Alle Frauen sind Huren - Loubna Abidar - E-Book

Alle Frauen sind Huren E-Book

Loubna Abidar

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Beschreibung

In Marokko ist Loubna Abidar zum Symbol des Widerstandes geworden. Der internationale Erfolg des Films Much Loved 2015, in dem sie die Rolle einer Prostituierten spielt, brachte ihr eine Nominierung für den Cesar Award als beste Schauspielerin. Sie ist dafür aber auch als "Hure" bezeichnet und im eigenen Land mit dem Tode bedroht worden. Ihre Schuld? Abidar hat es gewagt, mit den größten Tabus in der arabischen Welt zu brechen: Nacktheit, Prostitution und die Stellung der Frau in einer Macho-Gesellschaft. In diesem ergreifenden und erschütternden Buch erzählt Loubna Abidar von ihrem Leben und ihren Kämpfen: Ihrer Kindheit in Armut, der sexuellen Gewalt, die sie durch ihren eigenen Vater erlebt hat, der Verlogenheit der Männer und von den Traditionen der islamisch-arabischen Welt, an denen die Frauen zu ersticken drohen. Aber sie berichtet auch, wie die Schauspielerei sie gerettet hat. Wie sie ihr die Kraft gegeben hat, gegen all die Unterdrückung und Verachtung anzukämpfen. Von den Straßen von Marrakesch zu den Stufen des Filmfestivals von Cannes ist es ein langer Weg. Abidar ist ihn mutig und stark gegangen. Ihre Biografie ist ein Aufruf an alle Frauen, sich gegen die Benachteiligungen, die im Namen veralteter Traditionen oder eines falsch verstandenen Islams erfolgt, zur Wehr zu setzen und mehr Freiheiten einzufordern.

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LOUBNA ABIDAR | MARION VAN RENTERGHEM

ALLE FRAUEN SIND HUREN

LOUBNA ABIDAR | MARION VAN RENTERGHEM

ALLE FRAUEN SIND HUREN

MEIN KAMPF GEGEN DIE VERLOGENHEIT IN DER ARABISCHEN WELT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2017

© 2017 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Copyright der Originalausgabe: © Éditions Stock, 2016

Die französische Originalausgabe erschien 2016 bei Les Éditions Stock unter dem

Titel La dangereuse.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Christa Trautner-Suder

Redaktion: Silke Panten

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München, unter Verwendung des

Originalcovers von Couverture Atelier Didier Thimonier

Umschlagabbildung: © Benjamin Colombel

Loubna Abidar wurde eingekleidet durch Jean’s and Blue

Satz: Eka Rost, Feldafing

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-86882-779-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-017-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-018-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter:

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Für unsere TöchterLuna und Noémie

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Alle Frauen sind Huren

Kapitel 1 Im Hamam

Kapitel 2 Die Katastrophe

Kapitel 3 Die Träume

Kapitel 4 Ich werde sein wie sie

Kapitel 5 Das Kino

Kapitel 6 Der erste Mann

Kapitel 7 Der orange Plastikfernseher

Kapitel 8 Paris, die Juden, die Revolution

Kapitel 9 Abidar khatar

Kapitel 10 Gelogen und doch wahr

Kapitel 11 Die Szene

Kapitel 12 Gerede und Raserei

Kapitel 13 Die Schmähung

Kapitel 14 Die Attacke

Kapitel 15 An die Frauen und an die Bartträger

Danke 

Vorwort

Alle Frauen sind Huren

Während wir gemeinsam die Korrekturfahnen dieses Buches lasen, bemerkte ich zweimal, dass Loubna weinte. Beim ersten Mal tropften ihre Tränen auf das Kapitel sieben. Gefasst, schweigend, den Blick auf die Seiten gerichtet, sah sie sich wieder ihrem Vater gegenüber, dem ersten Mann ihres Lebens in jedem – auch im schlimmsten Sinn des Wortes. Der Vater, schwarz auf weiß, absolute Gewalt, Schrecken, Entsetzen, Hass, Ekel, aber auch der Ursprung der Revolte und des Kampfes, durch die Loubna sich selbst gefunden hat. Weiter hinten, bei Kapitel fünfzehn, weinte Loubna erneut. »Die Attacke«. Eine Narbe davon trägt sie noch über der linken Augenbraue. In einem Hamam in Marrakesch, als wir nackt nebeneinandersaßen, um uns mit Savon Noir, einer speziellen Seifenpaste aus Afrika, einzuseifen und uns Eimer mit warmem Wasser über den Kopf zu gießen, konnte ich nicht umhin, ihren verletzten Körper genau zu betrachten. Einen Körper, der sich lesen ließ wie das Geschichtsbuch einer Frau von heute. Loubna Abidars Narben.

