Wintersonne - Rosamunde Pilcher - E-Book
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Rosamunde Pilcher

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Beschreibung

Hoffnungsschimmer am Horizont Nach dem Tod des ihr liebsten Menschen bricht für die Schauspielerin Elfrida eine Welt zusammen. Um über den Verlust hinwegzukommen, zieht Elfrida von London aufs Land, in das kleine Dorf Dibton in Hampshire. Rasch findet die warmherzige Frau Freunde unter den Dorfbewohnern. Besonders gut versteht sie sich mit dem Ehepaar Oscar und Gloria Blundell. Doch als Elfrida aus einem Urlaub in Cornwall in das Dorf zurückkehrt, ist in der sonst so harmonischen Gemeinde nichts mehr, wie es war. «Der Roman enthält alles Zutaten, die ein Bestseller braucht. Von allen Suchtmitteln entpuppen sich Pilcher-Romane als eines der wohltuendsten.» (Die Welt)

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Seitenzahl: 833

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Rosamunde Pilcher

Wintersonne

Roman

Aus dem Englischen von Ursula Grawe

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

ElfridaSamCarrieLucyOscarElfridaLucyElfridaOscarLucyCarrieLucyOscarLucyElfridaSamCarrieElfridaLucyElfridaLucyElfridaLucySamLucyElfridaOscarCarrieSamLucyElfridas PartyHeiligabend
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Elfrida

Bevor Elfrida Phipps London endgültig verließ und aufs Land zog, machte sie einen Abstecher ins Tierheim nach Battersea und kehrte mit einem vierbeinigen Gefährten nach Hause zurück. Sie brauchte eine gute – und herzzerreißende – halbe Stunde, bis sie ihn schließlich fand, aber kaum hatte sie ihn entdeckt, wie er ganz dicht am Gitter seines Zwingers saß und mit dunklen, flehenden Augen zu ihr aufsah, da wusste sie, der oder keiner. Sie wollte keinen großen Hund, hatte aber auch für kläffende Schoßhündchen nichts übrig. Dieser hatte genau die richtige Größe. Eben Hundegröße.

Das dichte, weiche Fell fiel ihm teilweise über die Augen, er konnte die Ohren spitzen oder hängen lassen und triumphierend mit dem buschigen Schwanz wedeln. Sein Fell war unregelmäßig braun und weiß gescheckt, und das Braun hatte genau die Farbe von Milchschokolade. Als sie nach seinem Stammbaum fragte, meinte die Tierpflegerin, er hätte was vom Schottischen Schäferhund und was vom Deutschen Schäferhund und noch von etlichen anderen, nicht genauer identifizierbaren Rassen. Elfrida war es egal. Ihr gefiel der zutrauliche Ausdruck auf seinem Gesicht.

Sie hinterließ dem Tierheim in Battersea eine Spende und machte sich mit ihrem neuen Gefährten, der aufrecht auf dem Beifahrersitz neben ihr saß und so zufrieden aus dem Fenster ihres alten Autos blickte, als könne er sich mühelos an dieses Leben gewöhnen, auf den Weg.

Am nächsten Tag ging sie mit ihm zum Schneiden, Waschen und Föhnen in den Hundesalon. Frisch gewaschen und lieblich nach Zitrone duftend, kam er nach Hause zurück und dankte ihr die zuvorkommende Behandlung durch treue, liebevolle Ergebenheit. Er war ein schüchterner, eher ängstlicher Hund, aber beileibe nicht feige. Wenn es klingelte oder er einen Eindringling im Haus vermutete, bellte er einen Augenblick lang aus vollem Hals, ehe er sich in sein Körbchen oder auf Elfridas Schoß zurückzog.

Es dauerte eine Weile, bis sie einen Namen für ihn gefunden hatte, aber schließlich taufte sie ihn Horaz.

 

Einen Korb in der Hand und Horaz fest an die Leine genommen, schloss Elfrida die Haustür, ging den schmalen Gartenweg entlang, klappte das Tor hinter sich zu und machte sich auf den Weg zum Postamt und zum Kaufmann.

Es war ein trüber Oktobernachmittag, grau und wenig einladend. Die letzten Herbstblätter flatterten von den Bäumen, ein ungewöhnlich scharfer Wind hatte auch die passioniertesten Gartenliebhaber vertrieben, die Straße lag verlassen da, und die Kinder waren noch in der Schule. Tief hängende Wolken trieben zwar zügig am Himmel, doch es wollte nicht aufklaren. Elfrida schritt kräftig aus, und Horaz trottete ergeben hinter ihr her, denn er wusste, dass er um diesen einen täglichen Spaziergang nicht herumkam und gut daran tat, das Beste daraus zu machen.

So spazierten die beiden durch Dibton in Hampshire, wohin Elfrida vor achtzehn Monaten gezogen war, als sie London ein für alle Mal verlassen hatte, um ein neues Leben zu beginnen. Zuerst hatte sie sich ein bisschen einsam gefühlt, aber jetzt konnte sie sich schon gar nicht mehr vorstellen, woanders zu leben. Von Zeit zu Zeit machten sich alte Bekannte aus ihrer Theaterzeit unerschrocken auf die Reise von London, um ihr einen Besuch abzustatten, und schliefen auf dem unbequemen Sofa in dem winzigen Zimmer, das sie ihr Arbeitszimmer nannte und wo ihre Nähmaschine stand, auf der sie kunstvolle, elegante Kissen für ein Einrichtungsgeschäft in der Sloane Street nähte, um sich nebenbei ein bisschen Geld dazuzuverdienen.

In ihrer ganzen Fürsorglichkeit mussten diese Freunde sich dann bei ihrer Abfahrt vergewissern, ob Elfrida sich auch wohl fühlte. «Bereust du auch nichts, Elfrida? Hast keine Sehnsucht nach London und bist wirklich glücklich hier?» Und sie hatte sie jedes Mal beruhigen können: «Natürlich. Dies ist mein friedlicher Alterssitz. Hier will ich meinen Lebensabend verbringen.»

Inzwischen fühlte sie sich wie zu Hause. Sie wusste, wer in dem Haus hier und in dem Haus dort wohnte. Die Leute begrüßten sie mit Namen. «Guten Morgen, Elfrida» oder «Was für ein schöner Tag, Mrs. Phipps.» Manche Bewohner pendelten zwischen Dibton und London hin und her. Sie ließen ihren Wagen morgens am Bahnhof stehen, nahmen den Zug in die Stadt und kehrten erst spätabends zurück. Andere hatten ihr ganzes Leben in den kleinen Backsteinhäusern verbracht, die schon ihren Eltern und Großeltern gehört hatten. Wieder andere waren neu zugezogen, wohnten in den Neubausiedlungen am Dorfrand und arbeiteten in der Elektronikfabrik in der Nachbarstadt. Es war alles sehr anspruchslos und provinziell. Genau das, was Elfrida brauchte.

Sie ging am Pub vorbei, der gerade renoviert worden war und sich nun Coachhouse nannte. Über dem Eingang hing ein schmiedeeisernes Schild, und hinten gab es einen neuen, geräumigen Parkplatz. Etwas weiter kam die Kirche mit den stattlichen Eiben und dem Friedhofstor mit einem Aushang der neuesten Gemeindenachrichten. Ein Gitarrenkonzert und ein Ausflug für die Gruppe von Müttern mit Kleinkindern. Auf dem Friedhof unterhielt ein Mann ein Feuer, und der süßliche Duft verbrannter Blätter lag in der Luft. Auf einem der Friedhofstorpfosten saß eine Katze, aber Horaz übersah sie zum Glück.

Die Straße machte einen Bogen, und an ihrem Ende, neben dem langweiligen Flachbau, in den der Pfarrer gezogen war, lag der Dorfladen, an dessen Fassade bunte Fähnchen Reklame für Eis machten. Vor dem Laden standen ein paar Halbstarke mit Fahrrädern herum, und der Postmann mit seinem roten Auto war gerade dabei, den Briefkasten zu leeren.

Das Schaufenster war vergittert, damit Ungebetene nicht etwa einbrechen und sich an dem Arrangement aus Keksdosen und Gemüsekonserven vergreifen konnten, das Mrs. Jennings für den Inbegriff einer geschmackvollen Schaufensterdekoration hielt. Elfrida stellte ihren Korb ab und befestigte die Hundeleine an einer der Gitterstangen. Resigniert ließ Horaz sich auf dem Pflaster nieder. Er hasste es, draußen bleiben zu müssen und der Willkür erbarmungsloser Halbwüchsiger ausgesetzt zu sein, aber Mrs. Jennings duldete keine Hunde im Laden. Sie hoben überall das Bein und waren ihrer Meinung nach grässliche Biester.

In dem hell erleuchteten Laden mit seiner niedrigen Decke war es angenehm warm. Kühlschränke und Gefriertruhen summten, und überall brannte Neonlicht. Mrs. Jennings hatte erst vor wenigen Monaten moderne Verkaufsständer anfertigen lassen, ihrer Meinung nach ein entschiedener Fortschritt. Wegen all dieser Barrikaden konnte man nicht mehr mit einem Blick überschauen, wer sich im Laden befand, und Elfrida musste erst eine Ecke umrunden (Nescafé und Tee), ehe sie den vertrauten Rücken neben der Kasse entdeckte.

 

Oscar Blundell. Elfrida war eigentlich aus dem Alter heraus, wo ihr Herz vor Freude einen Luftsprung machte, aber sie freute sich trotzdem, wenn sie Oscar sah. Er war einer der ersten Menschen, den sie bei ihrer Ankunft in Dibton kennengelernt hatte, denn als sie eines Sonntagmorgens zur Kirche gegangen war, hatte der Pfarrer, dem die Haare in der frischen Frühjahrsbrise zu Berge standen und dessen Soutane im Wind wie frisch gewaschene Wäsche auf der Leine flatterte, sie an der Tür angehalten. Er hatte sie in Dibton willkommen geheißen und etwas von Blumenarrangieren und Frauenkreis hinzugefügt, war dann aber zum Glück abgelenkt worden. «Und hier kommt unser Organist. Oscar Blundell. Nicht unser ständiger Organist, aber er springt bereitwillig ein, wann immer Not am Mann ist.»

