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Alle meine Farben erzählt von einem Jungen, der sich selbst mit dem Namen Schuld tauft. Aus seiner Sicht lebt er dieses Wort nämlich schon sein Leben lang. Er gliedert seine Geschichte in Farben, denn nur in ihren Namen findet er Bedeutung. Nach einem prägenden Schicksalsschlag stößt er auf einen Zettel von seinem verstorbenen Vater, der die Frage stellt " wie wäre es, wenn man immer träumen könnte?" Auf der Suche nach der Antwort und schwerer Schizophrenie sucht er die Zusammenhänge von Farben, Rauschmitteln, Gefühlen und Träumen, um seine schrecklichen Gedanken auszulöschen und seine ungewöhnlichen Kunstwerke zu vollenden. Besessen von der Zeit, Tierpräparaten und Farben begibt er sich immer wieder in die Tiefen des Waldes, um zu lernen sich selbst zu verstehen. Bis er eines Tages mehr als nur eine Antwort bekommt. Jason Para leidet seit seiner Geburt an einer Sehstörung, der Farbenblindheit. Noch nie in seinem Leben hat er die Welt so gesehen, wie wir sie sehen. Seine Welt erscheint in einem Schwarz/Weiß/Grau. Nach schweren Persönlichkeitsstörungen, Depressionen und extremen Schuldgefühlen verfasste er 4 Jahre lang ALLE MEINE FARBEN, um seine Krankheit zu kontrollieren. Mit seinem Bestseller möchte er den Lesern zeigen, das man nicht unbedingt Farben sehen muss, um sie zu fühlen. Er fügte alle seine Farben, die ihm wichtig erschienen zusammen, wie Glasscherbentürkis, Schwarzbunt, Ultraviolett u.v.m. Sein Buch beruht auf seinem Leben, einer wahren Begebenheit, jedoch erst dann, wenn man alle seine Farben lernt zu deuten und Raum für Interpretationen schenkt. Rätsel, drei Persönlichkeiten, Metaphern, Stilmittel und eine außergewöhnliche Art und Weise des Schreibens, verhelfen diesem Buch selbst ein Geheimnis zu sein. Ganz nach dem Motto " außen schwarz, innen bunt". Alles was zu dem Buch gehört, Werbeaktionen, Veröffentlichung, Bilder und das Design sind Hinweise für die richtige Lösung des Werkes und es ist somit mehr als nur ein Buch, es ist etwas Neues- was es bis jetzt noch nie gegeben hat.
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Seitenzahl: 303
Veröffentlichungsjahr: 2017
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In Gedenken an seine Fantasie, die den Autor Jason Para in seiner Jugend prägte, verfasste er "Alle meine Farben" und verarbeitete dadurch unbewusst seine psychischen Störungen. Jason Para ist am 06.11.1991 in Deutschland geboren und absolvierte eine künstlerische Laufbahn, durch die er lernte mit Farben seine Emotionen zu kontrollieren. Durch eine Erkrankung verlor er seine Sehkraft und konnte seitdem nicht mehr sehen, was er über alles liebte- Farben. Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, wenn man versucht sie mit anderen Augen zu deuten- blind.
„Mit diesem Buch möchte ich mein Leben zeigen, wie ich es wahrgenommenen habe. Kein Lektorat soll meine Gedankengänge und Fantasien vernichten oder abändern, hier ist alles echt. Jeder Fehler macht mich aus, zeichnet das Buch- denn es ist alles, was ICH erzählen wollte.“
Jason Para
Polaroidschwarz
Maisgold
Pfützenbraun
Unendlichblau
Aschegrau
Wunderkerzengelb
Engelstrompetenweiß
Glasscherbentürkis
Farblos
Purpurrot
Tafelgrün
Ultraviolett
Gestreift
Kaffeebeige
Blau, Rot & Gelb
Blütenapricot
Schwarz / Weiß
Königsblau
Nagellackpink
Kariert
Messersilber
Rostbronze
Schweinchenrosa
Elfenbeinocker
Badesalzcyan
Durchsichtig
Neongrün
Grellorange
Sepia / Fuchsia
Schwarzbunt
Abschiedsgrau
Gewitterglitzer
Smaragdgrün
Rubinrot
Kristall
Mosaik
Anthrazit
Unterwasser Aurora
Psychedelika
Memory
Kupfer
Pastelltöne
Der schwarze Regenbogen
Tintenfleck
Milchstraße
Kaleidoskop
Traumwandler
Zahlen
Formen
Horizont
Mandala
Zeit
Marmor
Regenbogen Plasma
Strobolicht
Platin
Deckweiß
Chrom
Origami
Labyrinth
Prismen
Wolkenschwarz
Blattgold
Nirwana
Melanismus
Die Farbe Lila
Pseudonym
Alle meine Farben
“Die Fantasie spiegelt Erfahrungen wieder, die man im Leben gemacht hat. Um so mehr man gemacht hat, je mehr Kombinationsmöglichkeiten gibt es und desto mehr scheinen sie nichts mehr mit der Realität zu tun zu haben. Fantasie entwickelt sich unbewusst weiter.”