*

Am 5. November 2015 wird Loubna Abidar beim Verlassen des Bahnhofs von Casablanca von einer Gruppe von Männern verprügelt, die sie erkannt haben. Die Krankenhäuser, in denen sie ihre Verletzungen mit blutüberströmtem Gesicht versorgen lassen will, weisen sie ab. Auf dem Polizeirevier wird sie von den Polizisten mit Spott empfangen. Am nächsten Tag packt sie ihren Koffer, verabschiedet sich von ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter, bricht zum Flughafen auf und nimmt den ersten Flieger nach Frankreich.

Ist es ihre Schuld? Weil sie es gewagt hat, in einem Kinofilm eine Prostituierte zu spielen? In dem Film Much Loved des französisch-marokkanischen Regisseurs Nabil Ayouch spielt sie meisterlich die Hauptrolle der Noha, einer jungen Frau mit Köpfchen und Herz, die, so gut sie kann, ihr Leben als marokkanische Prostituierte lebt. Im Mai 2015 wird der Film bei den Filmfestspielen von Cannes für den Regiewettbewerb La Quinzaine des Réalisateurs ausgewählt und als Vorpremiere gezeigt. In Marokko ist der Skandal perfekt. Die Behörden prangern »eine schwere Beleidigung der moralischen Werte und der marokkanischen Frau sowie einen unverhohlenen Angriff auf das Königreich« an. Der Albtraum beginnt.

Am 26. Februar 2016 schreitet Loubna in einem Damen-Smoking von Yves Saint Laurent über den roten Teppich im Théâtre du Châtelet in Paris. Das arme kleine Mädchen aus der Medina von Marrakesch ist eine von sieben Frauen, die für den César als beste Schauspielerin nominiert sind, neben Isabelle Huppert, Catherine Deneuve und Catherine Frot, die die Trophäe gewinnen wird. Loubna bekommt mehr als eine Belohnung: Ihr werden die Ehrungen dieses Abends zuteil. Der Regisseur Philippe Faucon erweist ihr öffentlich die Ehre, als er seinen César für den besten Film entgegennimmt. Die Gastgeberin des Abends, Humoristin Florence Foresti, widmet ihr einen amüsanten Sketch, den sie »Wie im Kindergarten« nennt. Begleitet von großer Gestik und Mimik, erinnert sie an die Grundregel: Geschichten haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun! Jemand, der im Film böse ist, kann in Wirklichkeit nett sein! Eine Schauspielerin ist im echten Leben nicht die Person, die sie im Film spielt! Lachen, Applaus. Die Kamera zeigt in Großaufnahme das gerührte Gesicht von Loubna Abidar, die im Saal sitzt. Die Ehrerbietung Frankreichs, wohin sich die Schauspielerin dauerhaft geflüchtet hat, und die internationale Anerkennung ihres Talents sind ein Affront für ihre Verleumder.

Sie stört. Ist zu frei. Zu offen. Zu sehr Frau. Nie senkt sie den Blick, nie zügelt sie ihre Worte. In Marokko wird sie verachtet, beleidigt, körperlich angegriffen, in den Medien, in den sozialen Netzwerken und von den Männern ihres Landes mit dem Tod bedroht. Der Film, der sie aus der Hölle ihrer Kindheit geholt hat, hat sie wie in einer Falle eingeschlossen, indem er sie auf ihre Rolle reduziert hat. »Abidar« ist eine Beleidigung, ein Schimpfwort geworden. Diese Frau, die es wagt, das Tabu der Nacktheit und der Prostitution zu brechen, das Gewicht der Traditionen und der Lüge abzuwerfen, konfrontiert eine Gesellschaft, die die Frauen infantilisiert, herabsetzt und benutzt, mit der Wahrheit. Sie allein ist der Spiegel, der stört, der durcheinanderbringt und verwirrt. Daher ihr Beiname: »Abidar, die Gefährliche«.