Elfrida drehte sich um und sah einen Mann aus dem Dunkel der Kirche in den Sonnenschein hinaustreten und auf sie zukommen. Sie sah ein freundliches, amüsiertes Gesicht, schwere Augenlider und dichtes weißes Haar, das vermutlich einmal blond gewesen war. Er war so groß wie Elfrida, was ungewöhnlich war. Mit ihrer gertenschlanken Figur und ihren ein Meter achtzig überragte Elfrida die meisten Männer, aber Oscar war auf ihrer Augenhöhe, und ihr gefiel, was sie sah. Da Sonntag war, trug er einen Tweedanzug und eine hübsche Krawatte dazu, und sein fester Händedruck fühlte sich gut an.

«Bewundernswert», sagte Elfrida. «Orgel spielen zu können, meine ich. Ist das Ihr Hobby?»

Er erwiderte ganz ernsthaft: «Nein, mein Job. Mein Leben.» Und dabei lächelte er, was seinen Worten alle Großspurigkeit nahm. «Mein Beruf», fügte er hinzu.

Ein oder zwei Tage später bekam Elfrida einen Anruf.

«Hallo, hier ist Gloria Blundell. Sie haben am Sonntag nach der Kirche meinen Mann getroffen. Den Organisten. Kommen Sie doch am Donnerstag zum Essen zu uns. Sie wissen ja, wo wir wohnen. In der Grange. Dem roten Backsteinkasten am Ende des Dorfes, mit den Türmchen.»

«Wie nett von Ihnen. Ich freue mich.»

«Haben Sie sich schon eingelebt?»

«So einigermaßen.»

«Wunderbar. Also bis Donnerstag. Gegen halb acht.»

«Herzlichen Dank.» Aber der Hörer am anderen Ende der Leitung war bereits aufgelegt worden. Mrs. Blundell war offenbar keine Frau, die Zeit zu verschwenden hatte.

Die Grange war das größte Haus in Dibton und über eine Auffahrt mit pompösem Eingangstor zu erreichen. Irgendwie passte beides nicht zu Oscar Blundell, sodass Elfrida gespannt war, seine Frau zu treffen und seine häusliche Umgebung in Augenschein zu nehmen. Man lernte Leute eigentlich erst richtig kennen, wenn man sie in ihren eigenen vier Wänden erlebte und mit ihren Möbeln, ihren Büchern und ihrer Lebensweise vertraut war.

Am Donnerstagmorgen ging Elfrida zum Friseur, um sich die Haare waschen und wie allmonatlich farblich auffrischen zu lassen. Offiziell ging sie als erdbeerblond, aber gelegentlich geriet der Ton etwas zu sehr ins Orange. Heute war es wieder einmal passiert, aber Elfrida konnte sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Sie war unschlüssig, was sie anziehen sollte. Schließlich entschied sie sich für einen knöchellangen geblümten Rock und eine dreiviertellange Jacke aus seegrünem Strickstoff. Haarfarbe, Blumen und Jacke zusammen hatten eine ziemlich spektakuläre Wirkung, aber durch ein extravagantes Äußeres stärkte Elfrida ihr Selbstvertrauen.

Sie machte sich zu Fuß auf den Weg, ein Gang von etwa zehn Minuten die Dorfstraße entlang, durch das pompöse Tor und die Auffahrt zum Haus hinauf. Ausnahmsweise war sie einmal pünktlich. Da sie zum ersten Mal hier war, machte sie nicht einfach die Tür auf und trat, wie es sonst ihre Art war, mit einem «Juhu» ins Haus, sondern drückte auf die Klingel. Dabei konnte sie es drinnen im Haus klingeln hören. Während sie wartete, ließ sie den Blick über den gepflegten Rasen schweifen, der aussah, als sei er zum ersten Mal in diesem Jahr geschnitten worden. Es roch nach frisch gemähtem Gras und feuchtem, kühlem Frühlingsabend.

Schritte näherten sich. Die Tür wurde geöffnet. Eine Frau in blauem Kleid und geblümter Schürze, ganz sicher nicht die Gastgeberin, stand vor ihr.

«Guten Abend. Mrs. Phipps, ja? Treten Sie ein. Mrs. Blundell kommt sofort, sie ist oben und macht sich nur schnell noch das Haar.»

«Bin ich die Erste?»

«Ja, aber keine Sorge. Die anderen werden gleich hier sein. Soll ich Ihnen die Jacke abnehmen?»

«Danke, ich behalte sie an.» Kein Grund, ins Detail zu gehen und zu erklären, dass die kleine Seidenbluse unter der Strickjacke ein Loch unterm Arm hatte.

«Hier entlang bitte, in den Salon …»

Aber sie wurden unterbrochen. «Sie sind sicher Elfrida Phipps … Es tut mir leid, dass ich Sie nicht an der Tür begrüßt habe …» Elfrida hob den Blick und sah die Gastgeberin die prächtige Treppe herunterkommen. Sie war eine stattliche Frau, groß und gut proportioniert, in schwarzer Seidenhose und einer lockeren gestickten chinesischen Jacke darüber. In der Hand trug sie ein halb volles Glas, das nach Whisky Soda aussah.

«… Ich habe mich ein bisschen verspätet, und dann rief auch noch jemand an. Guten Abend», sie streckte die Hand aus, «Gloria Blundell. Schön, Sie zu sehen.»

Sie hatte ein frisches, offenes Gesicht mit ganz blauen Augen und Haare, die wie Elfridas vermutlich gefärbt waren, aber in diskreterem, sanftem Blond.

«Wie nett, dass Sie mich eingeladen haben.»

«Kommen Sie und wärmen Sie sich auf. Danke, Mrs. Muswell, die anderen finden den Weg allein … hier entlang, bitte …»

Elfrida folgte ihr in einen großen, im Stil der dreißiger Jahre getäfelten Raum mit einem riesigen Backsteinkamin, in dem ein Holzfeuer brannte. Vor dem Kamin stand ein lederbezogener Kaminschirm, und der Raum war mit üppig gepolsterten, groß gemusterten Sofas und Sesseln möbliert. Die pflaumenblauen Samtportieren waren mit goldener Tresse besetzt, und auf dem Teppichboden lagen überall dicke, farbenprächtige Perserteppiche. Nichts war alt, abgenutzt oder verblichen, alles strahlte eine Atmosphäre von Wärme und heiterem, männlichem Wohlbehagen aus.

«Wohnen Sie hier schon lange?» Elfrida gab sich Mühe, nicht zu neugierig zu erscheinen.

«Seit fünf Jahren. Ich habe das Haus von einem alten Onkel geerbt. War mir immer lieb und teuer, schon als Kind war ich gern hier.» Sie stellte ihr Glas hart auf einem kleinen Beistelltischchen ab und warf mit Schwung einen enormen Holzkloben ins Feuer. «Sie haben keine Vorstellung, wie es hier aussah. Alles verschlissen und voller Motten. Es musste von Grund auf überholt werden. Hab auch gleich eine neue Küche und zwei neue Badezimmer einbauen lassen.»

«Und wo haben Sie vorher gewohnt?»

«Oh, in London. Ich hatte ein Haus in Elm Park Gardens.» Gloria ergriff ihr Glas, nahm einen kräftigen Schluck und stellte es wieder ab. Dabei gönnte sie Elfrida ein Lächeln. «Mein Ankleidetrunk. Vor Partys brauche ich immer einen kleinen Muntermacher. Was kann ich Ihnen anbieten? Sherry? Oder Gin Tonic? Ja, wir haben uns dort sehr wohl gefühlt und hatten unendlich viel Platz. Und St. Biddulph, die Kirche, wo Oscar Organist war, lag nur etwa zehn Minuten entfernt. Wir wären wahrscheinlich dort geblieben, aber dann hat mein alter Junggesellenonkel das Zeitliche gesegnet, wie man so sagt, und mir die Grange vererbt. Außerdem haben wir eine Tochter, Francesca. Sie ist jetzt elf. Ich war immer dafür, dass Kinder auf dem Land aufwachsen. Wo Oscar nur bleibt? Er sollte sich eigentlich um die Getränke kümmern. Sitzt vermutlich irgendwo mit einem Buch und hat die Welt um sich herum vergessen. Sie werden noch andere Leute kennenlernen. Die McGearys. Er arbeitet in London. Und Joan und Tommy Mills. Tommy arbeitet beratend für unser Krankenhaus in Pedbury. Entschuldigung, haben Sie Sherry oder Gin Tonic gesagt?»

Elfrida sagte Gin Tonic und sah zu, wie Gloria Blundell ihr von dem reich bestückten Tisch am anderen Ende des Raums einen Drink einschenkte. Dann goss sie sich selbst einen tüchtigen Schuss Scotch nach.

«Da. Ich hoffe, er ist stark genug. Möchten Sie Eis? Aber nun setzen Sie sich, machen Sie sich’s bequem und erzählen Sie mir von Ihrem kleinen Haus.»

«Na ja … es ist klein.»

Gloria lachte. «Poulton’s Row, ja? Die Häuser wurden damals für die Eisenbahner gebaut. Ist es schrecklich beengt?»

«Eigentlich nicht. Ich habe nicht viele Möbel, und Horaz und ich brauchen nicht viel Platz. Horaz ist mein Hund. Eine Promenadenmischung. Nicht besonders hübsch.»