Die Uhren blieben um 7:35 Uhr stehen. Ich glaube es war November, aber sicher bin ich mir nicht. Ich führe schon seit Monaten keinen Kalender mehr. Die Erde ist grau und kalt, wärend die Welt um uns stirbt. Als die Tage kalt waren, leichter Schnee über das leere noch unbekannte Land fiel, Zugvögel die einst leuchtenden Baumkronen verließen, um Hoffnung zu finden, wurde der Blutkreislauf meiner Familie verdorben. Es war meine Geburt. Eine Geburt wie eigentlich jede andere, mit dem einzigen Unterschied, dass ich seit jenem Tag wahrscheinlich dafür bestimmt war, ein Leben wie es hätte sein können, zu zerstören. Ich bin in einer ländlichen Gegend geboren. In einer Gegend wo der Sonnenschein selten zu Besuch kommt, Nächte die Tage hastig verdrängen und selten eine Sensation mit Konfetti beschmissen wird. Die Leute sind gierig, gemacht aus Geiz. Jubeln denjenigen zu, die in Wahrheit die schlimmsten von allen sind. Manchmal frage ich mich "sind deren Augen aus Gold? Oder was macht sie so blind?" Wahrscheinlich der Traum auf ein besseres Leben. Selten blutet jemand für einen anderen, sie denken an sich, anstatt sich für andere zu opfern. Wie Wölfe heulen Sie, immer auf der Suche nach einem Opfer, um sich selbst zu bereichern und dem Blutenden einsam als unschuldiges Lamm zurücklassen. Sterbend liegt es dann da, kaum einer der die Hand dessen nimmt und das Gold vergisst. Mittlerweile bin ich zweiundzwanzig Jahre alt. Zweiundzwanzig Jahre in denen ich vieles erlebt habe, in denen Jahreszeiten anhielten, Tage schnell vergingen und die Welt trotzdem viele Stunden still stand. Zeiten in denen mich das Gewissen, die Liebe und die Angst fast umgebracht hättenn. Doch zu diesem kommen wir später. Noch lebe ich, versuche dem Dreck des Lebens zu widerstehen und sterbe dabei innerlich. Denn ich bin Teil der Lösung und mein größtes Problem. Mein Name ist Schuld und dies ist meine Geschichte. Das Leben ist wie ein Karussel, dreht sich langsam, dreht sich schnell. Und wir fahren mit tagaus, tagein. Mal geht es aufwärts, mal bergab. Bevor man einsteigen kann, muss man bezahlen und die Reise beginnt. Doch fangen wir von ganz vorne an. Die Geschichte beginnt damit, dass ich geboren wurde. Ich kam in einer Familie zur Welt, wo bereits vieles kaputt war. Meine Eltern stritten, zwischen Hass und Unglück, sie liebten sich nicht mehr. Jeder wünschte sich vielleicht einfach ein glücklicheres Leben. Meine Mutter brachte ihr erstes Kind tot zur Welt, vermisste es immer noch Tag für Tag und ich glaubte, sie hörte es manchmal in ihren Träumen weinen. Wenn ich nachts leise durch das schlafende Haus horchte, lauschte ich ab und an dem wimmernden Schluchzen. Es musste ein Schock für meine Mutter gewesen sein, denn sie und mein Daddy waren früher sehr verliebt. Viele Polaroidfotos schmückten die fast vergessenen alten Fotoalben in denen man beide lächelnd betrachten konnte. Sie lächelten wahrscheinlich, weil sie sich auf die Zukunft freuten. Eine Zukunft in der ich, bis dahin noch nicht existierte. Sie planten eine Familie und heirateten schließlich ziemlich früh und freuten sich auf das bevorstehende Kind. Heutzutage kaum denkbar, zwischen all den Vorurteilen und den Wölfen, die nach Gold gieren. Daddy baute ein Haus, ein Haus für sich und sein hoffendes Glück. Monate lang opferte er Zeit für das Zuhause, in dem seine Träume verwirklicht werden sollten. Einige Abende erzählte er es mir voller Stolz und ich, ich bewunderte ihn. er war mein Held. Nach der Todgeburt meiner Schwester Marylin ging es meinen Eltern sehr schlecht. Kaum ein Tag, an dem man nicht ein Lächeln vortäuschen musste. Aus dieser Zeit gibt es auch keine fröhlichen Polaroidfotos. Sie existieren nicht, weil die beiden diesen schrecklichen Moment nie festhalten wollten. Sie wollten diesen Lebensabschnitt nie wieder betrachten. Es lebten keine materiellen Erinnerungen. Es existierte nur der verschwommene Gedanke an ein trauriges Schicksal, welches das Herz der beiden bluten ließ. Für eine bestimmte Zeit denke ich sogar, sie waren vollkommen ausgeblutet. Zwei schwarze Herzen voller Trauer, lebten in den Tag hinein. Eines Tages kam wieder Farbe in die farblosen Herzen. Jacky wurde geboren. Sie ist meine zweite Schwester und doch die älteste. Ihr wurde das Augenlicht nicht vom Schicksal genommen, ihr wurde ein Chance gegeben das Leben zu akzeptieren. Und sie tat es. Daddy erzählte oft, dass sie alle zu dritt gerne spazieren gegangen sind. Sie präsentierten sich stolz, wie ein goldenes Lamm, welches nur darauf wartete, blind in die Krallen der lauernden Wölfe zu laufen. In dieser Zeit schrieb Daddy ein Gedicht für meine Mutter:
“Schmetterlinge kreisen färbend in meinem Bauch, ich lasse sie in mir leben, ich atme die bunten Farben nicht mehr aus. Sie nargen an meinem schwarzen Herzen, füllen es mit Regenbogenlichtern, blühend strahlt es auf, wie Weihnachtsaugen von verzauberten Kindern. Zeigst mir den Ort, wo der Himmel das Meer berührt, während einer der Schmetterlinge, die letzte schwarze Farbe entführt. Vollkommen, mit dir und den Schmetterlingen, deren buntes Blut ich schmecke, fliegen wir über den endlosen Horizont und atmen weiterhin in der farbenprächtigen Ecke.”