Loubna Abidar ist die Inkarnation des Widerstands. Das Symbol aller Frauen, die durch die patriarchalische, frauenfeindliche und chauvinistische Tradition in zwei Kategorien eingeteilt werden: die Reinen und die Huren. Eine Frau, die ihren Körper zeigt, ist eine Hure. Eine Frau, die über ihren Körper spricht, ist eine Hure. Eine Frau, die das Wort ergreift, ist eine Hure. Eine Frau, die sich auflehnt, ist eine Hure. Eine Frau, die Spaß hat, ist eine Hure. Eine Frau, die Liebe empfindet, ist eine Hure. Eine Frau, die zu einem Mann Nein sagt, ist eine Hure. Eine Frau, die ihre Freiheit fordert, ist eine Hure. Eine Frau, die eine Frau ist, ist eine Hure. Alle Frauen sind Huren.

Dieses Buch erzählt das Leben einer Frau in einer Männerwelt. Es enthüllt die grundlegende Scheinheiligkeit in der arabisch-mediterranen-muslimischen Kultur sowie in anderen Religionen, die sich auf althergebrachte Dogmen stützen. Das Verbot von Sexualität einerseits und die Besessenheit von Sexualität andererseits. Den Zwang der Jungfräulichkeit bis zur Ehe und die Alltäglichkeit von Vergewaltigung innerhalb einer Familie vor der Ehe. Die Verachtung von Prostituierten und das groß aufgezogene Geschäft mit der Prostitution. Die Idealisierung der Frau und die Unterjochung der Frauen. Die Leugnung von Homosexuellen und die geläufige Praxis der Homosexualität.

Das derzeitige Wiederaufleben von Islamismus und Fundamentalismus, das in unseren Gesellschaften wuchert, gibt diesen Widersprüchen neue Kraft. »Vor zehn Jahren wäre ich für dieselbe Rolle in demselben Film in Marokko nicht angegriffen worden«, behauptet die Schauspielerin. »Dass ich jetzt attackiert wurde, hat nichts mit der muslimischen Religion zu tun, auch nichts mit den muslimischen Traditionen, sondern mit dem neuen Islam.« Danke, Loubna, dass du nicht schweigst.

Marion van Renterghem

Kapitel 1

Im Hamam

Nur nichts vergessen. Zuerst einmal die Schüsseln, dann alles andere hineinpacken. Die Kunststoffmatten. Die Becher zum Begießen. Die Badeschuhe. Gut. Jetzt die Savon Noir, das Shampoo, die Massagehandschuhe, die Enthaarungscreme, den Bimsstein für die Hornhaut an den Füßen, Eier, Honig und Henna fürs Gesicht, Gemüsereste der Woche für eine Gesichtsmaske. Was fehlt noch? Ach ja, die Zitrone. Die Zitrone, die zum Schluss über Haut und Haaren ausgepresst wird. Gut, ich glaube, es kann losgehen.

Ihr europäischen Frauen kennt den Hamam nicht. Den echten Hamam. Für die marokkanischen Frauen ist der Hamam so etwas wie der Gang zu einem Psychologen, dort werden ein- oder zweimal pro Woche Körper und Seele gründlich gereinigt. Wir gehen dorthin, um uns zu reinigen, um miteinander zu sprechen, uns das Herz auszuschütten, allen Stress aus dem Alltag und den Schmutz unserer Männer loszuwerden. Das ist keine gemütliche Angelegenheit, sondern eine Expedition. Das Zusammensuchen der Accessoires ist Teil des Rituals. Ich liebe diese verlorene Zeit und dieses Gefühl, mich auf eine sehr lange Reise vorzubereiten. Zum Glück gibt es dieses Refugium in Marokko, dieses zauberhafte Versteck namens Hamam.