«Ich habe zwei Pekinesen, die allerdings sehr hübsch sind. Aber sie beißen meine Gäste, und deshalb werden sie zu Mrs. Muswell in die Küche verbannt. Und was hat Sie ausgerechnet nach Dibton verschlagen?»

«Ich habe eine Annonce in der Sunday Times gesehen. Mit einem Bild. Es sah sehr attraktiv aus. Und war nicht zu teuer.»

«Ich muss mal vorbeikommen. Bin seit meiner Kindheit nicht mehr in diesen kleinen Häuschen gewesen. Früher hab ich dort die Witwe von einem alten Gepäckträger besucht. Und was machen Sie?»

«Wie bitte?»

«Gartenarbeit? Golf? Wohltätigkeitsvereine?»

Elfrida zögerte. Sie hatte so ihre Erfahrungen mit dominierenden Frauen. «Ich versuche, den Garten in Ordnung zu bringen, aber bisher habe ich vorwiegend ausgemistet.»

«Reiten Sie?»

«Ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen.»

«Eine eindeutige Antwort. Ich bin viel geritten, als meine Söhne noch klein waren, aber das ist lange her. Francesca hat ein kleines Pony, aber ich fürchte, sie macht sich nicht viel draus.»

«Sie haben auch Söhne?»

«O ja. Erwachsen und beide verheiratet.»

«Aber …?»

«Ich bin zum zweiten Mal verheiratet. Oscar ist mein zweiter Mann.»

«Entschuldigen Sie, das wusste ich nicht.»

«Kein Grund zur Entschuldigung. Mein Sohn Giles arbeitet in Bristol, und Crawford hat einen Job in London. Mit Computern oder so, geht über meinen Horizont. Wir kannten Oscar schon seit Jahren, weil wir in St. Biddulph am Raleigh Square zur Kirche gegangen sind. Er hat beim Begräbnis meines Mannes wunderschön Orgel gespielt. Als wir dann heirateten, sind meine Freunde aus allen Wolken gefallen. Der alte Junggeselle, haben sie gesagt. Weißt du auch, worauf du dich einlässt?»

Elfrida hörte fasziniert zu. «War Oscar sein Leben lang Musiker?», fragte sie.

«Immer. Er hat an der Chorschule von Westminster Abbey studiert und danach am Goodridge College Musik unterrichtet. Dort war er jahrelang Chorleiter und Organist. Als er den Unterricht aufgab, ist er nach London gezogen und Organist in St. Biddulph geworden. Ich glaube, sie hätten ihn mit den Füßen voran hinaustragen müssen, aber dann ist mein Onkel gestorben, und das Schicksal hat es anders gewollt.»

Oscar tat Elfrida ein bisschen leid. «Ist es ihm sehr schwergefallen, London zu verlassen?»

«Es ist immer schwer, einen alten Baum zu verpflanzen. Aber um Francescas willen hat er das Opfer bereitwillig auf sich genommen. Und hier hat er sein Musikzimmer und seine Bücher und Partituren, und nebenbei gibt er Privatunterricht, um nicht ganz einzurosten. Musik ist nun mal sein Leben. Er freut sich, wenn in Dibton Not am Mann ist und er sonntagmorgens beim Gottesdienst spielen darf. Und natürlich schleicht er sich dauernd heimlich hinüber, um in aller Ruhe üben zu können.» Während Gloria sprach, war hinter ihr, ohne dass sie es merkte, leise die Tür zum Flur aufgegangen. Als sie sah, dass Elfridas Aufmerksamkeit abgelenkt war, drehte sie sich im Sessel um und blickte über die Schulter.

«Ach, da bist du ja, mein Lieber. Wir sprechen gerade von dir.»

 

Die übrigen Gäste trafen alle auf einmal ein und füllten die Eingangshalle mit Stimmengewirr. Die Blundells gingen hinaus, um sie zu begrüßen, und Elfrida war einen Augenblick lang allein. Sie war in Versuchung, nach Hause zu gehen, um sich das Gehörte in aller Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen, aber das ging natürlich nicht. Noch bevor sie sich den schändlichen Gedanken aus dem Kopf schlagen konnte, waren die Gastgeber wieder da, drängten die Gäste ins Wohnzimmer, und die Dinnerparty nahm ihren Lauf.

Es war ein formvollendeter Abend, üppig und traditionell, mit ausgezeichnetem Essen und einer Reihe erlesener Weine. Sie aßen geräucherten Lachs und einen appetitlich angerichteten Lammbraten, es gab drei verschiedene Desserts, Schüsseln mit dicker Schlagsahne und anschließend einen blau geäderten Stilton, der einem auf der Zunge zerging. Als der Port eingeschenkt wurde, stellte Elfrida amüsiert fest, dass die Damen nicht etwa das Zimmer verließen, sondern bei den Männern sitzen blieben, und obwohl sie selbst inzwischen auf Wasser umgeschwenkt war, das sie sich aus einer Kristallkaraffe einschenkte, sah sie, dass die anderen Frauen ihren Port genossen, Gloria allen voran.

Sie fragte sich, ob Gloria, die an der Schmalseite der Tafel den Vorsitz führte, des Guten nicht doch zu viel getan hatte und, wenn es ans Aufstehen ging, nur mit Mühe auf die Beine kommen würde. Aber Gloria war aus anderem Holz geschnitzt, und als Mrs. Muswell den Kopf durch die Tür steckte und verkündete, dass der Kaffee im Salon serviert sei, ging sie mit sicherem Schritt aus dem Esszimmer und durch den Flur voran.

Die Gesellschaft gruppierte sich zwanglos um den Kamin. Als Elfrida ihre Tasse Kaffee vom Tablett nahm, sah sie durch das noch nicht zugezogene Fenster einen saphirblauen Himmel. Obwohl es ein wechselhafter Frühlingstag mit Regenschauern und gelegentlichem Sonnenschein gewesen war, hatten sich die Wolken während des Essens verzogen, und über einer fernen, knospenden Buche war am Himmel der erste Stern zu sehen. Elfrida nahm auf der breiten Fensterbank Platz und sah hinaus.

Nach einer Weile gesellte sich Oscar zu ihr. «Fühlen Sie sich nicht wohl?», fragte er.

Sie drehte sich zu ihm um. Er war während des Essens so mit dem Einschenken von Wein und Herumreichen der delikaten Nachspeisen beschäftigt gewesen, dass sie den ganzen Abend kaum ein Wort mit ihm gewechselt hatte.

«Doch. Aber was für ein herrlicher Abend. Und Ihre Osterblumen sind schon im Kommen.»

«Haben Sie etwas für Gärten übrig?»

«Ich habe leider nicht viel Erfahrung. Aber Ihrer sieht ganz besonders einladend aus.»

«Wollen wir einen kleinen Rundgang zusammen machen? Noch ist es nicht dunkel.»

Sie warf einen Blick auf die anderen, die es sich in lebhaftem Gespräch in den tiefen Sesseln bequem gemacht hatten.

«Ja, sehr gern. Aber ich möchte nicht unhöflich erscheinen.»

«Keine Sorge.» Er nahm ihr die Tasse aus der Hand und stellte sie aufs Tablett. «Elfrida und ich machen einen kleinen Gang durch den Garten.»

«Um diese Zeit?», meinte Gloria erstaunt. «Es ist doch kalt und dunkel draußen.»

«Noch nicht ganz. Wir bleiben nur zehn Minuten.»

«Aber sieh zu, dass das arme Mädchen etwas überzieht. Es ist kühl und feucht draußen … Und lassen Sie sich nicht zu lange festhalten, meine Liebe …»

«Ich passe auf …»

Die anderen wandten sich wieder ihrem Gespräch zu, bei dem es um das enorme Schulgeld für Privatschulen ging. Elfrida und Oscar traten in den Flur, und er schloss leise die Tür hinter sich. Dann nahm er einen dicken, mit Schaffell gefütterten Ledermantel von einem Stuhl. «Er gehört Gloria … Nehmen Sie ihn.» Damit legte er ihn Elfrida fürsorglich um die Schultern. Dann öffnete er die verglaste Eingangstür, und sie traten in die kühle, reine Frühlingsluft hinaus. Büsche und Hecken schimmerten in der Dämmerung, und das Gras unter ihren Füßen war feucht vom Tau.

Sie wanderten nebeneinander her. Die Rasenfläche wurde von einer bewachsenen Mauer abgeschlossen, in die ein Torbogen mit einem imposanten schmiedeeisernen Tor eingelassen war. Oscar öffnete das Tor, und sie traten in einen weitläufigen Garten, den niedrige Buchsbaumhecken in säuberliche geometrische Flächen unterteilten. Ein Teil war mit beschnittenen, sorgfältig gedüngten Rosensträuchern bestanden, die im Sommer ihre ganze Pracht entfalten würden.

Angesichts solcher Perfektion überkam Elfrida ein Gefühl der Unzulänglichkeit.

«Ist das alles Ihr Werk?»

«Nein. Ich mache die Planung, aber ich habe einen Gärtner.»

«Ich kenne überhaupt keine Blumen, denn ich habe noch nie einen richtigen Garten besessen.»

«Meine Mutter war nie um einen Blumennamen verlegen. Wenn sie nach einer Blume gefragt wurde und den Namen nicht kannte, dann sagte sie einfach im Brustton der Überzeugung Topfiblumicum oder Vergissmeinamia. Das hat immer Eindruck gemacht.»

«Das muss ich mir merken.»

Einträchtig schlenderten sie den breiten, kiesbestreuten Gartenpfad entlang. «Ich hoffe, Sie haben sich beim Essen nicht ausgeschlossen gefühlt», sagte Oscar. «Ich fürchte, wir sind schreckliche Hinterwäldler.»

«Ganz und gar nicht. Ich habe mich sehr gut unterhalten. Ich höre gern zu.»

«Das Leben in der Provinz. Es wimmelt nur so von Intrigen.»

«Vermissen Sie London?»

