Alle Menschen sind gleich - erfolgreiche nicht - Amy Chua - E-Book

Alle Menschen sind gleich - erfolgreiche nicht E-Book

Amy Chua

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Beschreibung

Warum sind Einwanderer aus China und dem Iran Gewinnertypen und die aus anderen Nationen oft nicht? »Tigermutter« Amy Chua und ihr Mann Jed Rubenfeld haben eine überraschende Antwort. Erfolg hat, wer drei Dinge mit auf den Weg bekommt: das Gefühl kollektiver Überlegenheit, gepaart mit einer tiefen Unsicherheit gegenüber der neuen Gesellschaft und nicht zuletzt einer guten Portion Selbstdisziplin. Das Gute: Das Erfolgsprinzip ist kulturell geprägt, aber dennoch übertragbar und kann uns auch hierzulande eine Lehre sein. Vorausgesetzt, wir haben den nötigen Biss!

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Seitenzahl: 557

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Amy Chua; Jed Rubenfeld

Alle Menschen sind gleich – erfolgreiche nicht

Die verblüffenden kulturellen Ursachen von Erfolg

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

DAS GEHEIMNIS DER GEWINNER

Warum sind Einwanderer aus China und dem Iran Gewinnertypen? Woran liegt es, dass einige Bevölkerungsgruppen im Beruf durchstarten und andere auf der Strecke bleiben?

Die »Tigermutter« Amy Chua und Jed Rubenfeld haben eine verblüffende Antwort. Erfolg hat, wer drei Dinge mit auf den Weg bekommt: Das Gefühl kollektiver Überlegenheit, gepaart mit einer tiefen Unsicherheit gegenüber der Gesellschaft und nicht zuletzt eine ordentliche Portion Selbstdisziplin.

Das Gute: Das Erfolgsprinzip ist kulturell geprägt, aber dennoch übertragbar und für jeden umsetzbar.

Über die Autoren

Amy Chua, »Tigermutter«, ist Tochter chinesischer Einwanderer und gilt als Inbegriff der Karrierefrau. Sie und ihr aus einer jüdischen Familie stammender Mann Jed Rubenfeld sind Juraprofessoren an der Universität von Yale. Das Ehepaar, beide Bestsellerautoren, gehört zur amerikanischen Elite.

Für Soso und Lulu

Inhalt

Einleitung

1 Der Dreierpack

2 Wer ist in den USA erfolgreich?

3 Überlegenheitskomplex

4 Unsicherheit

5 Impulskontrolle

6 Die Kehrseite des Dreierpacks

7 Intelligenzquotient, Institutionen und Aufwärtsmobilität

8 Die Vereinigten Staaten von Amerika

Danksagung

Anmerkungen

Register

EINLEITUNG

Es gehört zu den bisher ungelösten Rätseln der Menschheit, warum manche aus wenig verheißungsvollen Verhältnissen in Spitzenpositionen aufsteigen, während so vielen anderen, die vor ähnlichen Hindernissen stehen und scheinbar die gleichen Fähigkeiten besitzen, der Aufstieg nicht gelingt.

Um diese uralte Frage geht es in diesem Buch. Wir hoffen, den Lesern damit zu einem besseren Verständnis der Welt zu verhelfen – einer Welt, in der es bestimmten Menschen und Gruppen auffallend besser gelingt als anderen, Wohlstand, eine anerkannte gesellschaftliche Stellung und andere Zeichen für Erfolg nach herkömmlichen Maßstäben zu erreichen.

Dieses Buch geht von der paradoxen Prämisse aus, dass erfolgreiche Menschen sich tendenziell zugleich als überlegen und unzulänglich empfinden. Dieses Gefühl vermitteln manche Gruppen ihren Mitgliedern stärker als andere, und solche Gruppen sind überproportional erfolgreich. Diese merkwürdige Kombination von Eigenschaften gehört zu einem potenten Kulturpaket, das Antrieb schafft: einen Drang, sich zu beweisen, der Menschen systematisch auf gegenwärtige Belohnungen verzichten lässt, um in Zukunft etwas zu erreichen. Gruppen, die ihren Mitgliedern diesen Antrieb mitgeben, besitzen in den Vereinigten Staaten einen besonderen Vorteil, weil die amerikanische Gegenwartskultur eine gegenteilige Botschaft vermittelt: nämlich sich selbst zu akzeptieren, wie man ist, und im Hier und Jetzt zu leben.

In diesem Buch fließen Erfahrungen aus der Arbeit in zwei äußerst unterschiedlichen Fachgebieten zusammen. Einer der Autoren schreibt seit nahezu zwanzig Jahren über erfolgreiche ethnische Minderheiten in der ganzen Welt, von Südostasien über Afrika bis hin zur ehemaligen Sowjetunion. Der andere befasst sich mit der Frage, wie der Wunsch, in der Gegenwart zu leben, die moderne westliche Kultur, besonders in den Vereinigten Staaten, beherrscht und die Fähigkeit des Landes untergräbt, für die Zukunft zu leben. Die Vereinigten Staaten waren nicht immer so, vielmehr verlangt die US-Verfassung weit mehr von ihren Bürgern, wie wir aufzeigen werden.

Es ist problematisch zu behaupten, dass bestimmte Gruppen in den USA, gemessen an Einkommen, beruflicher Stellung, Prüfungsergebnissen und so weiter, erheblich besser abschneiden als andere. Weitgehend liegt das an dem Eindruck, dieses Thema sei rassistisch befrachtet. Aber die Fakten widerlegen ironischerweise Rassenklischees. Es gibt in den Vereinigten Staaten schwarze und hispanische Teilgruppen, die in ihren Leistungen viele weiße und asiatische Teilgruppen weit übertreffen. Zudem weist Gruppenerfolg eine nachweisbare Verlaufskurve auf – typischerweise lässt er in Einwanderergruppen in der dritten Generation nach –, was die Vorstellung angeborener Gruppenunterschiede und das gesamte Konzept der »Modellminderheiten« untergräbt.

Wir möchten in diesem Buch eine neue Sicht auf Erfolg, seine versteckten Antriebe, seine innere Dynamik und seine Kosten bieten. Erfolg kann einen hohen Preis fordern, sogar einen erdrückend hohen. Richtig verstanden und genutzt kann die Kombination der drei in diesem Buch beschriebenen Merkmale zu einer Quelle der Stärke werden, die nicht durch eine spezifische Definition des Erfolgs eingeschränkt wird. Dieser Dreierpack kann, wie wir zeigen werden, eine Leiter sein, alles zu erreichen, auch Dinge, die sich nicht am eigenen Gewinn messen, sondern am Dienst an anderen.

Letzten Endes ist dieser Dreierpack jedem zugänglich. Es besteht aus Werten und Überzeugungen, Einstellungen und Praktiken, die alle Menschen – gleich welcher Herkunft – zum Bestandteil ihres Lebens und des Lebens ihrer Kinder machen können und die sie befähigen, das anzustreben, was sie als Erfolg definieren.

KAPITEL 1DER DREIERPACK

Es ist eine scheinbar unamerikanische Tatsache, dass in den heutigen Vereinigten Staaten bestimmte Gruppen andere leistungsmäßig erheblich übertreffen. Einige der erfolgreichsten Gruppen dürften kaum überraschen, andere hingegen schon.

Was haben die gegenwärtigen Finanzmanager und Firmenchefs von American Express, Black & Decker, Citigroup, Dell, Fisher-Price, Deloitte, Jet-Blue, Marriott International, Sears, Roebuck, Skullcandy, Sam’s Club und Madison Square Garden gemeinsam?1 Sie gehören alle der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage an. Noch 1980 war kaum ein Mormone an der Wall Street zu finden.2 Heute sind sie dominante Akteure in den Führungsetagen von Unternehmen, Investmentfirmen und Wirtschaftshochschulen.

Mormonen sind nicht die Einzigen, die aus dem Nichts aufgestiegen sind. In den vergangenen Jahren war viel vom Ende der Aufwärtsmobilität in den USA die Rede.3 Bei Amerikanern, die nach 1960 in den Vereinigten Staaten geboren wurden, ist der Werdegang angeblich weitgehend von der gesellschaftlichen Stellung der Eltern abhängig. Insgesamt mag das stimmen, aber in bestimmten Gruppen, besonders unter Einwanderern,4 ist der amerikanische Traum – auch in der Version »Vom Tellerwäscher zum Millionär« – nach wie vor äußerst lebendig.5

Nach 1959 flüchteten Hunderttausende Kubaner nach Miami, wo die meisten völlig mittellos ankamen.6 Anfangs stießen sie auf Feindseligkeit – an Mietshäusern hingen häufig Schilder mit der Aufschrift: Keine Hunde, keine Kubaner7 –, lebten beengt in kleinen Wohnungen und arbeiteten als Tellerwäscher, Hausmeister und Tomatenpflücker.8Diese Exilkubaner und ihre Kinder trugen dazu bei, das verschlafene Miami in eines der blühendsten Wirtschaftszentren der Vereinigten Staaten zu verwandeln.9 Der Prozentsatz der in den USA geborenen kubanischen Amerikaner mit einem Haushaltseinkommen von über 50000 US-Dollar war 1990 doppelt so hoch wie bei Angloamerikanern.10 Obwohl kubanische Amerikaner nur 4 Prozent der hispanoamerikanischen US-Bevölkerung ausmachten, stellten sie 2002 fünf der zehn reichsten Hispanoamerikaner in den Vereinigten Staaten.11 Gegenwärtig haben sie eine zweieinhalbmal höhere Wahrscheinlichkeit als Hispanoamerikaner insgesamt, mehr als 200000 US-Dollar im Jahr zu verdienen.12

Zwei afroamerikanische Harvard-Professorinnen sorgten 2004 mit dem Hinweis für Furore, dass die Mehrzahl schwarzer Harvard-Studenten – möglicherweise bis zu zwei Drittel – Einwanderer oder deren Kinder waren (im Gegensatz zu Schwarzen, deren Familien seit vielen Generationen in den USA lebten).13 Einwanderer aus vielen Ländern der Karibik und Afrikas – wie Jamaika, Haiti, Ghana, Äthiopien und Liberia – schaffen in den USA ein Hochschulstudium,14 aber am stärksten stechen Nigerianer hervor. Sie machen zwar nur 0,7 Prozent der schwarzen US-Bevölkerung aus15 und werden meist von schwer arbeitenden Eltern aufgezogen, die zuweilen finaziell sehr zu kämpfen haben, sind aber mit annähernd dem Zehnfachen dieses Prozentsatzes unter den schwarzen Studenten an amerikanischen Eliteuniversitäten vertreten.16 Dieser akademische Erfolg schlägt sich erwartungsgemäß in wirtschaftlichem Erfolg nieder. Schon jetzt sind nigerianische Amerikaner in den Investmentbanken der Wall Street und in hochkarätigen Anwaltskanzleien deutlich überrepräsentiert.17

Die Einschätzung, wer in den Vereinigten Staaten »erfolgreich« ist, hängt natürlich davon ab, wie man Erfolg definiert. Manche sehen es vielleicht als größten Erfolg, im Leben möglichst viel Gutes zu tun. Andere werten es als Erfolg, sein Leben Gott zu weihen. Für Sokrates waren Reichtum und Lohn lediglich ein Scheinerfolg; das Leben musste vielmehr erforscht werden, um lebenswert zu sein.18 Aber aus Gründen, deren Beschreibung ganze Bibliotheken füllen könnte – oder die sich wenig nutzbringend auf die Gesetze von Angebot und Nachfrage reduzieren lassen –, gehören Güte, Religiosität und Selbsterforschung nicht zu den Dingen, die moderne Volkswirtschaften belohnen. Oliver Wendell Holmes Sr. bezeichnete Erfolg »im gemeinen Sinne« als »den Erwerb von Geld und Stellung« (und gab dann Ratschläge, wie man ihn erlangt).19 Mit den Kosten und der Beschränktheit eines so verstandenen Erfolgs befassen wir uns später, aber es stellt sich weiterhin hartnäckig die Frage: Warum steigen manche in diesem»gemeinen Sinne« auf, aber andere nicht? Und warum übertreffen manche Gruppen andere darin?

