen.»

«Dann mach doch aus.»

Er überlegte, befand die Idee für akzeptabel und kletterte aus dem Sessel, um das Gerät abzuschalten. Mit einem leisen Seufzer ging der Fernseher aus. Jody stand da und sah seine Schwester an.

Er war elf; ein gutes Alter, aus den Kinderschuhen heraus, aber noch nicht hoch aufgeschossen, launisch und verpickelt. Er sah Caroline so ähnlich, dass jeder Fremde die beiden auf den ersten Blick für Geschwister hielt, doch während Caroline blond war, hatte Jody so hellbraunes Haar, dass es fast rötlich wirkte, und während sich die Sommersprossen bei ihr auf einen Hauch quer über dem Nasenrücken beschränkten, überzogen sie bei Jody wie Konfetti Rücken, Schultern und Arme. Er hatte graue Augen; und wenn er lächelte, was nicht schnell geschah, dann aber entwaffnend wirkte, sah man Vorderzähne, die für sein Kindergesicht zu groß waren und etwas schief standen, als ob sie drängeln müssten, um sich Platz zu schaffen.

«Wo ist Katy?», fragte Caroline.

«Oben in der Küche.»

«Hast du schon zu Abend gegessen?»

«Ja.»

«Das Gleiche, was wir kriegen?»

«Von der Suppe hab ich was gegessen. Aber das andere Zeug mochte ich nicht, deshalb hat Katy mir Spiegeleier mit Speck gemacht.»

«Hätt ich auch viel lieber gegessen. Hast du Shaun und Hugh schon begrüßt?»

«Ja, ich bin kurz rauf.» Er schnitt eine Grimasse. «Die Haldanes sind eingeladen, Pech für dich.»

Sie grinsten verschwörerisch. Ihre Ansichten über die Haldanes stimmten weitgehend überein. «Wo hast du denn die Mütze her?», fragte Caroline.

Er hatte ganz vergessen, dass er die Mütze aufgesetzt hatte, nahm sie ab und schaute sie verlegen an. «Die hab ich vorhin gefunden, in der alten Kleiderkiste im Kinderzimmer.»

«Sie hat Papa gehört.»

«Mhm. Das hab ich mir gedacht.»

Caroline beugte sich vor und nahm sie ihm aus der Hand. Die Mütze war schmutzig und verbeult, hatte Salzflecken, und das Abzeichen hing nur noch lose an ein paar Fäden. «Die hat er zum Segeln aufgesetzt. Er hat immer gesagt, wenn er sich ordentlich anzieht, ist er selbstbewusster, denn wenn ihm dann einer dumm kommt, weil er was falsch gemacht hat, dann kann er richtig zurückschimpfen.» Jody grinste. «Kannst du dich noch erinnern, dass er manchmal solche Sachen gesagt hat?»

«Bloß an ein paar», sagte Jody. «Aber ich weiß noch, dass er uns Rikki Tikki Tavi vorgelesen hat.»

«Du warst ja noch ganz klein, erst sechs. Aber so was weißt du noch.» Er grinste noch einmal. Caroline stand auf und setzte ihm die alte Mütze wieder auf. Der Schirm hing ihm quer übers Gesicht, sodass sie sich bücken musste, um ihm einen Kuss zu geben.

«Gute Nacht», sagte sie.

«Gute Nacht», sagte Jody, ohne sich zu rühren.

Eigentlich wäre sie am liebsten bei ihm geblieben. Am Treppenabsatz drehte sie sich noch einmal um. Unter dem Schirm der lächerlichen Mütze sah er sie forschend an, und irgendetwas in seinem Blick veranlasste sie nachzufragen.

«Was hast du denn?»

«Nichts.»

«Also dann bis morgen.»

«Mhm», sagte Jody. «Klar. Gute Nacht.»

 

Die Wohnzimmertür war wieder geschlossen, dahinter hörte man Stimmengewirr, und Katy war damit beschäftigt, einen dunklen Pelzmantel in den Garderobenschrank an der Haustür zu hängen. Die Haushälterin trug als Zugeständnis an die Formalität einer Abendgesellschaft eine geblümte Schürze über ihrem kastanienbraunen Kleid. Als Caroline plötzlich auftauchte, schreckte sie theatralisch zusammen.

