Allein gegen die Kryptoqueen - Jennifer McAdam - E-Book

Allein gegen die Kryptoqueen E-Book

Jennifer McAdam

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Beschreibung

Sie war die unangefochtene Kryptoqueen: Ruja Ignatova, geboren in Bulgarien und aufgewachsen in Deutschland. Mit ihrer Kryptowährung OneCoin schien sie selbst dem Bitcoin Konkurrenz zu machen. Sie war so überzeugend, dass weltweit viele Tausend Menschen, unter ihnen auch Jennifer McAdam, Tochter eines schottischen Bergarbeiters, ihr Geld in das Projekt investierten — insgesamt mehrere Milliarden US-Dollar . Als Ignatova 2017 plötzlich verschwand, wurde klar, dass McAdam und Tausende mit ihr Opfer eines der größten Kryptobetrugsfälle der Geschichte waren. Zwischen 4 und 14 Milliarden Dollar ergaunerte die Kryptoqueen von Menschen auf der ganzen Welt – allein in Großbritannien zwischen 2014 und 2017 schätzungsweise 100 Millionen Pfund. McAdam war die Einzige, die sich gewehrt hat, und trotz ständiger Schikanen und Morddrohungen kämpft sie bis heute unermüdlich für Gerechtigkeit für sich, ihre Familie und die Tausenden auf der ganzen Welt, die alles verloren haben, in einigen Fällen sogar ihr Leben. Jennifer McAdam ist eine moderne Erin Brockovich, und ihr Buch ist eine wahre David-und-Goliath-Geschichte.

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Seitenzahl: 437

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JENNIFER McADAM

mit Douglas Thompson

ALLEIN GEGEN DIE KRYPTOQUEEN

JENNIFER McADAM

mit Douglas Thompson

ALLEIN GEGEN DIE KRYPTOQUEEN

Wie ich in den OneCoin-Skandal geriet und mich nicht unterkriegen ließ

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2023

© 2023 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Copyright der Originalausgabe © 2023 by GoGo Productions Ltd. All rights reserved. Die englische Originalausgabe erschien bei William Morrow, an imprint of Harper Collins Publishers, unter dem Titel Devil’s Coin. My Battle to Take Down the Notorious OneCoin Cryptoqueen.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Max Limper

Redaktion: Silke Panten

Korrektorat: Dr. Manuela Kahle

Umschlaggestaltung: Karina Braun

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/ex_artist, Alexander_P

Satz: Zerosoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-632-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-211-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-212-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Vorwort für die deutsche Ausgabe

Prolog: Das Versprechen

Kapitel 1: Der Anfang

Kapitel 2: Liebe tut weh

Kapitel 3: Glückliche Tage

Kapitel 4: Manische Montage

Kapitel 5: Gedenktag

Kapitel 6: Fake!

Kapitel 7: Gefechtspositionen

Kapitel 8: Die Wölfin der Wall Street

Kapitel 9: Die Bande

Kapitel 10: Tod eines Schwindelsreisenden

Kapitel 11: Rujas Roulette

Kapitel 12: Unter hellen Lichtern

Kapitel 13: Kollateralschäden

Kapitel 14: Alarmstufe Rot

Kapitel 15: Fundsache

Kapitel 16: Stürmisches Wetter

Kapitel 17: Vergeltung

Epilog: Das Versprechen

Nachwort

Danksagungen

Abbildungsnachweise

Meinem Vater gewidmet, meinem Helden. Ich vermisse und liebe dich so sehr. Es tut mir leid.

Meiner lieben Familie und meinen lieben Freundinnen und Freunden. Ich danke euch so sehr für eure unermessliche Liebe, Fürsorge und Unterstützung und dafür, dass ihr immer an meiner Seite steht. Ihr habt mir mit euren vielen lieben und tröstenden Worten der Ermutigung verlässlich Kraft gespendet, wenn ich mich schwach fühlte. Und mit unendlich vielen Tassen Tee und Kaffee. Ihr wisst alle, wer ihr seid. Ich liebe euch von ganzem Herzen. Ich bin wirklich gesegnet.

Den Opfern und denjenigen, die auf der ganzen Welt die Opfer unterstützt haben. Danke, dass ihr mutig wart und mich dazu inspiriert habt, weiter für Gerechtigkeit zu kämpfen. Euer Mut ist ebenso bewundernswert wie eure Tapferkeit.

Wenn alles schiefläuft, wie’s manchmal passiert, Wenn die Straße, wie’s scheint, nur noch steiler wird, Wenn die Schulden hoch sind und die Mittel gering, Und dir unter Seufzern kein Lächeln gelingt, Wenn du krummgebeugt bist von Sorgen zuhauf, Raste, wenn’s sein muss, aber gib nicht auf.

Edgar A. Guest (1881–1959), übersetzt von Max Limper

Hinweis: Einige der Namen in meiner Geschichte sind verändert, und einige Dialoge sind rekonstruiert. Ich erwähne Personen, die für OneCoin gearbeitet und teilweise auch andere angeworben haben. Während sich die Führungsschicht vor Gericht verantworten muss, sind die meisten in diesem Buch vorkommenden Personen unschuldige Opfer, die nicht wissen konnten, worin sie sich verstrickten – so wie ich. Hinsichtlich der Ermittlungen und Gerichtsverfahren, die noch im Gange sind, ist der Stand dieses Buches der vom September 2022.

Das einzig Greifbare waren die Morddrohungen.

Jennifer McAdam, Glasgow, Oktober 2022

Der beste Plan von Maus und Mann

Gelingt oft nicht,

Und Leid und Kummer bringt uns dann,

Was Lust verspricht.

Robert Burns, »To a Mouse, on Turning Her Up in Her Nest with the Plough«, November 1785, übersetzt von Adolf Laun

Vorwort für die deutsche Ausgabe

Ich erinnere mich noch sehr gut an den 11. März 2016. Ich war in Panik. Ich wollte unbedingt mein Geld überweisen und mir eine glorreiche finanzielle Zukunft sichern. Ich musste 5.000 Euro per digitaler Überweisung an International Marketing Strategies (IMS) zahlen, um OneCoin-Pakete zu kaufen. Versuchen Sie einmal, den langen Wortschwall International Marketing Strategies auf ein elektronisches Dokument zu übertragen. Es würde nicht passen. Je mehr ich es versuchte, desto unruhiger wurde ich und desto mehr rutschten meine feuchten Daumen auf der Computertastatur ab. Schließlich gelang es mir mithilfe meiner Freundin Eileen, die ebenfalls Schwierigkeiten hatte, den Text zu verfassen, auf »Senden« zu drücken, und unser Geld war auf dem Weg zu Dr. Ruja Ignatova über die deutschen IMS-Konten, die von Frank Ricketts und seiner Frau Manon Hubenthal verwaltet wurden. Wir waren OneCoin-Mitglieder.

In diesem Sommer 2023, nach all diesen langen, erschütternden und belastenden Jahren, steht Dr. Ruja Ignatova auf der Liste der zehn meistgesuchten Personen des FBI und auf der roten Fahndungsliste von Europol; sie gilt als wahrscheinlich bewaffnet und mit Sicherheit gefährlich. Weltweit sind ihre OneCoin-Mitverschwörer auf der Flucht, vor Gericht oder auf dem Weg ins Gefängnis. Und das fast ausschließlich dank der Ermittlungen der amerikanischen und deutschen Behörden. Beschämenderweise haben sich die Behörden meines Heimatlandes Großbritannien nicht gerade mit Ruhm bekleckert, als ich gegen Ruja kämpfte, und ich bin denen, die sich für uns einsetzten, im Namen der Opfer sehr dankbar, denn sie haben es verdient, dass ihnen jetzt Gerechtigkeit widerfährt.

Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, sagte man mir, die Chancen, dass diese üblen Diebe für das Leid, das sie Millionen von Opfern zugefügt haben, zur Rechenschaft gezogen werden, seien gering. Mindestens 60.000 Menschen haben allein in Deutschland ihre Ersparnisse verloren, und das sind nur diejenigen, die sich gemeldet haben; die Verluste belaufen sich nach vorsichtigen Schätzungen auf Hunderte von Millionen Euro.