Ich liebte dieses Gedicht. Es zeigte soviel Trauer und doch soviel Hoffnung. Zwei Gegensätze, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Dieses Gedicht zeigte die Liebe, die zwischen den beiden einst ihren Platz hatte. Oft dachte ich an diese Worte zurück, vielleicht Liebe ich es deshalb, wenn alles bunt war. Bunt bedeutete für mich Harmonie, denn die Farben spielen miteinander, wie beste Freunde. Würde eine Farbe fehlen, wären sie zusammen nicht mehr das Wort, das ich so lieben gelernt habe. Bunt. Als die Sonne die Augen meiner Eltern küsste, beschlossen sie ihre kleine glückliche Familie zu vergrößern. Mein Daddy wünschte sich vom ganzen Herzen einen Sohn. Einen Sohn mit dem er Fußball spielen konnte, der in der Werkstatt hilft und ihn bewundern würde. Der eines Tages jeden Tag zu seinem Grab kommen würde, sich an die erlebten Geschichten mit ihm erinnerte und was auf die Beine stellen konnte. Sein Wunsch war ein Sohn, der seinen Familiennamen weiterreichte und voller Stolz präsentierte. Ja, einen Sohn der seine Familie beschützen würde. Als Tag X eintraf, kam Julia zur Welt. Eine weitere Schwester erblickte das Leben meiner Familie. Einerseits war mein Vater glücklich dieses unschuldige Wesen gezeugt zu haben, andererseits machte es ihn traurig, dass Julia kein Sohn war. Er fand sich nach einiger Zeit jedoch damit ab und lernte auch Julia zu lieben, neben der Hoffnung trotzdem eines Tages einen Sohn zu bekommen. Mom, liebte beide Kinder gleichermaßen und bemühte sich, trotz ihres jungen Alters, eine gute Mutter zu sein. Sie schaffte es. Jacky und Julia verstanden sich in ihren ersten gemeinsamen Lebensjahren ziemlich gut.Mit der Zeit jedoch, war Julia diejenige, die mehr Aufmerksamkeit von Mom und Dad bekam. Sie war die beste in ihrer Klasse, jahrelang. Mehr und mehr entstand Eifersucht bei Jacky, sie fühlte sich allein. Sie wollte auch das jemand stolz auf sie war. Sie bemühte sich sehr, doch an die Anerkennung, die Julia bekam, kam sie nicht ran. Mit der Zeit entstanden auch finanzielle Probleme. Die Schulden von dem Traum meines Vaters nahmen die Oberhand über das Glück der jungen Familie. Sie überschatteten sie regelrecht. Das Haus war verloren. Der Traum war verloren. Die bunte Welt, die sie aufgebaut hatten, krachte wie ein Kartenhaus zusammen. Alles schien hoffnungslos. Kein Ausweg. Nichts. Ein Albtraum begann. Es fehlte eine Wunderkerze im Dunkeln, die einem den Weg zeigte, obwohl sie sich in viele Richtungen verstreuen würde. Schließlich war das die Lösung. Daddy betrachtete mit leeren Augen den Geburtstagskuchen meiner Großmutter, seiner Mom. Langsam füllten sich seine Augen, sie bildeten eine Symbiose mit den glitzernden Wunderkerzen. Ein Funkeln fing an zu flimmern, in den von Albträumen verhüllten Augen. Daddy malte sich in seinem Kopf aus, wie es wäre, wenn man seinen Traum mit der Wunderkerze vergleichte. Sie verstreute sich zwar, aber selbst wenn es in der Mitte am hellsten leuchtete, gab es weitere Träume, die zu leben begannen, wenn man sie betrachtete. Man musste nur in eine andere Richtung blicken. Man muss seine Aufmerksamkeit mehreren Dingen widmen und nicht nur dem am hellleuchtendsten Traum. Er beschloss seinen neuen Traum zu leben, in dem er dieses mal einiges besser machen wollte. Daddy, Mom, Jacky und Julia zogen um. Zwischen all dem Umzugsstress klingelte ein kleiner Junge an der Hoffnung meiner Eltern. Hellblonde Haare, lange Nase und dürr. Später nannte man ihn Spargeltarzan. Ich war es. Der gewünschte Sohn trat ins Leben. Mein Daddy freute sich tierisch. Egal wen er traf, er berichtete von seinem Glück. Einem Sohn, der endlich wie er sein würde. Er erinnerte sich oft an die Geburt zurück, “schneller, schneller” meinte er. Daddy wäre vor spannung fast geplatzt, er hätte dich wahrscheinlich lieber selbst geboren, ergänzte meine Mutter immer, als er es voller Stolz präsentierte. Also da war ich nun, ein hässliches Kind, mit dem Namen Schuld. Es war der Tag, an den ich oft zurück denke. Ich bin teilweise neidisch auf meine verstorbene Schwester Marylin. Sie wurde vom Schicksal verschont. Irgendwas musste der liebe Gott an diesem Tag falsch gemacht haben. Warum hatte er mich leben lassen? Warum ausgerechnet mich? Und warum nicht Marylin? Das sind Fragen, die ich wahrscheinlich nie beantwortet bekomme. Einfach der Tag, den ich bereue. Wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und als Embrio freiwillig ertrinken, als mit dem Gefühl zu Leben, das Leben aller gravierend zu verschlechtern. Vielleicht habe ich deswegen bei meiner Geburt so geschrien. Ich wollte einfach nicht leben, weil ich vielleicht wusste, was auf mich zukommen würde und ich wollte nicht der Junge sein, der Schuld hieß.