Indische Amerikaner haben das höchste Einkommen aller ethnischen Gruppen, die in der US-Statistik aufgeführt sind: nahezu das Doppelte des mittleren nationalen Haushaltseinkommens.20 In dichtem Abstand folgen chinesische, iranische und libanesische Amerikaner.21 An den Ivy-League-Hochschulen, also den acht Elitehochschulen im Osten der USA, sind Ostasiaten mittlerweile so überrepräsentiert,22 dass man sie bereits als die »neuen Juden« bezeichnet und viele unparteiische Beobachter vermuten, insgeheim würden Zulassungsquoten gegen sie zum Einsatz kommen.23 An dieser Stelle ist zu betonen, dass selbst Kinder armer, schlecht ausgebildeter ostasiatischer Einwanderer – chinesischer Näherinnen, koreanischer Lebensmittelhändler, vietnamesischer Flüchtlinge – bessere Leistungen erzielen als weiße Amerikaner aus entsprechenden Verhältnissen und erheblich bessere als andere ethnische Minderheiten.24

Unterdessen erringen Juden weiterhin Nobelpreise,25 Pulitzerpreise,26 Tony Awards27 und scheffeln Hedgefonds-Millionen28 in einem Maße, das gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil völlig unverhältnismäßig ist. Eine US-weite Studie unter Erwachsenen jungen bis mittleren Alters stellte fest, dass das mittlere Nettovermögen amerikanischer Haushalte 2004 bei etwa 99500 US-Dollar lag, bei jüdischen Teilnehmern waren es 443000 US-Dollar.29 Obwohl der jüdische Bevölkerungsanteil in den USA 2009 nur 1,7 Prozent betrug, waren 20 Juden unter den 50 reichsten Amerikanern der Forbes-Liste, und von den 400 Reichsten war sogar über ein Drittel jüdisch.30

Gruppen können jedoch in ihrem Erfolg auch einen drastischen Niedergang erleben. Als Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine klassische Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus verfasste, dominierten Protestanten noch die amerikanische Wirtschaft.31 Heute ist der Wohlstand amerikanischer Protestanten unterdurchschnittlich, und in einer evangelikalen oder fundamentalistisch protestantischen Familie aufzuwachsen ist mit wirtschaftlicher Abwärtsmobilität verknüpft.32

Dieses Buch befasst sich mit dem Aufstieg und Niedergang von Bevölkerungsgruppen. Es geht von der These aus, dass ein Zusammentreffen dreier bestimmter Kräfte in der Kultur einer Gruppe den Antrieb zu überproportional großem Erfolg liefert. Leider hat diese Geschichte auch eine Kehrseite. Dieselben Kräfte, die den Erfolg fördern, tragen auch zutiefst pathologische Züge, mit denen sich dieses Buch ebenfalls beschäftigt.

Trotz aller Unterschiede weisen die überproportional erfolgreichen Bevölkerungsgruppen in den USA drei kulturelle Gemeinsamkeiten auf, von denen jede gegen ein Kernelement des modernen amerikanischen Denkens verstößt. Da wir keinen Begriff gefunden haben, der weniger unschön klingt, bezeichnen wir diese drei kulturellen Kräfte zusammengenommen als Dreierpack. Seine Elemente sind:

Ein Überlegenheitskomplex. Dieses Element des Dreierpacks lässt sich am leichtesten definieren: Es handelt sich um einen tief verinnerlichten Glauben an die Besonderheit, Einzigartigkeit oder Überlegenheit der eigenen Gruppe. Diese Überzeugung kann aus sehr unterschiedlichen Quellen entspringen. Sie kann religiös sein wie bei den Mormonen.33 Sie kann in einer Schilderung der glorreichen Geschichte und Kultur des eigenen Volkes wurzeln wie bei Chinesen oder Persern.34 Oder sie kann sich auf identitätsstiftende soziale Merkmale stützen, von denen die meisten Menschen in westlichen Ländern noch nie etwas gehört haben: Bei manchen Indoamerikanern ist es die Abstammung aus der »Priesterkaste« der Brahmanen,35 bei manchen nigerianischen Einwanderern die Zugehörigkeit zum berühmten Volk der Ibo.36 Es kann auch eine Mischung sein. So hören jüdische Kinder bei ihrem ersten Pessach-Seder, dass Juden das »auserwählte« Volk sind.37 Später lernen sie, dass Juden ein moralisches Volk sind, ein Volk des Rechts und des Geistes, ein Volk von Überlebenden.38

Ein wesentlicher Aspekt des Überlegenheitskomplexes ist, dass er im Gegensatz zum breiten liberalen Denken steht, das uns anhält, keinen Menschen für besser zu halten als einen anderen. Alle sind gleich. Und wenn schon individuelle Überlegenheitsansprüche Stirnrunzeln auslösen, so verbieten sie sich erst recht für Gruppen. Gruppenüberlegenheit ist Stoff für Rassismus, Kolonialismus, Imperialismus und Faschismus. Dennoch pflegt jede extrem erfolgreiche Gruppe in den Vereinigten Staaten den Glauben an ihre eigene Überlegenheit.

Unsicherheit. So wie wir den Begriff verwenden, ist Unsicherheit eine Art Unbehagen, eine Verunsicherung in Bezug auf den eigenen Wert oder den eigenen Platz in der Gesellschaft; das Gefühl oder die Furcht, dass man selbst und das, was man tut oder hat, grundsätzlich nicht gut genug ist. Unsicherheit kann viele Formen annehmen: das Gefühl, dass andere auf einen herabsehen; den Eindruck, es bestünde Gefahr; das Gefühl der Unzulänglichkeit; die Angst, das zu verlieren, was man hat. Wahrscheinlich ist jeder auf die eine oder andere Art unsicher, aber manche Gruppen tendieren stärker dazu als andere. Einwanderer sind fast schon definitionsgemäß unsicher: Sie erleben eine tief greifende wirtschaftliche und soziale Unsicherheit, da sie nicht wissen, ob sie ihren Lebensunterhalt bestreiten oder ihren Kindern zu einem anständigen Leben verhelfen können.39

Die Ansicht, Unsicherheit als wesentlichen Hebel des Erfolgs einzuschätzen, ist ein weiteres Unthema, das sämtlichen Grundlehren der heutigen populären oder therapeutischen Psychologie widerspricht. Das Gefühl der Unsicherheit gilt als diagnostisch anerkanntes Symptom einer Persönlichkeitsstörung.40 Einem Menschen, der unsicher ist – und der das Gefühl hat, auf eine grundlegende Weise nicht gut genug zu sein –, mangelt es an Selbstwertgefühl, und wem es an Selbstwertgefühl mangelt, der ist nicht auf dem Weg zu einem erfolgreichen Leben. Im Gegenteil, wahrscheinlich sollte er sich in Therapie begeben. Das größte Unthema sind Eltern, die ihren Kindern Unsicherheit einimpfen. Dennoch ist bei jeder der erfolgreichsten Bevölkerungsgruppen in den USA Unsicherheit tief verwurzelt. Diese Gruppen leiden nicht nur darunter, sondern tendieren bewusst oder unbewusst dazu, sie auch noch zu fördern.

Zwischen Unsicherheit und dem Überlegenheitskomplex herrscht ein tief greifendes Spannungsverhältnis. Es erscheint merkwürdig, dass Menschen unsicher und gleichzeitig überzeugt sind, von Gott auserwählt oder überlegen zu sein. Aber gerade aus dieser spannungsgeladenen, instabilen Kombination bezieht der Dreierpack seine Schlagkraft, wie wir im Folgenden zeigen werden.

Impulskontrolle. Impulskontrolle, wie wir den Begriff verwenden, ist die Fähigkeit, Versuchungen zu widerstehen, speziell der Versuchung, aufzugeben, wenn es hart wird, oder vor einer schwierigen Aufgabe zu kapitulieren, statt durchzuhalten. Keine Gesellschaft könnte ohne Impulskontrolle existieren. Möglicherweise beginnt Kultur mit der Unterdrückung sexueller und aggressiver Urinstinkte, wie Freud vermutete.41 Vor dem Hintergrund einer relativ freizügigen amerikanischen Gesellschaft legen manche Gruppen dennoch entschieden größeren Wert auf Impulskontrolle als andere.

Auch die Impulskontrolle steht in krassem Gegensatz zur Gegenwartskultur. Allein schon der Begriff beschwört alle erdenklichen negativen Assoziationen herauf: »Kontrollfreaks«, Menschen, die »zu beherrscht« oder »zu beherrschend« sind, nicht »impulsiv« sein, das Leben nicht genießen können. Menschen, die ihre Triebe beherrschen, leben nicht im Hier und Jetzt, was ein Imperativ der Moderne ist. Unzählige Bücher und Wohlfühlfilme verbreiten, wie man lernt, im Hier und Jetzt zu leben, und propagieren es als Schlüssel, Hemmungen und Unterdrückung zu überwinden. Impulskontrolle ist etwas für Erwachsene, nicht für Jugendliche, und die moderne Kultur ist vor allem eine Jugendkultur.42

Mit der zunehmenden Tendenz, das Alter zu missachten und seine Spuren aus unseren Gesichtern zu tilgen, geht eine Romantisierung der Kindheit einher, die als eine Zeit ungetrübten Glücks postuliert wird, und so wächst die Furcht, dieses Glück durch überzogene Einschränkungen, Anforderungen, Härten oder Disziplin zu beeinträchtigen. Dagegen nimmt jede der erfolgreichsten Bevölkerungsgruppen in den USA eine völlig andere Haltung zur Kindheit und zur Impulskontrolle ein und impft Kindern von klein auf Disziplin ein – oder tat dies zumindest, als sie sich im Aufstieg befand.