Doch mit der stillen Hilfe so vieler gewinnen wir den Kampf um Gerechtigkeit. Die Bemühungen um eine Entschädigung für die gestohlenen Milliarden gehen weiter, und ich betrachte diese Bemühungen als Erfolg.

Persönlich – auf einer sehr emotionalen Ebene – würde ich jeden OneCoin-Täter gerne bei Wasser und Brot hinter Gittern sehen; in vielen der ärmeren Gegenden, die sie geplündert haben, haben sie Gemeinden hinterlassen, die sich nicht viel anderes leisten können. Aber ich akzeptiere natürlich, was das Gesetz für die bisher Verhafteten vorgesehen hat.

International Marketing Strategies (IMS) war Teil des mutmaßlichen Geldwäscheimperiums von Frank Ricketts. Dieses brach 2021 zusammen, als seine Partner in Münster in Westdeutschland wegen einer Reihe von Betrugsvorwürfen angeklagt wurden, bei denen es um mehr als 320 Millionen Euro ging. Der Fall zog sich hin bis Sommer 2023. Der Hauptvorwurf lautete, dass IMS Zahlungen von OneCoin-Investoren wie mir annahm und sie an Konten in der ganzen Welt weiterleitete, von denen aus sie dann an Ruja weitergeleitet wurden. Die Angeklagten wurden von der deutschen Anwaltskanzlei SBS Legal (ehemals Schulenberg und Schenk) vertreten.

Schulenberg und Schenk vertraten 2015 die Ansicht, dass OneCoin und Dr. Ruja Ignatova rechtmäßig seien. Stephan Schulenberg vertrat OneCoin in Deutschland und war beziehungsweise ist Rujas persönlicher Anwalt. Er vertrat auch die Interessen des IMS-Partners, des Münchner Rechtsanwalts Martin Rudolf Alexander Breidenbach. Über seine inzwischen aufgelöste Firma Breidenbach Rechtsanwalte veröffentlichte Breidenbach 2014 das inzwischen aufsehenerregende Rechtsgutachten, wonach OneCoin in der muslimischen Kultur als schariakonform zulässig sei. Breidenbach überwies im Frühjahr 2016 für Ruja mehr als 20 Millionen Euro an eine Londoner Anwaltskanzlei, um ein luxuriöses Penthouse in Kensington und eine zweite Wohnung im selben Komplex für ihre Leibwächter zu kaufen.

In die Betrügereien waren Personen verwickelt, die für mich zur üblichen Riege der Verdächtigen gehören. Frank Ricketts war ein enger Berater von Ruja und ihrem OneCoin-Imperium – er wurde als »schwarzer Diamant« bezeichnet – und war ein wichtiger Verkäufer und Präsentator der gefälschten Kryptowährung bei Marketingveranstaltungen. Noch enger mit Ruja verbunden war ihr früherer Ehemann, der deutsche Rechtsanwalt Björn Strehl. Ich habe Fotos von ihm gesehen, wie er auf einer rauschenden Party an Rujas riesigem Swimmingpool steht, zusammen mit Gilbert Armenta, Rujas Liebhaber, einem bekennenden Bösewicht, über den in diesem Buch mehr zu erfahren ist.

Die deutschen Staatsanwälte in Darmstadt haben die Ermittlungen gegen Björn Strehl Anfang des Jahres abgeschlossen und ihre Schlussfolgerungen beim Landgericht Darmstadt eingereicht, wo ihr Verdächtiger nur als 44-jähriger Rechtsanwalt aus Neu-Isenburg, südlich von Frankfurt, identifiziert wird. Strehl wurde wegen Geldwäsche angeklagt, es ging um die in der OneCoin-Welt relativ geringe Summe von 7,69 Millionen Euro, die er für seine damalige Ehefrau über eine Briefkastenfirma in Hongkong vertrieben habe. Die deutschen Staatsanwälte ermitteln weiterhin gegen Strehls Aktivitäten, ebenso wie andere Strafverfolgungsbehörden auf der ganzen Welt.

Ich betrachte die vor uns liegenden juristischen Anstrengungen nicht zuletzt als den Versuch, eine finanzielle Entschädigung für diejenigen von uns zu erzielen, die so viel verloren haben, aber vor allem glaube ich, dass wir durch unseren Kampf bereits so viel von unserem verlorenen Selbstwertgefühl zurückgewonnen haben, indem wir nicht klein beigegeben haben und es nicht zulassen, für immer als Opfer zu gelten.

Es ist eine veritable Genugtuung zu sehen, dass Ruja auf der Liste der zehn meistgesuchten Personen des FBI steht und ihre Mitstreiter gezwungen sind, sich ihren Verbrechen vor den Gerichten der Welt zu stellen. Alles ist möglich, wenn man nicht klein beigibt.

Jennifer McAdam, im Juni 2023

Prolog

Das Versprechen

Der irritierende Anblick eines Dudelsackpfeifers, der vor der Bahre meines Vaters hergeht, hat sich als Standbild in meinem Kopf festgesetzt. Als seine Leiche eingeäschert wurde, spürte ich, wie seine Seele umso schneller in den Himmel stieg. Er liebte das Leben, er hatte so viel Temperament, und ich gelobte, seine Lebensfreude mithilfe des Geldes, das er mir hinterlassen hatte, weiterzutragen. In Notlagen ist diese Erinnerung an seine letzte, vom Dudelsack begleitete Reise, mein Talisman, ein Teil meines Erbes.

Er war ein altmodischer schottischer Gentleman, der nie viel besaß, aber immer bereitwillig gab, wenn jemand etwas brauchte. Ich musste mir nie Sorgen um ihn machen, denn er wohnte in einer Sackgasse, drei Häuser weiter von meiner Schwester Adele. Von der anderen Straßenseite aus achtete sie jeden Morgen darauf, ob er seine Jalousien hochzog, damit sie wusste, dass er auf den Beinen war.

Im Jahr 2000 war bei ihm eine Leukämie festgestellt worden, aber das hatte nichts an seiner Lebensweise geändert. Er war ein Frühaufsteher, der gerne in den Tag hinausging und die Welt genoss. Er liebte die offene Landschaft und die frische Luft, den Gesang der Vögel und die Freiheit und Schönheit der Natur. Wenn Dad mich mit dem Fahrrad besuchen kam, was normalerweise jeden zweiten Tag geschah, kam er zur Tür herein und rief: »Hallo, Mädel, bist du da?«

Ein paar Jahre vor seinem Tod ließ sein Tempo etwas nach, und seine Stimme war nicht mehr so voll. Aber seine fröhliche Grundhaltung änderte sich nicht. Beim Hereinkommen pfiff er, überhaupt pfiff er in seinen letzten Jahren ständig. Meine Schwester machte das ständige Gepfeife wahnsinnig, aber ich mochte es, es brachte mich zum Lächeln. Er lebte zufrieden in seiner eigenen kleinen Welt, und das merkte man ihm an.

Dad werkelte oft rund um mein Haus herum oder in der kleinen Hütte ganz hinten im Garten. Die Hütte war sein Lieblingsplatz, dort hörte ich ihn mit den Vögeln pfeifen. Dort hatte er bei mir zu Hause seinen eigenen Platz.

Ich lag noch im Bett, als mein Sohn 2014, ein paar Wochen vor Weihnachten, ins Haus gerannt kam. »Opa ist ins Krankenhaus gebracht worden, er ist mit dem Krankenwagen weg. Tante Adele ist in seinem Haus.« Ich stand auf, zog Leggings an, lief zu seinem Haus und rannte die Treppe hoch. Adele stand noch unter Schock und war ganz verheult. Dad hatte mit den Jalousien auf sich warten lassen, da war sie hinübergegangen. Als sie zur Tür hereinkam, hörte sie ihn stöhnen, und oben fand sie ihn blutüberströmt. Es war wie in einem Horrorfilm. Er stand vor ihr und versuchte, das Blut aufzuwischen.