Ich wuchs auf einem Bauernhof auf, viele Tiere und mit dem Duft des Landes. In einem älteren Haus, welches Daddy und Mom zur Miete bewohnten. Mein Vater entdeckte die Tierliebe für sich. Zwischen all den gut gemeinten Verschönerungsversuchen meiner Eltern und dem nicht vorhandenem Geld, hingen Fotos von einer glücklichen Familie, Tieren und lachenden Menschen. Fett umrahmt hing ein Foto von dem Geburtstagskuchen meiner Oma zentral im Flur des Hauses. Sofort wenn man durch die Tür eintrat, blickte man drauf. Vielleicht war es für meine Familie ein Symbol für ihr neu gefundenes Glück. Egal welche Feier bevorstand, Daddy kaufte millionen Wunderkerzen und jedes mal konnte er es kaum erwarten, die Nächste brennen zu lassen, um die Funken zu bewundern. Oft vergaß ich die Wunderkerzen, denn das Leuchten in den Augen meines Vaters war viel schöner. Die Wunderkerzen spiegelten sich in seinen Augen, wie ein Feuer- man spürte, dass er glücklich war. Wenn ich zurückdenke, bis zu dem Moment der am längsten her ist, fällt mir ein, wie ich meine Zunge fast verloren hätte. Es ist das, woran ich mich erinnern kann, obwohl ich zwei Jahre alt war. Vielleicht weil es solche Schmerzen waren, vielleicht weil ich mir heute wünsche, dass ich hätte meine Zunge verloren hätte und nicht reden könnte. Dann wäre vielleicht alles anders verlaufen. Es war ein schöner Sonntagmorgen, Vögel zwitscherten, fast schon singend in den Höhen der Bäume. Ich und meine Mom wollten ihre Mutter besuchen. Oma und Opa hatten früher einen Kiosk, ich liebte all die bunten Leckereien und freute mich also auf den bevorstehenden Spaziergang. Also zogen wir los, meine Mutter bereits genervt, weil ich so ungeduldig war, so ungeduldig, dass ich immer schneller stapste. Wie ein neugeborenes Lamm, mit Gehfehler und der Fähigkeit ungeduldig zu sein. Ignoranz war das einzige, was ich meiner Mom in diesem Moment schenkte. Unter mir ein harter Steinweg, die Proportionen in alle Himmelsrichtungen verteilt und abgenutzte kleine Kieselsteine, die mit jedem Schritt unter den Sandalen schlurften. Da lag ich nun, wie ein Häufchen Elend. Als ich den Kopf vom Boden anhob, lag direkt vor mir ein rotes schleimiges Etwas, was verblutete. Weiter links blühte ein kleines Gänseblümchen zwischen den Rillen der Steine. Seit Anbeginn von diesem Moment mochte ich Gänseblümchen. Sie strahlten so etwas Ruhiges aus, kämpften sich durch alles, was ihnen im Weg stand und hauptsächlich, weil sie größtenteils grün waren. Grün war früher meine Lieblingsfarbe. Stundenlang lag ich, als kleiner Junge im hohen Gras und malte mir aus, selbst ein Grashalm zu sein. Träumte in den Himmel hinein und wurde quasi Eins mit dem grünen Gras. Das Gänseblümchen half mir jedoch nicht lange, denn ich erstickte kurze Zeit später fast an dem Blut, was mir in die Lungen floss. Leider überlebte ich. Noch nicht einmal die Zunge blieb verstümmelt. Ein weiteres Ereignis meiner Kindheit, das mir immer im Kopf geblieben ist, ist die Nacht in der ich fast gestorben wäre. Seit meiner Geburt litt ich an Asthma. In dieser besagten Nacht war alles still und friedlich, man hörte nichts, nur meinen Atem. Ein und aus, aus und ein und still. Meine Lungen hebten den Brustkorb nicht mehr an, wie ein Luftballon, dem die Luft ausging. Mit jeder heutigen Zigarette denke ich an das Einatmen, das Ausatmen und wünsche mir den Stillstand von damals. Wie durch ein Wunder verhinderten meine Eltern den Plan Gottes. Ich dachte, dass Gott in dieser dunklen Nacht bemerkt hatte, was er für einen Fehler gemacht hatte. Mein Daddy riss das Fenster auf, hob mich in die kaltwarme Sommernacht hinaus und schrie “ lebe, lebe, bitte lebe”. Ein und aus, aus und ein. Die Stille der Lungen verschwand. Mom und Dad weinten an diesem Tag, sie weinten weil ich in ihren Armen atmete. Die ganze Nacht lag mein Vater sich zu mir ins Bett und flüsterte leise “ein aus, aus ein” und zog mich zu sich, damit er meinem Atem lauschen konnte. Irgendwann nach diesen beiden Momenten gebahr meine Mom meine kleine Schwester Joana. Sie wurde in eine Familie hinein geboren, die sowieso schon kaum um die Runden kam. Dennoch liebten meine Eltern sie, wie jedes Kind von uns. Oft spielte ich mit Joana, zangten uns oder klauten heimlich zusammen Bonbons aus dem Keller. Wenn wir erwischt wurden, gab jeder von uns dem anderen die Schuld. Joana war schuld, ich war schuld, obwohl ich ja eigentlich immer Schuld war. Joana hatte immer Angst und ich wollte sie teilweise beschützen und teilweise ärgern. Eines Tages lagen wir zusammen auf einem Feld. Meterhoher Mais verdeckte die Sicht, Grillen zirpten und Schatten spendete uns Schutz vor der schmelzenden Sommersonne. Übermüdet durch die Hitze schlief Joana unter den riesigen Maispflanzen neben mir ein. Ein unbekanntest Geräusch ertönte zwischen dem Grillengesang. Ich konnte es nicht einordnen, wusste nicht, ob es gefährlich für uns war. Mit Geschrei weckte ich