Da diese drei Elemente des Dreierpacks der modernen US-Kultur so stark zuwiderlaufen, ist es durchaus verständlich, dass die erfolgreichsten Gruppen der amerikanischen Gesellschaft auf die eine oder andere Weise Außenseiter sind. Ebenso verständlich ist es, dass so viele Einwanderergruppen Nischen außergewöhnlicher Aufwärtsmobilität in einer zunehmend von rigider sozialer Schichtung geprägten Wirtschaft einnehmen. Paradoxerweise bedeutet es für eine Gruppe in den heutigen USA einen Vorteil, wenn sie die seit den 1960er Jahren geltenden liberalen Prinzipien der breiten amerikanischen Masse nicht teilt.

Wieso ist der Dreierpack ein so starker Motor des Gruppenerfolgs? Der erste Grund liegt im Antrieb, der aus dem merkwürdigen Zusammentreffen der beiden ersten Elemente des Dreierpacks erwächst.

Die Vermutung liegt nahe, dass ein Überlegenheitskomplex und Unsicherheit sich gegenseitig ausschließen und diese beiden Merkmale schwerlich in einer Person nebeneinander existieren können. Genau das ist der springende Punkt: Es ist tatsächlich eine merkwürdige, instabile Kombination. Aber gerade diese Verbindung von Überlegenheit und Unsicherheit bildet den Kern jeder Dreierpackkultur. Sie bringt tendenziell einen anspornenden Stachel hervor, einen Drang, sich zu beweisen oder sich Anerkennung zu verschaffen.

Solche »Komplexe« gab es bei Juden im Grunde über die gesamte belegte Geschichte hinweg – oder zumindest seit Hadrian den Bar-Kochba-Aufstand in Jerusalem niederschlug und ein großes Marmorschwein anstelle eines ehemaligen jüdischen Tempels aufstellte.43 Die Millionen armer osteuropäischer Juden, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten kamen und dort nicht nur bei Nichtjuden, sondern auch bei deutsch-amerikanischen Juden als schmutzig und heruntergekommen galten,44 hatten anscheinend »nahezu einen kollektiven Komplex«, wie ein Autor schrieb.45

Dasselbe ließe sich auch von der nächsten Generation behaupten: von Männern wie Alfred Kazin, Norman Mailer, Delmore Schwartz, Saul Bellow, Clement Greenberg, Norman Podhoretz und vielen New Yorker Intellektuellen, die in ihrer Kindheit und Jugend von den antisemitischen Bildungs- und Kulturbastionen des Landes ausgeschlossen waren und zu berühmten Kritikern der US-amerikanischen Gesellschaft wurden.46

Dieser Stachel, diese »Denen wird ich’s zeigen«-Mentalität, ist eine Besonderheit des Dreierpacks. Es ist das explosive Produkt eines Überlegenheitsgefühls, das mit einer Gesellschaft kollidiert, die diese Überlegenheit nicht anerkennt.Erstaunlich ist, wie verbreitet diese Dynamik in Einwanderergruppen ist: Eine Minderheit, gerüstet mit enormem ethnozentrischem Stolz, sieht sich plötzlich in den USA missachtet und verschmäht. Das Ergebnis kann an Ressentiments grenzen – und Ressentiments gehören zu den starken Triebkräften der Welt, wie schon Nietzsche feststellte.47

Eine besonders intensive Variante dieser Erfahrung geht mit dem plötzlichen Verlust der gesellschaftlichen Stellung einher. Einwanderer, die in die USA kommen, steigen typischerweise wirtschaftlich auf und erreichen einen besseren Lebensstandard als in ihrem Heimatland.48 In manchen Fällen erleben sie jedoch das Gegenteil: einen drastischen Verlust an Status, Wohlstand oder Ansehen. Das ist eine besonders bittere Erfahrung, wenn ihre neue Gesellschaft nichts von dem Respekt weiß, den man ihnen vorher entgegengebracht hatte.49 Diese zusätzliche Kränkung erlebten einige der erfolgreichsten Einwanderergruppen. Ein anschauliches Beispiel sind Exilkubaner und iranische Amerikaner.

Überlegenheit und Unsicherheit können in ihrem Zusammenwirken noch einen völlig anderen, aber ebenso treibenden Ansporn liefern: indem sie nämlich einen starken, manchmal sogar quälenden Drang hervorbringen, sich nicht gegenüber »der Welt«, sondern gegenüber der eigenen Familie zu beweisen.

In vielen chinesischen, koreanischen und indischen Einwandererfamilien stellen die Eltern extrem hohe Erwartungen an die schulischen Leistungen ihrer Kinder (»Warum nur 99 Punkte?«).50 Implizit zeugen diese Erwartungen zugleich von einem tief sitzenden Überlegenheitsgefühl (wir wissen, dass du es besser kannst als alle anderen) und von der stichelnden Unterstellung gegenwärtiger Unzulänglichkeit (aber bisher sind deine Leistungen nicht einmal annähernd gut genug). Häufig führen Eltern zum Vergleich Cousin X an, der gerade seinen Abschluss als Jahrgangsbester geschafft hat, oder die Tochter eines Bekannten, die gerade einen Studienplatz in Harvard bekommen hat51 – und das gilt gleichermaßen in einkommensschwachen und in gut situierten Familien.52

Oft erhöhen ostasiatische Einwandererfamilien den Druck auf ihre Kinder noch weiter, indem sie ihnen den Eindruck vermitteln, ihr »Versagen« – wenn sie beispielsweise die Note B+ (gut) nach Hause bringen – sei eine Schande für die ganze Familie. »In chinesischen Familien gilt die persönliche schulische Leistung eines Kindes als Auszeichnung und Ehre für die ganze Familie«, erklärte eine taiwanesisch-amerikanische Mutter kürzlich in einer Studie. »Wenn du gut abschneidest, machst du der Familie Ehre und verlierst nicht das Gesicht. Es wird viel Wert darauf gelegt, dass das Kind für die Familie gut abschneidet. Das fängt schon im Kindergarten an.«53

Die ostasiatischen Eltern mögen das auffallendste Beispiel sein, aber das Phänomen hochgeschraubter Elternerwartungen mit der Doppelbotschaft von Überlegenheit und Unzulänglichkeit ist in vielen Einwanderergruppen verbreitet. Vor 60 Jahren schrieb Alfred Kazin: »Ich arbeitete nicht nur für mich, sondern für [meine Eltern]. Ihr Leben war trostlos, die glänzenden Leistungen des Sohnes sollten ihr Schmerzensgeld sein.«54 In dem jüdischen Einwandererviertel, in dem Kazin lebte, galt: »Wenn ein Kind auf dem Zeugnis oder in Arbeiten ein Gut bekam, herrschte in der ganzen Familie Trauer.«55 Diese Dynamik ist in unterschiedlichen Variationen in nahezu jeder Dreierpackkultur zu finden und sorgt für einen enormen Erfolgsdruck. Die Folge können Angst und Qual, aber auch Ehrgeiz und erstaunliche Leistungen sein.

Da wir Begriffe wie »ostasiatische Eltern« benutzen, müssen wir eine Bemerkung zu kulturellen Verallgemeinerungen und Klischees machen, bevor wir unsere Ausführungen fortsetzen. Wir treffen in diesem Buch generell keine Aussagen über wirtschaftliche Leistungen oder vorherrschende kulturelle Einstellungen einer Gruppe, die nicht durch solide empirische, historische oder soziologische Belege erhärtet sind (die Quellen sind in den Anmerkungen am Ende des Buches angegeben). Wenn aber zwischen Gruppen tatsächliche Unterschiede bestehen, sagen wir dies unverhohlen. So ist es schlicht eine statistische Tatsache, dass jugendliche Mormonen mit geringerer Wahrscheinlichkeit Alkohol trinken oder voreheliche Geschlechtsbeziehungen haben als andere amerikanische Jugendliche.56 Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, aber würde uns deren Existenz für Unterschiede zwischen Gruppen blind machen – oder es uns verbieten, darüber zu sprechen –, dann könnten wir die Welt, in der wir leben, nicht verstehen.

Verallgemeinerungen über Gruppen werden zu diskriminierenden Klischees, wenn sie falsch oder gehässig sind oder als zutreffend für jedes Gruppenmitglied hingestellt werden. Keine Gruppe und keine Kultur ist monolithisch. Selbst in einer gut verdienenden, »erfolgreichen« Bevölkerungsgruppe wie der indisch-amerikanischen gibt es 200000 Menschen, die in Armut leben.57 Zudem hat jede Kultur rivalisierende Subkulturen und Menschen, die die kulturellen Werte ablehnen, nach denen sie erzogen wurden. Das macht die Kultur jedoch nicht weniger real oder mächtig. »Lassen Sie mich meine Gefühle gegenüber asiatischen Werten zusammenfassen«, schreibt der provokative Autor Wesley Young. »Scheiß auf Respekt vor den Eltern. Scheiß auf die Jagd nach guten Noten. Scheiß auf die Elite-Uni-Manie. Scheiß auf Autoritätshörigkeit. Scheiß auf Bescheidenheit und Fleiß. Scheiß auf harmonische Beziehungen. Scheiß auf Opfer für die Zukunft.«58 Ganz egal, ob ein Einzelner seinen kulturellen Hintergrund annimmt oder schreiend davor wegläuft, bleibt diese Kultur doch prägend und wichtig.

Kehren wir zurück zur Funktionsweise des Dreierpacks: Die Kombination von Überlegenheitsgefühl und Unsicherheit wird zum Antrieb, aber Erfolg braucht mehr als das. Das Bild des »Antriebs« ist insofern irreführend, als es an einen Wagen auf einer freien Autobahn denken lässt, in dem ein erfolgreicher Mensch nichts weiter als einen vollen Tank und einen Fuß auf dem Gaspedal braucht. Aber das Leben kann auch ein Kampf sein, um eine andere Metapher heranzuziehen – ein Kampf gegen Pfeile und Schleudern des wütenden Geschicks, gegen ein System, das den Menschen immer wieder zu Boden wirft, gegen den beinahe unwiderstehlichen Drang aufzugeben.