«Hach, haben Sie mich aber erschreckt.»

«Wer ist da gekommen?»

«Mr. und Mrs. Haldane.» Sie machte eine energische Kopfbewegung. «Sie sind schon da drin. Gehn Sie mal lieber rein, Sie sind sowieso spät dran.»

«Ich war bei Jody.» Um der Gesellschaft noch einen Augenblick zu entgehen, blieb sie bei Katy stehen, lehnte sich ans Treppengeländer und schwelgte in der Vorstellung, wie himmlisch es wäre, jetzt wieder nach oben zu gehen, sich ins Bett zu legen und ein gekochtes Ei gebracht zu bekommen.

«Sieht er immer noch diesen Indianerfilm?»

«Ich glaube nicht. Da war ihm zu viel Küsserei drin.»

Katy schnitt eine Grimasse. «Küsserei ist allemal besser als Schießerei, sag ich immer.» Sie schloss die Schranktür. «Mir ist es lieber, sie fangen an zu fragen, was es damit so auf sich hat, als dass sie hergehen und alten Muttchen mit deren eigenem Regenschirm eins überbraten.»

Mit dieser aufschlussreichen Bemerkung zog sie sich wieder in ihre Küche zurück. Caroline, die nun allein dastand und beim besten Willen keine Entschuldigung für eine weitere Verspätung fand, trottete durch die Diele, straffte die Schultern, setzte ein strahlendes Lächeln auf und öffnete die Wohnzimmertür. (Fürs Leben gelernt hatte sie an der Schauspielschule nämlich auch, wie man seinen Auftritt wirkungsvoll in Szene setzte.) Das Stimmengewirr verebbte, und jemand sagte: «Da kommt Caroline.»

Dianas Wohnzimmer in Festbeleuchtung machte so viel her wie das beste Bühnenbild. An den drei hohen Fenstern, aus denen man auf den ruhigen Platz hinausblickte, hingen helle, mandelgrüne Samtvorhänge; die Einrichtung bestand aus weichen, tiefen Sofas in Rosa und Beige, einem beigen Teppich und, wunderbar zu den alten Bildern, den Chippendale- und Nussbaumschränkchen passend, einem modernen italienischen Esstisch aus Chrom und Glas. Überall standen Blumen; diverse köstliche und teure Düfte durchzogen den Raum: ein Hauch von Hyazinthen, «Madame Rochas» und Schwaden von Shauns Havannazigarren.

Genau wie Caroline es sich vorgestellt hatte, stand man mit Drinks in der Hand um den Kamin. Noch bevor sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, stellte Hugh schon sein Glas ab und kam quer durchs Zimmer geeilt, um sie zu begrüßen.

«Mein Schatz.» Er fasste sie mit beiden Händen an den Schultern, beugte sich hinunter und gab ihr einen Kuss. Dann warf er einen Blick auf seine flache goldene Armbanduhr, wobei eine üppige, gestärkte weiße Manschette zum Vorschein kam, die mit einem Goldkettchen zusammengehalten wurde. «Du kommst zu spät.»

«Aber die Lundstroms sind doch noch gar nicht da.»

«Wo warst du denn?»

«Bei Jody.»

«Na, dann sei dir noch mal verziehen.»

Er war groß, viel größer als Caroline, schlank und dunkel und hatte eine beginnende Stirnglatze, die ihn älter wirken ließ als dreiunddreißig. Tatsächlich trug er den dunkelblauen Samtsmoking, dazu ein vornehmes Hemd mit dezenten Spitzenstreifen; die Augen unter den markanten Brauen waren dunkelbraun, und im Moment lag eine Mischung von Belustigung, Verzweiflung und einer gewissen Portion Stolz darin.