Der Hamam in meinem Viertel ist beinahe der einzige Ort, an den ich mich unverkleidet traue. Ich gehe regelmäßig dorthin, seitdem ich 2009 mein Haus in diesem eher schicken Wohnviertel Targa in Marrakesch gekauft habe. Mit dem Auto brauche ich zehn Minuten. Ich muss nur die Ausrüstung zusammenpacken und einen Fahrer finden, denn ich habe es nie geschafft, selber zu fahren. Nichts und niemand belästigt mich mit Ausnahme der Blicke dieser drei Typen, die in der Straße neben dem Hamam auf eigene Faust den Autos Parkplätze zuweisen. Sie sitzen untätig herum, und wenn man in die Straße einbiegt, um dort zu parken, sehe ich ihre Blicke und ihre tuschelnden Münder. Ich ertrage diese Art, beobachtet zu werden, nicht mehr, ich ertrage die Blicke gewisser Marokkaner nicht mehr. Ich habe diesen Millionen Augen den Krieg erklärt, die nicht verstehen, wie ihnen geschieht. Auch diesen dreien, die die Autos vor dem Hamam einweisen und mich anschauen, als würden sie mich mit ihren Blicken ausziehen. In meinem Auto können sie mich nicht hören und doch sage ich ihnen laut, um mich abzureagieren: »Ja, ja, ganz recht, schaut mich nur an! Ich bin Loubna Abidar! Seid ihr zufrieden?« Nein, sie sehen nicht zufrieden aus.

Im Inneren des Hamam fühle ich mich sofort besser. Ich kenne die Angestellten seit Langem, sie sind freundlich zu mir, nie urteilen sie über mich, nie sprechen sie schlecht über mich. Auch dafür liebe ich den Hamam: weil hier niemand den anderen beachtet. Da gibt es die ganz in Schwarz gekleidete alte Frau voller Falten mit einer Tätowierung auf der Stirn, in schwarzen Leggings, einer schwarzen Tunika und einem schwarzen Schleier über dem Kopf, bei der ich am liebsten das Peeling machen lasse. Sie heißt Fatima. »La Fatima«, wie sie von ihren Freundinnen genannt wird, weil sie alt ist und Respekt genießt.

Es ist ein Kommen und Gehen, die Frauen bewegen sich im Dampf, einige Junge und Alte tragen einen Schleier über dem Kopf, andere nicht. Alle sprechen laut und die arabischen Gespräche vermischen sich in einem lärmenden, wasserfallartigen Echo mit dem Ausgießen des Wassers und dem Geräusch der Angestellten, die in ihren Plastiklatschen über den Kachelboden laufen.

Die Sinne werden angenehm betäubt. Man schmiert sich ein, begießt sich mit Wasser, schmiert sich wieder ein, begießt sich wieder mit Wasser. Das alles mit mechanischen und andauernden Bewegungen, wobei man vergisst, dass es draußen auch noch eine Welt gibt. Immer ist eine Frau in Badelatschen da, um die leeren Eimer endlos wieder mit warmem Wasser zu füllen.

Ich strecke mich auf meiner Kunststoffmatte aus und La Fatima kniet sich neben mich. Sie schrubbt mit aller Kraft meinen Rücken, um durch das Peeling abgestorbene Hautschuppen zu entfernen. Ich liege auf dem Bauch, mit dem Gesicht auf den Unterarmen, und wir unterhalten uns. Sie benetzt mich mit Wasser. Dann benetzt sie sich selbst mit dem restlichen Wasser aus dem Eimer. Sie fragt, wie es mir geht, wie es meiner Tochter geht, wie es beim Film läuft. Ich kenne La Fatimas ganze Geschichte und auch die der anderen Frauen im Hamam. Während sie mich waschen, erzählen sie von sich und ich liebe das. Es gibt im Hamam auch Kundinnen, die drei oder vier Stunden mit ihren Kindern kommen und pausenlos reden. Ich kann sie stundenlang beobachten und ihnen zuhören. Die Probleme der anderen lassen mich meine eigenen vergessen im Dampf und Getöse des Wassers an diesem für die marokkanische Kultur so wichtigen Ort.

Im Hamam hat ein Körper keine Geheimnisse. Ich bin völlig nackt mit meinen Narben. Meine Narben sind ein offenes Buch, ein Buch der Schläge, ein Geschichtsbuch über mich.