Nahezu jeder trifft irgendwann im Leben auf Hindernisse, Widrigkeiten und Enttäuschungen. Antrieb ist etwas Offensives, aber Erfolg erfordert noch mehr.

Einer der größten Schachspieler der Geschichte soll einmal über einen anderen großen Spieler gesagt haben: »Er wird nie Weltmeister, weil er nicht die Geduld hat, stundenlang die schlimmsten Stellungen auszuhalten.«59 Der Dreierpack sorgt nicht nur für Antrieb, sondern auch für Defensivkräfte: Zähigkeit, Belastbarkeit, Durchhaltevermögen und die Fähigkeit, Schläge einzustecken und sich anschließend wieder aufzuraffen.

Bereits das Überlegenheitsgefühl entfaltet teilweise diese Wirkung, denn es liefert ein gewisses psychisches Rüstzeug, das für Minderheiten, die sich wiederholt Feindseligkeiten und Vorurteilen ausgesetzt sehen, von besonderer Bedeutung ist.60 Bei erfolgreichen Minderheiten ist die Strategie verbreitet, dem Ethnozentrismus der Mehrheit ihren eigenen Ethnozentrismus entgegenzusetzen. Benjamin Disraeli nutzte diese Taktik gegen britischen Antisemitismus. »Ja, ich bin Jude«, erklärte er in einer berühmten Entgegnung auf eine beleidigende Bemerkung, »und als die Vorfahren dieses ehrenwerten Herren noch brutale Wilde auf einer unbekannten Insel waren, waren meine bereits Priester im Tempel Salomons«.61

Erheblich stärker ist jedoch das Zusammenspiel von Überlegenheit und Impulskontrolle – die Überzeugung, durch Selbstbeherrschung Überlegenheit zu erlangen –, das einen sich selbst verstärkenden Zyklus immer größeren Durchhaltevermögens hervorbringen kann. Ein Überlegenheitsgefühl, das auf Impulskontrolle aufbaut, kann überaus wirkungsvoll sein. Ein Mensch mit einem solchen Überlegenheitsgefühl demonstriert und nutzt seine Selbstdisziplin bereitwillig, um ein schwieriges Ziel zu erreichen. Je größer die Opfer oder Härten, die er auszuhalten vermag, umso überlegener fühlt er sich und umso besser ist er imstande, in Zukunft noch anspruchsvollere Akte der Selbstbeherrschung in Angriff zu nehmen, durch die er sich noch überlegener fühlt. Daraus erwächst die Fähigkeit, Härten auszuhalten, eine erhöhte Belastbarkeit, Ausdauer und Widerstandskraft.62

Diese Dynamik stellt eine weitere Besonderheit des Dreierpacks dar. Bei den erfolgreichen Einwanderergruppen in den USA verbindet sich das Überlegenheitsgefühl nahezu ausnahmslos mit Impulskontrolle. Sie tendieren zu der (vermutlich zutreffenden) Überzeugung, dass sie mehr aushalten und arbeiten können, als Durchschnittsamerikaner auszuhalten und zu arbeiten bereit sind.63 Diese Fähigkeit begreifen sie als Tugend, machen sie stolz zu einem Teil ihres Selbstverständnisses und versuchen – häufig äußerst effektiv –, sie ihren Kindern einzuimpfen.

Dieses Phänomen ist jedoch nicht nur bei Einwanderern zu finden. Auch Mormonen verknüpfen ihr Überlegenheitsgefühl mit ihrer Disziplin, Enthaltsamkeit und den Härten, die sie während der Mission durchhalten (einer meist zweijährigen Missionierungszeit an einem zugewiesenen Ort zwischen Cleveland und Tonga). Auch sie sehen Impulskontrolle als moralische, spirituelle und charakterliche Tugend, die an sich bewundernswert und gut ist. Während der Missionierungszeit müssen Mormonen auf Beziehungen, Spielfilme, Zeitschriften und Populärmusik verzichten.64 Nur einmal wöchentlich dürfen sie E-Mails schreiben, aber nur von öffentlichen Internetverbindungen (nicht von ihrer Wohnung) aus, und Anrufe zu Hause sind ihnen nur zu Weihnachten und am Muttertag erlaubt. Während andere amerikanische Achtzehnjährige die an Universitäten verbreitete Saufkultur genießen,65 arbeiten Mormonen sechs Tage in der Woche zehn bis 14 Stunden, tragen ein weißes Hemd und Krawatte oder ein adrettes Kostüm, klopfen an Türen und setzen sich immer wieder Zurückweisungen und häufig Hohn und Spott aus.

Die Fähigkeit, Härten auszuhalten, hat an sich nichts mit wirtschaftlichem Gewinn oder herkömmlichem Erfolg zu tun. Im Grunde kann sie ebenso gut Menschen in Büßerhemd wie auch kafkaeske Hungerkünstler hervorbringen. Wird aber Durchhaltevermögen mit anspornendem Ehrgeiz gekoppelt – treffen also Willenskraft und der Drang, anderen etwas beweisen zu müssen, aufeinander –, entsteht daraus ein Mechanismus des Belohnungsaufschubs.

Überlegenheitsgefühl plus Unsicherheit ist eine Formel für Antriebskraft. Überlegenheitsgefühl plus Impulskontrolle ist eine Formel für Durchhaltevermögen. Wenn das Dreierpack diese drei Elemente in der Kultur einer Bevölkerungsgruppe vereint, sind ihre Mitglieder überproportional bereit und fähig, alles Nötige für einen späteren Erfolg zu tun oder zu akzeptieren.66

Aber dieser Erfolg hat seinen Preis. Jedes Element des Dreierpacks bringt seine eigenen Pathologien hervor. Zutiefst unsichere Menschen sind häufig neurotisch. Triebversagung kann die Fähigkeit untergraben, Schönheit, Ruhe und spontane Freude zu erleben. Der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Gruppe ist das gefährlichste dieser Elemente, da er Arroganz, Vorurteile und Schlimmeres fördern kann. Einige der größten Übel der Geschichte – Sklaverei, Apartheid, Genozid – gründeten sich auf den Anspruch einer Gruppe, anderen überlegen zu sein.

Aber selbst wenn der Dreierpack relativ harmlos als Erfolgsmotor wirkt, kann es pathologische Züge tragen – und zwar durch seine Definition von Erfolg.

Dreierpackkulturen konzentrieren sich tendenziell auf materiellen, konventionellen und prestigeträchtigen Erfolg. Das liegt an der Unsicherheit, die sie antreibt. Der Stachel, der Drang, der Welt oder sich selbst etwas beweisen zu müssen, die nackte Angst, als neu Zugewanderter, der nicht einmal die Landessprache beherrscht, vielleicht kein Essen auf den Tisch bringen zu können – alle diese typischen Dreierpackängste bringen Menschen tendenziell dazu, Einkommen, Anerkennungen für Verdienste und anderen Formen externer Wertschätzung Vorrang einzuräumen.67

Materieller Erfolg lässt sich aber offenkundig nicht mit einem guten oder erfolgreichen Leben gleichsetzen. Der Historiker James Truslow Adams, der das Schlagwort vom »amerikanischen Traum« populär gemacht hat, schrieb, jeder sollte zweierlei Bildung erhalten: eine, »die uns lehrt, den Lebensunterhalt zu verdienen, und die andere, die uns zu leben lehrt«.68 Bildung in diesem zweiten Sinne vermittelt der Dreierpackerfolg nicht, da er den Schwerpunkt auf externe Erfolgsmaßstäbe legt. Im Gegenteil, in einer Hochleistungskultur aufzuwachsen kann für Menschen, die solche Leistungen nicht erbringen wollen oder können, zur Quelle von Unterdrückung und Wut werden. Der Aufschub von Belohnung kann eine Nichts-ist-jemals-gut-genug-Mentalität hervorbringen, die jahrelange Therapie erfordert.69 Das ist auch die Grundlage für den Witz, in einer Anwaltskanzlei auf der Wall Street zum Partner aufzusteigen sei, als gewinne man einen Wettbewerb im Kuchenessen und bekäme als Preis noch mehr Kuchen.

Im schlimmsten Fall kann der Dreierpack Leben verpfuschen und Menschen psychisch brechen. Kinder, die man glauben macht, sie seien Versager oder wertlos, wenn sie nicht jeden Preis gewinnen, erkennen vielleicht mit Mitte 20, dass sie ihr Leben lang etwas angestrebt haben, was sie gar nicht wollten.

Ein Großteil dieses Buches befasst sich mit den erfolgreichsten Bevölkerungsgruppen der USA – mit ihren kulturellen Gemeinsamkeiten, ihrem Werdegang über mehrere Generationen hinweg, ihren Pathologien. Aber wir beschäftigen uns auch eingehend mit einigen ärmeren Gruppen in den Vereinigten Staaten. Wir werden zeigen, dass diesen Gruppen zwar der Dreierpack fehlt, was die Grundthese dieses Buches belegt, aber sein Fehlen nicht die eigentliche Ursache ihrer Armut ist – ein Punkt, der so wichtig ist, dass er im Voraus betont werden muss. In nahezu allen Fällen beruht die Armut durchgängig einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen in den USA auf systematischer Ausbeutung, Diskriminierung, mangelnden Chancen und institutionellen oder makroökonomischen Faktoren, die nichts mit ihrer Kultur zu tun haben.70

Bei manchen Gruppen haben die Vereinigten Staaten erheblich zum Fehlen der Dreierpackeigenschaften beigetragen. Jahrhunderte der Sklaverei und Abwertung können es einer Gruppe schwer, wenn nicht gar unmöglich machen, ein tief verinnerlichtes Überlegenheitsgefühl zu besitzen. Wenn Angehörige bestimmter Gruppen zugleich lernen, dem System nicht zu trauen, wenn sie zu der Überzeugung kommen, dass Disziplin und harte Arbeit nicht belohnt werden – wenn sie nicht glauben, dass Menschen wie sie es schaffen können –, dann haben sie kaum einen Grund, ihre Triebe zu beherrschen und für späteren wirtschaftlichen Erfolg auf Befriedigungen in der Gegenwart zu verzichten.71 Daher können dieselben Bedingungen, die Armut verursachen, auch die Dreierpackmerkmale aus einer Kultur ausradieren.