Den Stolz sah Caroline mit Erleichterung. Hugh Rashleys Erwartungen musste man erst einmal entsprechen, und sie verbrachte die meiste Zeit damit, sich ihm gegenüber ausgesprochen minderwertig zu fühlen. Ansonsten war er als zukünftiger Ehemann höchst annehmbar: erfolgreich in seinem Wunschberuf als Börsenmakler und phantastisch lieb und rücksichtsvoll, wenn er auch bisweilen unnötig viel von sich und seinen Mitmenschen verlangte. Doch das war vielleicht nicht anders zu erwarten, es lag wohl in der Familie, und immerhin war er ja Dianas Bruder.

 

Da Parker Haldane sich ungeniert zu hübschen jungen Frauen hingezogen fühlte und Caroline als solche zählen durfte, verhielt Elaine Haldane sich ihr gegenüber zumeist etwas kühl. Was Caroline nicht unnötig bekümmerte: Zum einen sah sie Elaine nicht oft, da die Haldanes in Paris wohnten, wo Parker die französische Zweigstelle einer großen amerikanischen Werbeagentur leitete. Die beiden kamen nur alle zwei, drei Monate nach London – wie eben jetzt. Zum anderen mochte sie Elaine nicht besonders – bedauerlicherweise, denn Elaine und Diana waren ein Herz und eine Seele. «Warum musst du bei Elaine immer so gelangweilt tun?», fragte Diana in regelmäßigen Abständen, und Caroline hatte gelernt, die Achseln zu zucken und sich zu entschuldigen, da genauere Erklärungen nur zu leicht in Kränkungen ausarteten.

Elaine war eine gut aussehende, vornehme Frau mit einem leichten Hang zur übertriebenen Toilette, was selbst das Leben in Paris ihr nicht hatte abgewöhnen können. Sie konnte auch höchst amüsant plaudern, doch Caroline hatte aus bitterer Erfahrung gelernt, dass sich in ihren geistreichen Bemerkungen oft spitze Stacheln gegen Freunde und Bekannte verbargen, die zufälligerweise gerade nicht anwesend waren. Es machte keinen Spaß, ihr zuzuhören, denn man wusste nie, welchen Kommentar sie über einen selbst in petto hatte.

Parker dagegen konnte man eigentlich nicht ernst nehmen.

«Sie wunderschönes Geschöpf.» Er hielt inne, um formvollendet knapp über Carolines Handrücken einen Kuss anzudeuten. Fehlte bloß noch, dass er die Hacken zusammenschlug. «Warum müssen Sie uns immer warten lassen?»

«Ich habe Jody noch gute Nacht gesagt.» Sie wandte sich seiner Frau zu. «Guten Abend, Elaine.» Die beiden Frauen legten Wange an Wange und schnalzten Küsse in die Luft.

«Hallo, meine Liebe. Was für ein hübsches Kleid!»

«Danke.»

«Diese losen Dinger tragen sich so angenehm …» Sie zog an ihrer Zigarette und blies eine große Rauchwolke aus. «Ich habe Diana gerade von Elizabeth erzählt.»

Caroline sank der Mut, doch sie fragte höflich: «Was gibt es denn Neues von Elizabeth?», und wartete auf die Mitteilung, dass Elizabeth verlobt sei, dass Elizabeth beim Aga Khan gewesen sei, dass Elizabeth in New York als Mannequin für Vogue arbeite. Elizabeth war Elaines Tochter aus erster Ehe und etwas älter als Caroline, doch obwohl Caroline manchmal das Gefühl hatte, über Elizabeth mehr zu wissen als über sich selbst, hatten sich die beiden nie kennengelernt. Elizabeth pendelte zwischen beiden Elternteilen hin und her – der Mutter in Paris und dem Vater in Schottland –, und in den seltenen Fällen, da sie in London auftauchte, war Caroline unweigerlich verreist.

Nun versuchte sie, sich an die jüngsten Neuigkeiten über Elizabeth zu erinnern. «War sie nicht auf den Antillen oder so?»

«Genau, meine Liebe, bei einer alten Schulfreundin, und es war phantastisch dort. Aber vor ein paar Tagen ist sie wieder nach Hause geflogen, und in Prestwick empfing ihr Vater sie dann mit dieser grauenhaften Neuigkeit.»