«Gelegentlich sehr. Konzerte und Opern. Und St. Biddulph, meine Kirche.»

«Sind Sie ein gläubiger Mensch?», fragte Elfrida unvermutet und bereute es im gleichen Moment. Es war viel zu früh für eine so persönliche Frage.

Aber es schien ihn nicht zu beirren. «Ich weiß es nicht. Mein ganzes Leben war so von Kirchenmusik, liturgischen Gesängen und den Magnifikats der anglikanischen Kirche durchdrungen, dass es mir vermutlich gegen den Strich ginge, in einer Welt zu leben, in der ich niemandem zu danken hätte.»

«Meinen Sie für alle guten Dinge im Leben?»

«Genau.»

«Ich verstehe, obwohl ich überhaupt kein gläubiger Mensch bin. Ich bin am Sonntagmorgen nur zur Kirche gegangen, weil ich mich ein bisschen verlassen fühlte und Leute um mich haben wollte. Mit der herrlichen Musik hatte ich gar nicht gerechnet. Und das Tedeum habe ich so noch nie gehört.»

«Die Orgel ist ganz neu. Finanziert mit zahllosen Wohltätigkeitsbasaren.»

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann sagte Elfrida: «Gehört das auch zu den guten Dingen? Die neue Orgel zum Beispiel.»

Er lachte. «Sie sind ja wie ein kleiner Hund, der seinen Knochen nicht loslässt. Ja, natürlich gehört die dazu.»

«Was sonst noch?»

Er antwortete nicht gleich. Sie dachte an sein Familienleben, seine Frau, sein ungeheuer gemütliches, großzügiges Haus. Sein Musikzimmer, seine Freunde, seine offensichtliche finanzielle Sicherheit. Sie hätte gern gewusst, wie Oscar dazu gekommen war, Gloria zu heiraten. Hatte er nach jahrelangem Alleinsein unter halbwüchsigen Jungen, mit magerem Gehalt und in muffigen Schulzimmern mit Schrecken das Schicksal eines einsamen, alternden Junggesellen auf sich zukommen sehen? Und sich vorsichtshalber mit der reichen, beherzten Witwe, perfekten Gastgeberin, der guten Freundin und tüchtigen Mutter liiert? Oder war sie es gewesen, die ihm nachgestellt und den Entschluss gefasst hatte? Vielleicht hatten sie sich auch Hals über Kopf ineinander verliebt. Wie dem auch war, es schien zu funktionieren.

Es herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann sagte Elfrida: «Sie brauchen mir nicht zu antworten.»

«Ich musste erst darüber nachdenken, wie ich es erklären soll. Ich habe spät geheiratet, und Gloria hatte bereits Kinder aus erster Ehe. Irgendwie bin ich nie auf den Gedanken gekommen, dass ich auch eigene Kinder haben könnte. Als Francesca geboren wurde, war ich einfach fassungslos, nicht nur darüber, dass sie da war, ein winziges menschliches Wesen, sondern auch noch so wunderschön. Und so vertraut. Als hätte ich sie mein Leben lang gekannt. Ein echtes Wunder. Jetzt ist sie elf, und ich kann mein Glück noch immer nicht fassen.»

«Ist sie zu Hause?»

«Nein, sie ist die Woche über im Internat. Aber morgen Abend hole ich sie zum Wochenende nach Hause.»

«Ich würde sie gern kennenlernen.»

«Natürlich. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie von ihr entzückt sind. Als Gloria diesen riesigen Kasten geerbt hat, habe ich mich dagegen gewehrt, London zu verlassen. Aber Francescas wegen habe ich nachgegeben und zugestimmt. Hier hat sie alle Freiheit, sich zu bewegen. Hier gibt es Bäume, den Duft von Gras, Platz, sich zu entfalten. Platz für Kaninchen und Meerschweinchen und für das Pony.»

«Für mich», sagte Elfrida, «ist das Beste das morgendliche Vogelgezwitscher und die weiten Himmel.»

«Sie sind also auch aus London geflohen?»

«Ja. Es wurde Zeit.»

«Tat es weh?»

«Ein bisschen. Ich habe schließlich mein ganzes Leben dort verbracht. Seit ich die Schule beendet habe und von zu Hause fortgegangen bin. Ich habe die Königliche Schauspielschule in London besucht und war beim Theater. Sehr zum Leidwesen meiner Eltern. Aber das hat mich nicht abgehalten. Ich hatte immer meinen eigenen Kopf.»

«Also Schauspielerin. Das hätte ich mir denken können.»

«Und Sängerin. Und Tänzerin. In Revuen und großen amerikanischen Musicals. Ich war immer die Lange in der hintersten Reihe, weil ich so schrecklich groß war. Und dann jahrelang Engagements und Tourneen und kleine Rollen im Fernsehen. Nichts sonderlich Berühmtes.»

«Und treten Sie noch immer auf?»

«Großer Gott, nein. Ich habe den Beruf schon vor Jahren an den Nagel gehängt. Ich war mit einem Schauspieler verheiratet, ein furchtbarer Irrtum aus allen erdenklichen Gründen. Er ging dann nach Amerika und ward nicht mehr gesehen, also habe ich mich mit allen möglichen Jobs über Wasser gehalten, bis ich wieder geheiratet habe. Aber auch das ist nicht gut gegangen. Ich hatte wohl nie eine besonders glückliche Hand.»

«War Ehemann Nummer zwei auch Schauspieler?» Oscars Stimme klang eher belustigt, und genau das hatte Elfrida beabsichtigt. Sie sprach selten von ihren Ehen und fand, dass Katastrophen ohnehin nur erträglich waren, wenn man darüber lachte.

«Nein, nein, er war Geschäftsmann. Handelte mit furchtbar teuren Bodenbelägen. Man hätte meinen sollen, ich wäre in den besten Händen gewesen, aber er lebte in der unangenehmen viktorianischen Vorstellung, dass ein Mann seine ehelichen Verpflichtungen bereits erfüllt hat, wenn er seiner Frau ein Zuhause bietet und ihr von Zeit zu Zeit etwas Haushaltsgeld in die Hand drückt.»

«Tja», sagte Oscar, «und warum auch nicht? Eine alte Tradition, die sich über Jahrhunderte bewährt hat. Nur nannte man es damals Sklaverei.»

«Wie gut, dass Sie Verständnis haben. Mein sechzigster Geburtstag war der schönste Tag meines Lebens. Ich bekam meinen Rentenausweis und wusste, dass ich schnurstracks zum nächsten Postamt gehen und mir auf die Hand Geld auszahlen lassen konnte, ohne einen Finger dafür zu rühren. Mir war mein Leben lang nichts geschenkt worden. Es war wie der Beginn eines neuen Lebens.»

«Haben Sie Kinder?»

«Nein. Keine Kinder.»

«Sie haben mir noch immer nicht erklärt, warum Sie ausgerechnet in dieses Dorf gezogen sind.»

«Das Bedürfnis, Vergangenes hinter mir zu lassen.»

«Ein mutiger Schritt.»

Inzwischen war es fast dunkel geworden. Elfrida drehte sich zum Haus um und sah durch das Gitterwerk des schmiedeeisernen Tores gedämpftes Licht aus den Fenstern dringen. Jemand hatte die Vorhänge zugezogen. «Ich habe noch mit niemandem darüber gesprochen», sagte sie. «Ich habe noch nie jemandem davon erzählt.»

«Sie brauchen es mir nicht zu erzählen.»

«Vielleicht habe ich schon zu viel geredet. Vielleicht habe ich beim Essen zu viel getrunken.»

«Das glaube ich nicht.»

«Es gab noch einen Mann. Einen einzigartigen, liebevollen, liebenswerten, geistreichen, schlicht vollkommenen Mann. Auch Schauspieler, aber diesmal ein erfolgreicher und berühmter, dessen Namen ich nicht nennen möchte. Brillant. Wir haben drei Jahre gemeinsam in seinem kleinen Haus in Barnes gelebt, aber dann bekam er die Parkinson’sche Krankheit, und es hat noch zwei Jahre gedauert, bis er starb. Es war sein Haus, also musste ich ausziehen. Eine Woche nach seiner Beerdigung sah ich die Anzeige für das Häuschen in der Poulton’s Row. In der Sunday Times. Und eine Woche später habe ich es gekauft. Ich habe nicht viel Geld, aber es war nicht sehr teuer. Ich habe meinen geliebten Hund Horaz mitgebracht, der mir Gesellschaft leistet, und ich habe meine Rente, und nebenbei nähe ich Kissen für ein ziemlich hochgestochenes Einrichtungsgeschäft in London. Es ist nicht sehr anstrengend, gibt mir aber Beschäftigung und hält mich über Wasser. Ich hab immer gern genäht, und die Arbeit mit den hübschen, kostspieligen Stoffen macht mir Spaß. Und jeder Auftrag ist anders.» Es klang alles sehr banal. «Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Es klingt nicht sehr interessant.»

«Ich finde es faszinierend.»

«Ich weiß nicht recht, warum. Aber Sie sind sehr liebenswürdig.» Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen oder den Ausdruck in seinen verhangenen Augen. «Ich glaube, es ist Zeit, dass wir zu den anderen zurückkehren.»

«Natürlich.»

«Ihr Garten gefällt mir. Ich danke Ihnen. Irgendwann muss ich ihn einmal bei Tag besichtigen.»

Das war am Donnerstag. Am folgenden Sonntagmorgen regnete es, kein Frühlingsschauer, sondern ein regelrechter Landregen, der gegen die Fenster von Elfridas Cottage trommelte und die winzigen Zimmer verdunkelte, sodass sie überall Licht machen musste. Nachdem sie Horaz zum Pinkeln in den Garten hinausgelassen hatte, machte sie es sich mit einer Tasse Tee wieder im Bett bequem, wo sie den Morgen warm, gemütlich und faul über der gestrigen Zeitung und dem kniffligen Kreuzworträtsel zu verbringen gedachte.