Sobald das geschieht, verschlimmert sich die Situation weiter. Auch wenn die ärmsten Bevölkerungsgruppen der USA vielleicht nicht in Armut geraten sind, weil ihnen der Dreierpack fehlte, verschärft sein Fehlen ihre Probleme und besiegelt ihre Armut doppelt. Unter solchen Umständen braucht es erheblich mehr – mehr Durchhaltevermögen, mehr Antrieb, vielleicht eine außergewöhnlichere Persönlichkeit –, um aus den Verhältnissen auszubrechen.

Gruppen, die es in den Vereinigten Staaten zu Dreierpackerfolg bringen, geraten in einen schöpferischen Zerstörungsprozess, der sie unwiderruflich verändert. Die eigenen kulturellen Antikörper der Vereinigten Staaten greifen diese Gruppen unweigerlich an und ermuntern ihre Mitglieder, sich von den traditionellen Zwängen ihrer Kultur zu befreien.

Im Zuge dieses Prozesses gelingt der Gruppe ihr Aufstieg möglicherweise so gut, dass sie schlicht verschwindet, wie es bei den extrem erfolgreichen amerikanischen Hugenotten praktisch der Fall war.72 Das Verschwinden einer Gruppe lässt sich als Triumph des amerikanischen Schmelztiegels feiern oder als Verlust des kulturellen Erbes und der Identität beklagen, aber das Ergebnis ist immer dasselbe: Gerade durch ihren Erfolg assimiliert sich eine erfolgreiche Gruppe, geht Mischehen ein und amerikanisiert sich, bis sie nicht mehr als Gruppe existiert. Libanesische Amerikaner (die zusammen mit anderen arabischen Amerikanern zu einem extrem hohen Anteil außerhalb ihrer Gruppe heiraten)73 sind ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert für dieses Phänomen.

Ein weiteres mögliches Ergebnis dieses Prozesses ist der Abstieg. Es liegt im Wesen des Dreierpackerfolgs, dass er sich nur schwer dauerhaft aufrechterhalten lässt. Erfolg macht weich und schleift Unsicherheit ab. Moderne Gleichheitsprinzipien untergraben zudem tendenziell das Überlegenheitsgefühl der Gruppen. Außerdem höhlen die Vereinigten Staaten mit ihrer freiheitsliebenden, auf sofortige Befriedigung ausgerichteten Kultur auch die Impulskontrolle aus. Unter diesen Belastungen erlebte die wirtschaftliche Dominanz der weißen angelsächsischen Protestanten (WASP) in den USA einen Niedergang.74

Heute befürchten viele amerikanische Juden, das Schicksal der Hugenotten zu erleiden und durch Assimilation und Ehen mit Außenstehenden als Gruppe zu verschwinden. Vielleicht sollten sie sich mehr Sorgen machen, dass es ihnen ebenso ergehen könnte wie den WASP und auf den Erfolg vielleicht der Niedergang folgt. Da Ellis Island und die Lower East Side als Inbegriff der Einwandererkultur zunehmend der Vergangenheit angehören und Juden von Washington über die Wall Street bis nach Hollywood stark vertreten sind, fühlen sie sich heutzutage in den Vereinigten Staaten möglicherweise weniger unsicher, als es in den vergangenen 1000 Jahren in irgendeinem Land der Fall war.75 Zudem ist die jüdische Kultur heutzutage offenbar erheblich weniger an Impulskontrolle orientiert als früher, was wir später noch eingehender behandeln werden. Wenn das stimmt und die These dieses Buches zutrifft, sollte man jüdischen Erfolg nicht als selbstverständlich voraussetzen. Gegenwärtig gibt es zunehmend Belege für einen drastischen Leistungsabfall bei jüngeren amerikanischen Juden in zahlreichen akademischen Bereichen, in denen sie früher dominant waren.76

Aber Dreierpackgruppen sind nicht zum Verschwinden oder zum Niedergang verurteilt. Es gibt für sie noch eine heiklere, brisantere Möglichkeit. Wenn die Kinder aus Dreierpackgruppen in den Vereinigten Staaten heranwachsen, lernen sie, die von ihrer Familienkultur vermittelten Vorstellungen, wer sie sind und wie sie leben sollten, infrage zu stellen. Sie fangen an, amerikanische Einstellungen zu verinnerlichen, ohne jedoch vollständig amerikanisiert zu werden. Wahrscheinlich empfinden sie sich als Außenseiter sowohl ihrer eigenen Kultur als auch der breiten Gesellschaft.

Der Spagat über diese kulturelle Kluft hinweg kann Menschen das Gefühl vermitteln, nirgendwohin zu gehören und keine kulturelle Heimat zu besitzen. Sie kann aber auch zu einer Quelle außerordentlicher Kraft und Kreativität werden und Menschen veranlassen, sich von den kulturellen Zwängen ihrer Gruppe zu befreien – mögliche Grenzen ihrer Persönlichkeit, Sexualität und Karriere zu überwinden – und dabei die Grundzüge des Dreierpacks beizubehalten. So können Dreierpackgruppen sich über Generationen hinweg neu erfinden und einzelne ihrer Mitglieder großartige oder einfache Formen von Erfolg erreichen, die ihre Eltern sich nicht einmal erträumt hätten.

Durchgängig sprechen wir in diesem Buch von Dreierpackkulturen und -gruppen, aber um Missverständnisse zu vermeiden, möchten wir auf zwei wichtige Punkte hinweisen:

Erstens: Eine Dreierpackkultur bringt nicht bei allen Mitgliedern die von uns beschriebenen Merkmale hervor – Überlegenheitsgefühl, Komplexe, Durchhaltevermögen und so weiter. Für den Gruppenerfolg ist das auch nicht notwendig, denn dazu reicht es, besser als der Durchschnitt zu sein. Der großartige Baseballspieler Ted Williams traf 1941 nur jeweils vier von zehn Bällen, aber weil die durchschnittliche Trefferquote bei den Erstligisten bei 2,6 zu zehn lag, gelang Williams eine bis heute unübertroffene Meisterleistung, die ihm einen Platz in der Hall of Fame sicherte.77 Ebenso hätte eine Kultur, die auf zehn Mitglieder vier Spitzenkräfte hervorbrächte, unverhältnismäßig großen Erfolg, wenn der Durchschnitt in ihrer Umgebung bei beispielsweise eins zu 20 läge.

Zweitens: Umgekehrt kann eine Person alle Dreierpackeigenschaften besitzen, ohne in einer Dreierpackkultur aufgewachsen zu sein. Steve Jobs besaß eine legendär hohe Meinung von seinen eigenen Fähigkeiten. Lange, bevor er berühmt wurde, glaubte eine frühere Freundin von ihm, er leide an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung.78 Auch seine Selbstdisziplin und penible Detailgenauigkeit waren berühmt-berüchtigt. Gleichzeitig sagte aber ein enger Freund über ihn:»Ich denke .., dass Steve stets eine Art Stachel im Herzen hatte. Tief in ihm gab es eine Unsicherheit, die ihn zwang, loszuziehen und sich selbst zu beweisen. Er war ja ein Waisenkind. Ich glaube, das löste in ihm einen Ehrgeiz aus, wie ihn die meisten von uns nie nachvollziehen können.«79

Möglicherweise wurde Steve Jobs mit diesen Dreierpackmerkmalen geboren, vielleicht spielte es auch eine Rolle, dass er als Waise aufwuchs, wie sein Freund vermutete. In jeder Familie, unabhängig von ihrer Herkunft, kann ein besonders starkes Eltern- oder Großelternteil Kindern ein Besonderheitsgefühl, hohe Erwartungen und Disziplin vermitteln und zu Hause eine Art Dreierpackkultur im Miniaturformat erzeugen. Einzelne Menschen können diese Eigenschaften auch aus sich heraus entwickeln. Der Umstand, in einer Dreierpackkultur aufzuwachsen, ist keine Gewähr, dass man etwas Einzigartiges oder für andere Unerreichbares schafft, es erhöht lediglich die Chancen des Einzelnen.80

Alle Annahmen, die der Dreierpacktheorie zugrunde liegen, beruhen auf fundierten, relativ unstrittigen empirischen Belegen, auf die wir in späteren Kapiteln näher eingehen werden. An dieser Stelle möchten wir sie lediglich kurz zusammenfassen.

In Experimenten und Feldstudien zu Bedrohung und Ansporn durch Stereotype hat sich wiederholt die erfolgsfördernde Wirkung von Überlegenheitseinstellungen bestimmter Gruppen bestätigt.81 Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die jemand – intellektuell oder sportlich – für überlegen hält, stimmt den Betreffenden psychisch darauf ein, in diesem Bereich bessere Leistungen zu bringen. Soziologen fanden zudem bei Untersuchungen unter Einwanderergemeinden heraus, dass bestimmte Gruppen aus ihrem kulturellen Stolz und ihrem Sinn für ihr besonderes Erbe ein »ethnisches Rüstzeug« beziehen, das unmittelbar zu einem besseren Abschneiden im Bildungssystem beiträgt.82

Zahlreiche jüngere Studien untermauern die These, dass Unsicherheit zur Leistungsverbesserung anspornen kann und das persönliche Gefühl, nicht gut genug zu sein – oder nicht sein Bestes gegeben zu haben –, mit besseren Leistungen einhergeht. Dieses Ergebnis erhärten auch zwei wichtige ältere Studien über bedeutende Persönlichkeiten, darunter eine Untersuchung von Howard Gardner, der mit seiner Theorie der vielfachen Intelligenzen bekannt wurde.83 Nach beiden Studien war Unsicherheit, besonders wenn sie aus der Kindheit herrührte, ein überraschend weit verbreiteter Erfolgsmotor. Gardner zitiert Winston Churchill:

Der harte Druck der Umstände, feindliche Schläge, der Sporn früher Verspottung und Kränkung sind nötig, um die rücksichtslose Willenskraft und den hartnäckigen Mutterwitz zu wecken, ohne die nur selten große Taten vollbracht werden.84

Ein ganzes Spezialgebiet der experimentellen Psychologie befasst sich gegenwärtig mit Phänomenen, die als »effortful control«, »Selbstregulation«, »Zeitdiskont«, »Ichstärke« oder (ansprechender) »Willensstärke« und »Charakterstärke« bezeichnet werden.85 Alle diese Konzepte haben mit Impulskontrolle in dem Sinne zu tun, wie wir den Begriff verwenden: als Fähigkeit, Versuchungen zu widerstehen, besonders der Versuchung, angesichts von Härten aufzugeben. Die Ergebnisse dieser Studien – angefangen beim bekannten »Marshmallow-Test«86 – sind eindeutig und aussagekräftig: Kinder mit stärkerer Impulskontrolle erreichen später bessere Schulabschlüsse, verbüßen weniger Haftstrafen, werden als Teenager seltener schwanger, bekommen bessere Arbeitsplätze und haben ein höheres Einkommen.87 Laut einigen Studien erwiesen sich Willenskraft und Charakterstärke als bessere Indikatoren für spätere Schulabschlüsse und zukünftigen Erfolg als der Intelligenzquotient oder die Prüfungsergebnisse für die Hochschulzulassung.88

Bevor wir zum Ende dieses Kapitels kommen, müssen wir noch auf einen Aspekt eingehen, den wir nicht in den Dreierpack einbezogen haben: Bildung. Es heißt häufig, jüdische und asiatische Amerikaner hätten in den Vereinigten Staaten Erfolg, weil sie aus »Bildungskulturen« kämen. Wieso gehört also Bildung nicht zu den Kernelementen der Dreierpacktheorie, obwohl sie Gruppenerfolg im Wesentlichen kulturell erklärt?