Er hatte einen Blutsturz erlitten, starke innere Blutungen. Weil das Blut so dunkel war, dachte Adele zuerst, die Toilette wäre übergelaufen. Dad fiel ihr in die Arme, und sie schaffte ihn ins Schlafzimmer, wo er immer wieder bewusstlos wurde. Sie sagte immer wieder: »Dad, verlass mich nicht, verlass mich nicht.« Sie hatte dann einen Krankenwagen gerufen. Als ich auftauchte, fuhren wir direkt zum Krankenhaus, etwa zehn Minuten nach dem Krankenwagen.

Als wir ankamen, saß Dad mit immer noch bluttriefendem Gesicht in der Notaufnahme, es war so traurig. Er war ruhig, aber das Licht dort war so hell, als schienen einem Scheinwerfer in die Augen, und er sagte: »Herrgott, kann jemand das Licht hier dimmen?« Er war bei Bewusstsein. Es dauerte eine Weile, bis er auf die Intensivstation gebracht wurde. Wir blieben über Nacht, und am nächsten Morgen trafen wir ihn in einem Einzelzimmer. Er begann zu halluzinieren, und überall waren Schläuche, die förmlich aus ihm herauszuwachsen schienen. So hatte ich meinen Vater noch nie gesehen. Offensichtlich hatte man ihm Betäubungsmittel gegeben, er sah so hilflos aus. Es war ein schrecklicher Tag und eine schreckliche Nacht.

Er wurde auf eine andere Station verlegt, und als wir ihn das nächste Mal sahen, saß er nur aufrecht da und lächelte. Ich war mir nicht sicher, ob er innerlich anwesend war. Da zeigte mir Adele ein Formular am Fußende seines Bettes, worin stand: Nicht wiederbeleben. Ich kann ehrlich gesagt nichts Näheres zu diesem Augenblick sagen, denn ich habe ihn verdrängt.

Ich war so schockiert über diesen Eintrag, dass mein Gedächtnis ihn offenbar aus einer Art Selbstschutz löschte. Diese höllischen Worte zeigten uns, wo wir standen. Und Dad saß nur im Bett, sagte nicht viel, lächelte nur. Er verbrachte Weihnachten im Krankenhaus, auch noch Silvester, es war ein Auf und Ab. Nach der Blutung hatte sich eine Lungenentzündung entwickelt, und dagegen kämpfte er etwa neun Wochen lang. Es gab keinen Tag und keinen Abend, an dem wir ihn nicht besuchten. Als ich eines Abends bei ihm saß, zeigte er zur Decke und sagte: »Guck dir die Garage an, die ich bekommen habe. So was habe ich noch nie gesehen, mit allem Drum und Dran.« Die Zimmerdecke mit ihren Lichtern kam ihm vor wie eine große Garage. Ich fragte ihn, wie sie denn aussähe, und da er ein großer Geschichtenerzähler war, beschrieb er sie mir. Es war eine Halluzination voller Glück. Dann schlief er ein. Mir kam es nicht gut vor, denn er hatte abgenommen. Aber wir dachten trotzdem, er könnte es noch schaffen.

Ich sprach mit den Ärzten. Wir wollten nicht, dass Dad im Krankenhaus starb, wir wollten, dass er nach Hause kam, wenn es ihm gut genug ging, um transportiert zu werden. Wir wollten ihn pflegen. Die Ärzte waren sehr nett, doch sie sagten uns nie, dass er nur noch soundso lange zu leben hätte, davor scheuten sie zurück. Für manche Leute ist diese Rücksicht gut, aber nicht für jemanden wie mich: Ich wollte es wissen, damit ich damit umgehen konnte.

An dem Mittwoch, als mein Dad nach Hause kam, sagte ihm die Ärztin, die ihn begleitet hatte, dass er sich dem Ende seines Lebens näherte. Das konnten wir nicht glauben, und ich ging dazwischen und sagte: »Nein, Dad, es geht um Medikamente, und dafür musst du zurück ins Krankenhaus.«

Er sagte: »Nein, nein, da gehe ich nicht wieder hin.« Ich sagte ihm, er könne sie auch zu Hause bekommen, und da sagte er: »Gut, gut, ich gehe nicht zurück. Mir geht es hier gut.« Meine Schwiegertochter Fiona, die auch da war, war entsetzt über die Ärztin. Als die Ärztin merkte, dass wir nicht mit ihr zufrieden waren, ging sie. Ich beugte mich zu meinem Vater und fragte: »Bisschen Fisch zum Abendessen?«

Da musste er lächeln. »Ja, Mädel, ja.«

Nach dem Essen saßen wir um sein Bett herum, und Dad, der ohne Begeisterung ein paar Bissen geschafft hatte, sah zufrieden aus. Weil ich wollte, dass er bei uns blieb, dass er anwesend blieb, fragte ich ihn, ob er nicht sein Lieblingsgedicht von Robert Burns aufsagen wolle.

In der Generation meines Vaters mussten alle Schulkinder in Ayrshire, der Heimat des schottischen Nationaldichters Burns, dessen Werke auswendig lernen. Ich bat meinen Vater ein paar Mal, und dann rezitierte er mit müdem Lächeln das Gedicht »To a Mountain Daisy« (»An eine Berg-Aster«), in dem Burns beim Pflügen den Stiel eines Gänseblümchens abknickt. Ich verstehe das heute als Metapher dafür, wie das Profitstreben oft alle Formen des Lebendigen beiseitedrängt. Ich filmte Dad auf dem Handy, und erst als er mit dem Gedicht fertig war, verstand ich so richtig, was die Worte bedeuteten, und mein Herz stürzte zu Boden und zerschmetterte auf der Stelle. Ich weiß nicht, wie ich noch weiter filmen konnte. Von einem fehlenden Vers abgesehen stimmte alles Wort für Wort:

Wee, modest, crimson-tippèd flow’r, Thou’s met me in an evil hour …

Bescheidenes Blümlein mit purpurnem Grund Hast mich getroffen in so schwerer Stund’ …

Als er fertig war, rückte er seinen Kopf ein wenig auf dem Kissen zurecht und schlief halb lächelnd ein.

Dad musste aufrecht im Bett sitzen, weil ihm Wasser in die Lunge lief. Wenn es ihm zu viel wurde, wurde ihm ein Mittel zur Muskelentspannung gespritzt, um die Atmung zu erleichtern. Es half eine Zeit lang, aber dann brauchte er die Injektionen immer öfter. Die Krankenschwestern kamen die ganze Nacht und blieben, bis am Morgen der Hausarzt kam. Als der Arzt eintraf, sagte er, es sei Zeit, meinem Dad die Schmerzen und Beschwerden mit Morphin zu nehmen. Meine Schwiegertochter war damals hochschwanger. Sie liebte meinen Vater und wich nicht von seiner Seite. An diesem Freitagmorgen wirkte mein Vater friedlich, und meine Schwester Adele fuhr meine Enkelin Elle zum Kindergarten. Sie wollte nur kurz weg sein. Ich saß im Wohnzimmer und hielt meinem Vater die Hand, als zwei Krankenschwestern eintrafen. Ich erzählte ihnen, was passiert war, und während sie mit meinem Vater beschäftigt waren, nutzte ich die Gelegenheit, um vor der Terrassentür eine Zigarette zu rauchen. Kaum hatte ich sie mir angezündet, da klopfte mir eine Krankenschwester auf die Schulter und sagte: »Es ist Zeit.«

Ich war völlig verwirrt. »Was?«

»Es ist Zeit, er ist gleich weg, Liebes.«

Ich eilte zu ihm und flehte ihn an, nicht zu gehen, sondern bitte zu bleiben.

»Geh noch nicht, Adele ist noch nicht hier.«

Dann sagte die Krankenschwester, sein Puls stiege wieder. Ich rief meine Schwester an, die gerade Elle abgegeben hatte, und sagte ihr, sie solle zurückkommen, aber sie müsse sich beeilen. Dad kam wieder zu Bewusstsein. Ich konnte es kaum glauben, wie willensstark er war. Unglaublich. Er hatte noch eine Schwester, die am Leben war, und wir sagten ihm, Amelia würde kommen. Als sie dann kam, machte ich ihm leise Hintergrundmusik an, und seine Schwester sprach mit ihm. Er atmete ruhig, aber ich sah, dass es ihm allmählich Mühe machte. Um ungefähr siebzehn Uhr wurde es dunkel, und Tante Amelia sagte, sie müsse gehen.