«Womit denn?»

«Nun, wissen Sie, vor zehn Jahren, als Duncan und ich noch zusammen waren, haben wir dieses Haus in Schottland gekauft, beziehungsweise hat Duncan es gekauft, gegen meinen ausdrücklichen Willen … Für unsere Ehe war das eigentlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte …» Mit leicht verwirrtem Gesichtsausdruck brach sie ab.

«Elizabeth», half Caroline ihr sanft auf die Sprünge.

«Ach so, stimmt. Elizabeth hat sich natürlich sofort mit den beiden Jungen angefreundet, die auf dem Nachbargut wohnten, wobei Jungen eigentlich nicht ganz zutrifft, sie waren ja damals schon erwachsen, aber einfach hinreißend, und sie haben Elizabeth richtig unter ihre Fittiche genommen, wie eine kleine Schwester. Im Handumdrehen ging sie bei ihnen ein und aus, als hätte sie ihr Leben lang dort gewohnt. Beide beteten sie an, aber für den älteren Bruder war sie immer der ganz besondere Liebling, und stellen Sie sich vor, kurz bevor sie wieder zu Hause war, kam er bei einem grauenhaften Autounfall ums Leben. Furchtbar, vereiste Straßen, mit dem Auto direkt gegen eine Mauer gerast.»

Fast gegen ihren Willen war Caroline ehrlich entsetzt. «Wie schrecklich!»

«Ja, grauenhaft. Erst achtundzwanzig. Ein prächtiger Farmer, fabelhafter Schütze und ein bezaubernder Kerl. Sie können sich vorstellen, was das für ein Empfang für die Arme war. Sie hat es mir unter Tränen am Telefon erzählt, und ich hätte sie so gern nach London geholt und heute Abend mitgebracht, damit wir sie ein bisschen aufmuntern können, aber sie meinte, sie würde dort gebraucht …»

«Ihr Vater freut sich sicher sehr, dass sie da ist …» Just in diesem Augenblick tauchte Parker urplötzlich neben Caroline auf und reichte ihr einen eiskalten Martini. «Auf wen warten wir denn noch?», fragte er.

«Auf die Lundstroms, die Kanadier. Er ist Bankier aus Montreal. Das Ganze hat irgendwie mit diesem neuen Projekt von Shaun zu tun.»

«Heißt das wirklich, dass Diana und Shaun nach Montreal ziehen wollen?», fragte Elaine. «Aber was machen wir dann ohne sie? Diana, Schätzchen, wie sollen wir ohne dich auskommen?»

«Wie lange möchten sie denn dort bleiben?», fragte Parker.

«Drei, vier Jahre. Vielleicht auch weniger. Sie wollen so bald wie möglich nach der Hochzeit fliegen.»

«Und dieses Haus? Wollen Sie sich mit Hugh hier einrichten?»

«Dazu ist es viel zu groß. Außerdem hat Hugh ja selber eine wunderschöne Wohnung. Nein, Katy bleibt im Keller wohnen und kümmert sich ums Haus, und wenn Diana den richtigen Mieter findet, dann will sie es vielleicht vermieten.»

«Und Jody?»

Caroline blickte ihn an und dann auf ihr Glas hinunter.

«Jody geht mit nach Kanada.»

«Macht Ihnen das denn nichts aus?»

«Doch. Aber Diana will ihn mitnehmen.»

Und Hugh will sich nicht mit einem kleinen Jungen belasten. Zumindest jetzt noch nicht. Vielleicht in ein paar Jahren ein Baby, aber keinen elfjährigen Jungen. Diana hat ihn schon an einer Privatschule angemeldet, und Shaun will ihm Skifahren und Eishockey beibringen.

 

Parker sah sie immer noch an. Sie lächelte ironisch. «Sie kennen doch Diana. Wenn sie sich etwas vornimmt – peng, kommt es auch so.»

«Er wird Ihnen fehlen, was?»

«Allerdings.»