Ich habe alle möglichen, mehr oder weniger gut versteckten Narben. Die Verbrennungen durch Zigaretten sind mit der Zeit etwas verblasst, aber die Narbe, die sich direkt über meiner Brust zu einem Furunkel entzündet hatte, war so hässlich, dass eine Schönheitsoperation abhelfen musste. Am linken Arm ist mir eine Narbe geblieben. Sie stammt vom kochend heißen Deckel eines Tajine-Topfes. Wodurch die Narbe rechts oben am Oberkörper entstand, weiß ich nicht mehr. Genau wie bei der, die über einen Teil meiner Stirn geht. Er hat mich so oft geschlagen. Es ist wie in einem Karatefilm. Wenn du gegen einen Tisch geschleudert wirst und drei Sekunden später gegen ein Fenster stößt, weißt du am Ende des Kampfes nicht mehr, was passiert ist. Auch meine Beine tragen Spuren von Verbrennungen. Beim Epilieren im Hamam mache ich mir immer einen Spaß daraus, sie zu suchen, aber inzwischen sind sie ziemlich verblasst.

Ich habe so viele Schläge bekommen. Bei allen Verletzungen gibt es diese eine, tiefste Wunde, die man nicht sieht. Es ist die, die so viele junge Mädchen in der arabisch-muslimischen Welt mit sich herumtragen, wo die Jungfräulichkeit, die von den Männern bis zur Hochzeit verlangt wird, umso verlogener ist, als es manchmal die Väter selbst sind, wenn nicht die Brüder oder Onkel, die ein Mädchen entjungfern. Zu dieser schrecklichsten meiner Verletzungen und zu allen meinen frühen Narben als kleines Mädchen sind die neuen dazugekommen. Die letzten stammen vom 5. November 2015, als ich den Bahnhof von Casablanca verlassen habe. Auch diese Narben werde ich vielleicht lange tragen, über der Nase und auf der linken Augenbraue.

Oft betrachte ich meine Narben im Spiegel. Ich muss sie berühren, muss sie spüren. Die Spuren des Vaters und anderer Männer. Dieselben Spuren, die auch die Frauen haben, denen ich im Hamam begegne, die verletzt und häufig prostituiert wurden und denen ich zugehört und deren Sprache ich gelernt habe. Für diese Narben habe ich mich lange geschämt. Bei den Dreharbeiten zu Much Loved fiel es mir schwer, sie zu zeigen, aber der Regisseur Nabil Ayouch hat mir beigebracht, sie zu lieben. Wenn ich heute traurig bin, ziehe ich mich aus und streichle vor dem Spiegel meine Narben. Sie erinnern mich an meine Kindheit. Sie ermutigen mich voranzukommen und deshalb will ich sie nicht alle chirurgisch beseitigen lassen. Ich muss einige davon behalten. Sie geben mir Kraft.

Kapitel 2

Die Katastrophe

Die Katastrophe beginnt, als ich aus dem Bauch meiner Mutter komme.

Es war von Anfang an klar, dass ich ein Junge werden würde. Anders konnte es gar nicht sein, Inch’Allah. Meine Mutter wurde schwanger. Die Geburt nahte. Dieser Sohn, der sich nun bereitmachte, zur Welt zu kommen, würde ihr Glücksbringer sein, da waren sich meine Eltern sicher. Und dann komme ich.

Meine Eltern sind enttäuscht. Die Entbindung erfolgt am 20. September 1985 um 12 Uhr 30, einem Freitag, bei meiner Großmutter mütterlicherseits. Ihr Riad, ein traditionelles marokkanisches Haus, befindet sich in einem schönen Viertel der Medina von Marrakesch, dem historischen Stadtviertel. Meine Mutter wird in einem Zimmer im ersten Stock untergebracht, eine Geburtshelferin ist bei ihr. Es ist sehr heiß. Alles verläuft normal, bis auf meinen Auftritt: Ich schreie nicht. Ich muss aber schreien, so sieht der vorschriftsmäßige Beginn des Lebens aus. Also greift die Geburtshelferin nach einer Flasche Eiswasser und entleert sie über mir. Es funktioniert, ich schreie, wie es sich gehört, aber das kalte Wasser verursacht obendrein eine Mandelentzündung, die mich bis heute immer wieder verfolgt. Nach diesem verpatzten Eintritt ins Leben sind meine ersten Tage nur eine Abfolge von Spritzen, um mich auf den rechten Weg zurückzubringen. Das Eiswasser, die Injektionen, der Schmerz, die fehlende Liebe als Antwort auf die Enttäuschung, die ich bereitet hatte – das war mein Willkommensgeschenk in dieser Welt. Meine erste Lektion: Ich bin ein Fehlschlag, und zwar aus dem einzigen Grund: weil ich ein Mädchen bin.