Aber kurz nach elf wurde sie durch das Läuten ihrer Türglocke aufgeschreckt, einer scheppernden Vorrichtung, die durch einen Draht in Bewegung gesetzt wurde. Sie machte einen Lärm wie eine Feuerwehrglocke, und Elfrida schoss vor Schreck in die Höhe. Horaz saß in Habtachtstellung am Fußende ihres Bettes und bellte ein paar Mal. Mehr war von ihm zum Schutz seiner Herrin nicht zu erwarten, denn er war ängstlicher Natur, und zu knurren oder Eindringlinge zu beißen lag ihm fern.

Eher überrascht als beunruhigt verließ Elfrida das Bett, zog ihren Morgenmantel über, band ihn zu und stieg die steile, schmale Treppe hinunter. Sie führte direkt ins Wohnzimmer und die Haustür unmittelbar auf den klitzekleinen Vorgarten. Dort fand Elfrida ein kleines Mädchen in Jeans und Turnschuhen und einem klitschnassen Anorak. Sie trug keine Kapuze, sodass sie aussah wie ein kleiner Hund, den man aus dem Wasser gezogen hatte. Das kupferfarbene Haar war zu Zöpfen geflochten und das sommersprossige Gesicht von der frischen, feuchten Frühjahrsluft rosig angehaucht.

«Mrs. Phipps?»

Sie trug eine Zahnspange, einen ganzen Mund voller Eisenwaren.

«Ja?»

«Ich bin Francesca Blundell. Meine Mutter fragt, ob Sie an solch einem schrecklichen Tag nicht zum Lunch kommen wollen. Wir haben einen riesigen Braten und Unmengen von …»

«Aber ich war doch gerade erst zum Essen bei euch …»

«Genau das würden Sie sagen, hat sie gesagt.»

«Das ist furchtbar nett von ihr. Aber wie du siehst, bin ich noch nicht einmal angezogen. Ich habe noch nicht mal an Lunch gedacht.»

«Sie wollte Sie anrufen. Aber ich hab gesagt, ich nehm mein Fahrrad.»

«Du bist mit dem Rad hier?»

«Es steht draußen auf dem Fußweg. Aber das macht nichts.» Um ein Haar hätte sie aus der überlaufenden Regenrinne eine kalte Dusche abbekommen.

«Komm lieber rein, bevor du ertrinkst», sagte Elfrida.

«Vielen Dank.» Francesca folgte der Einladung ohne Zögern. Beim Klang ihrer Stimmen schien Horaz die Luft für rein zu halten und kam würdevoll die Treppe herunter. Elfrida schloss die Tür. «Dies ist mein Hund, Horaz.»

«Ist der süß! Hallo, du. Mamis Pekinesen müssen immer stundenlang kläffen, wenn Besuch kommt. Darf ich meinen Anorak ausziehen?»

«Ja, eine gute Idee.»

Francesca zog den Reißverschluss auf, entledigte sich ihrer Jacke und hängte sie über den Pfosten am Ende des Treppengeländers, wo sie weiter auf den Fußboden tropfte.

Dann sah sie sich um. «Ich habe diese kleinen Häuser immer so niedlich gefunden, aber ich war noch nie in einem drin.» Ihre Augen waren groß und grau und von dichten, blonden Wimpern umgeben. «Als Mami sagte, dass Sie hier wohnen, konnte ich es gar nicht abwarten. Deshalb bin ich mit dem Rad gekommen. Das macht doch nichts, oder?»

«Überhaupt nichts. Ich fürchte nur, es ist ziemlich eng bei mir.»

«Ich finde es hinreißend.»

Das war stark übertrieben. Der Raum war mit den wenigen persönlichen Habseligkeiten ausgestattet, die Elfrida aus London mitgebracht hatte, und wirkte beengt und schäbig. Das durchgesessene Sofa, der kleine viktorianische Sessel, das Kamingitter aus Messing, der ramponierte Schreibtisch. Lampen, ein paar Bilder und viel zu viele Bücher.

«Ich wollte den Kamin anmachen, weil heute solch ein trüber Tag ist, aber ich bin noch nicht dazu gekommen. Möchtest du eine Tasse Tee oder Kaffee oder sonst etwas?»

«Nein danke, ich habe gerade eine Cola getrunken. Wo geht die Tür hin?»

«In die Küche. Ich zeig sie dir.»

Sie ging voran, hob den Riegel an der hölzernen Tür hoch und stieß sie auf. Ihre Küche war nicht größer als eine Schiffskombüse. Hier bullerte ein kleiner Kohlenofen vor sich hin und hielt das ganze Haus warm. Der Küchenschrank war mit Geschirr gefüllt, unter dem Fenster stand ein altmodischer Spülstein, und der restliche freie Raum wurde von einem Holztisch und zwei Stühlen eingenommen. Neben dem Fenster führte eine Stalltür in den Garten. Die obere Hälfte der Tür hatte kleine Butzenscheiben, sodass man einen gepflasterten Hof und die Rudimente eines Blumenbeets sehen konnte, das Elfrida begonnen hatte anzulegen. Zwischen den Steinplatten spross Farnkraut aus dem Boden, und über die Mauer zum Nachbarhaus rankte ein üppiges Geißblatt.

«An einem Tag wie heute sieht es nicht besonders einladend aus, aber es ist gerade Platz genug, um an Sommerabenden im Liegestuhl draußen zu sitzen.»

«Ach, mir gefällt es.» Dann sah Francesca sich mit kritischen Hausfrauenaugen um. «Sie haben ja gar keinen Kühlschrank. Und keine Waschmaschine. Und Sie haben auch keine Kühltruhe.»

«Nein, eine Kühltruhe hab ich nicht. Aber ich habe einen Kühlschrank und auch eine Waschmaschine. Nur stehen sie draußen im Schuppen. Und mein Geschirr wasche ich im Spülbecken, weil für eine Spülmaschine kein Platz da ist.»

«Ich glaube, Mami würde umkommen, wenn sie Geschirr waschen müsste.»

«Es macht keine Arbeit, wenn man allein lebt.»

«Ihr Geschirr gefällt mir. Blau und weiß. Meine Lieblingsfarben.»

«Mir gefällt es auch. Es passt nichts zusammen, denn ich kaufe immer ein Stück dazu, wenn ich zufällig darauf stoße. Inzwischen habe ich so viel, dass kaum noch Platz dafür da ist.»

«Und was ist oben?»

«Das Gleiche. Zwei Zimmer und ein winziges Badezimmer. Die Badewanne ist so klein, dass ich die Beine über den Rand hängen lassen muss. Dann gibt’s ein Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer, wo ich nähe. Und wenn ich Gäste habe, müssen sie dort schlafen, zusammen mit der Nähmaschine, den Stoffresten und den Katalogen.»

«Papa hat mir erzählt, Sie machen Kissen. Ich finde, es ist alles genau so, wie es sein muss für eine Person. Und einen Hund natürlich. Wie ein Puppenhaus.»

«Hast du ein Puppenhaus?»

«Ja, aber ich spiele nicht mehr damit. Ich habe Tiere. Ein Meerschweinchen, das Happy heißt, aber es geht ihm nicht gut. Ich glaube, ich muss mit ihm zum Tierarzt gehen. Ihm fallen überall die Haare aus. Außerdem habe ich Kaninchen. Und ein Pony.» Sie krauste die Nase. «Es heißt Prince, aber es kann ganz schön dickköpfig sein. Ich glaub, ich muss jetzt gehen. Mami hat gesagt, ich soll vorm Lunch noch den Stall ausmisten, und das dauert ewig, besonders bei Regen. Vielen Dank, dass ich mir Ihr Haus ansehen durfte.»

«Gern geschehen. Und vielen Dank für die freundliche Einladung.»

«Sie kommen doch, oder?»

«Natürlich.»

«Zu Fuß?»

«Nein. Ich nehme mein Auto. Wegen des Regens. Und falls du wissen willst, wo ich mein Auto lasse – es steht auf der Straße.»

«Der alte blaue Ford Fiesta?»

«Genau. Alt ist das richtige Wort. Aber es stört mich nicht, solange die Räder sich drehen und der Motor anspringt.»

Francesca lachte und entblößte ungeniert ihre Zahnspange. «Also bis nachher», sagte sie, während sie sich den immer noch tropfenden Anorak überzog und ihre Zöpfe daraus befreite. Elfrida machte ihr die Tür auf.

«Mami hat gesagt, um Viertel vor eins.»

«Ich bin pünktlich zur Stelle, und vielen Dank für den Besuch.»

«Ich komme wieder», versprach Francesca, und Elfrida sah zu, wie sie durch die Pfützen stapfte und durchs Gartentor verschwand. Einen Augenblick später saß sie auf ihrem Fahrrad, winkte und radelte durch die Wasserlachen geschwind die Straße entlang nach Hause.

 

Oscar, Gloria und Francesca waren Elfridas erste Freunde. Durch sie traf sie andere. Nicht nur die McGeareys und die Mills, sondern auch die Foubisters, alteingesessene Leute, die im Park ihres weitläufigen Landhauses zum alljährlichen Sommerfest für die Kirchengemeinde einluden. Außerdem den pensionierten Fregattenkapitän Burton-Jones, einen enorm geschäftigen Witwer, der seinen makellosen Garten bestellte, Vorsitzender des Vereins zur Pflege der Bürgersteige und erster Sänger im Kirchenchor war. Kapitän Burton-Jones (sagen Sie einfach Bobby zu mir) schmiss flotte Cocktailpartys und nannte sein Schlafzimmer seine Kajüte. Dann gab es noch die Dunns, er ein unglaublich reicher Mann, der das alte Pfarrhaus gekauft und in ein Wunder an Geräumigkeit und gemütlicher Atmosphäre verwandelt hatte, komplett mit Spielzimmern und überdachtem, geheiztem Schwimmbad.