Joana auf, ich sagte ihr, dass wir hier schnell weg müssten. Wir rannten um unser Leben. Am Ende des Feldes erblickte ich die obere Hälfte eines riesigen Traktors. Ich schaute links neben mir, keine Joana. Ich schaute rechts neben mir, keine Joana. Der Name Joana wurde, glaube ich, noch nie so laut geschrien. Verzweifelt rief ich so laut nach ihr, wie ich konnte, mein Asthma machte mir jedoch durch die Aufregung und die Anstrengung zu schaffen. Keine Antwort kam aus dem endlosen Feld, nur das gierende Geräusch des Traktors. Tränen liefen in meinen wimmernden Mund. Wolken bedeckten nun das zuvor goldig strahlende Feld, Krähen jubelten und Grillen verstummten. Währenddessen beobachtete ich die schnelle Veränderung. Grün war die Farbe, die ich so liebte, ich wollte sie Joana zeigen, wollte sie beeindrucken. An diesem Tag starben zwei Lieben. Meine Lieblingsfarbe, die mir soviel Kraft gab, in der ich immer lachend lag und von meinem Leben träumte und Joana verlor ihr Leben. Mein Spielkamerade. Meine Schwester, meine kleine Schwester. Plötzlich war kein großer Bruder mehr zu gebrauchen. Alleine und schuldig fühlte ich mich. Spielte in meiner eigenen Welt aus Illusionen, Träumen und imaginären Dingen, Dinge die mir halfen zu vergessen. Tage vergingen, Tage kamen und Trauer überdeckte meine Familie. Keiner sprach mit mir, sie wussten wahrscheinlich nicht, was sie hätten sagen sollen, denn ich war ja der Junge mit dem Namen Schuld. Manchmal spürte ich den Hass. Es waren die ersten Gedanken und Zweifel an mich selbst. Jeden Abend las Daddy mir die selbe Geschichte vor, erst heute weiss ich, was er mir damit sagen wollte:
Der Tiger mit dem etwas anderem Hunger
“Vor nicht all zulanger Zeit lebte ein kleiner Tiger tief in den dunklen und verlassenen Schattenwäldern des Schlaraffenlandes. Ganz alleine und ohne jeglichen Artgenossen stupste er immer weiter in die Dunkelheit hinein. Sein einziger Begleiter war sein Freund der Hunger. Zusammen mit diesem suchte er seit unendlicher Zeit die farbenfrohe nie vergessene Welt, in der er einst seinem Lächeln begegnete. Obwohl der kleine Tiger jeden Tag etwas verschlang, knurrte sein Inneres weiterhin. Denn das Einzige was er kaute war jegliches Gefühl der Einsamkeit, Trauer und Enttäuschung. Von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, hörte man das Knurren des kleinen Tigers immer lauter in der einsamen Gegend verstummen. Jeden Abend weinte er leise, aber doch so laut in die Leere, dass die Stille ihm Beachtung gab. Immer wenn das Abendland das Meer küsste, erinnerte er sich zurück an die Zeit, wo seine Familie Eins war, wo es keinen Streit durch neue andere Tiger gab, Einfach in die Zeit zurück in der, der kleine Tiger keine Probleme hatte, wo alles einfach war. Mit jedem Neubeginn des Morgengrauens wurde seine Hoffnung auf die Stille des Hungers erneut zerstört. Weinend zog er durch die Schattenwälder, bis er an einem unendlich weiten, klaren und schimmernden See gelangte. Durch die glitzernden und funkelnden Wassertropfen wurde der kleine Tiger immer neugieriger und begab sich zum Ufer des glänzenden Sees. Im Wasser bewegte sich sein Spiegelbild mit der leichten Strömung. Stundenlang betrachtete er regungslos sein Spiegelbild. Er wünschte sich einen Spielkameraden mit dem er lachen konnte. An diesem Tag wurde dem kleinen Tiger klar, was sein Knurren ihm seit seiner Einsamkeit zeigen wollte. Er braucht die Liebe und Zuneigung eines anderen Tigers, von einem wie ihm, seinesgleichen. Vielleicht wusste er es bereits, doch er hat immer wieder versucht es zu verdrängen. Seit Anbeginn diesen Tages verstummte das Knurren des kleinen einsamen Tigers, denn er spielte mit seinem eigenen Spiegelbild am Ufer des unendlichen Sees. Er vergaß, dass es sein eigenes Ich war, mit dem er jeden Tag zusammen war. Er fand eine Möglichkeit, die ihm das Lächeln zurück schenkte, was er so vermisst hatte. Ja, er fand einen Freund, der jede Minute bei ihm war, der dieselben Interessen hatte, der in dem selben Moment wie er starb. Jedoch starben beide mit einem Lächeln im Gesicht, an jenem Ufer- dort wo Hoffnung und Trauer einst aufeinander trafen.”
An dem Tag der Beerdigung von Joana lebte ich in meiner eigenen Parallelwelt. Stellte mir vor ihr Sarg wäre eine Höhle, in der sie wie ein Tiger tief schlief. Drumherum sangen Vögel, viele Vögel. Sie sangen ein trauriges Lied, aber dennoch eins, was sehr beruhigend war, denn der kleine Tiger schlief immer tiefer. Die Vögel verabschiedeten sich leise und sangen dabei immer lauter. Mich wunderte nur, wieso alle Vögel schwarz waren. Sogar der Große Vogel trug ein pechschwarzes Federkleid mit sich. Jener war der einzige, der dem kleinen Tiger beim Schlaf noch stundenlang beobachtete. Er beendete den Gesang der Vögel und zündete eine Wunderkerze an. Mit dem Erlöschen der Wunderkerze verließ er den Schlafplatz des kleinen Tigers und verschwand im dunklen Mondlicht der Nacht.