Dabei war ich wie ein Hoffnungsschimmer erwartet worden, denn mir voraus ging eine andere Katastrophe: Meine Mutter ist Araberin und mein Vater Amazigh (gesprochen »Amazir«). Bei euch wird ein Amazigh »Berber« genannt, aber das Wort »Berber« ist ein verächtlicher Begriff, der von »Barbar« abstammt und nur von denen verwendet wird, die die Amazighs nicht respektieren, insbesondere von ihren Nachbarn, den Arabern. Eine Araberin als Mutter und ein Berber als Vater sind eine schlechte Ausgangslage für eine gute Ehe. In Marokko betrachten die Araber die Amazighs als Gebirgsvolk, wild, dumm und barbarisch. Die Amazighs betrachten die Araber als Volk der Ebene, wild, dumm und barbarisch. Die Amazighs waren die ersten Bewohner des Landes, die Araber haben ihnen die Macht entrissen. Seither leben sie zusammen und vermischen sich, wobei sie sich gegenseitig auf absurde Weise weiterhin verachten. Die Amazighs lehnen es ab, ihr Blut mit dem der Araber zu mischen, die Araber finden die Traditionen der Amazighs lächerlich, ihre Musik, ihre Küche, ihre Trachten bei Hochzeiten, ihren Akzent. Ich habe das immer verabscheut. Diese Dummheiten, diese Gerüchte, diese Lügen, mit denen ich aufgewachsen bin, haben mir immer sehr wehgetan. Heute würde ich diesen Idioten gerne meinen Stammbaum vorlegen: Meine Großmutter mütterlicherseits, Tochter einer Araberin und eines Amazigh, war Amazigh, weil sich die Abstammung über den Vater überträgt. Sie hat einen Araber geheiratet und ihre Tochter – meine Mutter – ist also Araberin. Und mittendrin bin ich, die Kleine, die aus einer weiteren Vermischung mit ihrem Amazigh-Vater hervorgeht. Ich werde von den Arabern als Amazigh behandelt und so geht es weiter. Was bringt es, sich mit der Frage zu beschäftigen, wer Araber, Amazigh, Jude, Christ oder Muslim ist? Die Marokkaner täten besser daran, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihr Leben und ihr Land verbessern können. Sie sollten glauben, was sie wollen, die anderen in Frieden lassen und lieber über Freiheit nachdenken.

Meine Eltern begegnen sich also in diesem Kontext. Wir haben das Jahr 1983. Sie wünschen sich ein Kind, wobei sie an einen Jungen denken – es kann nur ein Junge werden. Und dieser Junge wird genügen, um ihre jeweiligen Familien zu besänftigen, dann werden sie diese unmögliche Situation akzeptieren und ein Teil ihrer Probleme wird sich lösen. Doch es wird ein Reinfall. Ich bin ein Flop. Der Ärger, der vor meiner Geburt durch ihre Missheirat vorprogrammiert war, verschlimmert sich durch mich noch weiter. Fassen wir zusammen: Für die Araber bin ich ein Berbermädchen. Für die Berber bin ich ein Arabermädchen. In jedem Fall bin ich ein Mädchen. Das darf nicht sein. Ich bin nicht so, wie sie es sich wünschen. Ich bin nicht das, was sie sich wünschen. Ich bin eine Katastrophe.