Während Elfrida ihren täglichen Beschäftigungen nachging, traten nach und nach weitere, anspruchslosere Leute in ihr Leben. Mrs. Jennings, die Besitzerin des Dorfladens, die auch das Postamt unter sich hatte. Der Schlachter, Mr. Hodgkins, der einmal die Woche mit seinem Lieferwagen die Runde machte, eine verlässliche Quelle für Klatsch und Neuigkeiten und ein Mann mit entschiedenen politischen Ansichten. Albert Meadows, der auf ihre Anzeige nach einer Gartenhilfe (auf einer Postkarte in Mrs. Jennings’ Schaufenster) geantwortet hatte und sich allein darangemacht hatte, Ordnung in das trostlose Durcheinander und die unebenen Steinplatten in Elfridas Garten zu bringen. Der Pfarrer und seine Frau luden sie zum Abendessen ein, in dessen Verlauf man sie zu überreden versuchte, dem Frauenkreis beizutreten. Sie lehnte höflich ab – ihr lag nichts an Busfahrten, und sie hatte im Leben noch keine Marmelade gemacht –, erklärte sich allerdings bereit, an der Schule mitzuwirken, und führte schließlich beim jährlichen Krippenspiel Regie.

Alle sehr liebenswürdig und entgegenkommend, aber niemand darunter, den Elfrida so interessant und anregend fand wie die Blundells. Glorias Gastfreundlichkeit war grenzenlos, und es verging keine Woche, wo sie nicht zu einer üppigen Mahlzeit, einem gemeinsamen Zusammensein im Freien wie zum Beispiel einer Tennispartie (Elfrida spielte kein Tennis, sah aber gern dabei zu) oder einem Picknick eingeladen wurde. Es gab ausgedehntere Unternehmungen: das jährliche Querfeldeinrennen auf einem nahe gelegenen Gut, der Besuch eines berühmten Parks, ein Theaterabend in Chichester. Sie verbrachte Weihnachten und Silvester bei ihnen, und als sie ihre erste kleine Party für all ihre neuen Freunde gab (Albert Meadows hatte den Garten zu neuem Leben erweckt, die Steinplatten geebnet, das Geißblatt beschnitten und den Schuppen frisch gestrichen), erbot Oscar sich, die Getränke zu servieren, und Gloria steuerte Unmengen zu essen aus ihrer Küche bei.

Allerdings hatte alles seine Grenzen. Es ging nicht anders, wenn Elfrida sich von den Blundells nicht vereinnahmen lassen und ihnen verpflichtet sein wollte. Ihr war von Anfang an nicht entgangen, dass Gloria eine dominierende, wenn nicht gar rücksichtslose Frau war, wenn es darum ging, ihren eigenen Kopf durchzusetzen, und Elfrida war sich der Gefährlichkeit einer solchen Situation durchaus bewusst. Sie hatte London verlassen, um ihr eigenes Leben zu leben, und wusste, dass es nur zu leicht für eine alleinstehende und nicht sehr begüterte Frau war, im Kielwasser von Glorias unerschöpflicher gesellschaftlicher Energie mitzuschwimmen (und womöglich zu ertrinken).

Von Zeit zu Zeit hielt sie sich also bewusst zurück, blieb für sich, erfand Ausreden. Zu viel Arbeit oder eine schon getroffene Verabredung mit einer imaginären Bekannten, die Gloria nicht kannte und die Elfrida auf keinen Fall enttäuschen konnte. Hin und wieder entfloh sie der Enge von Dibton, verfrachtete Horaz auf den Rücksitz ihres alten Autos und fuhr mit ihm über Land in eine Gegend, wo niemand sie kannte und wo sie zwischen grasenden Schafen gemeinsam einen Hügel erklommen, dem Verlauf eines friedlich dahinfließenden Baches folgten und schließlich auf ein Gasthaus voll fremder Leute stießen, wo Elfrida eine Kleinigkeit essen, Kaffee trinken und das kostbare Alleinsein genießen konnte.

Bei solchen Gelegenheiten gewann sie Abstand von Dibton. Es gelang ihr, die Dinge in nüchternem Licht zu betrachten, ihre Beziehung zu den Blundells kritisch unter die Lupe zu nehmen und die Einsichten, zu denen sie dabei kam, kühl und objektiv wie einen Einkaufszettel aufzulisten.

Erstens war Oscar ihr enorm sympathisch, vielleicht sogar zu sehr. Elfrida war längst über das Alter romantischer Schwärmereien hinaus, aber Kameradschaft war eine andere Sache. Seit ihrer ersten Begegnung draußen vor der Kirche, als er ihr auf Anhieb gefiel, hatte sie seine Gesellschaft immer mehr schätzen gelernt. Der erste Eindruck hatte nicht getrogen.

Doch das Eis war dünn. Elfrida war durchaus nicht bigott oder legte übertrieben hohe moralische Maßstäbe an. Immerhin war der geliebte Mann, mit dem sie zusammengelebt hatte, der Ehemann einer anderen Frau gewesen. Aber Elfrida hatte diese Frau nie kennengelernt, und die Ehe war bereits gescheitert, als Elfrida und er sich fanden, deshalb hatte sie auch nie ein schlechtes Gewissen gehabt. Allerdings gab es eine weitere, längst nicht so unverfängliche Konstellation, die Elfrida mehr als einmal miterlebt hatte. Dass nämlich eine alleinstehende Frau, verwitwet, geschieden oder sonst irgendwie verlassen, von einer treuen Freundin unter die Fittiche genommen wurde, nur um sich dann mit dem Ehemann dieser treuen Freundin einzulassen. Eine scheußliche Situation, die sie nur entschieden missbilligen konnte.

Dazu würde sie es auf keinen Fall kommen lassen. Sie wusste, dass ihr sicherer Instinkt für Gefahren und ihr gesunder Menschenverstand ihre größten Stärken waren.

Zweitens war die elfjährige Francesca genau die Tochter, die Elfrida, hätte sie je Kinder gehabt, sich gewünscht hätte. Unabhängig, offen und ohne jeden Arg, besaß Francesca gleichzeitig einen so ausgeprägten Sinn fürs Absurde, dass Elfrida gelegentlich Tränen lachte, und obendrein eine Einbildungskraft, die durch hemmungsloses Lesen noch beflügelt wurde. Bücher konnten Francesca so gefangen nehmen, dass man ins Zimmer treten, den Fernseher anstellen und laute Diskussionen führen konnte, ohne dass sie den Kopf von der bedruckten Buchseite hob. In den Schulferien tauchte sie oft in der Poulton’s Row auf, um mit Horaz zu spielen oder Elfrida an der Nähmaschine zuzusehen, während sie ihr endlose Fragen über ihre Theatervergangenheit stellte, die sie ungemein faszinierte.

Ihr Verhältnis zu ihrem Vater war ungewöhnlich eng und liebevoll. Er war alt genug, um ihr Großvater sein zu können, doch fühlten sie sich stärker zueinander hingezogen als sonst zwischen Eltern und Kindern üblich. Hinter der geschlossenen Tür des Musikzimmers konnte man die beiden vierhändig auf seinem Klavier spielen hören, und etwaige Patzer riefen nicht etwa Vorwürfe, sondern lautes Gelächter hervor. An Winterabenden saßen die beiden, während er ihr vorlas, eng aneinandergekuschelt in seinem riesigen Ohrensessel, und sie bekundete ihm ihre ganze Anhänglichkeit, indem sie sich zärtlich an ihn schmiegte, die dünnen Ärmchen um seinen Hals schlang oder ihm Küsse auf sein dichtes weißes Haupthaar drückte.

Gloria dagegen hatte mehr mit Männern im Sinn und deshalb ein engeres Verhältnis zu ihren erwachsenen, verheirateten Söhnen als zu ihrer spät geborenen Tochter. Elfrida hatte die Söhne Giles und Crawford Bellamy und ihre hübschen, eleganten Frauen kennengelernt, wenn sie zum Wochenende in der Grange erschienen oder am Sonntag von London zum Lunch herkamen. Obwohl keine Zwillinge, waren sie sich in ihrem konventionellen, blasierten Gehabe merkwürdig ähnlich. Elfrida hatte den Eindruck, dass keiner der Brüder sie sonderlich mochte, aber da sie die beiden auch nicht besonders sympathisch fand, spielte es keine Rolle. Ihre Mutter dagegen war geradezu vernarrt in sie, was weit wichtiger war, und wenn sie in ihren kostspieligen Autos, deren Kofferraum von frischem Gemüse und Obst aus Glorias Küchengarten überquoll, nach London oder Bristol oder wohin auch immer aufbrachen, dann stand sie wie eine sentimentale Mutter zu Tränen gerührt am Tor und winkte ihnen nach. Es war offensichtlich, dass die Söhne in ihren Augen über jeden Fehl erhaben waren, und Elfrida war überzeugt, wenn Gloria mit der Wahl ihrer jeweiligen Bräute nicht einverstanden gewesen wäre, dann hätte sie mit Daphne und Arabella kurzen Prozess gemacht.

Aber Francesca war aus anderem Holz geschnitzt. Stark von Oscar beeinflusst, ging sie ihre eigenen Wege, verfolgte eigene Interessen und fand Bücher und Musik wesentlich anziehender als die sportlichen Veranstaltungen des Ponyclubs. Trotzdem war sie nie aufmüpfig oder schlecht gelaunt und kümmerte sich bereitwillig um ihr störrisches kleines Pony, verschaffte ihm regelmäßigen Auslauf, galoppierte mit ihm um die Weide, die Gloria extra für den Pferdesport reserviert hatte, oder machte lange Ausritte mit ihm auf den einsamen Pfaden am Flüsschen entlang. Oft begleitete Oscar sie auf seinem altmodischen Hollandfahrrad, einem Relikt aus Schulzeiten.