Es gibt einige klare Ausnahmen von der Regel, dass erfolgreiche Gruppen Wert auf Bildung legen. Die überaus erfolgreiche, aber äußerst inselhafte syrisch-jüdische Enklave in Brooklyn betont weder Bildung noch Intellekt, sondern missbilligt häufig sogar ein Studium an Eliteuniversitäten.89 Priorität haben für sie das Geschäft, die Tradition, die »Übernahme des Familienunternehmens« und die Aufgabe, die jüngere Generation im Schoß der Gemeinschaft zu halten. Die meisten haben vermutlich von der syrisch-jüdischen Gemeinde in den USA noch nie etwas gehört, da sie so isoliert lebt, aber sie blüht und gedeiht seit Generationen wirtschaftlich ebenso wie kulturell, und Bildung an Eliteschulen gehörte eindeutig nie zu ihren Rezepten.

Es stimmt selbstverständlich, dass die meisten erfolgreichen Gruppen in den Vereinigten Staaten großen Wert auf Bildung legen. Zudem neigen sie zum Sparen und zum Fleiß. Es stellt sich jedoch die Frage, warum. An diesem Punkt wäre das schlechteste Vorgehen – ein Vorgehen, das Kulturtheorien in Verruf gebracht hat –, solche Verhaltensweisen in Eigenschaften umzumünzen, der Kultur zuzuschreiben und als »Erklärungen« anzubieten. Warum liegen die Sparquoten bei Chinesen weit über dem Durchschnitt? Weil sie aus einer »sparsamen« Kultur kommen. Dasselbe gilt für Bildung. Warum reden Eltern aus so vielen erfolgreichen Gruppen ständig über Bildung? Weil sie aus einer »Bildungskultur« stammen.

In Wirklichkeit besteht in vielen aufstrebenden Gruppen in den USA keine althergebrachte »Bildungskultur«, obwohl sie heutzutage nachdrücklich akademische Abschlüsse anstreben. Traditionell legten Mormonen keinen sonderlichen Wert auf höhere Bildung und Gelehrsamkeit. Über weite Teile ihrer Geschichte stand die Mormonenkirche intellektuellen und wissenschaftlichen Bestrebungen relativ verschlossen gegenüber. Kirchenpräsident Heber J. Grant sah sich 1931 durch Debatten über Evolution zu dem Aufruf an die Mormonen veranlasst: »Überlasst Geologie, Biologie, Archäologie und Anthropologie, die allesamt nichts mit dem Seelenheil der Menschheit zu tun haben, der wissenschaftlichen Forschung.«90 Der Präsident der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Spencer Kimball, ermahnte 1967 die Lehrkräfte der Brigham Young University, dass Mormonen »in erster Linie Männer Gottes, in zweiter Linie Gelehrte und in dritter Linie Wissenschaftler sind … eher Männer der Rechtschaffenheit als der akademischen Kompetenz«.91

Selbst bei Kulturen mit einer angeblich jahrhundertealten Tradition der Gelehrsamkeit kann die Schlussfolgerung, dass sie heutzutage gerade wegen dieser Traditionen den Schwerpunkt auf Bildung legen, allzu vereinfachend sein. So heißt es zuweilen von Juden, sie besäßen den Inbegriff der »Bildungskultur«. Aber viele der jüdischen Einwanderer auf Ellis Island hatten kaum Schulbildung, da sie den größten Teil ihres Lebens in extremer Armut in Shtetls oder Ghettos verbracht hatten. Vielleicht vermittelten diese wenig intellektuellen Fleischer und Schneider ihren Kindern die große jüdische »Bildungstradition« durch Synagogen, Pessachrituale oder den Respekt, den sie Rabbis zollten. Vielleicht aber auch nicht.

Laut Nathan Glazer hatten diese einwandernden Eltern und viele ihrer Generation keine Ahnung von jüdischer Bildung.92 Ganz ähnlich äußerte sich der einflussreiche Sozialpsychologe Stanley Schachter:

Ich bin weitgehend gegen den Wunsch meines Vaters nach Yale gegangen. An höherer Bildung lag ihm rein gar nichts, er wollte, dass ich eine einjährige Wäschereifachschule (im Ernst) draußen im Mittelwesten besuche und dann mit ihm im Familienbetrieb arbeite. Ich habe nie verstanden, was dieses Gehabe um intellektuell getriebene jüdische Einwanderer sollte. Für meine Familie galt das nicht, und ich kenne nur wenige Familien, auf die es zutrifft.93

Die jüdische Subgruppe, die sich wohl am hingebungsvollsten der alten Tradition des Talmudstudiums widmet und sie in den Mittelpunkt stellt, ist die ultra-orthodoxe Satmar-Gemeinde in Kiryas Joel in Orange County, New York, die zu den ärmsten der gesamten Vereinigten Staaten gehört.94

Was veranlasst die Mitglieder bestimmter Gruppen, so arm oder »unkultiviert« sie auch sein mögen, auf Bildung als Weg zur Aufwärtsmobilität zu setzen? Die Feststellung, dass diese Gruppen aus »schwer arbeitenden Kulturen« oder »Bildungskulturen« kommen, bringt schlicht keinen Erkenntnisgewinn. Sie ist nur einen Schritt von der Aussage entfernt, erfolgreiche Gruppen hätten Erfolg, weil sie eben tun, was für den Erfolg notwendig ist – und zwei Schritte von der Behauptung entfernt, erfolglose Gruppen seien erfolglos, weil sie aus »faulen Kulturen« stammen und nicht tun, was für den Erfolg nötig ist.

Kurz, Bildung ist – ebenso wie Fleiß – keine unabhängige, sondern eine abhängige Variable. Sie ist kein erklärender Faktor, sondern ein Verhalten, das es zu erklären gilt. Erfolgreiche Gruppen in den Vereinigten Staaten legen Wert auf die Bildung ihrer Kinder, weil sie die sicherste Leiter zum Erfolg darstellt. Die Herausforderung besteht darin, tiefer zu gehen und die kulturellen Wurzeln dieses Verhaltens aufzudecken – also die wesentlichen kulturellen Kräfte zu finden, die ihm zugrunde liegen.

Trotz ihrer großen Vielfalt besitzen die Vereinigten Staaten eine eigene überspannende Kultur – und zwar eine sehr starke. Deshalb ist so viel von der weltweiten amerikanischen »Kulturhegemonie« die Rede und davon, dass »Globalisierung Amerikanisierung ist«. Das wirft die Frage auf, ob die US-amerikanische Kultur eine Dreierpackkultur ist.

Früher war das sicher der Fall. In der Tat waren die Vereinigten Staaten lange der Inbegriff eines Dreierpacklandes: Sie waren überzeugt von ihrem außerordentlichen Schicksal, durchdrungen von einer von den Puritanern ererbten Arbeitsmoral, kollektiv geprägt von notorischen Komplexen gegenüber dem aristokratischen Europa, und sie vermittelten ihren Bürgern eine Unsicherheit völlig neuer Art, ein Gefühl, dass jeder sich durch materiellen Erfolg beweisen müsse und jeder, der keinen wirtschaftlichen Erfolg habe, ein Versager sei. Das alles erkannte Alexis de Tocqueville, als er die »Begierde nach Aufstieg« bei Amerikanern beschrieb.95

Aber die Vereinigten Staaten haben sich verändert, besonders in den vergangenen 50 Jahren, wie wir in diesem Buch noch ausführlicher aufzeigen werden. Heutzutage steht die amerikanische Kultur – in den oberen und unteren Schichten, in republikanischen und demokratischen Bundesstaaten, im Arbeitermilieu und im Elfenbeinturm – allem, wofür der Dreierpack steht, wesentlich zwiespältiger gegenüber und untergräbt es. Öffentliche und private Schulen in den USA vermitteln die übermächtige Botschaft, dass keine Gruppe einer anderen überlegen sei. Sich so zu akzeptieren, wie man ist – selbstsicher zu sein –, gilt als Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben. Menschen, die nicht in der Gegenwart leben, versäumen das Glück und das eigentliche Leben. Ganz gleich, wie viele Körnchen Wahrheit diese Behauptungen auch enthalten mögen, bleibt ironischerweise die Tatsache bestehen, dass die USA nach wie vor Menschen, die sie nicht glauben, mit Wohlstand, Ansehen und Macht belohnen.

Anders ausgedrückt: Es besteht gegenwärtig ein Missverhältnis zwischen der amerikanischen Darstellung, wie man denken und leben sollte, und der Realität, was die amerikanische Wirtschaft belohnt. Dreierpackgruppen nutzen dieses Missverhältnis.

KAPITEL 2WER IST IN DEN USA ERFOLGREICH?

Dieses Kapitel befasst sich mit den erfolgreichsten Gruppen in den USA, gemessen an Einkommen, Bildungsabschluss, beruflicher Stellung und anderen herkömmlichen Erfolgsmaßstäben. Zunächst sollten wir jedoch klären, welche Art von Gruppen wir unter die Lupe nehmen.

Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, die US-Bevölkerung einzuteilen. Zahlreiche Studien zur wirtschaftlichen Mobilität gliedern die Wohlstandsverteilung in den USA nach ethnischen Gruppen – typischerweise Weiße, Schwarze, Asiaten und Hispanier. Eine neuere Gegenbewegung konzentriert sich stattdessen auf Gesellschaftsschichten und rigide Schichtgrenzen und gliedert die Bevölkerung in »Quintile« (Fünftelwerte), reich und arm, 99 Prozent und 1 Prozent. Aber weit gefasste Oberbegriffe wie »Rasse« und »Schicht« verdunkeln ebenso viel, wie sie erhellen.