Sie sah meinen Vater an. »Tja, Bill, mein Lieber, wir sehen uns bald wieder.«

Sie begann zu weinen, und wir gingen mit ihr in den Flur und legten ihr ihren Schal um. Zwischen Wohnzimmer und Flur ist eine Glastür, und ich weiß noch, dass ich über die Schulter schaute und sah, wie mein Partner, mein Schwager und Fiona an Dads Bett standen und auf ihn herabschauten. Als ich mit Tante Amelia hinausgegangen war, hatten noch alle auf der Couch gesessen. Dann sah ich Fionas Gesicht und wusste es. Ich ging hinüber und sie sagte: »Jen, er ist nicht mehr da.«

Meine Schwester und ich stürmten ins Wohnzimmer, und Adele legte ihr Ohr an seinen Mund. Sie sagte, sie spüre noch seinen Atem, aber es war nur die übriggebliebene Luft, die aus ihm an ihr Ohr drang. Ich legte auch mein Ohr an seinen Mund und fühlte seinen Puls – er war weg. Da nahm ich Dad in den Arm und stieß einen schrecklichen Schrei aus: »Dad, ich kanndich noch nicht gehen lassen!«

Er hatte auf seine Schwester Amelia gewartet. Für sie war er noch hiergeblieben. Und als sie ihm tschüss gesagt hatte, war er zum Abschied bereit gewesen. Er konnte die Augen schließen und sich auf die Reise machen.

Ich glaube, wenn Menschen sterben, merken sie, was um sie herum vor sich geht. Und darum halte ich es nur für höflich, ihre Seele mit so viel Liebe und Achtung wie möglich zu verabschieden. Wir wollten Dad jetzt und fortan in Ehren halten. Ich habe die Szene bereits erwähnt, sie lässt mich seitdem nicht mehr los und spielt sich immer wieder in meinem Kopf und meinem Herzen ab: der Dudelsackpfeifer, der die Bahre zum Krematorium führt und das Lied »Highland Cathedral« spielt, das nach Meinung einiger die schottische Nationalhymne sein sollte. Es klingt so gut auf dem Dudelsack. Ich habe alle Lieder ausgewählt, weil meine Schwester nach eigenem Bekunden dazu nicht in der Lage war. Wir waren jetzt Waisen. Dad starb mit zweiundneunzig Jahren an jenem Freitag, dem 29. Januar 2015, aber seine Einäscherung verschob sich wegen der vielen Todesfälle in dieser harten Jahreszeit. Die Trauerfeier konnte also erst am 11. Februar stattfinden. Die Vorbereitungen dafür halfen Adele und mir bei der Bewältigung unserer Trauer, und ich glaube ohnehin, dass Geschäftigkeit beruhigend wirkt.

Ich hatte also Zeit, um über die Lieder nachzudenken. Eines davon wurde gespielt, als Dads Schwiegersöhne, Enkel und Neffen seinen Sarg auf die Schultern gelegt bekamen und langsam zum Krematorium gingen: es heißt »Ae Fond Kiss«. Robert Burns schrieb das Gedicht für seine platonische Liebe Nancy, und es wurde zu einem wunderschönen Lied vertont. Wir haben »Nancy« durch »Daddy« ersetzt, um das Lied zu einem persönlichen Geschenk von meiner Schwester und mir an Dad zu machen. Da blieb kein Auge trocken, denn selbst der gleichgültigste Charakter wird bei der Klage des Dudelsacks weich. Nach der Zeremonie im Holmsford Bridge Crematorium in Dreghorn, Ayrshire, wo wir auch die Bestattung meiner Mutter abgehalten hatten, hörten wir zum Abschied »Auld Lang Syne« auf dem Dudelsack, gespielt von den Royal Scots Dragoon Guards.

Man könnte meinen, wir hätten es bei der Einäscherung mit dem ganzen Schottenkaro übertrieben, aber so war mein Dad eben. Er war ein traditionsbewusster, hart arbeitender Schotte, der sich seinen Lohn im Bergwerk nicht nur durch Schweiß, sondern auch durch Gefahr verdient hatte. Wenn man unter Tage arbeitet, kann es nur aufwärts gehen, und er schaute gerne zum Himmel empor und dachte an eine bessere Zukunft für seine Lieben. Er wusste, dass er nicht viel zu hinterlassen hatte, aber er war stolz darauf, »ein bisschen weiterhelfen« zu können.

Er war sein ganzes Leben lang sparsam gewesen. Was er an Geld hatte, steckte im Haus. Während das Haus zum Verkauf stand, ließen wir ihn – also seine Asche – im Haus. Es dauerte eine Weile, aber später im Jahr übernahm meine Schwester Adele das Haus für ihren Sohn. Offenbar wollten sie nicht, dass Opa Bill dort blieb, also holte meine Schwester seine Asche zu sich ins Haus. Ich bekam meine Hälfte vom Haus ausgezahlt: 15.000 Pfund in bar. Da ich nichts besaß, war das viel für mich, viel mehr als »ein bisschen«. Mit dem Geld zahlte ich Schulden ab und half im Familienkreis aus. Mir selbst gönnte ich eine Woche Spanienurlaub mit meinem Sohn und den Enkelkindern. Und dann hatte ich Geld zum Investieren übrig.

Wie schnell Geld verschwinden kann, wissen wir alle, und dieses Barvermögen drückte schwer in meiner Geldbörse. Es ist so schnell weg. Wenn man etwas geschenkt bekommt, möchte man es verwenden, und wenn es Geld ist, möchte man es ausgeben. Ich wollte es investieren, damit es nicht wegen diesem und jenem vermeintlichen Bedürfnis aufgezehrt würde. Ich hatte ein Leben voller Sorgen hinter mir und wollte meiner Familie diese Chance auf Sicherheit nicht nehmen. Also hielt ich es mehrere Monate fest beieinander.

Und dann erzählte mir meine beste Freundin von der Investition ihres Lebens.

Kapitel 1

Der Anfang

Ich bin am Rand des Lebens aufgewachsen. Als Kind hatte ich immer Angst, das Falsche zu sagen, am falschen Ort zu sein. Ich wusste nie, ob ich nicht gleich aus der Welt fallen würde. Als ich größer wurde, erfuhr ich, dass genau das fast passiert wäre.

Als ich im Sommer 1970 im Ayrshire Central Hospital in Irvine geboren wurde, eine halbe Autostunde von Glasgow entfernt, war meine Mutter zweiundvierzig Jahre alt und mein Vater fünf Jahre älter. Nicht lange danach – und ich wünschte so sehr, sie hätte es mir nie erzählt – hätte meine Mutter mich beinahe umgebracht.

Sie hat mir gestanden, dass sie überfordert war mit der Fürsorge für mich Neugeborene, die brüllte, was das Zeug hielt: »Du warst erst ein paar Wochen alt und hörtest einfach nicht auf zu weinen. Da brachte ich dich einfach in die Küche. Ich hatte genug. Ich wollte dich gerade aus dem Fenster schmeißen, da packte mich dein Vater an den Armen.«

Meine Beziehung zu meiner Mutter war schon angespannt gewesen, noch bevor sie mir erzählte, dass sie mich fast aus dem Küchenfenster geschmissen hätte. Meine Eltern zogen Ende der 1960er-Jahre in unsere kleine Stadt und ließen sich in einem düsteren, grauen Zweckbau mit vier Sozialwohnungen nieder. Unsere Wohnung im Obergeschoss hatte drei Schlafzimmer und ein recht großes Wohnzimmer. Es war nicht die Enge, die meiner Mutter zusetzte, es waren ihre dünnen Nerven.