Gloria ließ die beiden, wie Elfrida vermutete, gewähren, weil Francesca ihr nicht so am Herzen lag, sie jedenfalls längst nicht so beanspruchte und ausfüllte wie ihre eigene hektische Betriebsamkeit, ihr Haus, ihre Partys, ihr Freundeskreis. Manchmal erinnerte sie Elfrida an einen Jäger, der ins Horn blies und seine Meute zur Hatz antrieb.

Nur ein einziges Mal hatte Elfrida Glorias Gunst eingebüßt. Sie waren zu einem geselligen Abend bei den Foubisters eingeladen, einer förmlichen Dinnerparty in großem Stil, mit brennenden Kerzen, funkelndem Silber und einem betagten Butler, der bei Tisch servierte. Nach dem Essen hatte Oscar sich in dem geräumigen und ziemlich kühlen Salon – der Abend war frisch – an den Flügel gesetzt und Elfrida nach Beendigung einer Chopin-Etüde gebeten, etwas für sie zu singen.

In ihrer Verlegenheit hatte sie heftig protestiert. Sie habe seit Jahren nicht mehr gesungen, ihre Stimme sei hoffnungslos eingerostet …

Aber der alte Edwin Foubister hatte ihr gut zugeredet. Bitte, bitte, hatte er gesagt, ich hatte schon immer eine Schwäche für flotte Melodien.

Er sagte es auf so entwaffnende Weise, dass Elfrida zu schwanken begann. Spielte es eine Rolle, dass ihre Stimme ihr jugendliches Timbre verloren hatte, die hohen Töne nicht mehr ganz rein waren und sie sich zum allgemeinen Gespött machen würde? In dem Augenblick sah sie den betretenen, missbilligenden Blick in Glorias Augen, ihr hochrotes Gesicht, bärbeißig wie eine Bulldogge. Gloria wollte nicht, dass sie sang. Sie wollte nicht, dass sie neben Oscar stand, um die kleine Gruppe zu unterhalten. Sie war nicht daran interessiert, dass andere sich hervortaten, die Aufmerksamkeit auf sich zogen und sie womöglich in den Schatten stellten. Es war wie eine Erleuchtung gewesen, blitzartig und schockierend, als hätte Gloria sich vor ihr entblößt.

Unter anderen Umständen hätte Elfrida einen Rückzieher gemacht, höflich abgelehnt und eine Ausrede gefunden. Aber durch das gute Essen und den erlesenen Wein ermutigt, spürte sie eine trotzige Regung in sich aufkommen. Sie hatte sich noch nie einschüchtern lassen und wollte auch jetzt nicht damit anfangen. Deshalb begegnete sie Glorias drohendem Unmut mit einem Lächeln, wandte den Kopf und sah ihren Gastgeber freundlich lächelnd an. «Wenn Sie es wünschen», sagte sie, «mit Vergnügen …»

«Phantastisch.» Der alte Mann klatschte wie ein Kind in die Hände. «Was für eine Überraschung.»

Und Elfrida stand auf und trat ans Klavier, wo Oscar sie erwartete.

«Was möchten Sie singen?»

Sie schlug einen alten Rodgers-und-Hart-Song vor. «Kennen Sie den?»

«Natürlich.»

Er schlug ein paar Akkorde an. Es war lange her. Sie richtete sich auf, füllte ihre Lungen …

I took one look at you.

Ihre Stimme war mit der Zeit etwas dünn geworden, aber es fiel ihr nicht schwer, die Melodie zu halten.

And then my heart stood still.

Auf einmal überkam sie ein unerklärliches Glücksgefühl, sie fühlte sich wieder jung, wie sie neben Oscar stand und gemeinsam mit ihm den Raum mit der Musik ihrer Jugend füllte.

Gloria sprach für den Rest des Abends kaum noch ein Wort, und es machte auch niemand den Versuch, sie aus ihrer schlechten Laune herauszulocken. Während die anderen Elfrida zu ihrem Auftritt beglückwünschten, sprach Gloria ihrem Brandy zu. Als es Zeit war aufzubrechen, begleitete Sir Edwin seine Gäste nach draußen, wo Glorias schneller Schlitten auf dem säuberlich geharkten Kies geparkt war. Elfrida verabschiedete sich und nahm auf dem Rücksitz Platz, während Oscar sich so schnell hinters Steuer setzte, dass Gloria gezwungen war, in ihrem eigenen Fahrzeug mit dem Nebensitz vorliebzunehmen.

Unterwegs erkundigte Oscar sich bei seiner Frau, wie ihr der Abend gefallen habe. Gloria erwiderte kurz angebunden: «Ich habe Kopfschmerzen», und hüllte sich wieder in Schweigen.

Kein Wunder, dachte Elfrida bei sich, hielt aber wohlweislich den Mund. Und dieser traurige Umstand gab vielleicht am meisten zu denken. Gloria Blundell, dickköpfig und mit einem Magen wie ein Metalleimer, trank zu viel. Sie war zwar nie außer Gefecht und hatte nie einen Kater. Aber sie trank zu viel. Und Oscar wusste es.

 

Oscar. Da stand er vor ihr in Mrs. Jennings’ Laden an einem grauen Oktobernachmittag, holte seine Zeitungen ab und bezahlte eine Tüte Hundefutter. Er trug Cordhosen, einen dicken tweedartigen Pullover und derbe Stiefel, als hätte er die Gartenarbeit unterbrochen und sei nur auf einen Sprung vorbeigekommen, um ein paar notwendige Einkäufe zu erledigen.

Mrs. Jennings blickte hoch. «Tag, Mrs. Phipps.»

Mit dem Wechselgeld in der Hand drehte Oscar sich um und sah sie.

«Elfrida. Guten Tag.»

«Sie müssen zu Fuß gegangen sein. Ich habe Ihren Wagen gar nicht gesehen.»

«Er steht um die Ecke geparkt. Das wär’s wohl, Mrs. Jennings.»

Er trat zur Seite, um Elfrida Platz zu machen, hatte aber offenbar keine Eile, den Laden zu verlassen. «Wir haben Sie ja seit Tagen nicht gesehen. Wie geht’s?»

«Ach, man lebt. Ich habe dieses Wetter nun satt.»

«Schrecklich, nicht?», fiel Mrs. Jennings ein. «Gleichzeitig kalt und feucht, man hat gar keine Lust, etwas zu tun. Was haben Sie da, Mrs. Phipps?»

Elfrida leerte den Inhalt ihres Korbes auf den Tresen, damit Mrs. Jennings die Preise in ihre Kasse tippen konnte. Ein Brot, ein halbes Dutzend Eier, Schinken und Butter, zwei Dosen Hundefutter und eine Zeitschrift mit dem Titel Schönes Wohnen. «Soll ich es anschreiben?»

«Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich habe mein Portemonnaie zu Hause gelassen.»

Oscar sah die Zeitschrift. «Haben Sie vor, Ihr Haus zu renovieren?»

«Eigentlich nicht. Aber über anderer Leute Renovierungsarbeiten zu lesen hat eine therapeutische Wirkung auf mich. Vermutlich, weil ich weiß, dass ich nicht selbst zum Farbtopf greifen muss. So als hörte man zu, wie andere Leute ihren Rasen mähen.»

Mrs. Jennings fand das sehr erheiternd. «Jennings hat seinen Rasenmäher schon im September in den Schuppen gestellt. Hasst Rasenmähen.»

Oscar sah zu, wie Elfrida ihren Korb wieder volllud, und sagte: «Wenn Sie wollen, fahre ich Sie nach Hause.»

«Ich geh gern zu Fuß. Ich habe Horaz bei mir.»

«Er kann gern mitfahren. Danke, Mrs. Jennings, und auf Wiedersehen.»

«Tschüs, Mr. Blundell. Grüßen Sie Ihre Frau.»

Gemeinsam traten sie aus dem Laden. Draußen lungerten noch immer die Halbstarken herum. Ein Mädchen von etwas zweifelhaftem Aussehen hatte sich zu ihnen gesellt. Zigarette im Mund, pechschwarzes Haar und Lederrock, der kaum ihre Blöße bedeckte. Die jungen Männer überboten sich gegenseitig mit Anspielungen, zweideutigen Bemerkungen und lauthalsem Gelächter. Eingeschüchtert von solch rowdyhaftem Benehmen, saß Horaz kleinlaut vor der Tür und machte ein unglückliches Gesicht. Als Elfrida ihn losband, wedelte er erleichtert mit dem Schwanz, und die drei wanderten um die Ecke und die schmale Gasse entlang, wo Oscar seinen alten Wagen geparkt hatte. Elfrida stieg ein, Horaz hüpfte hinterher, setzte sich zwischen ihre Knie auf den Boden und legte den Kopf auf ihren Schoß. Als Oscar sich hinters Steuer setzte, die Tür zuschlug und den Wagen anließ, sagte sie: «Nachmittags rechne ich nie damit, jemanden im Laden zu treffen. Plauderstündchen ist dort immer morgens. Dann hört man den neuesten Klatsch und Tratsch.»

«Ich weiß. Aber Gloria ist in London, und ich hatte die Zeitungen vergessen.» Er wendete und bog vorsichtig in die Hauptstraße ein. Die Schule war vorbei, und eine Prozession von müden, zerzausten Kindern mit Schultaschen über der Schulter war auf dem Heimweg. Der Mann auf dem Friedhof hatte wie immer sein Feuer in Gang. Grauer Rauch stieg in die stille, feuchte Luft empor.

«Wann ist Gloria denn nach London gefahren?»

«Gestern. Zu irgendeinem Kongress. Rettet die Kinder, glaube ich. Sie hat den Zug genommen. Ich muss sie um halb sieben abholen.»