Mittlerweile war ich fünf Jahre alt. Besaß keine Lieblingsfarbe mehr. Hatte keinen Spielkameraden mehr. Meine Eltern gaben alles, um ihren zweiten Traum aufrecht zu erhalten, Jacky und Julia waren zu sehr damit selbst beschäftigt sich gegenseitig zu übertrumpfen und ch war also alleine. Zu der Zeit lebte ich oftmals in meiner eigenen Welt, die ich erstmals bei Joanas Beerdigung wahrnahm. In der Welt, die mir zuvor geholfen hatte Probleme zu vergessen. Da ich ja auf einem Bauernhof groß geworden war, hatte ich viele Tiere um mich herum. Schweine, Kühe, Katzen, Hühner und einen Hund. Unser Hund hieß Charly. Mit Charly habe ich oft gespielt, eigentlich jeden Tag. Er gab mir die Zuneigung, die ich brauchte. Er war mein Freund, mein erster richtiger Freund. Flauschig, warm und liebevoll. Eines Tages stellte ich mir, wie so oft vor, Charly wäre eine Bestie. Wir haben oft Bestie und Held gespielt. Doch an jenem Tag, war ich besessen davon ein Held zu werden, malte mir aus, dass ich die Welt beschützen müsste und Charly war mein Feind, das Monster. Daher jagte ich ihn, er jagte mich, ich brüllte, er bellte. Nach einer Weile gewann ich an Distanz, weil Charly eine tote Maus entdeckte. Ich machte mir dieses zu Nutzen und kletterte auf einem Baum, versteckte mich unter dem Laub eines grün wachsenden Kastanienbaumes und rief nach Charly. Zu vertieft war ich, denn die Farbe fiel mir in diesem Moment nicht auf. Die Bestie kam schleichend immer näher. Pfeil und Bogen waren meine Waffe, ich spannte den Bogen, zog den Pfeil immer fester auf Spannung und lies los. Durch das jaulen von Charly erwachte ich aus meiner Fantasie und fühlte mich nicht mehr als Held, denn ich hatte Charly verletzt, meinen einzigen Freund. Das Monster was Charly spielte, war gar nicht Charly, denn ich war jetzt die Bestie, wie ein Wolf, der gierig nach einem goldenen Lamm griff. Charly verlor an diesem Tag sein rechtes Auge und wir spielten nie wieder zusammen. Der Kindergarten war für mich die Hölle, je nachdem was ich mitbekommen habe. Oft redete ich mit Personen, die gar nicht existierten, mit Freunden, die ich nur in dem Theater meiner Fantasie glücklich machte. Der Vorhang öffnete sich und eine bunte Welt erschien. Sprechende Tiere, lebende Möbel und Gänseblümchen die sangen. Zu diesem Gesang tanzte ich mit vielen Freunden, Lichter strahlten auf uns herab und Hände führten mich jeweils in das nächste Abenteuer. Jeden Tag als meine Mom mich abholte, fiel der Vorhang zu und das aufgeführte Stück war ersteinmal beendet. Mit blauen Flecken und Schürfwunden kam ich nach Hause. Zu sehr war ich auf meine Träume fixiert, um die Attentate der anderen Kinder zu bemerken. Sie wollten meine Welt, wie ich sie mir vorstelle zerstören, meinte Mom immer wieder und weinte dabei. Sie wären neidisch auf meine Fantasie. Die Kinder müssen gedacht haben ich wäre vollkommen durchgeknallt, denn wie würde man auch sonst reagieren, wenn man ein leichtes Opfer gefunden hatte. Ein Opfer, das die Realität ausblendet, um glücklich zu sein. Schon dort habe ich gemerkt wie die Gesellschafft tickt. Gierig nach Gold, dem Gold der anderen. Oft unternahmen wir als Familie etwas, nach dem Tod von Joana. Wir besuchten denselben Zoo, denselben Freizeitpark oder machten denselben Spaziergang mehrmals im Jahr. Der Zoo gefiel mir am besten. Zuvor hatte ich noch nie soviele Tiere an einem Tag gesehen, zwar hatten wir selber viele Tiere, dennoch gab es dort welche, die ich noch nie zuvor bei uns auf dem Bauernhof erspähen konnte. Ein Tiger, so wie er immer in meiner Vorstellung abgebildet wurde, war nun real. Er brüllte, wandte sein Gesicht zu mir und ich bewunderte ihn. Erst raschelte ich langsam mit meiner Smartiespackung, dann schneller. Damit dachte ich, ich könnte den majestätischen Tiger beruhigen. Also raschelte ich weiter, bis die Packung sich öffnete und die Smarties sich auf dem Boden vor dem Käfig verteilten. Kurz sah es so aus, als würden sie tanzen. Der Grüne mit dem Roten, der Gelbe mit dem Blauen. Nur ein violetter Smartie wartete, bis auch die anderen sich still auf den staubigen Boden lagen. Fasziniert von diesem bunten Farbentanz beschloss ich alle Linsen aufzusammeln, bemerkte dabei nicht, dass der Tiger immer näher zu mir kam. Als ich wieder nach oben blickte, musterte ich die Hand des Tigers, die er bittend zu mir ausstreckte. Voller Angst stopfte ich ein paar meiner Smarties in seine große Tatze. Ich dachte er würde sie auffressen, doch dies tat er nicht. Der Tiger spielte, wie eine kleine Katze mit den Smarties, ganz vorsichtig, sodass er sie nicht beschädigte. Jetzt hatte er ein Feuerwerk von Farben vor sich und es schien, als würde es ihn glücklich machen. Vielleicht sehnte auch er sich nach einem besseren Leben. Der Himmel verdunkelte sich und Regen tropfte immer schneller auf uns nieder. Die Farben der Smarties verliefen und bildeten eine Pfütze. Größer und größer wurde diese und die Farben