Meine Mutter. Margaret – im Familienkreis Meg genannt – lebte in einer Welt aus Kummer und Sorge. Doch trotz all unserer Schwierigkeiten liebte ich sie sehr. Die Probleme hatten schon lange vor meiner Geburt angefangen. Meine Schwester Adele ist 13 Jahre älter als ich. Sie ist mit den Bay City Rollers aufgewachsen, während ich verrückt nach Spandau Ballet war. Mein Bruder ist 19 Jahre älter. Ich war wirklich das Küken der Familie, der Eindringling. Mein Timing war schlecht.

Die Sorgen, die meine Mutter wegen meines Bruders plagten, explodierten geradezu, als ich geboren wurde. Ich kenne nicht alle Einzelheiten, und ich kann sie auch gar nicht kennen. Ich habe in meinem Leben nur ein paar Worte mit meinem Bruder gewechselt, und seine waren nicht freundlich. Er kam für den Rest ihres Lebens nicht mehr richtig mit meiner Mutter ins Gespräch. Das brach ihr Herz und ihre Seele.

Ich weiß noch, wie sie ihn am Telefon schluchzend anflehte und die Worte wiederholte: »Bitte, mein Sohn, bitte, mein Sohn, ich vermisse dich, ich liebe dich.« Sie wollte nur, dass er zu Besuch kam. Sie trauerte, aber nicht um einen toten Sohn, sondern um einen lebenden.

Wenn die inneren Dämonen meiner Mutter richtig wüteten und sie die Wände hochging, versuchte mein Vater, meinen Bruder zu einem Besuch zu überreden, aber er kam nicht mehr. Als das alles begann, war ich erst drei Jahre alt, aber das damit verbundene Gefühl ist mir in die Knochen gefahren und hat mich nie verlassen. Es war herzzerreißend, besonders für mich als kleines, heranwachsendes Mädchen, das nicht verstand, was falsch sein könnte. Ich hatte einen Bruder, bekam ihn aber nie zu sehen. Wenn ich nach ihm fragte, wurde ich zum Schweigen gebracht. Man hatte Angst, ich könnte damit meine Mutter verärgern. Meine Aufgabe war es, gesehen und nicht gehört zu werden. Als Kind hatte ich den Wunschtraum, mit einem liebevollen, fürsorglichen und beschützenden Bruder aufzuwachsen, aber das war eben nur ein Traum. Die Wirklichkeit war ein Albtraum aus emotionalem Schmerz und Leid, vor allem für meine Mutter, aber auch für den Rest der Familie. Wir bekamen die Auswirkungen zu spüren und hatten keine andere Wahl, als die Trauerqualen meiner Mutter mitanzusehen. Ich empfand dies als sehr grausam und fühlte mich machtlos, weil ich nicht helfen konnte.

Zu den Regeln meiner Mutter gehörte, dass ich mich nicht schmutzig machen durfte. Ich durfte auch keine anderen Kinder zu uns einladen. Nach dem Gesetz meiner Mutter war es uns auch verboten, Musik zu machen. Nicht einmal eine kleine Parfümflasche durften wir auf den Schminktisch stellen, sie musste in der Schublade liegen. Staub war ein Feind, und jedes eingedrückte Kissen, jeder unordentliche Schrank konnte Ärger lostreten. Ich war sehr einsam.

Meine Eltern hatten kein Interesse an Bildung. Mein Vater hatte die Schule schon in jungen Jahren verlassen, und sein Vater war gestorben, als er vierzehn war. Er konnte mir nicht bei den Hausaufgaben helfen, und meine Mutter auch nicht. Ich war ein wissbegieriges Kind, aber Hausaufgaben und Ähnliches waren nicht ihr Ding. Ich war auf mich allein gestellt.

Als Spielgefährten hatte ich ein Kaninchen, das einen Stall im Garten bewohnte, den mein Vater gebaut hatte. Ich fuhr es im Puppenwagen spazieren. Eines Tages kam ich aus der Schule nach Hause und wollte genau das tun, aber von dem Kaninchen fehlte jede Spur. »Wo ist das Kaninchen?«, fragte ich.

»Ach, Bill Carble hat es mitgenommen, fürs Ragout.«

Bill Carble war ein Fernfahrer, der bei uns manchmal ein Zimmer zum Übernachten mietete. Meine Mutter lachte, als sie es mir erzählte. Ich war verstört. Es ist immer noch eine dunkle Erinnerung, die ich nach all den Jahren kaum glauben kann. Aber es tat weh. Es kam mir schon damals skrupellos vor und heute umso mehr. Meine frühen Jahre waren nicht durchweg voller Elend, aber sie waren schwierig. Bevor ich das Haus verließ, machte Mum immer ein Taschentuch mit der Zunge feucht und wischte mir das Gesicht ab. Sie wollte, dass ich perfekt aussah. Auf jedem Kinderfoto von mir sehe ich tipptopp aus, aber dahinter versteckt sich ein kleines Mädchen, das höllisch einsam ist.

Meine Mutter war aus Gründen verbittert, die ich nie wirklich verstehen werde. Ich habe meine Mutter wirklich und wahrhaftig sehr geliebt, aber sie sah alles durch eine dunkle, dunkle Brille. Trotzdem gab es zwischen uns eine bedingungslose Bindung. Ich glaube, meine Mutter war sehr lange Zeit psychisch krank. Die Ärzte hatten ihr für die Nerven das Beruhigungsmittel Lorazepam verschrieben, setzten aber die Tabletten ab, als sie merkten, dass die Pillen schlimmer waren als die Symptome. Lorazepam ist stark suchterzeugend, man kann schon nach zwei Wochen Einnahme abhängig werden. Mum war sehr lustig, wenn auch unverblümt direkt. Kaum hatte sie die Tabletten abgesetzt, wurde sie die liebevolle und fürsorgliche Mutter, die sie immer hätte sein sollen. Es brauchte Zeit.

Als ich zehn Jahre alt war, zogen wir in eine Sackgasse in einer Neubausiedlung im Dorf. Die neue Wohnung hatte nur zwei Schlafzimmer im Obergeschoss, aber das reichte, weil Adele schon ausgezogen war und geheiratet hatte. Die Toilette war direkt oben an der Treppe, und unten hatten wir einen kleinen Wohnbereich und eine ziemlich große Küche. Diese Aufteilung erwähne ich deshalb, weil mich dort kurz nach unserem Einzug ein Nachbar angegriffen hat.

Bei mir hat die Verwandlung in eine junge Frau sehr früh eingesetzt, und als ich meine erste Periode bekam, hat mich das zu Tode erschreckt. Ich rannte zu meiner Mutter, die – als eine Frau, die nicht an Gott glaubte – sofort zu beten anfing. Ich war bestürzt, aber sie griff in den Schrank und zerschnitt ein Handtuch. »Steck dir das zwischen die Beine. Das reicht, bis ich zur Apotheke gehe«, sagte sie. »Das bekommst du jetzt einmal im Monat, sieben Tage lang.« Das war alles. Ich wollte wissen, was mit mir los war, aber es gab kein Gespräch, keine Erklärung, kein Verständnis. Ich war zehn Jahre alt und hatte das Gefühl, etwas Böses getan zu haben. Wegen meiner körperlichen Veränderung sah ich schon etwas älter aus, aber ich war immer noch ein Kind.

Das Erlebnis, das mich auf Jahre traumatisierte, geschah an einem Samstagabend, als meine Mutter mit einer ihrer Schwägerinnen im Bowlingclub einen trinken gegangen war. Meine Schwester wohnte mit ihrem Mann Riley gegenüber von uns, war aber mit ihm unterwegs. Nur Dad und ich waren zu Hause. Ich war wie immer ganz vom Fernseher gebannt.

Es klopfte an der Tür, und ich hörte meinen Vater sagen: »Oh, Jim, komm rein, komm rein.« Die Siedlung war neu, und alle versuchten, einander kennenzulernen und Freundschaften zu schließen. Auch mein Vater tat das, und die beiden unterhielten sich, während ich weiterhin konzentriert Fernsehen schaute. Jim war Ingenieur bei der British Gas und Ende vierzig, aber mir kam er uralt vor. Er machte es sich auf dem Sofa bequem. Ich saß in meinem Sessel, aber das war nahe genug, um zu riechen, dass er getrunken hatte. Er war nicht volltrunken, aber angeheitert.