Die Medina von Marrakesch, dieses Labyrinth von Gassen, in denen das Herz der Stadt schlägt, ist unser gemeinsamer Ausgangspunkt. Ich bin geboren worden und aufgewachsen, wo vor mir meine Mutter geboren wurde und aufgewachsen ist: im Riad meiner Großmutter in der Nähe der Königsresidenz. Die Atmosphäre ist heute anders, aber zu ihrer wie zu meiner Zeit ist dieses Viertel der Altstadt so etwas wie ein riesiges Haus, die Tore der Kasbah sind wie Türen, die die Wohnräume voneinander trennen. Jeder kennt dich und beschützt dich. Man lebt in einer großen Familie, die Kinder sind die Kinder aller Eltern, die Eltern sind die Eltern aller Kinder. Es ist undenkbar, dass ein Nachbar für die Nacht kein Dach über dem Kopf oder nichts zu essen hat. In diesem Fall kommt er sofort zu dir und du nimmst ihn natürlich auf. Wenn ein junger Mensch heiratet, gibt es keinen einzigen Bewohner im Viertel, der sich vorstellen könnte, zu dem Fest keine Geschenke und Lebensmittel beizutragen. Wenn du eine Nachbarin mit einem Eimer für den Hamam vorbeikommen siehst, bittest du sie, deinen Sohn oder deine Cousine mitzunehmen und zu waschen, und sie macht es mit Freude. Wenn ich mich auf den Weg zur Schule mache, sprechen mich Frauen an, ich solle ihnen Brotteig mitbringen, den sie später im Ofen backen wollen. Sie sagen dabei nicht »bitte«. Es ist ein Befehl, das ist normal. Ich küsse ihnen die Hand und bringe ihnen Teig mit. Wenn ich nach der Schule zu Hause niemanden antreffe, kann ich jedes beliebige Haus betreten, um meine Hausaufgaben zu machen oder fernzusehen, die Türen sind offen.

Ich liebe diese Atmosphäre der Medina. Der ständige Trubel und Lärm sind unglaublich und beruhigen sich nie. Selbst wenn du einmal traurig bist, bleibst du es nicht lange, denn du fühlst dich niemals allein. Während der religiösen Feiertage ist es der Wahnsinn. Bevor die Schafe am Tag des Opferfestes Eid al-Adha geschächtet werden, vergehen drei oder vier Wochen, in denen sich alle Jugendlichen des Viertels in Zwiebel-, Kohle- und Süßigkeitenhändler verwandeln, um damit das Futter für die Schafe zu verdienen. Die Männer schleifen die Messer, die Frauen schmücken die Wohnräume neu und kaufen Teppiche, Vasen, Teller und Bilder, die aus China, Indien, Saudi-Arabien und sonst woher kommen. Alle kaufen mit Freude und Begeisterung viel ein.

Meine Mutter liebte die Kasbah von Marrakesch ebenso wie ich. Das Leben hatte für sie gut begonnen. Sie ging in ihrem Viertel in die Schule, lebte in einer Familie reicher arabischer Kaufleute, die mit Fleisch handelten. Ich brauche nur Fotos von ihr als kleines Mädchen anzuschauen, um in eine Mischung aus Melancholie und Revolte zu verfallen. Dieses junge, zur Fröhlichkeit bestimmte Mädchen wurde durch die Macht finsterer Traditionen in seiner Entfaltung gestoppt. Meine Mutter, Btissam Elmajahed. Sie ist hübsch, hat sehr dunkles Haar und große braune Augen, wie arabische Männer es mögen. Sie ist kokett, schminkt sich offenbar gerne, kleidet sich jedoch einfach, wie alle Mädchen ihrer Zeit. Auf einem dieser Fotos, das anlässlich eines Festes aufgenommen wurde, trägt sie ein handgefertigtes Kleid in Orange, das ich inzwischen einer Tante wieder abgekauft habe und das wieder in Mode kommt. Meist jedoch trägt sie eine Baumwolltunika über einer Hose. Ein Schleier bedeckt ihren Kopf, ohne jedoch bis zum Hals zu reichen, Goldohrringe in Form von Baumblättern hängen beidseits ihres Gesichts. Ihre Füße sind nackt und sehr schmutzig.

Sie ist vierzehn Jahre alt, trägt Ohrringe und hat sehr schmutzige Füße an diesem Tag, als ihre Eltern sie rufen. Sie spielt gerade mit ihren Cousinen auf der Terrasse des Riad Himmel und Hölle:

»Btissam, komm herunter, dein Ehemann möchte dich sehen!«

»Gleich, Mama, ich spiele noch eben fertig!«