«Möchten Sie hereinkommen und eine Tasse Tee bei mir trinken, oder ziehen Sie es vor, an Ihre Gartenarbeit zurückzugehen?»

«Woher wissen Sie, dass ich im Garten gearbeitet habe?»

«Stichhaltiges Beweismaterial. Weibliche Intuition. Lehm an Ihren Stiefeln.»

Er lachte. «Sehr scharfsinnig, Mrs. Holmes. Aber einer Tasse wäre ich nicht abgeneigt. Als Belohnung für die Gartenarbeit.»

Sie fuhren am Pub vorbei. Wenig später hatten sie die Gasse erreicht, die zur Bahnlinie und zu der schmalen Zeile von Reihenhäuschen in der Poulton’s Row hinunterführte. Er parkte vor ihrem Haus, und sie stiegen aus. Von seiner Leine befreit, sprang Horaz munter voraus, und Elfrida mit ihrem Korb folgte ihm. Sie machte die Tür auf.

«Schließen Sie gar nicht ab?», fragte Oscar hinter ihr.

«Nicht für einen Gang ins Dorf. Es gibt auch nichts zu stehlen bei mir. Kommen Sie rein und machen Sie die Tür zu.» Sie ging durch die Küche und stellte den Korb auf den Tisch. «Seien Sie so nett und halten Sie ein Streichholz an den Kamin. An einem Tag wie heute braucht man ein bisschen Wärme.» Sie füllte den Kessel unter dem Wasserhahn und setzte ihn auf. Dann zog sie ihre Jacke aus, hängte sie über eine Stuhllehne und holte ihr zusammengewürfeltes Geschirr aus dem Schrank. «Becher oder Tasse?»

«Becher für Gärtner.»

«Möchten Sie den Tee vorm Kamin oder hier in der Küche?»

«Ich fühle mich mit den Füßen unterm Tisch wohler.»

Ohne große Hoffnungen öffnete Elfrida ihre Keksdosen. Zwei waren leer. Die dritte enthielt das Endstück eines alten Honigkuchens. Sie legte es mit einem Messer auf einen Teller. Dann nahm sie Milch aus dem Kühlschrank, leerte die Tüte in einen kleinen gelben Keramikkrug und stellte die Zuckerdose daneben. Aus dem Wohnzimmer war das Knistern und Knacken von brennenden Zweigen zu hören. Sie trat an die Tür und sah Oscar gegen den Türrahmen gelehnt zu. Er legte vorsichtig ein paar Kohlenstücke auf die Holzscheite. Als er merkte, dass Elfrida ihm zusah, richtete er sich auf und drehte sich lächelnd zu ihr um. «Brennt vorzüglich. Fachmännisch mit viel Kleinholz errichtet. Brauchen Sie Brennholz für den Winter? Ich kann Ihnen eine Ladung zukommen lassen, wenn Sie wollen.»

«Wo soll ich das Holz denn unterbringen?»

«Wir könnten es im Vorgarten an der Hauswand stapeln.»

«Das wäre wunderbar. Aber nur, wenn Sie es entbehren können.»

«Wir haben mehr als genug.»

«In dem Fall, vielen Dank.»

Er klopfte sich die Hände an der Hose ab und sah sich im Zimmer um. «Sie haben wirklich etwas aus diesem Häuschen gemacht.»

«Ach, Oscar, es ist ein einziger Kuddelmuddel. Ich habe im Laufe meines Lebens so viele Kleinigkeiten angesammelt, von denen ich mich nur schwer trennen kann. Es ist wie mit alten Briefen. Oder Erinnerungen.»

«Mir gefallen besonders Ihre Staffordshire-Terrier.»

«Leider kein Pärchen.»

«Und die kleine Uhr. Die ist ganz ungewöhnlich.» Er sah sich die Uhr eingehend an. «Sie hat ja drei Zifferblätter.»

Die Uhr stand mitten auf Elfridas überfülltem Kaminsims und wurde von zwei emaillierten Schnupftabaksdosen flankiert. Das runde Zifferblatt saß in einer Fassung aus abgewetztem Samt und war von einem Kranz goldener Blätter umgeben. Davor befand sich ein mit leuchtend rotem Samt bezogener Uhrendeckel, der offen stand und mit einem winzigen goldenen Verschluss versehen war, und obendrauf war ein goldener Ring zum Aufhängen angebracht. Die ganze Uhr war in weiches, abgetragenes Leder eingefasst.

«Das ist keine Uhr», sagte Elfrida, «sondern ein Chronometer. Man kann ihn schließen und überallhin mitnehmen.»

«Ein Reisechronometer. Phantastisch. Wo haben Sie dieses Juwel denn aufgetrieben?»

«Ich habe ihn von einem älteren Patenonkel geerbt. Einem echten Seebären.» Sie trat neben ihn und erklärte: «Wie Sie sehen, zeigt der eine Zeiger die Stunden, der zweite die Minuten und der dritte die Sekunden an.»

«Und alles funktioniert perfekt. Ein wahres Meisterstück. Aus welchem Jahr?»

«Ich glaube, um 1830 oder so. Offenbar französisch. Von einem Uhrmacher namens Houriet. Ich darf nur nicht vergessen, ihn jeden Tag aufzuziehen. Ziemlich lästig. Ich könnte wahrscheinlich eine Batterie einbauen lassen, aber ich glaube, er würde es mir verargen, meinen Sie nicht?»

«Ganz entschieden.»

«Er geht auf die Minute genau und ist ein solch hübsches Stück. Mein Herz hängt daran. Wie auch an meinen Fotografien und all dem Nippes und den Bildern, die ich über die Jahre gesammelt habe.»

«Jaja», sagte Oscar, «aber es ist die glückliche Hand, mit der Sie alles zusammengestellt haben, die das Ganze so ansprechend macht. Ich bin sicher, es ist nichts dabei, was in Ihren Augen nicht schön oder nützlich wäre.»

«William Morris.»

«Meiner Meinung nach der Maßstab für guten Geschmack.»

«Oscar, Sie wissen Komplimente zu machen.»

In diesem Augenblick brach der Dampfkessel in der Küche in schrilles Pfeifen aus. Das Wasser kochte. Elfrida stürzte in die Küche, und Oscar folgte ihr und sah zu, wie sie in einem runden braunen Teetopf den Tee zubereitete und auf den Tisch stellte.

«Wenn Sie ihn stark mögen, müssen Sie sich noch einen Augenblick gedulden. Und vielleicht nehmen Sie lieber Zitrone statt Milch. Hier ist auch noch ein Stück alter Honigkuchen.»

«Ein Festmahl.» Oscar zog einen Stuhl unterm Tisch hervor und nahm Platz, offenbar erleichtert, seine Beine ausruhen zu können. Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Dann sagte sie: «Oscar. Ich fahre weg.»

Er sah sie mit einem Ausdruck äußerster Bestürzung an.

«Für immer?», fragte er erschrocken.

«Natürlich nicht für immer.»

Seine Erleichterung war nicht zu übersehen. «Gott sei Dank. Sie haben mir vielleicht einen Schreck eingejagt!»

«Ich denke nicht im Traum daran, Dibton zu verlassen. Das habe ich doch gesagt. Ich will meinen Lebensabend hier verbringen. Aber ich brauche einen Urlaub.»

«Fühlen Sie sich erschöpft?»

«Nein, aber der Herbst deprimiert mich. Diese Zeit zwischen Sommer und Weihnachten ist weder Fisch noch Fleisch. Eine tote Zeit. Und dann habe ich bald wieder Geburtstag. Zweiundsechzig. Noch deprimierender. Ich brauche Tapetenwechsel.»

«Sehr vernünftig. Das wird Ihnen guttun. Wohin wollen Sie?»

«Ans äußerste Ende von Cornwall. Wenn man niest, läuft man Gefahr, über die steilen Klippen in den Atlantik zu stürzen.»

«Cornwall?» Er war überrascht. «Wieso Cornwall?»

«Weil ich dort einen Vetter habe. Er heißt Jeffrey Sutton und ist drei Jahre jünger als ich. Wir waren immer gute Freunde. Er ist einer von diesen netten Leuten, die man ohne weiteres anrufen und fragen kann: Ich komme vorbei, kann ich bei dir wohnen? Man weiß, dass er ja sagt. Und sich auch noch freut. Also werden Horaz und ich ihn besuchen.»

Oscar schüttelte ungläubig den Kopf.

«Ich wusste gar nicht, dass Sie einen Vetter haben. Oder überhaupt Verwandte.»

«Das Produkt unbefleckter Empfängnis, meinten Sie?»

«Nicht gerade das. Aber ich bin doch einigermaßen überrascht.»

«Was soll daran so überraschend sein? Nur weil ich mich nicht ständig über meine Verwandtschaft auslasse?» Dann lenkte sie ein. «Aber Sie haben nicht ganz unrecht. Ich bin ein bisschen verwaist. Aber an Jeffrey hat mir immer viel gelegen, und wir sind immer in Kontakt geblieben.»

«Hat er eine Frau?»

«Er hatte sogar zwei. Die erste war ein wirkliches Brechmittel. Sie hieß Dodie. Ich nehme an, er hat sich von ihrem hübschen Aussehen und ihrer hilflosen Unschuldsmiene becircen lassen. Nur um bald dahinterzukommen, dass er sich an eine Frau gebunden hatte, der Ärmste, deren Selbstbezogenheit alle Vorstellungen überstieg. Außerdem war sie so dickfellig und unpraktisch, dass Jeffrey den Großteil seines sauer verdienten Gehalts für Köchinnen, Putzfrauen und Au-pair-Mädchen ausgeben musste, in der schwachen Hoffnung, seinen zwei Töchtern ein einigermaßen geordnetes Zuhause bieten zu können.»

«Und was ist aus der Ehe geworden?» Oscar hörte offensichtlich gespannt zu.