Dann klingelte das Telefon, und meine Mutter teilte meinem Vater mit, dass sie jetzt aus dem Club nach Hause käme. Der Heimweg führte an einer Brachfläche vorbei, die nur fünf Minuten entfernt war, aber im Dunkeln ging sie nicht gerne allein daran vorbei. Dann rief sie immer Dad an, und er begleitete sie an der unheimlichen Stelle. Er erklärte unserem Besucher, was los war, und Jim, der Nachbar meiner Schwester, sagte: »Das ist okay, ich warte, bis ihr zurück seid.«

Kaum war die Haustür hinter meinem Dad ins Schloss gefallen, stand Jim vom Sofa auf, kam herüber, kniete sich hin und versuchte, mich zu umarmen. Ich wusste, dass das nicht richtig war, und stand sofort auf.

Damals musste man aufstehen und zum Fernseher gehen, um den Sender zu wechseln. Ich gab vor, das tun zu wollen, sprang aber über seine Beine und an ihm vorbei, geradewegs zur Tür hinaus und die Treppe hinauf in das kleine Klo neben meinem Schlafzimmer.

Ich schloss die Klotür von innen ab, aber aus Kinderschutzgründen hatte das Schloss von außen einen Schlitz, sodass man es mit einem Centstück öffnen konnte, das wusste ich. Weil ich vor Angst schweißnasse Hände hatte, nahm ich ein Handtuch und packte damit den Türknauf, als er sich zu drehen begann.

Ich hielt das Schloss fest. Ich hatte Angst, aber ich konnte das Schloss im Handtuch fixieren, während er immer wieder versuchte, es von außen zu drehen. Ich weinte und sagte: »Bitte, lassen Sie mich in Ruhe!« Dann ging er in mein Schlafzimmer. Von dort pochte er gegen die Wand zur Toilette und ließ die Bettfedern quietschen.

»Alles gut«, sagte er leise, »alles in Ordnung, komm raus. Ich bin bereit für dich.«

Ich erwiderte mehrfach: »Bitte, tun Sie mir nicht weh. Bitte gehen Sie. Mein Vater kommt bald zurück.«

Ich hörte, wie er die Treppe hinunterging, und glaubte schon, er wäre weg, aber ich konnte mich vor Angst nicht regen. Ich umklammerte weiterhin das Schloss mit dem Handtuch, zum Loslassen hatte ich zu viel Angst.

Ich hatte ihn nicht wieder hochkommen gehört, aber plötzlich drehte sich der Türknauf wieder. Er hatte wohl gedacht, ich hätte losgelassen, aber vor lauter Angst hielt ich weiter fest. Er war jetzt lauter, fordernder, erregter. Er ging in mein Schlafzimmer und ließ das Bett quietschen. Ich weiß nicht, was er auf dem Bett tat, aber er versuchte immer wieder, mich herauszulocken, indem er wiederholte: »Ich bin bereit für dich.«

Eine Weile herrschte Stille. Dann hörte ich, wie die Haustür geöffnet und geschlossen wurde. Ich ließ das Schloss auch weiterhin nicht los und regte mich nicht.

Nach ein paar Minuten hörte ich meine Schwester und meinen Schwager ins Haus kommen. Ich lief zu ihnen. Atemlos versuchte ich zu erzählen, was passiert war, und verhaspelte mich immer wieder, so außer mir war ich. Mein Schwager Riley stürmte hinaus. Adele versuchte, mich zu beruhigen, damit sie mich überhaupt verstehen konnte, aber ich war ein wütendes kleines Mädchen, aus dem das Geschehene nur hervorsprudelte.

In diesem Moment kam mein Vater herein: »Herrje, was ist denn hier los?« Adele berichtete. Meine Mutter, die einiges intus hatte, musste zur Toilette und ging nach oben. Von dort sagte sie: »Das ist gar nicht passiert. Schrecklich, so was zu behaupten.«

Mein Vater ging wie gewöhnlich weg. Er konnte mit so etwas nicht umgehen. Ich stand auf halber Höhe der Treppe, blickte zu meiner Mutter hoch und weinte mir die Augen aus. »Doch, das hat er getan!«, heulte ich. »Das ist passiert.«

Sie tat ab, was ich sagte, also wiederholte ich es: »Das hat er getan.« Ich wollte, dass sie mich umarmt und festhält und mich vor diesem Ungeheuer beschützt. Sie sah und hörte, wie aufgebracht ich war, aber sie wischte meine Verzweiflung beiseite. Es war, als hätte ich etwas falsch gemacht. Hätte ich nichts sagen sollen? Wieder einmal schämte ich mich, aber diesmal war es, als hätte ich Schande über die ganze Familie gebracht.

Der Mann war zu seinem Haus gegangen, und Riley lief hinüber, um ihn zur Rede zu stellen. Später erfuhr ich von Adele, dass Jims Frau Riley anflehte, die Sache bis zum Morgen ruhen zu lassen. Riley war rauflustig, ein echter Hitzkopf, und sagte ihr: »Wehe, wenn das Arschloch morgen früh noch hier ist.«

Meine Schwester ging nach Hause, und ich wurde ins Bett gebracht. Es wurde nicht mehr darüber geredet, und ich weinte mich in den Schlaf. Als ich am Morgen das Wohnzimmer betrat, schaute meine Mutter aus dem Fenster zum Haus des Mannes auf der anderen Straßenseite. Sie drehte sich um und sagte: »Das war’s, darüber wird nicht mehr gesprochen. Ich habe eben gesehen, wie sie ihn rausgeworfen hat. Der kommt nicht wieder.«

Für meine Mutter war die Sache damit erledigt. Sie wollte nicht darüber reden, was dieser Mann getan hatte. Schande war über uns gekommen, und es durfte nicht darüber gesprochen werden. Ich weiß nicht, ob sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte, oder ob sie es einfach nicht schaffte. Es waren die frühen 1980er, eine Zeit voller Dummheit, voller Sorge darum, was die Nachbarn denken könnten.

Ich hatte keine Freunde. Ich habe ständig ferngesehen, weil wir keine Bücher im Haus hatten und ich nicht auf mein Zimmer gehen und lesen konnte. Oder Musik hören. Nichts. Es gab kein Entrinnen für mich, und ich wurde wütend.

Ich wurde oft geschlagen. Zu dieser Zeit setzten die Ärzte bei meiner Mutter die Tabletten ab. Sie ging damit in den kalten Entzug, und das war die Hölle. Ich war die Einzige im Haus, an der sie ihre Ängste auslassen konnte. Und das tat sie. Ich bekam die geballte Kraft ihrer Angst und Wut ab.

Ich war zutiefst unglücklich. Als ich zwölf, vielleicht dreizehn war, fand ich Tabletten im Badezimmer. Ich nahm sie ein und ging zu Bett. Als ich aufwachte, bekam ich einen Schrecken: Ich war am Leben! Ich fühlte mich furchtbar müde, aber mehr auch nicht, und ich konnte meine Mutter und ihre Schwestern unten reden hören. Sie zeigten kein Interesse an mir. Ich sehnte mich nach einer Umarmung, wusste aber, dass ich keine bekommen würde. Mum hatte die Tabletten abgesetzt, und mein Hilferuf hatte nichts bewirkt. Niemand bemerkte, dass ich die Tabletten genommen hatte.

Ich wurde aufmüpfig und blieb nächtelang weg. In der Schule hasste ich die Sportstunde, weil mein Körper bereits aus dem Sportzeug herausgewachsen war, aus den winzigen Höschen, die man dort tragen sollte. Das war mir peinlich. Ich war mir bewusst, dass ich anders war als die anderen Mädchen.

Ich hatte das Erlebnis mit dem Mann hinter mir, der mich angegriffen hatte. All das belastete mich, also ließ ich die Sportstunde aus und lief den Bach hinter der Schule entlang. Dort gab es ein großes Betonrohr, in das ich mich setzte. Es war ein Fluchtort für mich, wie die Garage für meinen Vater. Ich fing an zu rauchen und stahl meiner Mutter Zigaretten aus der Schürzentasche.