wurden blasser, bis die Smarties schließlich nur noch braune Klumpen waren. Obwohl der Tiger danach traurig wirkte, esse ich selbst heute noch oft Smarties, denn ich mag den Gedanken, dass ich damals jemanden glücklich gemacht habe. Manchmal schütte ich sie vor mir aus, und wünschte ich könnte die Zeit langsamer machen, damit ich ihrem Treiben länger zuschauen kann. Vielleicht werde ich in meinem nächsten Leben ja ein Smartie. Ein bunter Smartie. An meinem siebten Geburtstag bekam ich ein Mal-Set geschenkt. Sofort holte ich millionen weiße Blätter aus dem Büro meines Vaters und gab mir die Aufgabe, die Leere der Blätter mit Leben zu füllen, ich wollte meine Fantasie für alle sichtbar machen, die mir nie geglaubt hatten. Also malte ich Stunden, aus Stunden wurden Tage, aus Tagen Wochen. Irgendwann waren alle meine Stifte aufgebraucht, aber das Haus hing voller Bilder, voller Bilder meiner Fantasie. Nicht alles war für die Menschen in meiner Umgebung nachvollziehbar, dennoch war ich froh beide Welten halbwegs vereint zu haben. Sogar für die Schweine im Stall malte ich Bilder und hoffte, dass auch sie in meine Welt eintauchen konnten. Mein Lieblingsbild hing neben dem Gemälde mit den Wunderkerzen im Flur. Daddy, Mom, Jacky und Julia hielten sich gegenseitig die Hand und lächelten, Joana war über meiner Familie als Engel dargestellt. Meine Mutter meinte damals, sie wäre nun einer. Ich wusste zwar noch nicht ganz, was ein Engel war, fragte jedoch meine Mutter und sie half mir Joana zu realisieren. Mich selber habe ich als tanzenden Smartie dargestellt, der alle Farben meiner Stiftesammlung enthielt. Ich ähnelte mehr einem Regenbogen, als einem Smartie. Das machte mir aber nichts aus, denn ich liebte dieses Bild. Als Streit war, habe ich mir dieses Bild oft lange Zeit angesehn, denn dort lachten alle und waren fröhlich, glücklich. Keiner schrie sich an, keiner schrie mich an. Sie alle lächelten mir zu und ich lächelte zurück. Eine glückliche Familie.
"Farben blenden, Objekte fliegen, schimmernde Sterne fallen auf mich herab. Rosarote Elefanten führen mich vom weg ab, schmecke jedoch den Regenbogen, der sich auf meinem Butterbrot über den Zuckerbonbons befindet,und kaue ihn- bis die Farben und Düfte sich wieder in das leblose Schwarweiß verwandeln."
Zur Schule bin ich eigentlich am Anfang immer gerne gegangen. Eigentlich, denn es war der Zeitpunkt an dem ich lernte die Uhr zu lesen. Seitdem ich die Uhr lesen konnte, rannte die Zeit förmlich vor mir weg. Stunden fühlten sich nur noch wie Minuten an, die Erde drehte sich schneller und die Zeit brachte immer mehr Ereignisse aufeinmal mit sich. Ich schaute auf meine Micky Maus Uhr. Tick tack, tick tack, tick tack. Daddy rief uns, wir sollten in die Küche kommen. Als ich die Treppe hinunterlief, sagte ich leise mit jedem Schritt auf die Stufen tick und dann tack. In diesem Moment wurde mir klar, das alles was man macht Zeit kostete. Zähneputzen kostete 120 Ticktacks, Baden 900 Ticktacks und das Abendessen kostete sogar 1500 Ticktacks. Oft zählte ich bei gewöhnlichen Dingen die Zeit, war ganz still und lauschte dem Ticken in meinem Kopf. Während ich zählte, verkündete Daddy mit Tränen in den Augen die Geburt von Jamie. Ich war wieder ein großer Bruder von jemanden. Von jemandem mit dem Namen Jamie. Jamie, Jamie und nochmal Jamie. Schließlich wiederholte ich den Namen ziemlich oft und er gefiel mir immer besser. Wir fuhren zum Krankhaus und ich wurde wieder ungeduldig, ich konnte es kaum abwarten meinem kleinen Bruder alles über die Welt und meiner Fantasie zu erzählen, ja ich wollte ihn für mich begeistern. Auf dem Weg ins Krankenhaus stolperte ich wieder einmal über meine Quadratlatschen. Mein Gesicht war aufgeschürft und meine Knie wund, doch das war mir egal. Ich spürte keinen Schmerz, Adrenalin schoss in meine Adern und ich rannte, ohne zu wissen wo Jamie lag, durch das ganze Krankenhaus. Dabei rief ich seinen Namen durch alle Gänge, alle Zimmer, bis ich meine Mutter mit einem kleinen Baby in ihrem Armen sah. Doch ich vergaß die Zeit zu zählen, aber Daddy und meine Schwestern haben ziemlich lange gebraucht, bis auch sie Jamie begrüßen konnten. Zugleich nahm ich Jamie in den Arm und erzählte ihm sofort Geschichten aus meinem Leben, von meinen Smarties, meiner abgebissenen Zunge und von Joana. Er lachte mich an. Es sah so aus, als würde er jedes Wort verstehen. Mit großen funkelnden Augen folgte er meinen Worten und schlief erst ein, als ich nicht mehr wusste, was ich erzählen sollte. Wie mein Daddy zuvor bei mir, lauschte ich seinem leisen Schnarchen und zählte die Ticktacks. 6171 mal zählte ich das Ticken, bis Jamie aufwachte und das leise Schnarchen verschwand. Die Zahl war mir seit diesem Tag nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Immer wieder kam sie in meinen Träumen vor. Die Zahl, die zeigt wieviel Zeit, Jamie schon für seinen ersten Schlaf opfern musste. 