So unbequem der Gedanke auch sein mag, ist es doch eine Tatsache, dass manche religiösen, ethnischen und aus bestimmten Herkunftsländern stammenden Gruppen erheblich erfolgreicher sind als andere. Wenn man sich solche Gruppen nicht genau ansieht, kann man unmöglich begreifen, was in den Vereinigten Staaten tatsächlich vorgeht und wie die wahren Erfolgshebel in diesem Land aussehen.

Ein charakteristisches Merkmal vieler – aber keineswegs aller – religiöser, ethnischer und aus bestimmten Herkunftsländern stammender Gruppen ist, das sie »Kulturgruppen« bilden: Ihre Mitglieder werden tendenziell nach bestimmten kulturspezifischen Werten und Überzeugungen, Sitten und Praktiken erzogen, identifizieren sich damit und geben sie an die nächste Generation weiter.1 Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass Religion, ethnische Zugehörigkeit und das Herkunftsland kulturelle Ausgangspunkte, nicht Endpunkte sind. Kulturelle Untergliederungen innerhalb dieser Kategorien – etwa fundamentalistisch oder nicht fundamentalistisch, Einwanderer der ersten oder der dritten Generation – können erhebliche Auswirkungen auf den Gruppenerfolg haben, daher weisen wir durchgängig auf solche feineren Unterschiede hin.

Wenn es gegenwärtig in den USA eine Gruppe gibt, die beim konventionellen Erfolg weit heraussticht, so sind es die Mormonen.

Noch vor 50 Jahren galten Mormonen häufig als Randgruppe. Viele Amerikaner hatten kaum etwas von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage gehört. (Die Bezeichnung »Mormone« ist nicht Teil des offiziellen Kirchennamens, sondern leitet sich vom Buch Mormon ab, einer neuen religiösen Schrift, die der Kirchengründer Joseph Smith nach eigenen Angaben nach Goldtafeln übersetzte, zu denen ihn ein Engel geführt habe.)2 Mormonen lebten als weitgehend isolierte, abgeschiedene Gemeinschaft in Utah und benachbarten US-Bundesstaaten. Sie widersetzten sich Entwicklungen im modernen Amerika.3 Noch 1978 diskriminierte die Kirche der Heiligen der Letzten Tage ausdrücklich Schwarze und weigerte sich, sie in den Priesterstand zu erheben.4 Noch 1980 waren Mormonen an der Wall Street eine Seltenheit.5

30 Jahre später ist der explosionsartige Erfolg der Mormonen kaum noch zu übersehen. Überwiegend gestaltet er sich in der gängigsten, konventionellsten und typisch amerikanischen 1950er-Jahre-Variante.6 Nur wenige Mormonen fallen aus dem Rahmen oder brechen ihr Studium ab, um eigene IT-Start-up-Firmen zu gründen. Vielmehr haben sie Erfolg in Wirtschaft, Finanzwelt und Politik, was angesichts ihrer speziellen Komplexe durchaus nachvollziehbar ist. Da sie lange als polygame, beinahe verrückte Sekte galten, sind sie nun offenbar entschlossen, zu beweisen, dass sie amerikanischer sind als andere Amerikaner. Sie haben einen ausgeprägten Hang, sich als Präsidentschaftskandidaten zu bewerben.

Während Protestanten etwa 51 Prozent der US-Bevölkerung stellen, machen die fünf bis sechs Millionen Mormonen nur 1,7 Prozent aus.7 Aber verblüffend viele von ihnen sind in Spitzenpositionen in Wirtschaft und Politik der USA aufgestiegen.

Der prominenteste Mormone ist Mitt Romney, der Vorstandsvorsitzender des Finanzinvestors Bain Capital war, bevor er für vier Jahre Gouverneur von Massachusetts wurde (sein Nettovermögen wird derzeit auf 230 Millionen US-Dollar geschätzt).8 Der ehemalige US-Botschafter in China, Jon Huntsman, der sich 2012 eine Zeitlang als Rivale Mitt Romneys um die Nominierung zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten bewarb, ist ebenso Mormone wie Harry Reid, der Vorsitzende der demokratischen Mehrheitsfraktion im US-Senat. Weitere Mormonen in politischen Führungspositionen sind Senator Orrin Hatch (der bei der Nominierung zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten 2000 gegen George W. Bush unterlag), der Kongressabgeordnete Morris Udall (der 1976 bei der Nominierung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten gegen Jimmy Carter unterlag) und Mitt Romneys Vater, der ehemalige Gouverneur von Michigan, George Romney (der 1968 bei der Nominierung des republikanischen Präsidentschaftskandidaten gegen Richard Nixon unterlag).9

Auch unter den Spitzenkräften in der Wirtschaft finden sich einige Mormonen, unter anderem: David Neeleman, Gründer und ehemaliger Vorstandsvorsitzender von JetBlue; J.W. Marriot, Verwaltungsratsvorsitzender und Sohn des Firmengründers von Marriott International; Thomas Grimm, Vorstandsvorsitzender von Sam’s Club; Dave Checketts, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Madison Square Garden, ehemaliger Präsident der New York Knicks und derzeit Leiter der Sport- und Unterhaltungsfirma SCP Worldwide; Kevin Rollins, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Dell; Gary Crittenden, ehemaliger Finanzvorstand von Citigroup, American Express und Sears, Roebuck & Company; Gary Baughman, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von Fisher-Price; Kim Clark, ehemaliger Dean der Harvard Business School; Stephen Covey, Autor des Buches The Seven Habits of Highly Effective People (dt.: Die sieben Wege zur Effektivität, Frankfurt a.M. 1992), das sich über 25 Millionen Mal verkaufte; und Clayton Christensen, Autor des Buches The Innovator’s Dilemma (dt.: The innovator’s dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren, München 2011), das Intel-Chef Andy Grove als das wichtigste Buch bezeichnete, das er in zehn Jahren gelesen habe; die Zeitschrift New Yorker stellte Christensen kürzlich in einem Artikel mit der Überschrift vor: »Wenn Giganten scheitern: Was die Wirtschaft von Clayton Christensen gelernt hat«.10

Und das ist lediglich die Spitze des Eisbergs.11 Mormonen führten Unternehmen wie American Motors, Lufthansa, Deloitte, Kodak, Black & Decker, SkyWest Airlines, Lord & Taylor, Skullcandy und PricewaterhouseCoopers. Der Mormone Alan Ashton war Mitbegründer der WordPerfect Corporation, was ihn in den 1990er Jahren zu einem der 400 reichsten Menschen der USA machte. Edwin Catmull, der in einer traditionellen Mormonenfamilie in Salt Lake City aufwuchs, war in den 1980er Jahren ein Pionier der dreidimensionalen Computeranimation und ist heute Präsident der Walt Disney Animation Studios und ihrer Tochtergesellschaft Pixar Studios, die 26 Academy Awards (Oscars) gewann.

Auch außerhalb der Wirtschaft brachten es Mormonen zu Ruhm. Laut Berichten sind sie überproportional in der CIA und im diplomatischen Dienst vertreten (offenkundig wegen ihrer im Missionsdienst geübten Fremdsprachenkenntnisse und ihrer makellosen Umgangsformen)12, und der Fachbereich für Videoanimation an der Brigham Young University hat sich »aus dem Nichts« zu einem der wichtigsten Zugangswege des Landes in die großen Animations- und Special-Effects-Studios entwickelt.13 Mormonen sind auch Stephenie Meyer, Autorin der Twighlight-Bestsellerromane; der Radio-Talkmaster Glenn Beck; Jon Heder, der die Hauptrolle in dem Spielfilm Napoleon Dynamite spielte; und Ken Jennings, der 74-malige Gewinner und damit Rekordhalter der Quizshow Jeopardy!14

Eine Liste von Superstars, so beeindruckend sie auch sein mag, ist an sich noch kein Beleg für überproportional großen Erfolg, und es ist erwähnenswert, dass Mormonen in den Führungsetagen der 500 umsatzstärksten US-Unternehmen auf der Fortune-500-Liste (noch) nicht überrepräsentiert sind. Sie bietet jedoch eine Möglichkeit, sich den verblüffenden Aufstieg der Mormonen aus der relativen Versenkung in die amerikanische Wirtschaftselite vor Augen zu führen. Die Fortune-500-Liste wird seit 1955 veröffentlicht. Vor 1970 gab es offenbar keinen Mormonen in den Führungsetagen eines dort gelisteten Unternehmens. Seit 1990 waren es 14: zwölf Vorstandsvorsitzende, ein Präsident und ein Finanzvorstand.15

Die Daten liefern noch einen weiteren Anhaltspunkt: Im Februar 2012 gab Goldman Sachs bekannt, dass das Unternehmen in seiner drittgrößten Niederlassung (nach New York/New Jersey und London) die 1300-köpfige Belegschaft um 300 Mitarbeit aufstocken würde.16 Und wo sitzt diese Verwaltung mit 1600 Mitarbeitern? In Salt Lake City, Utah. Die Wharton Business School der University of Pennsylvania gehört ihrem Ruf nach zu den besten und renommiertesten der Vereinigten Staaten. Sie brachte 31 ihrer Absolventen 2010 bei Goldman Sachs unter17 – genauso viele wie die weniger bekannte Marriott School of Management der Brigham Young University (die von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage betrieben wird).

Einkommen und Wohlstand der Mormonen statistisch zu erfassen ist generell schwierig. Die führende Forscherin zur Korrelation von Religion und Geld in den USA, Lisa Keister, erklärt, dass die bislang untersuchten Stichproben zu klein sind, um definitive Schlüsse zu ziehen (allerdings vermutet sie aufgrund der verfügbaren Informationen, dass das Vermögen von Mormonen wahrscheinlich über dem Durchschnitt liegt).18 Nach den erhobenen Daten gehören Mormonen zur soliden Mittelschicht. Im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung liegt bei ihnen die Wahrscheinlichkeit, im Jahr 50000 bis 100000 US-Dollar zu verdienen, etwas höher (38 Prozent bei Mormonen gegenüber 30 Prozent bei der Gesamtbevölkerung), die Wahrscheinlichkeit, weniger als 30000 US-Dollar jährlich zu verdienen, etwas niedriger (26 Prozent gegenüber 31 Prozent) und die, über 100000 US-Dollar im Jahr zu verdienen, ebenso hoch (sogar etwas niedriger: 16 Prozent gegenüber 18 Prozent).19

Diese Zahlen sind jedoch schwer zu interpretieren. Zum einen geben sie das Haushaltseinkommen wieder, und Mormoninnen werden ermuntert, ausschließlich Hausfrauen und Mütter zu sein. Der Prozentsatz der Mormoninnen, die sich als Hausfrauen bezeichnen, ist doppelt so hoch wie bei Nichtmormoninnen.20 Männer, die der Kirche der Heiligen der Letzten Tage angehören, haben dadurch zwar gewisse Vorteile (der Journalist Jeff Benedict sieht die nicht berufstätigen Ehefrauen von neun berühmten Mormonen an der Spitze von Wirtschaftsunternehmen als »Geheimnis« ihres Erfolgs)21, sie müssen aber auch erheblich mehr verdienen als männliche Nichtmormonen, um das Haushaltseinkommen amerikanischer Durchschnittsfamilien zu erreichen oder zu übertreffen.