Wenn ich zur Schule ging, rauchte ich in den Pausen eine Zigarette. Man fand sich zum Rauchen zusammen, und so lernte ich Eileen Middleton kennen, die in der Klasse über mir war. Wir bekamen beide je ein Pfund fürs Mittagessen, und für zehn Pence konnte man einzelne Zigaretten kaufen. Ich kam in meiner Schuluniform in den Laden und sagte: »Drei einzelne Regals, bitte.« Drei Zigaretten waren unser Limit: Wenn man mehr für Zigaretten ausgab, blieb für das Essen nicht mehr viel übrig, man bekam dann nur noch frittierte Scampis mit Brötchen. Echter Luxus. Aber oft hatten wir gar kein Geld, und wenn ich mir eine Zigarette anzündete, sagte Eileen zu mir: »Hey, Jen, kann ich ein paarmal ziehen?« Was bedeutete, dass wir uns die Zigarette teilen würden, jeder eine Hälfte. Es war der Beginn einer langen, langen Freundschaft.

Obwohl ich gerne Zeit mit Eileen verbrachte, schwänzte ich an vielen Tagen die Schule. Als ich eines Tages nach Hause kam, fragte meine Mutter: »Wie war’s in der Schule?« Das kam mir seltsam vor, weil sie mich das noch nie gefragt hatte. Sie hielt einen Mopp in der Hand, einen altmodischen mit Holzstiel, und ich lehnte an der Spüle. Sie fragte, was ich in der Schule gemacht hätte. Während ich mir Mühe gab, mir etwas auszudenken, griff sie den Mopp fester und fing an, auf mich einzuschlagen. Ich ging zu Boden, und sie verprügelte mich mit dem Holzstiel von Kopf bis Fuß. Als ich schützend die Hand hob, brach sie mir die Hand. Ich habe sie nicht verarzten lassen.

Am Abend verschloss sie alle Türen, und da bekam ich Panik. Also kletterte ich die Regenrinne hinab und rannte davon. Ich verbrachte drei oder vier Tage auf der Straße und schlief nachts in Hauseingängen.

Mum und meine Schwester fanden mich und brachten mich nach Hause. Aber anstatt zu sagen, was man seinem Kind sagen würde: »Gott sei Dank, dass du wieder zu Hause und in Sicherheit bist«, nahm meine Mutter einen Fön, um den das Kabel gewickelt war, und drosch damit auf mich ein. Bei jedem Schlag riss der scharfe Stecker blutige Wunden.

Seltsamerweise tat mir meine Mutter leid. Ich wusste, dass das nicht normal war. Irgendetwas lief ernsthaft falsch. Aber ich war so voller Angst, dass ich immer wieder weglief.

Auf der Straße lernte ich Callum kennen, der der Vater meines Sohnes werden sollte. Callum war ein Punker und ein Rebell mit Irokesenschnitt. Ich war dreizehn, er war fünfzehn. Ich lief ihm in die Arme und glaubte, dieser Punker würde mich beschützen, aber das tat er nicht. Es wurde nur schlimmer.

Hier nehmen sich mein Vater (dritter von links) und seine Kumpel kurz Zeit für ein Foto unter Tage. Ich bin eine Bergmannstochter.

Hier schmusen Dad und ich – solche Momente vermisse ich sehr.

Mum und Dad mit ihrem Enkel. Eines der seltenen Bilder von allen dreien und eines, das ich sehr mag.

Liebe auf den ersten Blick – ich bin siebzehn Jahre alt und alleinerziehende Mutter dieses wunderschönen und wundervollen kleinen Jungen.

Mein kleines Baby war schon so groß geworden, als dieses Foto im Garten entstand.

Hier ist er: mein Dad. Wegen ihm habe ich die Kraft gefunden, meinen David-gegen-Goliath-Kampf mit Ruja und OneCoin niemals aufzugeben.

Und das ist Eileen, meine Freundin für immer. Sie war am Anfang der OneCoin-Geschichte dabei und ist auch heute noch an meiner Seite.

Kapitel 2

Liebe tut weh

Ich kam mit dreizehn Jahren mit Callum zusammen und blieb bei ihm, bis ich zwanzig war. Er war schwierig. Ich war von einem verbitterten Menschen zum nächsten gelangt. Es war ein Muster, das sich wiederholte, nur dass nun Callum die Macht über mich zu haben schien. Er schüchterte mich ständig ein.

Als ich fünfzehn war, versuchte ich, mich von ihm zu lösen. Ein anderes Mädchen fragte mich, ob ich mit zur Eislauf-Disco kommen wolle. Ich lief liebend gern Schlittschuh. Aber Callum sagte: »Du gehst nicht hin.«

Ich sagte: »Und ob ich da hingehe. Ich gehe mit meiner Freundin Schlittschuh laufen.«

Die Eisbahn war in der Nachbarstadt, und es machte mir Riesenspaß, wie es sich in dem Alter gehört. Dann sagte meine Freundin: »Guck mal, Jen, da oben ist Callum.«

Er blickte mich voller Wut an. Ich spürte, wie meine Angst die ganze Stimmung veränderte. Er kam auf mich zu. »Du kommst jetzt mit mir.«

»Nein, ich komme nicht mit, ich bleibe bei meiner Freundin, mit der ich hergekommen bin.«

»Wenn du jetzt nicht mit mir kommst, passiert etwas Schlimmes.«

»Ich fahre mit meiner Freundin zurück.«

Ich rebellierte endlich, und er sagte von oben herab: »Aber wenn dann etwas passiert, bist du schuld.«

Es war immer meine Schuld. Ich hatte Angst, aber ich hatte Callums Verhalten satt. Wir fuhren weiter Schlittschuh und gingen ein paar Stunden später zur Bushaltestelle, um die Heimfahrt anzutreten. Irgendjemand erzählte uns, dass Callum abgestochen worden war, das konnten wir kaum glauben. Es gab noch lange keine Handys, also konnten wir nichts überprüfen. Aber dann stand er zu Hause an der Bushaltestelle und wartete auf mich. Er war blutüberströmt.

Es war nicht sein Blut. Er war nicht abgestochen worden. Er hatte jemand anderen abgestochen.

Er sah mich an. »Das ist alles deine Schuld.«

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, ob derjenige, den er abgestochen hatte, noch lebte oder tot war.

Callum wurde dann wegen versuchten Mordes angeklagt, was schließlich auf schwere Körperverletzung gemindert wurde. Er kam für sechs Monate ins Gefängnis. Zu festgelegten Zeiten rief er aus der Jugendstrafanstalt seinen Vater Eddie an, der ein liebenswürdiger, freundlicher Mann war. Eddie sagte mir dann Bescheid: »Callum ruft heute Abend an.«

Für mich als Teenager war das ein ständiger emotionaler Aufruhr. Zu Hause war es mit meiner Mutter immer noch schwierig, aber ich versuchte weiterhin, die anderen glücklich zu machen, anstatt mich um mich selbst zu kümmern. Ich war in einem Kreislauf aus Angst gefangen.

Ich war fünfzehn und stand kurz vor dem Schulabschluss, als Callum nach sechs Monaten aus dem Gefängnis entlassen wurde. Eines Tages traf er sich in der Mittagspause mit mir. Er nahm mich mit nach Ayr und eröffnete mir: »Meine Mutter hat mir 350 Pfund hinterlassen, als sie starb, und davon kaufe ich dir einen Verlobungsring.«

Seine Meinung war, dass ich ihm gehörte, dass er mich besaß. Und ich glaubte, dass dieser kleine Saphirring mein Leben womöglich in das Märchen verzaubern würde, das ich mir als Kind erträumt hatte.

Wir feierten eine kleine Verlobungsparty, ohne Alkohol oder Ähnliches. Nur Callum und ich und sein Vater Eddie und der Rest von Callums Familie. Die Erinnerung daran fühlt sich verrückt an. Wie irre das war! Vor der Party war Eddie noch einkaufen, und ich bestrich gerade Sandwiches. Callum flüsterte etwas und ich sagte: »Was?« Da warf er ein Tranchiermesser nach mir. Es verfehlte mich und fiel scheppernd auf den Küchenboden.