6171. Im Winter nach Jamie’s Geburt feierten wir alle zusammen Weihnachten. In der Krippe neben dem Weihnachtsbaum lagen zwei Fotos. Eins von Joana, eins mit der Aufschrift Marylin. An diesem Weihnachtsabend erklärte mir meine Mutter wer Marylin war, wieso sie nicht bei uns sein konnte und das sie auf Joana im Himmel aufpasste. Beide wären jetzt Engel, glücklich und zufrieden. Vor der Bescherung besuchten wir die Weihnachtsmesse. Mir gefielen die bunten Fenster der Kirche, besonders das, wo ein Kind in einer Krippe lag. Über dem Kind flog ein Engel. Es erinnerte mich an mein Lieblingsbild, stellte mir vor, dass es Marylin und Joana wären und schmunzelte beim Eintreten in die Kirche. Viele Menschen, viele Lichter und eine goldene Orgel. Bei den Gebeten dachte ich jedes mal an meine verstorbenen Schwestern und betete das es ihnen gut gehen würde. Bis heute habe ich keine Antwort von den beiden bekommen, ich würde gerne wissen, wie es ihnen im Himmel gefällt. Als die Kirche zuende war, schaute ich mir noch ein letztes mal das große bunte Fenster an, denn ich wollte es mir merken. Auf dem Weg nach Hause fragte ich Daddy, wieso wir keine bunten Fenster hätten. Er wusste wahrscheinlich erst nicht was er sagen sollte, denn kurze Zeit war Stille im Auto, aber als er anfangen wollte, fing Jamie an zu weinen. Schnell drehte ich mich zu Jamie und fing an ihn zu beruhigen. Zuhause angekommen, stürmte ich sofort in mein Zimmer und fing an zu malen. Kurz vor der Bescherung war mein Geschenk fertig. Fix rannte ich unsere Treppe hinunter und lag das Bild in die Krippe. Daddy fragte für wen dieses Geschenk wäre und ich antwortete, dass es für uns alle war. Wir könnten es ja am Fenster kleben, dann hätten wir auch bunte Fenster, ergänzte ich. Erst jetzt verstand mein Vater, wieso ich ihn die Frage im Auto gestellt hatte, er weinte und nickte. Als die übrigen Geschenke ausgepackt wurden, war mein Daddy gar nicht richtig bei der Sache, denn err starrte nur auf mein Bild, gab unpassende Antworten und aß noch nicht einmal ein paar Süßigkeiten. Am 1. Weihnachtsmorgen stand ich rasch auf, rannte erneut die Treppe runter und blickte durch das bunte Bild in die verschneite Welt hinaus. Gelegentlich liefen Mom und ich zum Friedhof im Dorf, um Marylin und Joana zu besuchen. Jetzt wusste ich ja auch wer Marylin war. Jedesmal brachte ich Smarties mit und hoffte, dass die beiden im Himmel mit den Smarties spielten und dabei an mich dachten. Eines Tages, als ich gerade die Smarties verstreuen wollte, kreuzte ein Schmetterling meinen Weg. Er flatterte zum Grab von Joana und blieb auf dem Grabstein sitzen. Bis heute glaube ich, dass Joana mir damit ein Zeichen geben wollte, ich denke sie war zu einem Schmetterling geworden. Seit dieser Begegnung besuchte derselbe Schmetterling mich immer wieder, meistens wenn ich mich alleine fühle und munterte mich auf. Er erhält mir die Erinnerungen an Joana, wie wir zusammen gespielt haben, zusammen gelacht haben und ich ihr großer Bruder war, ihr kleiner Held. Im Sommer, nach dem ersten Weihnachten mit Jamie, unternahmen Daddy, ich und mein kleiner Bruder viel zusammen. Daddy hatte seine Arbeit verloren und nun viel Zeit für uns. Es machte mich glücklich, obwohl unsere Situation sich immer mehr verschlechterte. Schulden traten wieder auf, das Essen fiel karg aus und das Lachen aller zeigte sich immer seltener. Jedoch genoss ich die Ausflüge. Einmal sind wir zum Meer gefahren. Es war das erste mal in meinem Leben, dass ich so eine Unendlickeit an Wasser bewundern konnte. Wasser ohne Ende, ohne Rand. Der Himmel berührte das Meer, er küsste es. So einen Kuss hatte ich zuvor nie gesehen und dennoch ist es bis heute noch der Beste, den ich je erlebt habe. Besser als jeder Filmkuss und besser als jeder echte. Wie in der Geschichte, die mein Vater mir nach dem Tod von Joana immer wieder vorlas, glänzte das Wasser, leuchtete voller Pracht und glitzerte weiß in der Sonne. Es war noch viel unendlicher als ich es mir jemals vorgestellt hatte. Es war das Schönste ,was ich je gesehen hatte. Alles schien so ruhig, nur ein warmes Rauschen der Wellen erklang. Mein Vater nahm mich in den Arm und erzählte, dass er immer an diesen Ort kommen würde, wenn er viele Probleme hatte. Das Meer würde ihn besänftigen und es gäbe ihm wie die Wunderkerzen Hoffnung, fügte er stolz hinzu. Jamie und ich nahmen jeweils eine Hand von Daddy und liefen Barfuß über den warmen Sand, an das Ufer der Unendlichkeit. Das einzige was ich in diesem Moment wollte war, zu fühlen wie es ist, wenn man das endlose Meer berührt. Darum hielt ich meine Hand in das noch kühle Wasser und war glücklich, denn ich fühlte mich auch unendlich. Daddy rief dreimal meinen Namen bis ich es bemerkte, denn ich war wie gefangen von der Schönheit. Auf dem Rückweg schaute ich die ganze Zeit auf meine Hand. Fragte mich, ob das Meer mich verändert hatte. Damals verstand ich nicht, wieviel mir dieser Tag später einmal bedeuten wird.