Zum anderen sind die Mormonen in diesen Zahlen alle zusammengefasst, was ebenso irreführend sein kann, als würde man sich das »Einkommen der Christen« in den USA vor 100 Jahren ansehen und dadurch die Dominanz der Weißen angelsächsischen Protestanten völlig übersehen. Das Mormonentum breitet sich weltweit rapide aus; ein Viertel der Mormonen in den USA sind Konvertiten. Manche von ihnen sind zwar berühmt – ein Beispiel ist Radiomoderator Glenn Beck –, aber die meisten sind relativ arm, was das Gesamteinkommen der Mormonen senkt.22 Bei nichtkonvertierten Mormonen ist die Wahrscheinlichkeit, mindestens 50000 US-Dollar jährlich zu verdienen, signifikant höher als bei der amerikanischen Gesamtbevölkerung (58 Prozent gegenüber 48 Prozent).23

Selbstverständlich schicken nicht alle Mormonenfamilien ihre jungen Männer zu Goldman Sachs. Es gibt nach wie vor fundamentalistische Mormonengemeinden, die tendenziell isoliert, polygam und relativ arm leben. (Diese Gruppen sind von der offiziellen Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage exkommuniziert und gelten nicht als Mormonen.)24 In Colorado City, Utah, leitete der »Prophet« Rulon Jeffs noch mit über 90 Jahren eine dieser Gruppen und hatte bis zu seinem Tod 2002 etwa 75 Frauen geheiratet und mindestens 65 Kinder gezeugt.25 Die fundamentalistischen Einwohner von Colorado City halten die Vereinigten Staaten zwar für eine satanische Macht, nehmen aber gern Wohlfahrtsleistungen in Anspruch, und ein Drittel beziehen Lebensmittelmarken. Aber aus kultureller Sicht unterscheiden sich fundamentalistische Mormonen radikal von der breiten Mehrheit der Angehörigen der Kirche der Heiligen der Letzten Tage, und ihre wirtschaftliche Rückständigkeit bestätigt die Wirksamkeit des Dreierpacks (der fundamentalistischen Mormonen fehlt), wie wir später noch ausführen werden.

Den eigentlichen Beleg für die außerordentliche Fähigkeit von Mormonen, Geld zu verdienen und Wohlstand anzuhäufen, liefert jedoch die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage selbst. Ihre Finanzen sind ein vor der Außenwelt wie auch vor ihren Mitgliedern gut gehütetes Geheimnis, die Zahlen sind nur dem höchsten Führungsgremium, dem Kollegium der Zwölf Apostel, bekannt (zu dem Frauen nicht zugelassen sind).26 Es steht allerdings fest, dass die Kirche über ein ausgedehntes Vermögen in den gesamten Vereinigten Staaten verfügt – ein riesiges Konglomerat von gewinnorientierten und gemeinnützigen Unternehmen.

Der Grundbesitz der Mormonenkirche in den USA umfasst eine größere Fläche als der Bundesstaat Delaware. Nach Angaben eines ehemaligen Präsidenten der Mormon Social Science Association besitzt die Kirche zehnmal mehr Land in Florida als die Walt Disney Company, unter anderem eine »gewinnorientierte Viehranch und eine Zitrusplantage im Wert von 1 Milliarde US-Dollar«, den größten Viehbetrieb der Vereinigten Staaten. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist zudem der größte Erzeuger von Nüssen und einer der größten Kartoffelproduzenten der USA. Mit Beneficial Life betreibt sie ein Versicherungsunternehmen mit einem Vermögen von 1,6 Milliarden US-Dollar. Außerdem gehören ihr mindestens 25 Rundfunksender, Gewerbeimmobilien, Einkaufszentren und ein Freizeitpark auf Hawaii mit Nachbildungen polynesischer Dörfer, der mit jährlich einer Million Besuchern eine der führenden Touristenattraktionen des Bundesstaates ist.27

Die gesamte Kirche von England mit ihrer großartigen Geschichte besaß 2008 ein Vermögen von etwa 6,9 Milliarden US-Dollar.28 Die Katholische Kirche in den USA mit 75 Millionen Mitgliedern hatte 2002 in sämtlichen Pfarrgemeinden zusammen Jahreseinnahmen von geschätzten 7,5 Milliarden US-Dollar.29 Im Vergleich dazu besaß die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage mit nicht einmal einem Zehntel der Mitgliederzahl – nach »äußerst konservativen« Schätzungen – 1997 ein vermutetes Vermögen von 25 bis 30 Milliarden US-Dollar und laufende Jahreseinnahmen von 5 bis 6 Milliarden US-Dollar. Eine Studie erklärte: »Keine andere Religionsgemeinschaft kommt pro Kopf solchen Zahlen nahe.«30

Die Goizueta Business School gehört zur Emory University in Atlanta, Georgia. Den Namen Goizueta findet man in Atlanta häufig – beim Atlanta Ballett, Atlanta History Center und Georgia Institute of Technology31 –, weil Roberto Goizueta von 1981 bis zu seinem Tod 1997 Präsident und Vorstandsvorsitzender von Coca-Cola und einer der führenden Philanthropen von Atlanta war.32 Goizueta setzte sich 1960 mit seiner Familie und kaum mehr als 40 US-Dollar in der Tasche aus Kuba ab und wurde zum erfolgreichsten Firmenchef in der Geschichte von Coca-Cola. Er brachte Coca-Cola Light auf den Markt, sorgte für die weltweite Verbreitung der Marke Coca-Cola, vervierfachte die Gewinne und steigerte die Börsenkapitalisierung um 3500 Prozent von 4 auf 180 Milliarden US-Dollar.

Von 1959 bis 1973 flüchteten Hunderttausende gegen Castro eingestellte Kubaner – »Exilkubaner«33 – in die Vereinigten Staaten und ließen sich überwiegend in Miami nieder.34 Dort erlebten sie den klassischen Dreierpackfall eines völligen Statusverlusts. In Kuba hatten die meisten Exilanten der Mittel- und Oberschicht angehört: Sie waren Richter, Freiberufler, Ingenieure, Akademiker und Angestellte großer Unternehmen.35 Manche stammten aus Familien, die Sommerhäuser und Kunstsammlungen besessen und an der Spitze einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft gestanden hatten. Zu der demütigenden Erfahrung, sich als einfache Arbeiter betätigen zu müssen und als rassische oder ethnische Unterschicht von oben herab behandelt und diskriminiert zu werden, kam bei diesen Exilanten der Groll auf Castro hinzu, der sie nicht nur besiegt, sondern ihnen auch alles genommen hatte, was sie besaßen. Ihre »Schande wurde zur psychischen Triebkraft, die ihre Bestrebungen befeuerte, sich auf wirtschaftlichem Gebiet zu behaupten«, schrieb ein Historiker.36

Sie behaupteten sich tatsächlich. In den 1950er Jahren war Miami noch weitgehend ein Ort für Urlauber und Rentner, die dort vor dem kalten Winter im Nordosten der USA Zuflucht suchten.37 Heute sind in Miami und Umgebung über 1100 multinationale Unternehmen ansässig.38 Die Stadt ist ein weltwirtschaftlicher Knotenpunkt mit der elfthöchsten Wirtschaftsleistung aller Metropolregionen der USA und einem regen Wirtschaftsleben, in dem kubanische Amerikaner eine zentrale Rolle spielen.39

Manche Exilkubaner hatten bei ihrer Ankunft in den USA einen Vorsprung gegenüber anderen. So besaß der Zuckermagnat Alonso Fanjul, dessen Land 1959 konfisziert wurde, genügend Geld, um in Florida 10000 Hektar Ackerland zu kaufen und sein Unternehmen neu aufzubauen.40 Heute ist die Fanjul Corporation (nach wie vor in Familienbesitz), zu der unter anderem Domino Sugar gehört, der weltgrößte Zuckerproduzent. Im Gegensatz zu den Fanjuls hatten die Bacardis (und einige andere führende Unternehmer in Kuba) die Revolution jubelnd unterstützt und sogar in einer ihrer Brauereien in der Nähe von Havanna ein extravagantes Begrüßungsessen für Castro gegeben – zu dem er jedoch nicht erschien.41 Dennoch verstaatlichte Castro innerhalb eines Jahres das gesamte kubanische Vermögen der Bacardis. Bevor die Familie das Land verließ, vernichtete sie ihren wertvollsten Besitz – eine einzigartige Hefekultur, die für die Fermentation von Rum gebraucht wurde – und nahm gerade genug davon mit, um ihre Rumdynastie in Puerto Rico und Mexiko fortzuführen.

Aber die meisten Exilanten kamen in die Vereinigten Staaten wie Roberto Goizueta: praktisch mit nichts. Emigranten durften 1961 bei ihrer Ausreise aus Kuba nicht mehr als 5 US-Dollar mitnehmen und mussten ihr übriges Vermögen dem Staat übereignen.42 Manche arbeiteten sich wie Goizueta bis in schwindelnde Höhen der Wirtschaftswelt hoch. Gedalio Grinberg flüchtete 1960 nach Miami und kaufte 1983 den Uhrenhersteller Movado.43 Bis heute besitzt seine Familie den Hauptanteil an der Movado Group, die einen jährlichen Nettoumsatz von 500 Millionen US-Dollar hat (und sein Sohn ist Vorstandsvorsitzender). Carlos Gutierrez kam im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie nach Miami und konnte kein Wort Englisch.44 Später wurde er Firmenchef von Kelloggs und von 2005 bis 2009 US-Handelsminister. Ralph de la Vega, Sohn eines Lebensmittelgroßhändlers in Kuba, kam 1962 mit zehn Jahren ohne Familie, Englischkenntnisse und Geld nach Miami. In seinen Memoiren, Obstacles Welcome, schilderte de la Vega, wie er von »Dosenfleisch« lebte, das der amerikanische Staat in »farbeimergroßen« Dosen ausgab, und Badezimmer putzte, um sich während des Studiums durchzubringen. 2008 wurde de la Vega Vorstandsvorsitzender von AT&T Mobility mit 65000 Beschäftigten und jährlichen Mobilfunkeinnahmen von über 50 Milliarden US-Dollar.45