Er schrie: »Du hast mich dazu gebracht.«

Ich wurde wie eine Maus. Ich wusste, er hatte schon einmal zugestochen. Ich wusste, seine Drohungen waren nicht leer. Aber dann weinte er und fragte: »Was ist los mit mir?«

Und am Ende tröstete ich ihn.

Als meine Mutter meinen »Irokesen« Callum zum ersten Mal sah, war ihr Gesicht ein Bild für die Götter, und die Rebellin in mir freute sich über den Schreck, den ich ihr damit versetzt hatte. Als sie herausfand, dass wir uns verlobt hatten, wollte sie mir den Ring abziehen und riss mir dabei fast den Finger ab.

Callums Schwester Lilly war viel älter als er, der Altersunterschied war wie der zwischen Adele und mir. Sie schickte Fotos von mir an eine Modelagentur, aber meine Mutter meinte, ich hätte zu viel zugenommen, um zu modeln. Ich setzte die Pille ab, weil ich von dem Verhütungsmittel nicht noch mehr zunehmen wollte, und begann mit einer Diät. Ich war sechzehn Jahre alt und dachte mir, wenn ich einen Job als Model bekäme, könnte ich sagen: »Ich bin raus hier.«

Wie sagt man? Wenn man Pläne macht, kommt das Leben dazwischen. Bei mir war das auf jeden Fall so. Ich wurde schwanger, damit war meine Modelkarriere vorbei. Meine Mutter wollte, dass ich abtreibe, aber ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen. Das kam für mich nicht infrage, aber sie hörte nicht auf damit. Ich gab die Schule auf und nahm einen Job als Näherin in einer Hemdenfabrik an, für vierzig Pfund die Woche. Dort saß ich und träumte von dem Leben, das ich beinahe gehabt hätte.

Als ich eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, stand im Flur neben der Tür ein kleiner beiger Lederkoffer. Daneben stand meine Mutter. »Das ist deiner«, sagte sie. »Wer A sagt, muss auch B sagen.«

Ich sah sie schockiert und erstaunt an.

»Willst du das Kind?«

»Ja, will ich.«

»Nimm den Koffer und raus hier.«

Callums Vater Eddie nahm mich auf, dafür war ich ihm echt dankbar. Ein paar Monate nach Beginn der Schwangerschaft begann ich zu bluten. Der Arzt meinte, es sei kein Problem, aber ich musste das ganze Wochenende mit hochgelegten Füßen im Bett liegen.

Eddie rief meine Mutter an und erzählte ihr, was passiert war. Er kam zu mir und sagte, meine Mutter sei am Telefon. Ich dachte, sie würde sagen: »Komm zurück, alles wird gut.« Trotz allem, was passiert war, wollte ich immer noch meine Mutter haben. Aber sie war gar nicht besorgt um mich, und da wusste ich, dass ich auf mich allein gestellt war. Ich sagte mir: »Jen, du hast zwei Möglichkeiten – entweder untergehen oder schwimmen. Was machst du?«

Ich wollte schwimmen. Aber ich hatte schreckliche Angst, denn ich wusste nicht, was ich tun sollte – ich muss jetzt noch weinen, wenn ich daran denke. Wie sollte ich dieses Baby lieben, wenn ich selbst gar nicht wusste, was Liebe war? Aber irgendein Stimmchen in mir entgegnete: »Tu einfach das Gegenteil von dem, was dir angetan wurde.«

Dann ein Wunder: Als ich weit im fünften Monat war, rief meine Mutter an. »Na gut, komm nach Hause.«

Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Eine Tochter will ihre Mutter haben, auch wenn sie so viel durchgemacht hat wie ich. Ich kam praktisch angerannt. Mum konnte gar nicht genug für uns tun. Sie besorgte uns einen gebrauchten Kinderwagen, der war eine Wucht. Sie kümmerte sich wie besessen um Babykleidung. Callum und ich bekamen eine Sozialwohnung mit zwei Zimmern.

Wir wohnten erst eine Woche dort, und ich war gerade siebeneinhalb Monate schwanger, da wurde ich krank und kam ins Krankenhaus. Ich hatte eine Präeklampsie: Mein Blutdruck war emporgeschossen, ich hatte Schwellungen und Schmerzen. Bis zur Geburt von Lee blieb ich im Krankenhaus. Meine Mutter hat mir erzählt, was sie dachte, als ich schwanger war: »Ich konnte damals nicht akzeptieren, dass mein kleines Mädchen ein Baby bekam.« Aber sie musste es akzeptieren, und mit der Zeit tat sie es, und sie schenkte meinem Sohn viel Liebe – Liebe, die ich nie bekommen habe. Das war mir ein gewisser Trost in einer erneut schwierigen Lage.

Um meine eigene Liebe musste ich mir keine Sorgen machen, denn sobald Lee in meine Arme gelegt wurde und ich diesen wunderschönen kleinen Jungen ansah, war ich von Liebe überwältigt und weinte vor Freude. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich jemanden, um den ich mich kümmern musste, jemanden, für den ich stark sein musste. Dieser kleine Junge war für mich der einzige Grund zu schwimmen. Wir hatten ein Zuhause und ein Kind, und das war mein Leben. Ich war siebzehn Jahre alt.

Meine ersehnte Kernfamilie – Callum, ich und Lee – wohnte nun in der mit Familienhilfe renovierten und möblierten Sozialwohnung, aber als Lee erst etwa acht Monate alt war, wurde Callums Verhalten unerträglich. Eines Abends nahm ich Lee mit und ging zu meiner Mutter, aber ihre herrschsüchtige Art war auch anstrengend. Manchmal übernachtete ich bei einer Freundin, die auch ein Baby hatte. Dort schlief ich mit meinem Baby auf dem Sofa. Ich ditschte herum wie ein Ball.

Callum gab unsere Wohnung auf und redete neuerdings davon, dass er Selbstmord begehen würde, wenn er seinen Sohn nicht sehen dürfte. Sein Vater Eddie bot uns seinen Wohnwagen an. Mich überkamen Schuldgefühle, weil ich Callum vielleicht doch voreilig verlassen hatte, und zugegebenermaßen wirkten auch seine Tränen und Selbstmorddrohungen. Zu dritt verbrachten wir mehrere Winterwochen auf dem Campingplatz. Die Kälte machte mich körperlich krank, sodass ich mit eingezogenem Schwanz zu meiner Mutter zurückkehrte. Ich war jetzt eine obdachlose, alleinerziehende Mutter.

Irgendwann bekam ich die Schlüssel zu einer kleinen Erdgeschosswohnung für Lee und mich, und Callum zog mit ein. Die Wohnung gehörte zu einer Notunterkunft mit vier Einheiten. Dort brachte die Verwaltung Leute unter, die, sagen wir, in eher misslicher Lage waren. Aber für meine kleine Familie war dies viele Monate lang ein Zuhause.

Callums einziges Zugeständnis an seine Vaterrolle bestand darin, dass er nach Lees Geburt den Iro loswurde. Ich trank nicht, aber er ging aus und trank Wodka und kam dann abgefüllt zurück, schäumend vor Zorn und Bitterkeit.

Als Lee achtzehn Monate alt war, bekam ich plötzlich so extreme Bauchschmerzen, dass ich nicht mehr gehen konnte. Der Arzt stellte eine Unterleibsinfektion fest und verschrieb mir ein Antibiotikum. Ich nahm das Medikament, und es wurde wieder gut, aber ein paar Wochen später lag ich wieder mit Schmerzen im Bett. Lee schlief nicht in seinem Kinderbett; er lag also bei mir, als Callum betrunken, ja sturzbetrunken nach Hause kam. Er schlief ein, und nun lagen wir alle im Bett, Lee, ich und er. Ich hatte Schmerzen und konnte mich nur schwer bewegen.

Mitten in der Nacht klopfte es an der Tür. Es war mein Neffe, der drei Jahre jünger ist als ich. Ich hatte Angst, ihm aufzumachen, weil es drei Uhr morgens war, und ich fürchtete, ihm sei etwas passiert. Also weckte ich Callum. »Ich glaube, dastimmt was nicht.«